Birgit Saalfrank

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

Patmos Verlag

ÜBER DIE AUTORIN

Birgit Saalfrank, Diplom-Psychologin und Psychologische

Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, erhielt

mit 39 Jahren die Diagnose »Asperger-Syndrom«, woraufhin

sie ihren Beruf nicht mehr ausüben konnte.

Seit 2011 ist sie engagiert in der Asperger-Selbsthilfe und arbeitet seit 2014

in einem sozialen Projekt für Menschen mit psychischen Erkrankungen.

ÜBER DAS BUCH

Birgit Saalfrank arbeitet als Psychotherapeutin in leitender Position, als sie sich in der Biografie einer Autistin mit Asperger-Syndrom wiedererkennt. Die Überforderung im Beruf, das Gefühl, nur noch zu funktionieren, die sozialen Probleme ergeben plötzlich ein Gesamtbild. Aber eine autistische Psychotherapeutin?

Kann es das geben? Nach der Diagnose mit 39 Jahren bricht Birgits Welt zusammen, der Beruf wird zu belastend, ihre Beziehung scheitert.

Wer ist sie selbst, wenn alles, woran sie sich festgehalten hat, wegfällt? Dies versucht sie mit Hilfe verschiedener Psychotherapien herauszufinden. Sie macht sich auf den Weg zu sich selbst und lernt dabei, authentischer, lebendiger und damit glücklicher zu leben.

Auch als Printausgabe erhältlich.

www.patmos.de/ISBN978-3-8436-1117-6

IMPRESSUM

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© 2019 Patmos Verlag

Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Bilder im Innenteil: © Birgit Saalfrank

ISBN 978-3-8436-1117-6 (Print)

ISBN 978-3-8436-1173-2 (eBook)

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Einige Namen, Orte und Einzelheiten wurden aus Gründen 

des Persönlichkeitsschutzes verändert. 


Für meine Psychoanalytikerin und für meinen Schatz



Danksagung

Die zündende Idee für die Realisierung meines Buchprojekts entstand am Abend des 17. Juli 2014 im Garten des Frauenbildungshauses in Zülpich, zusammen mit den Teilnehmerinnen des Seminars »­Autobiografisches Schreiben« bei Monika Winkelmann. Ihnen allen möchte ich herzlich für ihre Unterstützung danken!

An der Entstehung dieses Buches waren viele Menschen beteiligt. Manche waren Impulsgeber für das Schreiben an sich, andere haben Teile des Buches oder auch das ganze Manuskript gelesen und mir wertvolle Rückmeldungen dazu gegeben.

Namentlich seien an dieser Stelle genannt: Susanne Bergmann, Kirsten Dyes, Jens-Peter Garczarek, Eleonora Kohl, Thomas Kutzer, Christine Preißmann, Andreas Riedel, Reinhard Saalfrank, Bärbel Schober und Kathrin Schön.

Ganz herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen Lektorinnen Marlene Fritsch sowie Heike Hermann und Christiane Neuen vom Patmos Verlag für ihre wertvollen Anregungen zu meinem Text und zur Gestaltung des Buches.

Vorwort von PD Dr. Dr. Andreas Riedel

Autismus ist in den letzten Jahren zunehmend zum Inbegriff oder gar zur Allegorie der Einsicht geworden, dass der menschliche Geist – oder aus anderer Perspektive: die Funktion seines Gehirns – sehr unterschiedliche Formen annehmen kann: Menschliches Denken, Fühlen und Wollen kann von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein, und Autismus ist das Beispiel menschlichen Variantenreichtums, an dem sich das am einprägsamsten zeigen lässt. In vielen mehr oder weniger realistischen Versionen »spukt« die menschliche Normvariante Autismus durch die Medien, unter anderem durch Fernsehserien, Spielfilme und Romane. Die Protagonisten dieser Produktionen haben dabei meist ein sehr ungewöhnliches Sozialverhalten und sehr spezielle Begabungen. Irgendwie scheint das Label »Autismus« das Anderssein zu erlauben, ihm eine eigene Sphäre zu eröffnen, in der es, so normabweichend es auch sein mag, toleriert werden kann. Diese Entwicklung hat durchaus ihre Vorteile, ermöglicht sie doch die Klarheit darüber, dass es nicht nur einen Idealtyp Mensch gibt, sondern viele.

Auf der anderen Seite ist diese Entwicklung auch sehr anfällig für Klischeebildung: die mediale Darstellung deformiert Autismus schnell zu seiner eigenen Karikatur oder zur harmlosen Modeerscheinung, die lediglich nach ihrem Unterhaltungswert bemessen wird. Autismus ist aber weder Karikatur noch Modeerscheinung, sondern für die Betroffenen – und oft auch für die Angehörigen – ein Existenzial, welches weite Teile der Identität betrifft und Auswirkungen auf große Bereiche der Lebensführung hat, auch wenn die Auffälligkeiten an der Verhaltensoberfläche gar nicht so deutlich sein müssen.

Das wird in dem vorliegenden autobiografischen Bericht von Birgit Saalfrank mehr als deutlich. Epidemiologisch hat sich in den letzten Jahren recht klar gezeigt, dass Mädchen und Frauen aus dem Autismus-Spektrum häufiger als ihre männlichen Altersgenossen diagnostisch übersehen oder falsch zugeordnet werden. Das hat verschiedene Gründe. Erstens bilden die üblichen diagnostischen Instrumente für Autismus, die sehr an der Verhaltensbeobachtung orientiert sind, eher den männlichen autistischen Verhaltenstyp ab als den weiblichen. Zweitens kann vermutet werden, dass die weiblichen Betroffenen einem höheren sozialen Druck ausgesetzt sind und sich somit stärker anpassen müssen, um im sozialen Gefüge, beispielsweise der Schule, toleriert zu werden. Drittens ist zumindest denkbar, dass weibliche Betroffene im Durchschnitt höhere kompensatorische Möglichkeiten der sozialen Anpassung haben. Insofern verwundert es nicht, dass der Autismus von Birgit Saalfrank bis weit ins Erwachsenenalter hinein als solcher nicht erkannt wurde.

Im vorliegenden Buch beschreibt sie eindrücklich, wie sie mit allen erdenklichen Mitteln versuchte, ihr Anderssein, das für sie selbst keinen anderen Namen hatte als ein vages Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, vor der Welt und damit auch vor sich selbst zu verstecken. Mit außerordentlicher Willenskraft lernte sie im Psychologiestudium die Codes neurotypischen Sozialverhaltens und entwarf Algorithmen, um sie nachzubilden. Dies hatte durchaus »Erfolg« in dem Sinn, dass ihr von Partnerschaft bis zur beruflichen Karriere vieles gelang, allerdings unter Aufbietung aller mentalen Kräfte und unter Verlust eines zentralen Teils des Selbst (im Buch heißt dieser »Würzel«).

Der Autismus ist nun nicht nur im Leben der Autorin lange versteckt geblieben, sondern auch im Text des vorliegenden Buches über weite Strecken wenig sichtbar. Aber an Stellen wie der folgenden wird dann plötzlich deutlich, wie fundamental anders das Leben und seine sozialen Bezüge wahrgenommen und prozessiert werden: »(…) und ich erinnerte mich an eine Situation von früher, in der mir klar geworden war, dass Beziehungen zu anderen Menschen nicht allesamt identisch waren, sondern dass jede Beziehung anders war. Das hatte ich lange Zeit nicht verstanden. Zum Beispiel war ich während des Studiums davon ausgegangen, dass alle Beziehungen und Kontakte, die man hat, die gleiche Art von Nähe und Intimität aufweisen.« Man ahnt vor diesem Hintergrund immer wieder, wie anstrengend es gewesen sein muss, trotz des basalen Unterschiedenseins eine »neurotypische Oberfläche« zu produzieren. Das mehrfach (und retrospektiv auch kritisch) zitierte »Ich kann, was ich will!« wird in seiner Kraft an vielen Stellen deutlich, am Ende aber lässt sich das Buch als starkes Plädoyer für die Aussöhnung mit dem eigenen Sosein lesen, für die Akzeptanz der eigenen Grenzen, für das damit verbundene Loslassen des Kampfes und das Zulassen von Glück.

Interessanterweise wird auch der Text nach dem autistischen Schub, also der Hinwendung zu den eigenen autistischen Anteilen, spürbarer und entwickelt Sog und Kraft, auch wenn oder gerade weil die Autorin plötzlich das wird, was sie schon immer war: sie selbst und somit anders als viele ihrer Mitmenschen. Die Metamorphose zum eigenen Sosein, das in vielerlei Hinsicht nicht »passt« – zur Arbeitswelt, zu den Klischees eines Menschen und zum Selbstentwurf –, ermöglicht am Ende lebendige Kontakte und Beziehungen und auch ein Wieder-offen-Werden für die vielen Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen.

Das Buch ist mindestens ebenso, wie es ein Buch über hochfunk­tionalen Autismus ist, ein Buch über den Wandlungsprozess in der Psychotherapie/Psychoanalyse. Und da die Autorin Psychotherapie von beiden Seiten her kennt und wie nebenbei die eigenen inneren Transformationsprozesse reflektieren kann, gelingt ihr die Darstellung der Psychoanalyse in außerordentlicher Dichte, immer wieder erinnernd an Tilmann Mosers »Lehrjahre auf der Couch«. Psycho­therapie zeigt sich hier als die Kunst, den oft schwierigen und hochgradig beängstigenden Weg zu sich selbst zu begleiten, ohne Vorgaben durch Normen, wie der Mensch zu sein habe, was er wollen müsse und was seine natürlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse seien. Das Buch zeigt, dass Psychotherapie dort ihre Stärke gewinnt, wo sie ihre eigenen ­Interpretationsschemata und impliziten Stereotypien davon, was Mensch­sein ist, infrage zu stellen wagt. Und es ist ein starkes Argument für Psychotherapie ohne vorgegebene Weg- und Zielvorgaben. Es bleibt mir noch, dem Buch eine neugierige, offene und vielleicht sogar lernbereite Leserschaft zu wünschen.

PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel

Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen

im Erwachsenenalter

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

am Universitätsklinikum Freiburg i. Br.

Prolog

September 2011.

Ich stehe mit Anna an einer Tischtennisplatte in einem kleinen Park in Frankfurt am Main. Gerade haben wir in einem nahe gelegenen Café einen Cappuccino getrunken. Anna hatte vorgeschlagen, ein bisschen Tischtennis zu spielen.

Aber meine Gedanken sind woanders.

Heute habe ich endgültig meine berufliche Wiedereingliederung als Leitung eines Psychosozialen Zentrums aufgeben müssen. Ich bin eindeutig zu krank dafür. Kann nicht mehr. Kann gar nicht mehr.

Seit vielen Jahren bin ich ausgebrannt. Jetzt ist wohl das Ende da.

Wie soll mein Leben weitergehen? Muss ich in Rente gehen? Mit nur vierzig Jahren? Ein entsetzlicher Gedanke.

Meine Welt bricht zusammen. Wieder einmal.

Herkunft

Dass ich tatsächlich anders war als andere Menschen, war mir lange Zeit nicht wirklich bewusst. Das lag daran, dass ich Persönlichkeit als etwas ansah, was man bei sich selbst beliebig formen und gestalten kann. Der Satz »Ich kann, was ich will!« formte sich in mir schnell zu dem Glauben »Ich kann sein, wer ich will!«. Ich wusste nicht, dass jeder Mensch von Natur aus bestimmte Anlagen mitbringt, die seine Identität zu einem großen Teil determinieren. Meine Mutter hatte mir von früh an vermittelt, dass es wichtig sei, lustig und fröhlich zu sein, damit andere Menschen Interesse daran hätten, mit mir zusammen zu sein. Dieser Maxime, die meiner eigentlichen Persönlichkeit zutiefst widersprach, folgte ich über viele Jahre – in der Hoffnung, auf diese Weise endlich guten Kontakt zu anderen Menschen herstellen zu können. Durch dieses anhaltende Bemühen meinerseits, anders zu sein, als ich war, dauerte es auch so lange, bis ich schließlich im Alter von 39 Jahren als Asperger-Autistin diagnostiziert wurde.

Aber ich will von Anfang an erzählen.

Auf der Welt

Ich war das erste Kind meiner Eltern und kam an einem sonnigen Mittwoch im März 1971 in der Münchner Uniklinik auf die Welt – unterstützt von einer Saugglocke, da ich etwas schräg im Mutterleib lag. Direkt nach der Geburt erbrach ich alles, da ich wohl Fruchtwasser geschluckt hatte, und hatte Saugschwierigkeiten, also wurde ich die ersten sechs Tage künstlich ernährt. Gestillt worden bin ich nicht.

Gesprochen habe ich schon sehr früh, laufen gelernt jedoch erst im siebzehnten Lebensmonat. Das weiß ich so genau, weil meine Mutter in meinen ersten Lebensjahren für eine Forschungsstelle der Münchner Uniklinik meine Entwicklung genau protokolliert hat.

Meine Mutter bemühte sich von früh an darum, dass ich mit anderen Kindern spiele. Immer wieder setzte sie mich in den Sandkasten zu Gleichaltrigen, aber ich krabbelte immer zu ihr zurück. Sie tat das, so sagt sie heute, weil sie selbst als Kind nie mit Gleichaltrigen spielen durfte und sie ihre eigenen Kontaktschwierigkeiten darauf zurückführte. Mit drei Jahren kam ich in den Kindergarten, kurz nachdem wir von München nach Oberursel im Taunus, in die Nähe von Frankfurt am Main gezogen waren. Ich weinte nach Aussage meiner Mutter immer sehr lange, wenn sie mich morgens im Kindergarten abgab. Erinnerungen an die Kinder aus meiner Gruppe oder was ich dort gespielt hätte, habe ich nicht. Es gibt nur ein Mädchen, mit dem ich auch außerhalb des Kindergartens weiter befreundet war.

Vor einiger Zeit habe ich mit meiner Mutter sämtliche Fotos aus meiner Kinderzeit angeschaut. Dabei ist uns aufgefallen, dass ich bis zum Alter von etwa drei Jahren stets fröhlich und aufgeweckt auf den Bildern wirkte. Vom dritten oder vierten Lebensjahr an sehe ich jedoch fast immer ernst und verschlossen aus. Ob das nun an dem Umzug von München nach Oberursel lag, daran, dass ich nun in den Kindergarten ging oder an dem beginnenden Asperger-Syndrom, lässt sich im Nachhinein nur schwer beantworten.

Das große Ehebett meiner Eltern beziehungsweise genauer gesagt der Raum darunter war eine Schatzkiste für mich. Man konnte nämlich unter das Bett krabbeln, wo lauter interessante Sachen verstaut waren, zum Beispiel alte Schuhe oder auch die Stöckelschuhe meiner Mutter, über die ich mich schon als kleines Kind lustig gemacht habe, weil ich nicht verstand, wieso erwachsene Frauen so unpraktische Schuhe anzogen, in denen man kaum laufen konnte. Was ich auch sehr geliebt habe, war der Raum unterhalb des Arbeitstisches meiner Mutter im Elternschlafzimmer. Gelegentlich habe ich Decken über den Tisch gelegt und mir dort eine Höhle gebaut, in der ich mich gut geschützt aufhalten konnte.

Frühes Leid

Kurz vor meinem fünften Geburtstag, als meine Mutter mit meiner Schwester schwanger war, brachten mich meine Eltern zu einer Kinderpsychologin, die zunächst verschiedene Tests und Untersuchungen mit mir anstellte. Gründe dafür gab es mehrere: Ich litt unter Pavor Nocturnus, also nächtlichen angstvollen Schreianfällen, aus denen mich meine Eltern nur schwer aufwecken konnten. Ich hatte außerdem oft »Beinweh« als Kind: Die Waden schmerzten dann sehr unangenehm. Einmal wachte ich nachts auf und saß in der Badewanne, während meine Eltern besorgt um mich herumstanden. Sie dachten damals offensichtlich, dass ich vielleicht weinte, weil mir die Beine wehtaten, und setzten mich in die Wanne in der Hoffnung, dass mir das warme Wasser guttun würde. In dieser Zeit wurden bei mir öfters EEGs abgeleitet, da die Ärzte im Zusammenhang mit meinen nächt­lichen Schreianfällen, die mit Verkrampfungen der Hände einhergingen, den Verdacht auf ein cerebrales Anfallsleiden hatten, der sich aber nicht bestätigte. Außerdem machte sich meine Mutter Sorgen, dass ich im Kindergarten mit den anderen Kindern nicht gut zurechtkommen würde. Diese Sorgen hat meine Kindergärtnerin laut dem Gutachten der Psychologin jedoch nicht geteilt, sie empfand mich weder als ängstlich noch als störend. Allerdings fand sie, dass ich noch lernen müsse, in Gruppen zu spielen und mich in diese zu integrieren. Wenn ich mit einem anderen Kind spielte, dann immer nur in der Eins-zu-eins-Situation, alles andere überforderte mich. Darüber hinaus habe ich bis zu meinem fünften Geburtstag noch ins Bett gemacht beziehungsweise hatte nach unserem Umzug nach Oberursel diesbezüglich einen Rückfall.

Ich war schon als Kind sehr geräuschempfindlich, hielt mir zum Beispiel immer die Ohren zu, wenn ein Zug vorbeifuhr. Außerdem hatte ich einige vokale Stereotypien, das heißt, ich wiederholte bestimmte Wörter oder Sätze, wo es nicht notwendig gewesen wäre. Wenn mir etwas gut gefiel, erkundigte ich mich beispielsweise bei meinen Eltern, ob wir das »immer mal wieder« machen würden und war erst beruhigt, wenn sie meine Frage bejahten. Als ich dann in die Schule kam, ging ich jeden Morgen mit dem an meine Mutter gerichteten Satz aus dem Haus: »Du bist da, wenn ich komme, sonst gehe ich zu Fichtes.« Meine Mutter musste mir dann versichern, dass sie mich verstanden hatte. Die Familie Fichte wohnte auch in unserer Spielstraße, sie hatten zwei Söhne in meinem Alter.

Die folgenden Angaben über meinen Entwicklungsstand und meine Auffälligkeiten habe ich dem Befundbericht der damaligen Psychologin entnommen, der mir vorliegt. Darin schreibt sie, dass sie bei mir eine »extravertierte Erlebnisrichtung« feststellt, was so gar nicht mit meinem rückblickenden Selbsterleben zusammenpasst. Mit Extraversion bezeichnet man eine nach außen gewandte Haltung und Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt und anderen Menschen, während introvertierte Menschen eher auf sich selbst bezogen und mit ihrem Innenleben beschäftigt sind. Vielleicht zeigte sich dieses Extravertierte in der Untersuchungssituation aber auch nur deshalb, weil ich alleine mit einer erwachsenen Person sprach, die sich mir vermutlich freundlich zuwandte. Im Kontakt mit fremden beziehungsweise mehreren Kindern gleichzeitig (zum Beispiel im Kindergarten oder später in der Schule) verhielt ich mich meiner Erinnerung nach immer eher zurückhaltend, beobachtend und still.

Die Psychologin diagnostizierte außerdem starke Antriebsenergien, die sich noch inadäquat am eigenen Körper abreagieren würden (zum Beispiel Haare drehen), sowie weitere Stereotypien bezüglich des Sammelns und Hortens – ich sammelte unter anderem Bierdeckel, Postkarten, Schlümpfe und benutzte Eisverpackungen. Oftmals sprach ich kindisch und verhielt mich zwanghaft in Bezug auf das Schließen von offenen Schubladen oder ich strich umgelegte Tep­pichecken wieder gerade (das allerdings schon als Kleinkind in München). Mein Selbstbewusstsein war eher gering ausgeprägt, stellte die Psychologin fest.

Auf einem Bild malte ich mich ganz nah bei meiner Mutter und keine anderen Kinder dazu, was interpretiert wurde als nicht mehr ganz altersgemäße Orientierung in Richtung Mutter statt hin zu Gleichaltrigen. Das passt gut, ich glaube, ich war sehr auf meine Mutter bezogen. Erst im Lauf der Grundschuljahre gelang es mir, alleine bei meiner Freundin Martina zu übernachten. Ich hatte abends sonst Heimweh und meine Eltern mussten mich einige Male spätabends wieder abholen kommen.

Von der Psychologin danach gefragt, wen ich am meisten lieben würde, gab ich damals meinen Teddy an, d. h. keine Bezugsperson. Bei einem Test musste ich mehrere Sätze vervollständigen: Traurig und schlimm fand ich es demnach immer, wenn ich alleine zu Hause war – was komisch ist, da ich mich real nicht daran erinnern kann, dass meine Eltern mich je alleine zu Hause gelassen hätten. Auch meine Mutter bestreitet das; eine Ausnahme war höchstens, dass sie manchmal zum Einkaufen ging, wenn ich nachmittags schlief.

Die Psychologin mutmaßte, dass ich insgesamt unter Verlassenheitsgefühlen in der Familie litt und unter entsprechenden Wünschen nach Zuwendung, die eventuell zu stark seien. Den Satzanfang »In meiner Familie bin ich ...« hatte ich folgendermaßen vervollständigt: »... Gast, so wie wenn einer zu Besuch ist.«

Dann sollte ich einen Wunsch angeben, den ich gern erfüllt hätte. Das war für mich ein großer Plüschesel (den ich allerdings schon besaß). Schon als Kind hatte ich eine intensive Beziehung zu meinen Kuscheltieren, die aufgereiht neben mir im Bett schliefen und fast ein Drittel des Bettes einnahmen. Mit Puppen konnte ich nichts anfangen, auch mit Barbiepuppen nicht.

Im Anschluss an die Diagnostik nahm ich an insgesamt 35 Spieltherapiestunden teil, zusammen mit zwei anderen Mädchen in meinem Alter. Besondere Erinnerungen an diese Zeit habe ich jedoch nicht mehr, auch nicht an die anderen beiden Kinder.

Damals malte ich gern. Ich erinnere mich, dass ich in meiner Grundschulzeit immer dann, wenn ich einen Menschen oder ein Tier alleine auf ein Blatt Papier malte, in einer Sprechblase dazuschrieb: »Ich kann zaubern.« Es war mir ganz wichtig, dass das Geschöpf auf dem Papier sich jederzeit einen Gefährten dazuwünschen könnte, damit es nicht ungewollt alleine sein müsste.

In einem Winter meiner Kindergartenzeit baute ich einmal auf einem Feld einen großen Schneemann. Danach wollte meine Mutter mit mir nach Hause gehen. Aber ich war so traurig, weil der Schneemann alleine war. Also baute ich für ihn einen weiteren kleinen Schneemann, damit er Gesellschaft hätte. Dann erst war ich bereit für den Heimweg.

Als Kind bin ich nachts immer zu meinen Eltern ins Bett gekrochen. Meine Mutter erzählte mir, dass sie deswegen oft nicht habe schlafen können. Irgendwann sei sie einmal so erschöpft und ver­ärgert gewesen, dass sie mich weggeschickt und gesagt habe, wenn ich noch einmal käme, ginge sie in ein Hotel. Das muss mich so erschreckt haben, dass ich daraufhin nie wieder zu ihr ins Bett ging. Im Nach­hinein tat meiner Mutter ihr Ausbruch leid, wie ihr überhaupt vieles leidtut aus unserer Kindheit, beispielsweise dass wir nicht miteinander geredet haben und es in unserer Familie nicht heiter und unbeschwert zugegangen ist. Letzteres habe ich persönlich aber gar nicht vermisst. Es wäre nur gut gewesen, wenn sich jemand emotional um mich gekümmert hätte, was nicht der Fall gewesen ist. Das lag sicher an verschiedenen Faktoren. Zum einen kannten es meine Eltern, die beide Kriegskinder waren, auch nicht aus ihren Familien, dass man miteinander redete und emotional für seine Kinder da war – zumindest in der Familie meiner Mutter war das so. Darüber hinaus hat meine Mutter in Bezug auf soziale Interaktionen und ihre Empathiefähigkeit in meinen Augen ebenfalls deutlich autistische Züge und konnte deshalb nur eingeschränkt auf meine emotionalen Bedürfnisse eingehen. In Bezug auf meinen Vater bin ich mir relativ sicher, dass er die Diagnose eines Asperger-Syndroms erhalten hätte, wenn damals die hochfunktionale Diagnostik schon so weit gewesen wäre.

Obwohl ich in einer emotional sehr kargen Familienatmosphäre aufgewachsen bin, waren meine Eltern durchaus bemüht um mich. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass meine Mutter mich im Alter von fünf Jahren zu der genannten Psychologin gebracht hat. Außerdem hat sie ein Jahr später einen ausführlichen, zweiseitigen Brief an die Münchner Uniklinik geschrieben und um Rat ersucht: Ich würde mich von mir selbst aus so gut wie nie zu einer Aktivität aufraffen können, sondern die meiste Zeit in der Wohnung herumsitzen oder -liegen. Wenn meine Mutter etwas mit mir machen würde, würde nichts dabei herauskommen, zum Beispiel nur Farbgekritzel. Oft würde die Tätigkeit dann auch bald wieder von mir abgebrochen werden. Sie erlebe mich als sehr antriebsarm, lustlos, passiv und ständig über Müdigkeit klagend. Offensichtlich litt ich damals schon unter einer depressiven Symptomatik, vielleicht als Reaktion auf die Einschulung und meine Schwierigkeiten mit den anderen Kindern. Ich hatte meiner Mutter damals erzählt, dass ich in den Pausen von anderen Kindern oft »gefangen« wurde, was mir große Angst gemacht hat. In den Pausen stand ich viel herum und spielte nicht mit den anderen Kindern, obwohl ich es gerne gewollt hätte.

Mit den Jahren hat sich die depressive Symptomatik wohl von selbst wieder etwas gebessert beziehungsweise ist nicht mehr so deutlich in Erscheinung getreten.

Spiele

Gemeinsam mit meiner Schwester Simone, die fünfeinviertel Jahre jünger ist als ich, teilte ich mir bis kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag das Kinderzimmer. Wir hatten ein gemeinsames Etagenbett: Ich schlief oben, Simone unten. Wichtig war mir von jeher, meine Sachen beziehungsweise meinen Raum abzugrenzen. Dabei legte ich einmal mithilfe einer Schnur eine genaue Grenze zwischen Simones und meinen Teil des Zimmers und untersagte meiner Schwester, meinen Teil zu betreten.

Als Kind besaß ich einen kleinen gelben Koffer, den ich mit Spielsachen befüllen und selbst tragen durfte, wenn wir zu meiner Oma (mütterlicherseits) nach Sigmaringen fuhren. Ich liebte es, die Sachen darin immer wieder neu zu ordnen, sodass der Platz im Koffer optimal ausgefüllt werden konnte. Fast alle Ferien verbrachten wir im Haus meiner Oma, da meine Eltern kein Geld hatten, um mit uns weiter weg in Urlaub zu fahren.

Wenn wir bei meiner Oma waren, fand immer ein großes Familientreffen statt. Meine Cousins und Cousinen hatten leider bald herausgefunden, dass mir mein Teddy sehr wichtig war. Also nahmen sie ihn mir einmal weg, hielten ihn aus dem Fenster des ersten Stocks und drohten, ihn fallen zu lassen. Das war schlimm für mich, da meine Stofftiere für mich echte Lebewesen waren, die Schmerzen empfinden konnten. Ich konnte auch nie aushalten (und kann es bis heute) nicht, wenn ich einem Kuscheltier ein Bein umgeknickt hatte, denn für mein Empfinden tut ihm das weh!

Meine Schwester und ich durften nur selten fernsehen, und wenn, nur ausgewählte Sendungen. Meine Mutter hielt viel von der antiautoritären Erziehung und war ein großer Fan der Kindersendung »Rappelkiste«, in der die beiden Handpuppen »Ratz und Rübe« selbstbewusst ihre Meinung zu Angelegenheiten von Kindern vorbrachten. Die Erwachsenen schnitten dabei oftmals schlecht ab. Dann gab es natürlich noch die »Sendung mit der Maus«. In eine ähnliche Richtung ging auch die Sendung »Löwenzahn« mit Peter Lustig, die ich ebenfalls gucken durfte und gerne mochte.

Am meisten geprägt haben mich in meiner Kindheit die Bücher von Astrid Lindgren, insbesondere »Wir Kinder aus Bullerbü«. Die dort geschilderte Lebensweise und die Freundschaften unter den Kindern der drei nebeneinanderliegenden Höfe hatten es mir sehr angetan. Auch »Pippi Langstrumpf« bekam ich als Buch vorgelesen, ich durfte sogar die entsprechenden Filme im Fernsehen anschauen. Meine Mutter mochte Pippi Langstrumpf, weil sie so selbstbewusst, unkonventionell und autonom war.

Mein Vater war für die Ordnung zuständig und zeigte mir, wie man seine Sachen auf den Regalen sinnvoll platziert. Dazu bildete er mit mir gemeinsam Kategorien meiner Spielsachen, gruppierte sie und klebte ein Schild mit der Bezeichnung der jeweiligen Kategorie auf die Regalbretter. Das gefiel mir sehr gut, denn so hatte alles seine Ordnung. In seinem Arbeitszimmer stand ein großer gepolsterter Drehstuhl vor dem Schreibtisch. Das Zimmer meines Vaters durfte ich nur sehr selten betreten. Das war zum Beispiel dann der Fall, wenn ich von ihm, auf seinem Schoß sitzend, die Fingernägel geschnitten bekam. Ganz oben auf einem Regal hatte er einen Pappkarton mit Büroartikeln. Ich liebte diese Kiste mit Stiften, Blöcken, Tesafilm und Aufklebern sehr und durfte sie mir manchmal mit ihm zusammen anschauen.

Als Kind bin ich nie in eine Rolle geschlüpft, habe also nie mit anderen Kindern Räuber und Gendarm oder Ärztin oder Krankenschwester gespielt und habe mir auch nie vorgestellt, ich sei eine Hexe oder Pippi Langstrumpf. Das galt auch für den Umgang mit Spielsachen. Ich habe zum Beispiel für meine Schlümpfe aus Eierkartons mit Watte darin »Schlumpfboote« gebaut. Ich setzte sie dann auch hinein. Aber während andere Kinder dann erst anfingen, mit den Schlümpfen zu spielen, war mein Spiel abgeschlossen, sobald alles fertig aufgebaut war. Ich hatte ein Puppenhaus, mit dem ging es genauso. Man konnte die einzelnen Räume einrichten, aber wenn ich das getan hatte, verlor ich das Interesse an dem Puppenhaus. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, bei dem ich an einem Rollenspiel mit Kindern aus unserer Straße teilnahm. Ich war sehr verunsichert und versicherte mich bei einem der älteren Kinder, dass wir jetzt auch wirklich nur spielen und dass es nicht wirklich ist, was wir nun tun. Besser klar kam ich mit den anderen Kindern, wenn wir gelegentlich zusammen Rollschuh liefen oder Fahrrad fuhren. Manchmal malten wir auch mit Kreide oder roten und weißen Steinen die Straße an. Gerne spielten wir im Sommer auf der Straße Gummitwist, manchmal auf Socken, weil man damit besser springen konnte.

Einmal passierte es, dass ich mit einem etwas jüngeren Kind auf der Straße spielte. Ich war etwa sieben Jahre alt. Wir hatten einen Eimer voll Wasser und Dreck darin. Nach einiger Zeit stritten wir uns, und ich war wütend. Daraufhin drohte ich dem Jungen, wenn er nicht aufhören würde, mich zu ärgern, würde ich ihm den Eimer Wasser über den Kopf schütten. Er hörte nicht auf, und ohne zu zögern, tat ich, was ich vorher angekündigt hatte. Danach war ich sehr erschrocken über mein Tun. Noch heute führe ich meine Angst davor, intrusive autoaggressive Gedanken in die Tat umzusetzen (wie zum Beispiel der Gedanke: »Ich könnte da jetzt runterspringen!«, wenn ich auf einer Brücke oder vor einem offenen Fenster stehe), auf diesen Impulsdurchbruch als Kind zurück.

Meine wichtigste Freundin in der Kindheit war Martina, deren Großeltern in unserem Haus in Oberursel wohnten. Sie besuchte mich gerne, denn meine Mutter erlaubte viele unkonventionelle, kreative Spiele und Beschäftigungen. Einmal haben wir uns mit Fingerfarbe angemalt und wurden danach von meiner Mutter in die Badewanne gesetzt, um wieder sauber zu werden. Wenn meine Mutter Pizza backte, durften wir uns auch etwas Teig nehmen. Wir haben daraus Mini-Pizzen geformt und sie jeweils besonders belegt. An anderen Tagen breiteten Martina und ich in der Küche Papier von einer großen, noch unbedruckten Zeitungspapierrolle aus. Wir legten uns auf den Boden und zeichneten auf dem Papier die Körperkonturen der anderen nach. Anschließend malten wir unser Abbild mit Fingerfarben bunt aus. Wenn Martina bei mir übernachtete, knüpften wir uns gelegentlich zusammen in einen Bettbezug ein. Meine Mutter brachte uns dann Frühstück und wir speisten darin wie in einer Höhle.

Was ich besonders liebte, waren alle Arten von Bewegungsspielen: So hatten wir in unserem Wohnzimmer öfters einen »Saltoplatz«, sprangen und turnten auf den übereinandergestapelten Sofas herum. Oder wir sprangen aus einiger Entfernung in einen Handstand, stützten uns dabei mit den Köpfen an der Sofakante ab. Einmal wollte ich einen Rekord im Purzelbaumschlagen aufstellen. Ich machte auf unserer bunten Matratze 704 Purzelbäume, vorwärts und rückwärts im Wechsel. Als ich dann aufstand, fiel ich einfach um. Kein Wunder, mein Gleichgewichtsorgan muss völlig orientierungslos gewesen sein.

Während der Grundschulzeit war ich an Fasching über einige Jahre als Affe verkleidet. Dazu zog ich ein braunes plüschiges Kostüm an, das meine Mutter für mich genäht hatte. Ich liebte es, »Affe« sein zu können, rannte auf allen vieren in einem Heidentempo durch die Gegend und schrie dabei nach Affenart. Der Schwanz des Kostüms bestand aus Draht, der mit Schaumstoff und braunem Stoff umwickelt war. Wenn mir jemand blöd kam, nahm ich einfach den Schwanz des Affenkostüms und schlug den anderen damit.

Telefonieren gehörte als Kind nicht zu meinen Stärken. Wenn ich aus der Schule kam und nachmittags nichts vorhatte, konnte es vorkommen, dass ich bei Martina zu Hause anrief. Das Gespräch lief dann wie folgt ab: »Hallo, hier ist Birgit Saalfrank. Ist die Martina da?« Einige Zeit verging, Martina kam ans Telefon. Dann fragte ich sie: »Hallo. Kannst du?« Das sollte heißen: Hast du heute Nachmittag Zeit für ein Treffen? Wenn sie verneinte, sagte ich: »Also, tschüss.« Das war das ganze Gespräch.

Abends dauerte es manchmal lange, bis ich einschlief. Da ich oben in unserem Etagenbett lag, war es für mich immer etwas umständlich, hinunterzuklettern. Deshalb kam es oft vor, dass ich nach meiner Mutter rief, zum Beispiel, wenn ich Durst hatte. Manchmal auch einfach, um ihr zu sagen, dass ich mich ganz unter die Bettdecke verkriechen würde, denn ich machte mir Gedanken um meine Eltern, die in meiner Vorstellung denken könnten, ich sei nicht mehr da und sich dann erschrecken würden. Also sagte ich ihnen vorher immer Bescheid, damit sie sich keine Sorgen machten. An einem Abend rief ich zum wiederholten Mal nach meiner Mutter. Sie kam zu mir, war aber so aufgebracht wegen meines ständigen Rufens, dass sie mir eine Ohrfeige gab. Ich habe sie daraufhin völlig empört angesehen. Sie hat das nie wieder getan.

Sport

Jeden Freitagabend gingen Martina und ich zum Turnen in die große Turnhalle meiner Grundschule. Zuerst mussten die Geräte aufgebaut werden, also zum Beispiel das Reck, das Pferd, der Schwebebalken oder auch Matten für das Bodenturnen. Zu Anfang der Stunde liefen wir eine Weile im Kreis herum und machten Dehnübungen, um warm und beweglich zu werden. Dann übten wir an den Geräten und bekamen Rückmeldung und Verbesserungsvorschläge von unserer Trainerin Frau Göckler. Manchmal sprangen wir auch auf dem großen Trampolin oder übten auf dem kleinen mit Anlauf verschiedene Sprünge, zum Beispiel Strecksprung oder Hocksprung oder später auch Salto. Die anderen Kinder duzten Frau Göckler nach einiger Zeit und nannten sie liebevoll »Göcki«. Ich verstand, dass es gut wäre, wenn ich das auch täte, weil dieser Kosename eine gewisse Vertrautheit mit unserer Turnlehrerin ausdrückte. Um es den anderen Kindern gleichzutun und mich nicht ausgeschlossen zu fühlen, bemühte ich mich darum, Frau Göckler so anzusprechen, aber es fühlte sich immer fremd an, ich fühlte mich dabei fremd, und das blieb auch so.

Am Wochenende fuhren wir manchmal zu Wettkämpfen in unserer Region. Ich mochte diese Stimmung von Konzentration, Spannung und Leistungsbereitschaft sowie die Hallen mit den ganzen aufgebauten Geräten darin. Besonders aufgeregt war ich nicht bei Wettkämpfen, nur etwas angespannt und konzentriert.

Zu Pfingsten fuhr unser Turnverein immer mit allen Kindern, die daran teilnehmen wollten, ins Zeltlager nach Laubuseschbach. Auf dem dortigen Campingplatz wurden zwei oder drei sehr große Zelte aufgebaut, in denen wir zu mehreren schliefen. Einmal bin ich auch mit dabei gewesen. Ich fühlte mich dort aber sehr fremd, konnte mit den Spielen im Wald nicht wirklich viel anfangen. Die anderen Kinder meines Alters – Martina war auch mit dabei – massierten den älteren Mädchen, die im Turnen unsere Vorbilder waren, oft im Zelt den Rücken. Dazu konnte ich mich nun wirklich nicht durchringen, also beobachtete ich dieses Treiben aus sicherer Entfernung. Ich verstand auch nicht, wozu das gut sein sollte. Ich fühlte mich im Zeltlager verloren und völlig fehl am Platz. Einmal teilzunehmen reichte mir, ich bin danach nie wieder mitgefahren.

Empathie

Ich möchte gerne noch etwas darüber erzählen, wie meine Eltern auf Schmerzen oder Unfälle reagiert haben und wie ich selbst als Kind mit Schmerzen umgegangen bin.

Beim Brennball in der Schule bekam ich einmal den kleinen Lederball direkt auf meinen Ringfinger. Das tat sehr weh, der Finger war geschwollen und es dauerte ziemlich lange, bis die Schwellung zurückging. Aber wenn ich Schmerzen hatte, sagte meine Mutter immer nur: »Es tut einem schon mal etwas weh, das geht schon wieder weg.« Damit war die Sache erledigt. Zum Arzt ging man deswegen nicht.

Als ich etwa sieben Jahre alt war, quetschte mir Martinas Mutter versehentlich den Finger in der schmiedeeisernen Vorgartentür unseres Hauses. Sie reagierte ganz betroffen, wandte sich mir zu und entschuldigte sich. Das war eine ganz eindrückliche emotionale Erfahrung für mich. Ich erlebte dadurch zum ersten Mal, dass jemand mit mir mitfühlte.

Als ich neun Jahre alt war, hatten wir einen Autounfall in der Stadt. Ich hatte davon einen dicken Bluterguss am Schienbein, der mit der Zeit in allen Farben leuchtete. Meine Mutter fragte mich nie, ob das wehtat. Meine Turnlehrerin, Frau Göckler, dagegen schon. Als ich nach dem Autounfall zum Turnen ging, fragte sie mich, wie es mir gehe. Ich horchte erstaunt auf: Das kannte ich nicht von zu Hause. Mich hatte noch nie jemand mitfühlend gefragt, wie es mir geht. In meiner Familie wurde nicht über Gefühle und das eigene Befinden gesprochen. Ich erinnere mich auch an kein einziges Mal, dass ich wegen Krankheit nicht zur Schule gegangen wäre. Das gab es irgendwie nicht, krank zu sein.

Mit vierzehn habe ich meine Cousine Franzi im Schwarzwald besucht. Sie war geübt im Skifahren. Ich dagegen hatte nur ein paarmal auf Skiern gestanden. Franzi fuhr vor mir einen Abhang hinunter und bedeutete mir, es ihr gleichzutun. Bei der Abfahrt knickte ich jedoch um und spürte einen heftigen Schmerz im rechten Knöchel. Wieder zu Hause angekommen, war mein Fuß dick geschwollen und blieb es über einige Tage. Bei einer Routineuntersuchung einige Jahre später fragte mich ein Arzt, ob ich am rechten Fuß schon einmal einen Bänderriss gehabt hätte, da mein Fußgelenk in einer Richtung überbeweglich war. Das muss genau diese Verletzung gewesen sein. Jedenfalls ist meine Mutter auch bei diesem Unfall nicht mit mir zum Arzt gegangen.

Als Gegensatz zum Erlebnis mit dem gequetschten Finger passierte es mir einmal, dass ich mich zu Hause beim Gemüseschneiden in der Küche mit einem Messer verletzte. Der Finger blutete, ich hatte mich ordentlich geschnitten. Doch anstatt mich an meine Mutter zu wenden, lief ich aus der Küche und versteckte mich, da ich Angst hatte, von ihr deswegen ausgeschimpft zu werden.

Was ich sagen will, ist, dass ich in meiner Kindheit nur selten erlebt habe, dass meine Mutter auf meine Verletzungen oder Schmerzen mit Mitgefühl reagiert hätte. Sie tat alles als bedeutungslos ab, im Sinne von: Stell dich nicht so an! Später wusste ich deshalb auch nicht damit umzugehen, wenn andere Menschen empathisch mit mir waren.

Mein Vater reagierte in solchen Situationen noch einmal anders. Mit etwa elf Jahren war ich beim Radfahren auf unserer Straße gestürzt, dabei über den Lenker gefallen und hatte mir sehr wehgetan. Ich klingelte daraufhin zu Hause, mein Vater war da und drückte auf. Mir gelang es zuerst gar nicht, das Gartentor zu öffnen, weil ich unter Schock stand, sehr zitterte und keine Kraft in den Armen hatte. Endlich oben angekommen, sah mein Vater mich ganz erschrocken an. Er ließ sofort Badewasser für mich ein und setzte mich in die Wanne. Danach bekam ich überall Pflaster aufgeklebt. Er reagierte also vor allem ganz praktisch auf meine körperlichen Blessuren und versorgte mich diesbezüglich. Andere Eltern hätten ihr Kind vielleicht erst einmal in den Arm genommen und getröstet.

Als ich etwa zehn war, kamen wir am Morgen nach einer heftigen Regennacht in die Turnhalle. Die Decke war undicht und es hatte sich in einer Ecke eine große Wasserlache gebildet, die man aber nicht sah. Ich rutschte darauf aus und fiel mit dem Hinterkopf und dem Rücken direkt auf den Boden – und stand auf, als sei nichts passiert. Die Sportlehrerin war zu Anfang sehr besorgt, da ich jedoch gleich aufstand, ließ sie mich in Ruhe. Ich traute mich nicht, über Schmerzen zu klagen (die ich natürlich hatte), da mir klar war, dass sich die Sportlehrerin dann um mich gekümmert hätte. Aufgrund meiner mangelhaften Erfahrung mit Empathie hätte ich nicht gewusst, wie ich mit ihrer emotionalen Zugewandtheit umgehen sollte. Außerdem hätte ich es nicht ertragen, vor allen anderen Kindern im Mittelpunkt zu stehen. Glücklicherweise ist mir damals offensichtlich nichts wirklich Schlimmes passiert. Im Nachhinein denke ich, ich hätte ja auch eine Gehirn­erschütterung oder eine Blutung im Kopf davontragen können.

Noch ein Beispiel, wie in meiner Familie mit psychisch belastenden Situationen umgegangen wurde: Als ich mit neun zufällig bei meinen Großeltern zu Besuch war, starb mein Großvater. Ich hatte keine besonders enge Beziehung zu ihm gehabt, aber vorher noch nie einen Toten gesehen. Meine Mutter weckte mich an diesem Morgen und teilte es mir mit. Ich strahlte sie an, weil ich überzeugt war, dass sie einen Witz gemacht hatte, was aber nicht der Fall war. Ich zog mich an und wurde ohne weitere Erklärung in das Schlafzimmer meiner Großeltern geführt, in dem nun mein toter Opa lag. Das machte mir Angst. Auch danach wurde nicht weiter mit mir über den Todesfall gesprochen. Später bin ich immer mit großer Furcht in dieses Zimmer gegangen, wenn ich für meine Oma etwas holen musste, und konnte den Geruch darin nicht ertragen.

Bei der Beerdigung waren viele Leute, und alle weinten. Ich sah die Menschen, verstand aber nicht, warum sie weinten, denn meine eigene Stimmung war neutral. Als wir den Friedhof verließen, hob ich eine rosa Nelke auf und legte sie zu Hause in ein dickes Liederbuch zwischen die Seiten zum Trocknen. Das war meine Erinnerung an den Tag der Beerdigung.

Kurz danach hatte ich einen Traum: In unserer Wohnung kam mein Opa mir hinterher und versuchte mich zu greifen, ich lief weg und hatte große Angst vor ihm. Leider sprach niemand mit mir über meine Gefühle, die der Tod und die Beerdigung bei mir auslösten, sodass ich niemandem meine Angst mitteilen konnte. Auf die Idee, es meinen Eltern gegenüber von mir aus anzusprechen, kam ich nicht. So musste ich das alles mit mir alleine ausmachen.

Selbstständigkeit

Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Martina besuchte eine andere Schule, sodass wir nicht in derselben Klasse waren. Ich ging gerne zum Unterricht, denn ich mochte es zu lernen. Meine Hausaufgaben machte ich von Anfang an ganz alleine. Ich hätte es als empörend empfunden, wenn meine Eltern mich dazu angehalten oder mich kontrolliert hätten. Das war meine Sache und die erledigte ich pflichtschuldig. In meiner ganzen Schulzeit kam es eigentlich nie vor, dass ich die Hausaufgaben in einem Fach nicht gemacht hatte. Wie andere Eltern auch, fragte mich meine Mutter anfangs noch, wie es in der Schule gewesen sei. Da ich meiner Erinnerung nach jedoch nur selten etwas erwiderte – ich hätte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte, und fand es auch nicht interessant, von der Schule zu erzählen–, stellte sie das Fragen irgendwann ein.

 

Fortan löste ich das Problem meines Alleinseins, indem ich während der großen Pausen immer zügig über den Schulhof lief. Wenn mich andere Kinder dann sahen, dachten sie vielleicht, dass ich jemanden suche (so meine Fantasie), und kämen nicht auf die Idee, dass ich in Wirklichkeit allein war. Die fünfte und sechste Klasse waren dann auch die extremsten Jahre, in denen ich in den Pausen immer »suchend aussehend« über den Schulhof lief. Eine andere richtige Freundin fand ich in meiner Klasse nicht. Ich hatte zu niemandem einen Draht und fühlte mich sehr alleine.

Schuschisch

Meine Mutter las meiner Schwester und mir oft aus dem Buch »Urmel aus dem Eis« von Max Kruse vor. Damals war ich zehn oder elf Jahre alt und Simone sechs. In dieser Geschichte gibt es verschiedene Tiere, denen Herr Professor Habakuk Tibatong das Sprechen beigebracht hat, die jeweils einen individuellen Sprachfehler haben. Mir hatte es besonders der Schuhschnabel »Schusch« angetan, der statt eines »i« immer ein »ä« benutzte. Fortan entwickelte ich auf der Basis der Sprechweise des Vogels Schusch die Sprache »Schuschisch«. Meine Mutter liebte es, wenn ich schuschisch sprach, sie fand das ungemein kreativ. Mein Vater konnte damit gar nichts anfangen und lehnte es ab. »Äsch bom dr Wockl Schosch« hieß zum Beispiel »Ich bin der Vogel Schusch«. Ich sprach vor allem dann schuschisch, wenn ich meinen Gefühlen Ausdruck verleihen wollte, was ich in der normalen Sprache nicht konnte. Ich sagte oder schrieb zum Beispiel meiner Mutter auf einen Zettel, dass ich »drouräg« war, was »traurig« bedeutete. Oder ich fragte sie: »Mugscht mäsch?« Das hieß: »Magst du mich?« Leider erkannte meine Mutter bei ihrer Begeisterung für das Schuschische nicht, dass ich mich oft traurig fühlte und eigentlich Zuspruch und Trost von ihr benötigt hätte. Sie war so auf die angebliche Kreativität dieser Sprache versessen, dass sie mein dahinterstehendes Bedürfnis nicht sah. Außerhalb meiner Familie sprach ich niemals Schuschisch, denn es wäre mir peinlich gewesen und hätte mich verletzlich gemacht.

Der Vogel Schusch war, ähnlich wie später das Würzel, meine Ausdrucksmöglichkeit für Bedürfnisse und Gefühle (die ich im Alltag nicht hatte).

Zwischen dem Vogel Schusch, der etwa bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr existierte beziehungsweise in meinem Leben eine Rolle spielte, und dem Würzel, das in meinem 26. Lebensjahr entstand, lagen zeitlich gesehen ungefähr zehn Jahre.

Ab dem fünfzehnten Lebensjahr bis zum Ende meiner Schulzeit war ich die meiste Zeit überzeugt davon, dass ich keine Gefühle hatte. Ich spürte mich nicht, zeigte auch keine Gefühle nach außen. Zudem litt ich in diesen zehn Jahren unter Essstörungen.