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Über das Buch

In dunklen, pointierten Krimi-Miniaturen beschreibt Doris Gercke die ganz normalen Verhältnisse, erzählt von Handlungen und Zufällen und Irrfahrten Einzelner in unserer Gesellschaft. Wir treffen auf Habenichtse, Huren, Heißsporne und Herzlose, betrachten den (Kriminal-)Fall des Lebens aus der Sicht von Hilflosen und Saturierten, Tätern und Opfern. Diese »Deutschen Geschichten« sind ein bisschen gemein, sie zeigen eine Welt ohne Hollywoodlösungen. Und doch ist die Lektüre ein großer Genuss für alle, die den finsteren Realismus einer erfahrenen und gewieften Erzählerin zu schätzen wissen. Das Verbrechen ist politisch, das Leben vergänglich.

 

Über die Autorin

Doris Gercke, geboren 1937 in Greifswald, lebte schon ­mehrere Leben (Arbeitertochter, Sekretärin, Hausfrau, junge Mutter, Begab­tenabiturientin, Jurastudentin), ehe sie sich in den 1980ern der politischen Kriminalliteratur zuwandte. Als Schöpferin einer weit über Deutschland hinaus berühmten unangepassten und handgreiflichen Ermittlerin schrieb sie Literaturgeschichte, sägte mit ihren düsteren, kritischen Romanen an der Erzählhoheit im Genre. »Für mich ist Krimi eine Kunstform. Kunst hat etwas mit Abbildung von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit zu tun. Je wahrhaftiger ein Krimi ist, desto besser finde ich ihn.« Sie ist vielfältig politisch engagiert und lebt in und bei Hamburg.

 

Doris Gercke

 

Frisches Blut

 

Deutsche Geschichten

 

CulturBooks Verlag

www.culturbooks.de

 

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2019

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, info@culturbooks.de

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Printausgabe: © Ariadne Verlag 2018

Lektorat: Else Laudan

ISBN 978-3-95988-131-9

Vorwort von Else Laudan

Doris Gercke schreibt seit über drei Dekaden Kriminalliteratur, und ich bewundere sie als unkorrumpierbare Chronistin der sogenannten Normalität in unserem Land. Mit grenzenloser Belesen­heit und weitem Horizont pflegt sie eine frugale, fein justierte Ästhetik des schlichten Erzählens: Lakonisch, voll scheinbarer Ruhe und manchmal mit leisem Galgenhumor skizziert sie Szena­rien, die Widerhaken im Kopf hinterlassen. Direkt und fast kühl zeigt sie Menschen, die ihre Geschichte nicht aus freien Stücken, aber unzweifelhaft selber machen.

In der ersten Kurzgeschichte, die ich von ihr las, begegne ich an einem Frühlingsmorgen einem Richter, folge ihm durch seinen auf den Säulen von Routine und Respekt errichteten Alltag. Ich sehe, wie der Blick eines an Macht gewöhnten Mannes die Welt kategorisiert. Spüre das Verbrecherische an dieser Ordnung. All das ist so unaufgeregt erzählt, dass mein Geist diese Schlüsse selber ziehen muss – oder darf.

Doris Gercke entführt mit ihren Kriminalstorys in die Wirklichkeit von Ermittlern, Opfern und Tätern, Randständigen und Outlaws aller Couleur. Nüchtern erfasst sie die Sicherheit der Sieger und die Verwundbarkeit von Menschen, die Unauffälligkeit brauchen wie die Luft zum Atmen und deren Moral nicht die der Aufgehobenen ist. Jede dieser Erzählungen ist wie ein Film, das Ende meist noir. Es sind Facetten eines Gegenwartspanoramas ohne Optimismus, aber wahr und voller Leben, und damit klare Ab­sagen an die Illusion, wir hätten die Lage im Griff. Das ist für mich die hohe Genre-Kunst, die ich hier zu meiner Freude in unterschiedlichsten Storys verwirklicht finde.

Winterquartier

»Was passiert eigentlich, wenn man in einem Nichtraucher­zimmer raucht?«

Sie stritten sich seit Tagen, und er hatte Grit im Verdacht, dass sie die Frage nur gestellt hatte, um den Streit, in dem sie sich gerade befanden, zu unterbrechen. Aber das war ihm recht. Dauernd streiten macht müde, und es war erst elf Uhr am Morgen.

»Keine Ahnung«, sagte Pit. »Ich vermute, irgendwo an der Rezeption blinkt ein Licht, und dann rufen sie an und bitten dich, auf den Balkon zu gehen oder das Zimmer zu wechseln. Ich glaube, beides wäre nicht so gut für uns.«

»Soll ich es ausprobieren?«

»Wozu«, sagte er, »es ist nicht gut für uns. Das hab ich doch gerade gesagt.«

»Und was ist gut für uns?«

Auch sie war müde. Er konnte es ihrer Stimme anhören, und er würde es in ihrem Gesicht gesehen haben, wenn sie ihm nicht den Rücken zugewandt hätte. Sie stand vor der Gardine und sah aus dem Fenster.

»Das weißt du doch«, antwortete er.

Sie waren seit dem Frühjahr unterwegs, hatten den Mai in Andalusien verbracht, waren auf Sizilien, in Rom und in Budapest gewesen, über Prag und Wien langsam nach Deutschland zurückgetrödelt und lebten nun schon seit drei Wochen am Starnberger See. Sie hatten ein herrliches Leben gehabt. Der Streit, in dem sie sich befanden, ging darum, ob es nun Zeit wäre, das Winterquartier zu beziehen. Er war dafür und hatte verschiedene Vorschläge gemacht. Sie war dagegen, weil sie die Langeweile fürchtete, die ihr im Winterquartier sicher bevorstand. Deshalb hatte sie bisher an allen seinen Vorschlägen etwas auszusetzen gehabt. Er dagegen war davon überzeugt, dass der richtige Zeitpunkt zur Übersiedlung beinahe schon verpasst wäre. Er musste diplomatisch vorgehen, um ihr Einverständnis zu gewinnen.

»Lass uns rausgehen«, sagte er. »Wir machen einen langen Spaziergang. Das wird uns guttun.«

»Ich möchte ein Glas Wein«, antwortete sie.

Aber sie drehte ihm nicht mehr den Rücken zu. Er sah sie an, ihr rundes hellhäutiges Gesicht, die braunen Augen und die braunen Haare, die sich um ihr Gesicht kringelten. Sie hatten einen Sommer, einen Winter und wieder einen Sommer miteinander verbracht, und er langweilte sich immer noch nicht mit ihr.

»Lass uns gehen«, sagte er. »Wir gehen ein Stück, und wenn wir eine schöne Bar finden, bekommst du deinen Wein.«

Er hatte nicht mehr viel Geld, aber Wein war noch möglich. Auch wegen des Geldes mussten sie ins Winterquartier.

Als sie an der Rezeption vorüberkamen, sprach die Wirtin sie an. »So ein schöner Tag, da muss man raus, nicht wahr? Wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben werden?«

Die beiden blieben stehen.

»Meinetwegen solange Sie wollen«, setzte die Wirtin schnell hinzu, »es kommen nur manchmal Anrufe, und ich möchte die Leute nicht abweisen, wenn es nicht nötig ist. Das verstehen Sie doch?«

»Wir entscheiden uns heute«, antwortete Pit. »Wahrscheinlich können wir Ihnen schon Bescheid geben, wenn wir zurück sind.«

Auf dem Tresen der Rezeption stand ein Topf mit einem kleinen Nadelbaum. Winzige rote Kugeln hingen daran. Die gleiche Dekoration gab es auch im Restaurant an den weiß gedeckten Tischen.

Ihm war klar, dass er das Gerede der Wirtin nutzen konnte, um seinen Umzugsplänen mehr Nachdruck zu verschaffen, aber er wusste auch, dass er im Recht war mit seinen Überlegungen. Um ins Winterquartier zu kommen, würden sie wahrscheinlich zwei bis drei Tage brauchen. In der Zeit mussten sie essen, mit der Bahn fahren und genug Geld für Grits Wein haben. Für ein paar Tage würde reichen, was er in der Tasche hatte; auch noch ein wenig länger. Aber es wurde wirklich Zeit, dass er anfing zu arbeiten.

Sie benutzten den Ausgang, der durch den Speisesaal und über die Terrasse nach draußen führte. Im Saal roch es nach Tannengrün. Die Dekoration, die auf dem Flügel gestanden hatte, war abgeräumt worden. Am Abend würde es das Hauskonzert geben, von dem ihnen die Wirtin seit Tagen begeistert erzählte. Auch Gäste von auswärts wurden erwartet.

Die breite überdachte Terrasse war leer. Korbstühle und Tische waren an den Wänden aufgestapelt worden. Der Wind, der sie empfing, als sie unter dem schützenden Dach hervorkamen, war eisig und scharf.

Sie gingen nebeneinander, eng zusammengedrängt, einer den anderen gegen den Wind schützend. Sie gingen schnell und sprachen nicht.

Was für ein Leben, dachte er, und er war sicher, dass sie das Gleiche dachte.

In Tutzing betraten sie ein spanisches Restaurant. Es war klein und dämmerig. Ein einsilbiger dunkelhaariger Kellner servierte ihnen zum Wein in gebratenem Speck eingewickelte Pflaumen. Es dauerte eine Weile, bis sie sich aufgewärmt hatten. Pit bestellte ein zweites Glas Wein für Grit und für sich einen Kaffee. Grit schob ihre Hand über den Tisch, der niedrig war und schwarz lackiert, und berührte seine Fingerspitzen.

»Hast du gesehen«, fragte sie, »heute Abend, das Fest?«

Er sah sie dankbar an. Sie waren sich einig. Der Streit war beendet.

Auf dem Weg ins Hotel hatten sie den Wind im Rücken. Sie gingen leicht, auch weil nun wieder alles in Ordnung war zwischen ihnen. Es roch nach fauligem Laub, und auf dem See trieb ein einzelner Schwan auf die Roseninsel zu. Der Wind erfasste ihn von der Seite und blies seine Federn auseinander. Die Roseninsel war ein dunkler bewegungsloser Block im Wasser.

Er wandte den Kopf und musterte Grit von der Seite. Bevor sie sich kennengelernt hatten, waren sie beide allein durch die Welt gezogen. Er hatte gleich gemerkt, dass sie eine gewisse Erfahrung darin hatte, in Hotels zu übernachten, ohne zu bezahlen. Es war nicht nötig, dass er ihr etwas beibrachte. Aber seit sie zusammen lebten, überließ sie ihm die Initiative. Und er konnte nicht einmal sagen, dass ihm das missfiel. Er spürte, dass er Lust hatte, mit ihr zu schlafen.

»Du siehst wunderbar aus«, sagte er, und sie blieben stehen und küssten sich.

Als sie die Rezeption betraten, sah ihnen die Wirtin freundlich entgegen.

»Wir reisen morgen ab«, sagte Pit.

»Wie schön«, sagte sie, »dann können Sie ja unser Hauskonzert noch miterleben. Wir essen heute etwas früher, die Hausgäste, meine ich. Aber wenn Ihnen das zu früh ist, können Sie auch nach dem Konzert ans Buffet gehen.«

Von ihrem Zimmer aus sah man über den Golfplatz bis hinunter zum See. Sie hatten aber nur einen flüchtigen Blick für die Schönheit der Aussicht, und als sie miteinander geschlafen hatten, war es dunkel. Sie standen auf, packten zusammen, was sie besaßen, stellten die Taschen zurück in den Wandschrank und gingen unter die Dusche.

»Für ein Hauskonzert bin ich nicht angezogen«, sagte Grit, und er versicherte, dass sie die Schönste von allen sein würde. Das war dann nicht ganz richtig, aber beinahe. Die Damen aus der Umgebung waren durchaus imstande, aus dem Hauskonzert eine kleine Modenschau zu machen. Wenn man genug Geld hat, kann man sogar Geschmack kaufen, dachte Pit. Die Wirtin und ihre Freundinnen trugen Lodenkostüme, und sie sahen selbst darin elegant aus. Pit amüsierte sich damit, den Wert der Brillanten zu schätzen, die an Händen, Ohren und Hälsen getragen wurden. Für einen Dieb wäre der Abend bestimmt lohnend gewesen.

Der Pianist war ein kleines verwachsenes Männlein mit großen spinnenfingerigen Händen. Aus den Gesprächen der Gäste entnahmen sie, dass er berühmt war. Als die Wirtin sich neben den Flügel begab und den Pianisten in der einsetzenden Stille begrüßte, wurde begeistert geklatscht.

Der Pianist beachtete den Beifall nicht. Überhaupt machte er den Eindruck, als wäre ihm dieser Auftritt lästig und er nur hier, um der Wirtin einen Gefallen zu tun. Als er sich setzte und zu spielen begann, hingen die Schöße seiner Jacke wie lahme Flügel an beiden Seiten des Klavierhockers herunter. Das war ein merkwürdiger Anblick. Es schien, als wäre alle Kraft, die in dem kleinen Mann steckte, in seinen Händen versammelt und reiche deshalb nicht aus, um noch irgendeinen anderen Teil seines Körpers oder seiner Kleider zu bewegen.

Grit und Pit langweilten sich nicht, auch wenn sie dem Klavierspiel kaum zuhörten. Eine gewisse Erregung hatte sie ergriffen, die Erregung, die sie jedes Mal spürten, bevor sie aufbrachen. Ihre Sinne waren geschärft, ihre Blicke aufmerksam. Aber es geschah nichts Ungewöhnliches, wenn man davon absah, dass ein Hauskonzert im festlichen Rahmen nicht das war, was sie gewöhnlich erlebten. Offenbar hatte niemand Verdacht geschöpft. Weder tuschelten die Kellnerinnen mit der Wirtin, noch erschien der Hausbursche, um eine wichtige Mitteilung zu machen. Sie hatten sich in die letzte Reihe gesetzt. Als das Konzert beendet war und alle aufstanden, um zu klatschen und halblaut »bravo« zu rufen, ging die Wirtin an ihnen vorüber und lächelte ihnen zu.

Die Speisen auf dem Buffet waren nicht in der Hotel­küche hergestellt worden. Die Wirtin hatte sie vom Käfer in München kommen lassen, in der sicheren Annahme, dass für die Damen aus den umliegenden Villen nichts anderes in Frage kam. Auch ein paar Herren waren während der letzten Takte der einzigen Zugabe erschienen; unter dem Vorwand, eigentlich nur die Damen abholen zu wollen, machten sie sich über das exzellente Buffet her. Während sich die Zuhörer auf das Essen stürzten, als hätten sie wochenlang gehungert – die Wirtin hatte den Raum im Halbdunkel gelassen, so dass die Steine an Fingern, Armen und Hälsen rund um das Buffet besonders schön funkelten –, verließen Grit und Pit unbemerkt das Haus.

Die S-Bahn nach München war leer. Außer drei älteren Frauen, die laut miteinander sprachen und die Pit für ­Bäuerinnen hielt, weil er kein Wort von dem verstand, was sie sagten, war niemand im Wagen. Sie hatten beschlossen, mit dem Zug zu fahren, weil es in der Dunkelheit schwer sein würde, per Anhalter mitgenommen zu werden. Pit löste beim Schaffner zwei Karten bis Augsburg. Grit schlief schnell ein, und er ließ sie schlafen bis kurz vor Kassel-Wilhelmshöhe. Dort wechselte das Personal der Bahn. Sie stiegen aus, nahmen ein Taxi und ließen sich ins Hotel Wilhelmshöhe bringen. Im Frühjahr waren sie schon einmal im Park von Wilhelmshöhe gewesen. Er hatte Grits sehnsüchtige Blicke auf das schön gelegene Hotel nicht vergessen. Jetzt freute er sich über ihr strahlendes Gesicht, während sie an der Rezeption standen und er den Anmeldezettel ausfüllte.

»Geh schon an die Bar, Liebes«, sagte er, »welche Zimmernummer?«

»Zweihundertvier«, antwortete das Mädchen freundlich, »Sie können die Getränke gern aufs Zimmer ­schreiben lassen.«

Obwohl sie müde waren, ein wenig zitterte in ihnen auch die Anspannung der Abreise aus Feldafing nach, genossen sie die Stille in der großen Hotelhalle, das sanfte Licht der beiden beleuchteten Weihnachtsbäume am Eingang, die leise Hintergrundmusik an der Bar, die unverhohlene Bewunderung des jungen Mädchens, das sie bediente. Sie waren ein schönes Paar, und sie waren geübt darin, sich mit den Augen anderer zu betrachten. Für ihre Lebensweise war das genauso unerlässlich, wie auf den Gebrauch eines Mobiltelefons zu verzichten.

»Frühstück um neun?«, fragte Grit später, während sie das Formular für die Bestellung ausfüllte, bevor sie es von außen an die Zimmertür hängte.

Obwohl Pit einen Augenblick daran gedacht hatte, dass es nicht so einfach sein könnte, am Morgen unbemerkt zu verschwinden, denn die Hotelhalle war übersichtlich, der Tresen der Rezeption lang, so dass abreisende Gäste gut zu überblicken sein würden, schlief er schnell ein. Sie schliefen beide tief und ohne sich am Morgen noch an ihre Träume erinnern zu können.

Ihre Abreise war dann sehr viel einfacher, als er sie sich am Abend vorgestellt hatte. Sie fuhren nach dem Frühstück mit dem Fahrstuhl in die Garage, verließen das Hotel durch die Garagenausfahrt, machten einen herrlichen kleinen Spaziergang über Kieswege, an bereiften Wiesen und Bäumen vorbei, fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof und nahmen den nächsten Zug nach Norden.

 

Es war Abend, als sie auf der Insel ankamen.

Vor dem Bahnhof stand eine Telefonzelle, aber Pit sagte, die wolle er nicht benutzen, und sie gingen ein Stückchen bis zum nächsten Telefon. Sein Bruder war zu Hause. Während Pit mit ihm sprach, hörten sie im Hintergrund die Stimme seiner Frau und mehrere Kinderstimmen. Es war nicht zu unterscheiden, ob seine Nichten und Neffen oder der Fernsehapparat den Lärm verursachten; wahrscheinlich alle zusammen. Er entfernte den Hörer ein wenig vom Ohr.

»Mann, ich hab gedacht, ihr hättet euch eine anständige Arbeit gesucht«, sagte der Bruder.

Grit und Pit lächelten sich zu. Pits Bruder war eine Seele von Mensch, aber vom Leben – und Schreiben – hatte er keine Ahnung. Sie verabredeten sich mit ihm in einer Stunde, gingen in eine Teestube, tranken Tee mit Rum und warteten.

Während sie warteten, glaubte Pit, dass Grit missmutig aussähe. Er würde ernsthaft mit ihr darüber reden, dass sie ihre Einstellung zum Winterquartier ändern müsste. Er brauchte diese Zeit, um für den Rest des Jahres das nötige Geld herbeizuschaffen für das Leben, das ihnen beiden gefiel.

Als der Bruder die Teestube betrat, im Gegensatz zu Pit war er klein, blond und breitschultrig, standen beide erleichtert auf. Obwohl außer der Bedienung, einer zierlichen mittelalten Dame in blau-weiß gestreifter Bluse und dunkelblauem Rock, niemand dort gewesen war, hatten sie sich ein wenig wie auf dem Präsentierteller gefühlt, eine Empfindung, die vielleicht schon mit der Aussicht darauf zusammenhing, wie sie die Wochen bis zum Frühjahr verbringen würden.

»Im Augenblick ist alles leer«, sagte der Bruder, während sie zum Auto gingen. »Aber denkt bloß nicht, ihr könntet deshalb am Tage ausgehen. Wenn ihr nachts das Haus verlasst, macht kein Licht, und tagsüber …«

»Ist ja gut, Karl«, sagte Pit. »Kein Mucks. Das wissen wir doch. Und über Weihnachten …«

»Da habt ihr Glück, diesmal. Die Leute sind in Florida.«

Grit, die hinter Karl auf der Rückbank saß, strich sanft über seine breiten Schultern.

 

Die letzten hundert Meter zum Haus gingen sie zu Fuß. Ihr Weg führte zwischen Hecken hindurch, hinter denen sich schwarz und still die Umrisse der verlassenen Häuser abzeichneten. Pit wäre es lieber gewesen, wenn es vor der Haustür einen Parkplatz gegeben hätte; nicht, weil ihm der Fußweg unbequem war, sondern weil man ein Auto, das vor dem Haus hielt, kaum überhören konnte. Aber weil er wusste, dass auf Karl Verlass war, dachte er nicht länger über die Lage des Hauses nach. Karl würde sie wegbringen, wenn die Besitzer sich ankündigten. Ausweichquartiere gab es genug.

Sie warteten, bis Karl die Taschen mit den Lebensmitteln abgestellt und das Haus wieder verlassen hatte, bevor sie sich in die Arme fielen. Grits schlechte Laune hatte sich nicht verstärkt, und er gab sich Mühe, auch noch den Rest davon verschwinden zu lassen.

»Ich glaub, es ist das Haus vom letzten Jahr«, sagte Grit irgendwann.

Da hockten sie auf dem breiten Sofa im Wohnzimmer, sahen Humphrey Bogart zu, der einen Sheriff spielte, ganz souverän, und dabei sah er so klein und dünn aus, dass man Mitleid mit ihm haben konnte.

»Ein bisschen siehst du ihm ähnlich«, sagte Grit, und sie lächelten beide, weil sie wussten, dass sie recht hatte und dass ihrer beider Aussehen auch eine Art Kapital war, von dem sie zehrten, wenn sie unterwegs waren.

»Weißt du schon, was du schreiben wirst?«, fragte sie später.

Da lagen sie nebeneinander in einem spitzgiebeligen Schlafzimmer und hörten dem Wind zu. Er war kräftiger geworden.

»Ich glaub schon«, antwortete er. »Ich werde unsere Geschichte schreiben, nur wird sie schlecht ausgehen.«

»Du meinst, man nimmt die beiden fest?«

Er hörte Grit kichern, wandte sich zu ihr um und versuchte ihr Profil zu erkennen. »Ich weiß noch nicht«, sagte er. »Ich weiß doch vorher nicht, wie die Geschichte endet.«

»Lass sie ruhig verhaften«, murmelte sie mit schläfriger Stimme. »Und dann besorgst du ihnen einen Rechtsanwalt, einen besonders schlauen, der durchsetzt, dass sie zusammen in eine Zelle gesperrt werden.«

Er wollte antworten, dass seine Geschichten nie ein Happy End hätten, aber dann hörte er, dass sie eingeschlafen war, und blieb still.

 

Die nächsten Wochen verliefen genau so, wie sie es vom vergangenen Jahr her kannten. Pit schrieb tagsüber an seinem Roman. Grit schlief lange, hielt sich danach lange im Badezimmer auf, hantierte ein wenig in der Küche mit den Lebensmitteln, die Karl an jedem dritten Tag brachte, und begann gegen Abend, sich zu langweilen. Pit schrieb dann nicht weiter, sondern las ihr vor, was er tagsüber geschrieben hatte. Anders als im letzten Jahr hörte Grit diesmal voller Interesse zu. Sie stellte gelegentlich sogar Fragen.

»Weshalb macht sie das?«

»Warum sind sie sich einig?«

»Gibt es wirklich solche Zufälle?«

Und Pit erschien es manchmal so, als wollte sie durch ihn ihre eigene Geschichte erklärt bekommen, die ihr bisher ein Rätsel gewesen war, ja von der sie angenommen hatte, dass es gar keine Geschichte wäre. Manchmal, gegen Abend, beobachtete er sie, wie sie an einem der Tag und Nacht verhängten Fenster saß, vor sich hin blickte und angestrengt nachzudenken schien. Er hörte dann auf zu schreiben und wartete, bis sie zu sprechen begann.

»Ich bin mit dir gegangen, weil nichts von dem, was ich bisher getan hatte, wirklich war«, sagte sie dann wohl, oder: »Ich glaube, du kannst froh sein, dass dein Vater ein Schwein war, nicht?«

Manchmal sahen sie in der Nacht einen Film und anschließend die Spätnachrichten. Sie sahen nichts, was sie interessierte, und lächelten ein wenig mitleidig über Polizisten, die nach Terroristen suchten. Die Nachrichten kamen aus einer hysterischen Welt, die sie nichts anging, und sie schalteten bald wieder ab.

Pit kam mit seiner Arbeit gut voran. Grit hatte nur selten schlechte Laune. Aber am schönsten waren die Nächte. Sie warteten immer bis Mitternacht, bevor sie das Haus verließen, obwohl sie von Karl wussten, dass die Häuser in der Nachbarschaft leer standen. Sie gingen dann durch die Dünen zum Strand. Die Augen gewöhnten sich sehr schnell an die Dunkelheit (»Wir sind Maulwürfe«, sagte Grit lachend), und schon nach kurzer Zeit kam es ihnen so vor, als wäre das Meer nachts gewaltiger als am Tag, als wäre der Strand nachts weißer als in der Sonne und als wären die Rufe der Nachtvögel lebendiger als die der Vögel am Tag.

Sie gingen vier oder fünf Stunden, bei jedem Wetter. Manchmal hockten sie in den Dünen, horchten auf das Wasser, das an den Strand schlug, und sahen Kaninchen zu, die im Mondschein herumhoppelten. Einmal schliefen sie ein und wachten erst auf, als es schon hell wurde. Es war klar, dass es zu spät geworden war, um ins Haus zurückzukehren. An diesem Tag blieben sie am Strand, tranken im nächsten Dorf in dem einzigen Café, das geöffnet war, Tee mit Rum zum Frühstück, kehrten dort gegen Abend noch einmal ein, um zu essen. Am Nachmittag waren sie im Kino gewesen, Grit war dort eingeschlafen, und er hatte mit Interesse den Untergang des Helden verfolgt, aber keine Parallelen zu ihrem Leben entdecken können. Was taten sie schon, dass es einer so empfindlichen Strafe bedurft hätte. Sie blieben bis weit nach Mitternacht am Strand und kehrten gegen Morgen müde und glücklich zurück, um zu schlafen.

Dann, eines Tages gegen Mittag, als Grit aufstand, um Kaffee zu machen, stellten sie fest, dass Karl nicht da gewesen war. Weder im Flur noch in der Küche stand die Tüte mit den Lebensmitteln, die sie erwarteten. Da sie glaubten, sich auf Karl verlassen zu können, und außerdem Vorräte reichlich vorhanden waren, dachten sie nicht weiter darüber nach. Fragen konnten sie ihn nicht, denn zwischen ihnen und Karl gab es zwei Absprachen, die unbedingt eingehalten werden mussten: Wenn sie aus dem Haus gingen, hatten sie zu warten bis nach Mitternacht. Und sie durften das Telefon im Haus nicht benutzen, weder um Karl noch um irgendjemand sonst anzurufen.

Karl kam auch in den nächsten Tagen nicht. Grit schlug vor, nachts in das nahegelegene Dorf zu gehen und nachzusehen, ob er zu Hause wäre.

»Weshalb sollte er nicht da sein«, sagte Pit. »Er hat Weib und Kind. Vielleicht hat er einfach nur die Grippe.« Aber insgeheim wusste er, dass Karl auch mit Grippe die Tüte mit den Lebensmitteln gebracht hätte. Es war seine Aufgabe, regelmäßig nach dem Haus, in dem sie wohnten, und nach ein paar anderen Häusern in der Nachbarschaft zu sehen, solange die Besitzer nicht dort waren. Und er war eben einer, auf den die Besitzer sich verlassen konnten.

»Teil die Lebensmittel, die wir haben, ein bisschen ein«, sagte Pit, »ich will sehen, dass ich fertig werde. Zwei, drei Tage, mehr brauche ich nicht. Wenn ich das Manuskript abliefere, haben wir die erste Rate.«

»Und wenn sie es nicht nehmen?«

»Schaf, weshalb sollten sie nicht? Es ist eine Liebesgeschichte, und du kommst drin vor.«

»Ich?«

»In jeder Liebesgeschichte muss eine wunderschöne Frau vorkommen, wenn sie den Leuten gefallen soll«, antwortete er, und seine Stimme klang so sicher, dass Grit beruhigt war.

Er selbst war es nicht. Dass der Verlag sein Manuskript nehmen würde, war sicher. Aber er hatte eine Beobachtung gemacht, die ihn beunruhigte. Als sie gegen Morgen nach Hause gekommen waren, hatte er geglaubt, einen Lichtschimmer unter der Haustür des Nachbarhauses gesehen zu haben. Er hatte daraufhin die beiden anderen in der Nähe liegenden Häuser betrachtet. Die Häuser waren sich ähnlich. Mit ihren tief heruntergezogenen Strohdächern standen sie wie riesige Steinpilze gegen den helleren Nachthimmel. Er hatte den schmalen Lichtschein auch unter den Haustüren der beiden anderen Häuser sehen können. Wurden sie beobachtet? Kaum vorstellbar. Karl hätte sie doch gewarnt.

Er wusste, dass die Häuser nicht bewohnt waren. In den vergangenen Wochen hatte er dieses Licht nicht bemerkt. Es wäre ihm aufgefallen, da war er ganz sicher. Vielleicht hatten sich dort heimlich Menschen einquartiert, Menschen wie Grit und er, die beschlossen hatten, nach ihren eigenen Regeln zu leben, sich an keine Konventionen zu halten, frei zu sein?

Der Gedanke war ihm unangenehm. Für ihn gehörte zu dem wunderbaren Leben, das sie führten, auch, dass allein sie auf die Idee gekommen waren, aus allem auszusteigen, nur das zu tun, was ihnen Spaß machte, nur ihrer Liebe zu leben. Er fühlte sich klebrig, unsauber, so als hätten ihn Hände berührt, die schmutzig waren, wenn er daran dachte, dass hinter den Türen vielleicht andere saßen, die ihnen ähnlich waren.

Es war klar: Sie mussten hier weg.

In den nächsten zwei Tagen schlief Pit nicht. Er schrieb, um fertig zu werden.

»Eine Nacht noch«, sagte er. »Irgendetwas ist los, ich spür’s doch. Ich kann heute Nacht nicht mitkommen. Wenn du zurück bist, bin ich fertig. Dann räumen wir auf, und sobald es dunkel ist, gehen wir.«

»Nachts fährt kein Zug von der Insel«, sagte Grit, »und ein Hotel kommt hier wohl nicht infrage.«

»Fang schon mal mit dem Aufräumen an. Und wenn du heute Nacht rausgehst, such dir eine Telefonzelle und versuch Karl zu erreichen. Sag ihm oder seiner Frau, egal, wer dran ist, sag, dass wir morgen weg sind. Das wird ihn erleichtern. Wir kriegen das schon hin. Zur Not bleiben wir in den Dünen, bis ein Zug fährt.«

Grit war erstaunt darüber, dass er es plötzlich so eilig hatte. Er sah es an ihrem Gesicht. Aber sie sagte nichts, und er war ihr dankbar dafür.

 

Grit kam nicht zurück.

Er war gegen Morgen mit der Arbeit fertig geworden, hatte hinter dem Fenster gesessen und auf sie gewartet, bis es begann, heller zu werden. Durch einen Spalt zwischen den hölzernen Fensterläden starrte er auf den von Heckenrosensträuchern eingefassten Weg, der zur Haustür führte. Er sah die zerzausten Sträucher, die rötlich schimmernden Hagebutten, das dunkle Pflaster des Weges, in der Ferne die unregelmäßige Linie der Dünen. Der Anblick, ein typisches Bild der Insel, gefiel ihm, aber je länger er hinausstarrte, desto trübseliger kam ihm die Landschaft da draußen vor, und am Ende, da war es schon hell und es war klar, dass Grit nicht mehr kommen würde, fragte er sich, weshalb sie hierher gegangen waren, in diese kahle, graue, abweisende Öde.

Er fragte sich auch, was er nun tun sollte. Es wurde ihm klar, dass er nicht die Geduld aufbringen würde, den Abend, die Dunkelheit abzuwarten, bevor er das Haus verließe. Er musste Grit jetzt suchen. Es konnte ihr etwas zugestoßen sein. Vielleicht lag sie in den Dünen und brauchte seine Hilfe. Vielleicht war sie auch nur zu lange bei Karl geblieben und hatte sich dann entschlossen, dort die nächste Nacht abzuwarten. Oder Karl war krank. Grit half seiner Frau, kümmerte sich um die Kinder. Es gab viele Möglichkeiten, die sie daran gehindert haben konnten, rechtzeitig zurückzukommen. Er musste sich Klarheit verschaffen.

Pit schloss die Taschen, seine und die von Grit. Er verstaute das Manuskript sorgfältig auf dem Boden von Grits kleinem Rucksack, den er auf den Rücken nahm, bevor er die Haustür öffnete, die Taschen davor auf den Boden setzte und die Haustür abschloss. Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche und wandte sich um.

Vielleicht war der Wind zu laut, oder er war mit seinen Gedanken zu weit weg gewesen. Er sah die vermummten Männer, die ihre Maschinenpistolen auf ihn gerichtet hatten, erst in diesem Augenblick. Sie mussten gar nicht sagen, dass er die Hände hochnehmen sollte. Er griff einfach nicht mehr nach den Taschen, sondern hielt die Hände in die Luft und wartete.

Einer der Bewaffneten hob seine Maschinenpistole ein wenig an. Pit sah, dass dessen Nebenmann den Mund bewegte, während er weiter zu ihm herüberstarrte, aber er konnte nicht hören, was der Mann sagte. Der Wind war zu heftig.

»Lass ihn«, hatte der Bewaffnete gesagt, »eine Tote reicht. Außerdem brauchen wir seine Aussage.«

Später dachte Pit manchmal, dass er die Männer vielleicht veranlasst hätte zu schießen, wenn er in diesem Augenblick gewusst hätte, dass Grit nicht mehr am Leben war. Aber sicher war er nicht.