„Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben.
Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein.“

(Christian Morgenstern)

Vorwort

Die Verhaltensweisen, die sich zu einer Verhaltenssucht entwickeln können und als solche dann überhand nehmen im Alltag der Betroffenen, sind Teil unser aller Leben. Mehr noch als bei anderen Störungen von Krankheitswert fällt daher die Abgrenzung zwischen „noch funktional“ und „krankmachend“ schwer und ist oft nur subjektiv bzw. kontextabhängig zu treffen. Für alle Menschen, die schon einmal daran gezweifelt haben (oder von anderen darauf angesprochen wurden), ob sie eine bestimmte Tätigkeit oder Aktivität eigentlich noch „in Maßen“ betreiben, ist dieses Buch eine große Hilfe. Es unterstützt dabei, sich selbst wohlwollend kritisch über die Schulter zu schauen – wie ein guter Freund oder eine gute Freundin. In systematisch aufeinander aufbauenden kleinen Schritten nimmt es den Leser mit auf eine „Bergtour“ in die Welt der Alltagssüchte, begleitet von zwei kompetenten und in verständnisvoller Weise schreibenden Autorinnen. Man spürt, dass Julia Arnhold und Hannah Hoppe wirklich wissen, wovon sie reden (bzw. schreiben). Das zeigt sich besonders in den anschaulichen Metaphern und den zahlreichen konkreten Beispielen.

Der Duden sagt uns, dass „Sucht“ im Alt- bzw. Mittelhochdeutschen ein Synonym für Krankheit an sich ist. Diese Wurzel kennen wir heute noch, z. B. aus der Schwindsucht (Tuberkulose) oder der Gelbsucht. Und tatsächlich kann praktisch jede Tätigkeit süchtig „entarten“, wie es die traditionelle Psychiatrie lehrt. Je leichter ein Verhalten verfügbar und kontrollierbar ist, umso größer ist die Versuchung, diesen leichten Weg zur kurzfristigen Spannungsreduktion und Bedürfnisbefriedigung zu gehen. Und genau da liegt der Ansatzpunkt der beiden Autorinnen: Raus aus dem bequemen „Autopilotenmodus“ und „rauf auf den Berg“, weil dort langfristig die Aussichten besser sind. Sehr zutreffend benennen sie den Preis der Verhaltenssüchte: Die Betroffenen ziehen sich aus den komplexen und schwerer zu kontrollierenden Kontakten mit anderen Menschen in eine „Blase“ zurück, wie in einen Uterus. Dort ist man sicher, aber einsam.

Tatsächlich erscheint süchtiges Verhalten mehr und mehr wie ein gieriges Kind. Man könnte geneigt sein, dem diesem Buch zugrundeliegenden Störungsmodell den Modus eines „gierigen Kindes“ hinzuzufügen. Jeffrey Young, der Begründer dieses Modells, betont aber, dass Kinder nicht gierig, sondern bedürftig seien. Und genau das ist das zentrale Anliegen des Buches: Menschen wieder in Kontakt zu bringen mit ihren grundlegenden emotionalen Bedürfnissen, damit sie die „Warnlampen“ negativer Gefühle wieder wahr und ernst nehmen. Denn nur dann können sie aus der isolierenden Sackgasse ihrer Verhaltenssüchte heraus- und Anschluss finden zu den Menschen auf der „Hauptstraße des Lebens“. Wir Menschen sind als soziale Wesen angelegt und brauchen die emotionale Resonanz anderer Menschen wie die Luft zum Atmen. Süchtiges Verhalten macht einsam, und Einsamkeit macht krank. Auf den Punkt gebracht ist das der längerfristige Preis des – kurzfristig zweifellos angenehmen, aber immer selbstbezogenen – süchtigen Verhaltens. Zunächst werden in diesem Buch in humorvoller, alltagsnaher und gut verständlicher Weise die Grundlagen menschlichen Verhaltens im Allgemeinen und des süchtigen Verhaltens im Besonderen dargestellt. Da die Autorinnen nie wertend werden, fühlt man sich immer angenommen und verstanden.

Im nächsten Schritt begleitet uns das Buch systematisch von einer selbstkritischen Bestandsaufnahme, die Nachdenklichkeit und Problembewusstsein schafft, über einen Prozess der nüchternen Bilanz der Vor- und Nachteile bis hin zu detailliert beschriebenen praktischen Übungen, die dabei helfen, die Verhaltenssucht abzulegen. So kleinschrittig, dass man kaum vom „rechten Pfad“ abkommen kann. Besonders hilfreich sind dabei die konkreten Übungsanleitungen und Übungsblätter, die teilweise in der Mediathek zum Titel unter https://www.junfermann.de auch als Audioanleitung verfügbar sind. Sie erkennen diese Dokumente an diesem Symbol

Die Autorinnen entwickeln dabei eine beachtliche Kreativität, indem sie z. B. empfehlen, die Stimme der inneren Kritiker aufzunehmen und ihr wirklich einmal zuzuhören, in einen Dialog mit ihr zu treten. Ein Kompliment an die didaktische Kompetenz der Autorinnen!

Mich persönlich freut, dass dabei auch die Ansätze der sogenannten Dritten Welle in der Verhaltenstherapie Berücksichtigung finden. Sie helfen, eine gute Balance zwischen einer veränderungsorientierten und einer akzeptierenden Haltung zu finden. Zu große Anstrengungen führen rasch in eine Verkrampfung. Da viele Menschen mit Suchttendenzen zur Ungeduld und Impulsivität neigen, schmeißen sie die „Brocken“ schnell hin. Das Buch atmet durchgängig diesen „Spirit“ einer solchen guten Balance, der wohlwollende Eltern ebenso wie gute (Schema-)Therapeuten auszeichnet. Die Lesenden bekommen somit eine Ahnung, was sie in einer Psychotherapie erwartet, falls sie mithilfe dieses Buches nicht ausreichend erfolgreich im Umgang mit süchtigen Tendenzen sein sollten. Damit ist allen gedient: denjenigen, denen das Buch selbst bei der Befreiung von dem sie „aussaugenden Suchtdämon“ helfen soll, denen, die als Angehörige oder Freunde wichtige Anregungen im Umgang mit den Betroffenen bekommen möchten, und auch denen, die darüber nachdenken, sich professionelle Hilfe zu holen und eine Behandlung optimal vorbereitet beginnen wollen.

Dr. med. Eckhard Roediger im Frühjahr 2019

Einleitung

Mit diesem Selbsthilferatgeber möchten wir Menschen ansprechen, die entweder bereits wegen ihrer Verhaltenssucht in Therapie sind oder zumindest sich selbst gegenüber eingestehen müssen, dass ein bestimmtes Verhalten in ihrem Alltag zu viel Raum einnimmt. Vielleicht geht es sogar schon mit belastenden „Nebenwirkungen“ einher. Das Buch richtet sich an Sie, wenn Sie das Gefühl haben, bestimmte Aktivitäten in ihrem Ausmaß nicht mehr kontrollieren zu können, sondern eher umgekehrt von ihnen kontrolliert zu werden: von Online- oder Glücksspielen (einschließlich Sportwetten), von der Nutzung des Internets, vom Kaufen eigentlich nicht benötigter Produkte, von Sex, Arbeit oder Sport. Womöglich ging Ihnen sogar schon einmal durch den Kopf, dass Sie süchtig nach einer dieser Aktivitäten sein könnten, oder eine Ihnen nahestehende Person sprach Sie darauf an.

Die Lektüre dieses Buches kann keine persönliche Beratung durch einen Arzt, einen Psychotherapeuten oder sonstige Suchtexperten ersetzen und ist daher auch nicht dazu geeignet, sich selbst zu diagnostizieren. Dieser Ratgeber soll vielmehr jeden unterstützen, der unter dem übermächtigen Drang, eine bestimmte Aktivität auszuführen, leidet und nach Auswegen sucht – unabhängig davon, ob tatsächlich alle Kriterien einer Suchterkrankung erfüllt sind. Der eine oder andere von Ihnen wird beim Lesen und Bearbeiten des Buches eventuell feststellen, dass er sich jemanden real an seiner Seite wünscht, der ihn direkter und persönlicher unterstützen kann, als wir Autorinnen das mittels eines Ratgebers können. Es ist ein wichtiger und guter Schritt, sich weitere Hilfe zu suchen. Die Grenzen der Selbsthilfe sowie mögliche Ansprechpartner und Hilfsmaßnahmen vor Ort haben wir daher in Kapitel 10 thematisiert. In diesem Fall kann das Buch begleitend zu einer Psychotherapie oder Beratung herangezogen werden.

Wir grenzen den Ratgeber ganz bewusst nicht auf eine spezifische Verhaltenssucht ein. Aus unserer Sicht gibt es ein verbindendes Element zwischen den Verhaltenssüchten, einen gemeinsamen Ursprung, der angegangen werden muss, um nachhaltige Lösungen zu schaffen: die Frustration emotionaler Grundbedürfnisse. Diesen Kern von Verhaltenssüchten sehen wir am trefflichsten im sogenannten schematherapeutischen Modus-Modell beschrieben und erklärt. Dieses Modell bietet zudem nachhaltig wirksame Ansätze zur Veränderung des problematischen Verhaltens.

Die Schematherapie ist ein vergleichsweise junger psychotherapeutischer Ansatz, der in den 1990er-Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Jeffrey Young entwickelt und seitdem stetig weiterentwickelt wurde. Im Zentrum steht die Annahme, dass jeder Mensch mit emotionalen Grundbedürfnissen geboren wird, deren angemessene Befriedigung entscheidend ist für eine stabile und „satte“ seelische Entwicklung zu einem gesunden Erwachsenen, der beidseitig befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen eingehen und aufrechterhalten, seine Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und berücksichtigen und mit den Herausforderungen, Schwierigkeiten und Krisen des Lebens konstruktiv umgehen kann. Werden die emotionalen Grundbedürfnisse in Kindheit oder Jugend jedoch verletzt oder frustriert, können der Aufbau eines gesunden erwachsenen Ichs behindert und problematische (Über-)Lebensstrategien begünstigt werden. Mögen diese Strategien in der Ursprungssituation durchaus einen Schutz darstellen und den Schmerz lindern, der aus mangelnder Bedürfnisbefriedigung entsteht, werden sie im späteren Leben problematisch und schaden dem Menschen sogar – so, wie es zum Beispiel bei der Verhaltenssucht der Fall ist.

Das Modus-Modell gilt heute als fundierter und wirksamer schematherapeutischer Ansatz in der Beratung und Behandlung von Menschen mit seelischen Problemen. In diesem Kontext wird die Verhaltenssucht, unabhängig davon, um welche spezifische Aktivität es geht, als Versuch verstanden, mit psychischem Schmerz umzugehen, der sich in früheren Erfahrungen von Bedürfnisfrustration begründet. Dieser „Lösungsversuch“ ist jedoch auf lange Sicht nicht nur kostspielig, sondern auch wirkungslos, weil er den Schmerz nicht wirklich heilt, allenfalls betäubt, weshalb er immer wieder aufs Neue bekämpft werden muss.

Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, laden wir Sie ein, mithilfe dieses Buches Ihren wunden Punkten nachzuspüren und die zugrunde liegenden Dynamiken des problematischen Verhaltens zu durchschauen. Sie lernen alle wichtigen Elemente des Modells kennen und bekommen Werkzeuge an die Hand, mit denen Sie eine persönliche Bestandsaufnahme vornehmen und einen neuen und gesünderen Weg im Umgang mit den eigenen wunden Punkten finden können.

Kapitel 11 richtet sich an Angehörige, also Partner, Familienmitglieder oder Freunde von Menschen mit Verhaltenssucht. Auch sie finden wertvolle Anregungen, um den Betroffenen unterstützen zu können, ohne dabei eigene Bedürfnisse zu übergehen.

Wenn wir von schmerzhaften früheren Erfahrungen sprechen, ist damit nicht immer schwerwiegende Misshandlung, Missbrauch oder Vernachlässigung gemeint. Dies kann der Fall sein, doch bedeutet Frustration emotionaler Bedürfnisse zum Beispiel auch, dass einem Kind nicht genug (oder zu viele) Freiräume gegeben worden sind oder es in schwierigen Lebensphasen sich selbst überlassen wurde und von seiner Familie zu wenig Orientierung erhalten hat. Wir wollen nicht unterstellen, dass die Bezugspersonen aus der Kindheit, seien es die Eltern, andere Verwandte, Nachbarn, Lehrer oder Freunde, in böser Absicht gehandelt haben. Es geht hier nicht um eine Schuldfrage. Und doch meinen wir, dass Sie mit Fug und Recht wütend oder traurig sein dürfen, sollten Sie durch die Arbeit mit diesem Buch feststellen, dass Ihre kindlichen Bedürfnisse einst verletzt worden sind. Diese Empfindungen sind sogar sehr wichtig und heilsam auf dem Weg aus den problematischen Verhaltensweisen heraus.

Wir werden in diesem Ratgeber gemeinsam mit Ihnen also nicht nur auf die aktuelle Situation schauen, sondern auch auf Ihre Vergangenheit. Unser Ziel ist es, Sie dabei zu unterstützen, sich Ihrem kindlichen Ich zuzuwenden und herauszufinden, was dieses innere Kind braucht und wie Sie das in Ihrem heutigen Leben berücksichtigen können. Lernen Sie, Ihre Bedürfnisse und Sehnsüchte zu erfüllen, statt sie zu betäuben oder sich von ihnen abzulenken.

Bitte nehmen Sie sich Zeit zum Lesen und Bearbeiten dieses Ratgebers. Zum einen braucht jede Selbstreflexion und jede Veränderung naturgemäß Zeit, insbesondere dann, wenn die Ursachen und Entstehungsbedingungen der aktuellen Probleme weiter zurückreichen. Zum anderen sind die Übungen, zu denen wir Sie in einigen Kapiteln ermutigen werden, sowie deren Vorbereitung langfristig angelegt. Zum Beispiel das Führen eines Tagebuchs über einen gewissen Zeitraum hinweg, die Beschäftigung mit persönlichem Material aus Ihrer Vergangenheit oder das Erlernen und Einüben konkreter neuer Verhaltensstrategien.

Erwarten Sie keine Wunder und keine schnellen Lösungen. Wir möchten Sie an fundierte, nachhaltig wirksame, aber durchaus auch herausfordernde neue Wege heranführen. Und glauben Sie uns: Es lohnt sich, die Herausforderung anzunehmen – für mehr Zufriedenheit und Lebendigkeit. Wir freuen uns, Sie ein Stück auf dieser persönlichen Reise begleiten zu dürfen.

Für einen besseren Lesefluss haben wir uns entschlossen, auf die abwechselnde Verwendung der männlichen und weiblichen sowie transgeschlechtlichen Sprachform zu verzichten. Die gewählte männliche Form schließt alle Leser ein: Männer, Frauen und transgeschlechtliche Menschen.

Ihre Julia Arnhold und Ihre Hannah Hoppe
Berlin und Köln im Frühjahr 2019

1. Von der Lust zur Sucht

1.1 Wann wird aus einer wohltuenden Aktivität eine ernsthafte Erkrankung?

Gegenstand einer Verhaltenssucht können Verhaltensweisen und Aktivitäten werden, die grundsätzlich unproblematisch und gesellschaftlich akzeptiert sind. Diesen Aktivitäten gehen sehr viele, in manchen Fällen die allermeisten Menschen in mehr oder weniger starkem Ausmaß mehr oder weniger regelmäßig nach: im Internet surfen (inklusive Streaming / Serien schauen), soziale Medien nutzen, Sex haben oder Pornographie konsumieren, online oder im Geschäft shoppen, arbeiten, Sport treiben, klassisches Glücksspiel oder Online-Games spielen. Normalerweise sind sie weder für die Person selbst noch für andere Menschen mit negativen Konsequenzen verbunden. Im Gegenteil, es sind Verhaltensweisen, die prinzipiell guttun, die Freude oder Lust bereiten und sogar die Gesundheit und das Wohlbefinden verbessern können. Gleiches gilt auch für den mäßigen Genuss von Alkohol. In geringen Mengen schadet er – nach heutigem Stand – dem Körper nicht, sondern schützt sogar das Herz-Kreislauf-System vor Erkrankungen. Werden die Grenzen des gesunden Konsums jedoch überschritten, kann er zum Suchtmittel werden und verheerende Schäden anrichten. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Verhaltenssüchten, die auch als „nicht stoffgebundene Süchte“ bezeichnet werden. Jede der oben genannten Aktivitäten kann einen unverhältnismäßig hohen Stellenwert im Leben eines Menschen einnehmen und zu unerwünschten Konsequenzen führen. Da Sie dieses Buch in den Händen halten, gehen wir davon aus, dass dies bei Ihnen der Fall ist. Beginnen wir am besten mit einer Bestandsaufnahme. Erkennen Sie sich in der folgenden Beschreibung wieder?

(Selbsttests für die einzelnen Verhaltenssüchte finden Sie in Abschnitt 4.1.)

Wie in der Einleitung bereits erwähnt, geht es uns in diesem Buch nicht darum, eine Ferndiagnose zu stellen oder Sie anzuleiten, sich selbst zu diagnostizieren. Die in Deutschland und international gültigen Diagnosesysteme, die psychische Erkrankungen definieren, sind sich ohnehin weder schlüssig noch einig, wie die Verhaltenssüchte einzuordnen sind. Es sind jedoch einige allgemeine Kriterien zur Identifikation einer Verhaltenssucht definiert worden (Tabelle 1.1):

Starkes Eingenommensein, Salienz (mit dem Verhalten verbundene Reize sind dem Bewusstsein leicht zugänglich):

Das Verhalten wird zur wichtigsten Aktivität im Alltag: Gedanken, Gefühle und Handlungen sind davon beherrscht, andere Lebensbereiche werden vernachlässigt.

Beeinflussung der Stimmung:

Das Verhalten führt zu einem Hochgefühl oder betäubt unangenehme Gefühle, sodass es eine stimmungsregulierende Funktion bekommt.

Toleranz:

Um die gleichen Effekte auf die Stimmung zu erzielen, sind immer höhere „Dosen“ des Verhaltens notwendig.

Entzugssymptome:

Es treten unangenehme emotionale oder körperliche Empfindungen auf, wenn dem Verhalten nicht nachgegangen werden kann.

Konflikt und Kontrollverlust:

Das Verhalten führt zu zwischenmenschlichen Konflikten und / oder führt zu Rückzug von sozialen Kontakten, Hobbys und Interessen oder verhindert die Erledigung von Verpflichtungen und / oder ruft innere Spannung hervor.

Rückfall:

Es besteht eine Tendenz, immer wieder in exzessive Verhaltensmuster zurückzufallen und nur für kurze Phasen Abstand davon nehmen zu können.

Tabelle 1.1: Übersicht über die allgemeinen Kriterien zur Identifikation einer Verhaltenssucht
(nach Griffith, 1996)

Manche Verhaltensweisen, die sich in der Praxis von Psychotherapeuten dem „klinischen Eindruck“ nach als suchtartig darstellen, sind formal noch gar nicht als Verhaltenssüchte definiert. Daher ist es auch sehr schwierig, konkrete Zahlen anzugeben, wie häufig Verhaltenssüchte in der Bevölkerung vorkommen. Vage gehen Experten davon aus, dass jeweils ein bis fünf Prozent der Erwachsenen als verhaltenssüchtig einzustufen sind. Bei diesen Schätzungen werden jedoch noch nicht diejenigen Menschen berücksichtigt, die problematisches Verhalten in einem der genannten Bereiche zeigen, welches nicht die Kriterien einer Sucht erfüllt, aber zu persönlichem Leidensdruck führt.

Eine spezifische Diagnose ist tatsächlich bis heute nur für das sogenannte pathologische Glücksspiel möglich, da bei diesem viele Gemeinsamkeiten mit stoffgebundenen Süchten bestehen. Unter anderem werden etwa ähnliche biologische Prozesse in der Abhängigkeitsentwicklung angenommen (siehe hierzu Abschnitt 3.1).

Entscheidend ist hier und im Folgenden also nicht die offizielle Diagnose, sondern in erster Linie, ob Sie persönlich sich belastet oder eingeschränkt fühlen. Vielleicht ist zunächst gar nicht Ihnen selbst aufgefallen, dass es ein Problem gibt. Manchmal bemerken nahestehende Personen wie Partner oder Familienangehörige als Erstes, dass etwas aus dem Ruder läuft. Sie registrieren aber womöglich, dass sich der Mittelpunkt Ihres Lebens und Erlebens immer mehr auf ein bestimmtes Verhalten hin ausrichtet. Es könnte sein, dass Sie nur noch wenige oder gar keine „realen“ Kontakte mehr pflegen, weil Sie die meiste freie Zeit im Internet verbringen. Vielleicht sind Sie in einen finanziellen Engpass geraten, weil Sie immer wieder den Drang verspüren, über Ihre Verhältnisse einzukaufen, obwohl Sie das Gekaufte nicht wirklich benötigen. Oder weil Sie viel Geld in pornographisches Material oder den Kontakt mit Prostituierten investieren. Womöglich haben Sie sogar körperliche Schäden erlitten, weil Sie ständig Sex haben oder masturbieren. Vielleicht kam es auch zu Beziehungsproblemen, weil Sie übermäßig viel Zeit bei und mit der Arbeit verbringen, während Sie andere Aktivitäten und die Partnerschaft oder Familie vernachlässigen. Vielleicht haben Sie selbst bemerkt, dass Sie ganz nervös werden, wenn Sie nicht dazu kommen, online zu pokern oder ins Spielcasino zu gehen. Vielleicht haben Sie in unangenehmen Situationen im Alltag oder bei persönlicher Belastung den drängenden Wunsch, sich Erleichterung zu verschaffen, indem Sie exzessiv Sport treiben.

Was immer Sie dazu veranlasst, eine bestimmte Verhaltensweise oder Aktivität kritisch zu hinterfragen, die Tatsache, dass Sie ein Problem darin sehen, ist entscheidend und spricht dafür, dass Sie in diesem Buch passende Anregungen finden können, um sich selbst zu helfen.

Hobby oder Sucht?

Zu Recht werden Sie sich auch fragen, wann eine Leidenschaft endet und die Sucht beginnt. Wenn schon die Fachleute sich schwer damit tun, die Verhaltenssüchte offiziell als psychische Erkrankungen zu definieren, kann dann nicht jede beliebige Aktivität, die überdurchschnittlich intensiv betrieben wird, als Sucht bezeichnet werden? Kann man süchtig danach werden, Handarbeiten zu machen, Bücher zu lesen, Kuchen zu backen, Auto zu fahren oder ins Kino zu gehen? Danach, philosophischen Überlegungen nachzuhängen oder tiefschürfende Gespräche zu führen? Zum Friseur oder ins Kosmetikstudio zu gehen? Briefmarken zu sammeln oder Bilder zu malen? Klavierstücke zu schreiben oder Straftäter vor Gericht juristisch zu vertreten? Wäre dann nicht jedes Hobby oder jeder Beruf, dem jemand mit großer Leidenschaft nachgeht, eine Sucht?

Tatsächlich warnen Experten davor, den Begriff „Verhaltenssucht“ inflationär zu verwenden, um nicht etwas, was völlig normal und unbedenklich ist, zu pathologisieren – zum Beispiel ein mit Leidenschaft verfolgtes Hobby. Wir illustrieren den Unterschied an einem Beispiel: Sven liebt das Surfen (nicht das Surfen im Internet, sondern das Wellenreiten). Seine Leidenschaft für das Surfen ist so ausgeprägt, dass sie durchaus einige der Kriterien für eine Abhängigkeit erfüllen könnte. Er würde ganz sicher unterschreiben, dass er beim Surfen ein High-Gefühl erlebt, und auch, dass er durch das Surfen in Phasen stärkerer Belastung weniger stressanfällig ist. Tatsächlich kann man auch gewisse Entzugserscheinungen an ihm beobachten, wenn er über längere Zeit keine Gelegenheit hatte zu surfen. Dann fühlt er sich schneller angespannt oder bedrückt. Bei der Urlaubsplanung mit seiner Partnerin wird immer ausgelotet, ob es vor Ort entsprechende Spots gibt, wo er sich dann auch jeweils viel und lange aufhält, um zu surfen. Ein gewisser Einfluss auf die Familie ist somit nicht zu leugnen. Aber: Noch nie wurde wegen Svens Verhaltens gestritten. Noch nie hat er wegen des Surfens persönliche oder berufliche Verpflichtungen vernachlässigt oder versäumt. Nie hat er körperliche, seelische oder finanzielle Schäden davongetragen, die ihn zudem nicht davon abgehalten hätten weiterzumachen. Das ist der Unterschied zur Sucht.

Von einigen Verhaltensweisen ist jedoch bekannt, dass sie ein gewisses Potential bergen, zu einer Verhaltenssucht zu werden. Dazu gehören die bereits genannten:

Dass gerade diese Aktivitäten Suchtpotenzial haben, erschließt sich vorrangig aus der klinischen Beobachtung, dass Patienten wegen ihnen besonders häufig therapeutische Unterstützung aufsuchen. Im Rahmen der Therapie offenbart sich dann, dass dem Verhalten „suchtartig“ nachgegangen wird und dass es für den Betroffenen negative Konsequenzen hat. Um das Wellenreiten (wie im obigen Beispiel), das in seinen Ursprüngen mehr kulturell und spirituell geprägt und weniger eine Sportart ist, ging es dabei unseres Wissens noch nie. Bestimmten Freizeitaktivitäten gehen also tatsächlich viele Menschen mit so großer Leidenschaft nach, dass die Kriterien einer Sucht erfüllt zu sein scheinen. So treffen die Verhaltenssuchtkriterien des für die Forschung verbindlichen Diagnosesystems für psychische Erkrankungen laut einer Studie (Targhetta, Nalpas, & Perney, 2013) auf die Hälfte der befragten Tangotänzer zu. Allerdings berichteten diese kaum negative Konsequenzen des intensiv betriebenen Tangotanzens, sondern fast ausschließlich positive. Daher kann man hier wohl kaum von einer Erkrankung, einer „Tango-Sucht“ oder einem „Tangoholismus“, ausgehen.

Von einer Verhaltenssucht sprechen wir also nur dann, wenn das Verhalten so viel Raum einnimmt, dass es mit den sozialen und beruflichen Anforderungen im Leben eines Menschen kollidiert und Probleme in der Partnerschaft, in der Familie, hinsichtlich der finanziellen Situation oder am Arbeitsplatz entstehen.

Verhaltenssüchte können sogenannte sekundär auftretende psychische Probleme wie Depressivität, Angststörungen und Suizidalität nach sich ziehen, also Begleiterkrankungen, die ebenfalls einer spezifischen Behandlung bedürfen. Sind neben der Verhaltenssucht die Kriterien einer solchen anderen psychischen Störung erfüllt, sprechen Fachleute von „Komorbidität“ (siehe hierzu auch Abschnitt 10.3).

Verhaltenssüchte haben ebenso schwerwiegende Folgen wie stoffgebundene Süchte (zum Beispiel Alkohol, Cannabis, Kokain oder Heroin). Allerdings können auch dann, wenn die diagnostischen Kriterien nicht oder nicht voll erfüllt sind, Beeinträchtigungen durch die (zu) häufige oder (zu) intensive Ausübung einer bestimmten Aktivität entstehen. Daher benutzen wir die Bezeichnung „süchtig“ weiter gefasst und losgelöst von den diagnostischen Systemen. Wir beziehen uns auf den eigentlichen Wortsinn des Begriffs Sucht. Das deutsche Wort Sucht, so vermutet man, hat indogermanische Wurzeln. Es geht auf das Wort für „saugen“ zurück („suk“, „sug“, „seuk“ oder „seug“) und versinnbildlicht als alter Begriff für Krankheit im Allgemeinen, wie der Betroffene von einer Erkrankung ausgesaugt wird. Gehen wir dem englischen Wort addiction nach, stoßen wir auf die lateinische Herkunft addicere, was übersetzt bedeutet „sich jemandem willenlos ergeben“ oder „jemandem sklavisch zugetan sein“.

Das Gefühl, unfrei zu sein und das eigene Verhalten nicht mehr willentlich kontrollieren zu können, sondern vielmehr von diesem kontrolliert beziehungsweise „versklavt“ zu sein, ist das Kernstück einer Sucht – ob nach einer Substanz oder nach einem bestimmten Verhalten. Wenn Sie sich derart unfrei und versklavt von einem Verhalten fühlen und unter bestimmten Konsequenzen dieses Verhaltens leiden, sich womöglich gar ausgesaugt fühlen, dann sind Sie genau die Person, an die sich dieses Buch richtet. Daher sprechen wir im Buch auch ganz allgemein von „Verhaltenssucht“, ohne damit zu unterstellen, dass alle interessierten Leser tatsächlich die diagnostischen Kriterien erfüllen.

1.2 Wie sich Verhaltenssüchte äußern können

Die folgenden Beispiele verdeutlichen, dass eine Verhaltenssucht ganz unterschiedliche Gesichter haben kann und hinter dem Label „Sucht“ Menschen wie Sie und wir stehen.

1.2.1 Internet- / Onlinesucht

Verloren im World Wide Web: Lars W. – onlinesüchtig

Der 28-jährige Sozialarbeiter befindet sich zum Zeitpunkt der Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie in einer berufsbegleitenden Weiterbildung zum systemischen Therapeuten. Er wirkt sehr ehrgeizig, arbeitet regulär mindestens 50 Stunden in der Woche, nach Feierabend geht er noch ins Fitnessstudio oder liest Fachliteratur. Er berichtet, unter sehr starkem Leistungsdruck zu stehen. Wenn er einmal nichts „Sinnvolles“ tut, fühlt er sich sehr angespannt und schuldig, weshalb er „Leerlauf“ vermeidet. Wenn er abends nach Hause kommt, geht Lars immer sofort online. Er besucht zunächst Facebook, wo er jedoch mit niemandem in Kontakt tritt, sondern „ziemlich wahllos und ohne eigentlich viel vom Inhalt mitzubekommen“ durch seine Timeline scrollt. Dann folgen verschiedene andere Online-Aktivitäten: Er liest in verschiedenen Foren, macht Tests und Quizze, spielt kleinere Spielchen, schaut YouTube-Clips an und „surfe so umher“. Dieses Umhersurfen dauert oft Stunden. Am Ende landet er meist bei einem Video-on-Demand-Anbieter und sieht sich zum Einschlafen mehrere Folgen einer Serie an. So verbringt Lars ab 21 Uhr regelmäßig die Abendstunden. Erst gegen drei Uhr morgens schläft er ein, während er, mit dem Laptop auf dem Schoß oder der Brust, eine Serie schaut. Wenn er morgens um 7 Uhr aufstehen muss, fühlt er sich nicht erholt, sondern „erschlagen und wie gerädert“. Bei der Arbeit ist er zunehmend unkonzentriert, in letzter Zeit unterlaufen ihm auch vermehrt Fehler. Von seinen Freunden hat er sich zurückgezogen: Er weiß nicht, wann er sich bei diesen melden geschweige denn Zeit mit ihnen verbringen soll. Abends ist er einfach zu erschöpft für irgendeine andere Aktivität als das Surfen im Internet. Außerdem empfindet er es als angenehm, durch all die Online-Inhalte und -Angebote „eingelullt“ zu sein und „nicht mehr weiter grübeln zu müssen“. Als Sozialarbeiter weiß Lars, dass sein Verhalten problematisch ist und er womöglich bereits in einem Teufelskreis steckt. Doch wann immer er versucht, den Laptop einmal auszulassen oder nur eine Stunde online zu gehen, schlägt dieser Versuch fehl. Sobald er online ist, vergisst er die Zeit und alles um ihn herum. Im Nachhinein fühlt er sich jedoch schlecht, und er leidet unter dem Schlafmangel. Er hat Angst, dass seine Leistungsfähigkeit weiter absinkt.

1.2.2 (Glücks-)Spielsucht

Nur noch das eine Mal: Malte H. – spielsüchtig

Malte, der 29-jährige Medienwissenschaftler, berichtet, schon seit mehreren Jahren suchtartig Sportwetten zu betreiben. Begonnen hat das Spielen während seines Studiums, zunächst als einmaliges Event zusammen mit Kommilitonen. Malte hat sich immer unter sehr hohen Leistungsdruck gesetzt. Schon in seinem Elternhaus lautete die Devise: „Nur Erfolg und Geldverdienen zählen etwas im Leben!“ Im weiteren Verlauf seines Studiums ging Malte dann immer häufiger alleine ins Wettbüro, bald mehrfach in der Woche. Das Wetten hatte ihm das Gefühl vermittelt, Einfluss nehmen zu können, und ihn abgelenkt, wenn er unter starker Belastung aufgrund anstehender Prüfungen stand und ihn die Angst vor dem Versagen plagte. Damals konnte er diesen inneren Druck phasenweise aber auch durch Sport regulieren. Dann wettete er weniger häufig.

Eine Verschlechterung trat ein, nachdem Malte eine Knieverletzung erlitten hatte und Sport erst einmal nicht mehr möglich war. Der Druck, den Malte heute in seinem Job erlebt, steigert sich immer wieder in eine Höhe, die er nicht mehr abbauen kann. Er hat dann das Gefühl, dass ihm alles zu viel wird und er seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen ist. Er hat mehrere Accounts bei Online-Wettplattformen und geht darüber hinaus fast jeden Tag in ein Wettbüro in der Nähe seiner Wohnung. Beinahe täglich sagt er sich „Nur noch das eine Mal!“ und findet sich am nächsten Tag dann doch wieder beim Wetten. Andere Freizeitaktivitäten kann Malte schon seit längerer Zeit nicht mehr genießen, und er hat auch mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Frühere Schulden bei der Bank hat er vor zwei Jahren durch zwei Nebenjobs tilgen können, es bestehen jedoch noch 6000 Euro Schulden bei Freunden und der Familie. Von sozialen Kontakten hat er sich aus Scham bis auf regelmäßige Treffen mit seiner besten Freundin weitgehend zurückgezogen. Scham, Einsamkeit und Angst vor der Zukunft motivieren Malte, eine Beratung aufzusuchen.

1.2.3 Kaufsucht

Mit Online-Shopping gegen Selbstzweifel: Linda S. – kaufsüchtig

Die 38-jährige Personalerin nimmt eine psychologische Beratung in Anspruch, weil sie das Gefühl hat, die Kontrolle über ihre Ausgaben verloren zu haben. Mit zunehmender Verbreitung und Verfügbarkeit von Internet und Online-Shopping in den letzten Jahren hat sich ihr Kaufverhalten immer mehr verändert. Schon früher hatte Linda sich für Mode und Design interessiert und sich gerne etwas gegönnt. Mit der Geburt ihrer Tochter vor acht Jahren vernachlässigte sie dieses Interesse jedoch zunächst. In den ersten drei Lebensjahren ihrer Tochter war sie nur für diese und ihren Mann da, pausierte vom Beruf und ging ganz in ihrer Rolle als Mutter auf. Der Wiedereinstieg fiel ihr dann schwer. Sie verglich sich viel mit Kollegen, die ohne Unterbrechung berufstätig waren, sich weitergebildet und hochgearbeitet hatten. Außerdem fühlte sie sich im Vergleich mit anderen Frauen auch weniger attraktiv. Schwangerschaft und Alter hatten Spuren hinterlassen, die Linda nicht tolerieren konnte. Sie litt unter Minderwertigkeitsgefühlen.

Über die Zeit hinweg ist sie immer wieder „ins Internet geflüchtet“. Über lange Zeiträume, aktuell über mehrere Stunden, schaut sie sich das Angebot von Online-Shops an. Früher hatte sie allein das Anschauen befriedigt und sie von ihrer Unzufriedenheit abgelenkt. Irgendwann begann sie jedoch, sich öfter auch etwas zu bestellen. Da sie wieder selbst Geld verdiente, erlaubte sie sich das. Es hat sich sehr gut angefühlt, sich wieder etwas gönnen zu können und sich mit aktueller Mode aufzuwerten. Das hat die Selbstzweifel nahezu verschwinden lassen. Die Anzahl von Kleidungsstücken, die sie pro Monat bestellte, vermehrte sich schnell. Ihr Mann hat sie zunächst machen lassen, sich gefreut, dass sie etwas für sich tut. Seit dem letzten Jahr kritisiert er sie jedoch immer wieder wegen der hohen Ausgaben. Er weist sie darauf hin, dass die monatlichen Summen, die sie ausgibt, deutlich gestiegen sind. Wiederholt hat er sie gebeten, einen Psychologen aufzusuchen, da er ihr Kaufverhalten als problematisch einstuft. Auch sie selbst merkt mittlerweile, dass ihr das einstige Hobby entgleitet. Sie verliert schon bald nach Monatsbeginn den Überblick über ihre Finanzen.

1.2.4 Sexsucht

Wenn das Verlangen zu groß ist: Christina S. – sexsüchtig

Die 31-jährige Steuerfachangestellte lebt in einer langjährigen Beziehung. Sie berichtet, dass sie ihren Partner liebt und im Grunde glücklich mit ihm ist. Seit nun etwas mehr als zwei Jahren erlebt sie die Beziehung jedoch auch als „etwas eingefahren“ und „nicht mehr so spannend“. Das Paar unternimmt nicht mehr viel miteinander, der Partner muss beruflich oft verreisen, und man tauscht sich weniger aus. Die Probleme anzusprechen ist für Christina jedoch sehr schwierig, da sie befürchtet, den Freund zu verletzen. Zudem will sie „keinen unnötigen Konflikt heraufbeschwören“. Christinas Eltern haben sich früh getrennt, und sie selbst hat sich geschworen, ihre Beziehung auf keinen Fall zu gefährden. Sie wünscht sich, mit ihrem Partner eine Familie zu gründen. Der Freund stehe ihrem Wunsch allerdings skeptisch gegenüber.

Irgendwann kam sie im Rahmen eines Junggesellinnenabschieds mit einem Callboy in Kontakt. Er war an dem Abend engagiert worden, um für die Frauenrunde zu strippen, was Christina als spannend und „mal was anderes“ erlebte. Sie habe sich damals gesagt, es könne ihr und damit auch der Beziehung zu ihrem Partner nur guttun, wenn sie „mal wieder ihren Spaß“ hätte.

Als ihr Freund auf einer Geschäftsreise war, buchte Christina für sich selbst einen Callboy, in der festen Absicht, es bei einer einmaligen Sache zu belassen. Sie bezahlte den Callboy für Sex mit ihr, was ihr „einen solchen Kick“ gab, dass es entgegen ihrem ursprünglichen Vorhaben „zur Gewohnheit“ wurde, sich immer dann einen Callboy zu bestellen, wenn ihr Freund verreist war. Das Geld für diese Dienstleistungen nahm sie von einem Sparbuch, ihrem über Jahre ersparten „Notgroschen“. Zusätzlich begann sie bald, im Internet Sex-Chats zu besuchen und dort mit fremden Männern über Webcam sexuell aktiv zu sein. Das Verlangen nach diesen sexuellen Abenteuern wurde so groß, dass sie zunehmend mehr Zeit dafür investieren musste, um ihr Bedürfnis zu befriedigen und die Anspannung zu reduzieren, die sie in den Zeiträumen zwischen den sexuellen Aktivitäten erlebte. Einmal hat sie so großes Verlangen gespürt, dass sie ihren Arbeitsrechner benutzen musste, um sexuell aktiv zu werden, während ihr Chef und ihre Kollegen beim Mittagessen waren. Sie blieb unter einem Vorwand im Büro, rief pornographische Seiten auf und masturbierte. Um ein Haar wäre sie dabei von einer Kollegin überrascht worden, die wegen eines Mandantentermins vorzeitig aus der Mittagspause zurückgekehrt war. Im Nachhinein ist sie entsetzt und schämt sich sehr. Dennoch spürt sie seither schon tagsüber bei der Arbeit den Drang, ihrem Verlangen nachzugeben, hat aber große Angst, entdeckt zu werden und ihren Job zu verlieren. Außerdem ist von ihrem Sparguthaben nicht mehr viel Geld übrig, was sie sehr beunruhigt. Auch die Angst, ihr Freund könnte von ihren sexuellen Aktivitäten erfahren und sie verlassen, macht ihr sehr zu schaffen.

1.2.5 Arbeitssucht

Sich voll und ganz in die Arbeit stürzen: Carola M. – arbeitssüchtig

Die 51-jährige Betriebswirtin arbeitet als Teamleiterin in einem renommierten Großkonzern. Sie berichtet von einer durchschnittlichen Arbeitszeit von mindestens 65 Stunden pro Woche. Arbeiten am Abend und am Wochenende ist die Regel. Zwar hat sie bisher immer viel Lob und Anerkennung für ihren Einsatz erhalten, doch verlangt weder ihr direkter Vorgesetzter noch die Geschäftsführung ein solches Arbeitspensum. Es ist vielmehr so, dass es ihr ein tiefes Gefühl von Befriedigung verschafft, sich „voll und ganz in die Arbeit zu stürzen“. Sie wird nervös, wenn sie mal keinen Zugriff auf die beruflichen E-Mails hat oder ihr Vorgesetzter ihr einen Tag „Zwangsurlaub“ verordnet. Sie kann dann nur an die Arbeit denken und daran, was sie dort alles tun muss und will.

Sie selbst sah lange Zeit kein Problem darin, für die Arbeit zu leben. Sie ist alleinstehend und kinderlos, gut in dem, was sie tut, und sie identifiziert sich mit den Unternehmenszielen und -werten. In den letzten Wochen war ihr seitens des Managements jedoch immer wieder nahegelegt worden kürzerzutreten. Man habe den Eindruck, sie erhole sich nicht ausreichend. Dies hat sie nachdenklich gemacht. Auf Nachfrage berichtet Carola, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, wann sie zuletzt einmal in einem Supermarkt gewesen ist. Sie lässt sich samstagsfrüh das Nötigste von einem Bringdienst liefern und isst sonst oft unterwegs. Private Verabredungen trifft sie gar nicht, der Kontakt zu Freunden ist über die Jahre eingeschlafen, Familie hat sie nicht, für eine Paarbeziehung hat sie nie Zeit gehabt. Es hat über viele Jahre nur unverbindliche kurze Affären gegeben, sie fühlt sich „mit dem Beruf verheiratet“. Im Verlauf des Gesprächs offenbart Carola, dass sie im Büro zwar alles unter Kontrolle hat und es bestens läuft, jedoch gewisse Probleme aufgetreten sind, sich privat zu organisieren. Sie vergisst, Rechnungen zu bezahlen, und hat keine Zeit, sich um wichtige Erledigungen zu kümmern. Sie erhält regelmäßig Mahnungen, zum Teil mehrere mit stattlichen Säumnisgebühren. Zuletzt hat der Stromversorger ihr damit gedroht, den Strom abzustellen, wenn sie die Zahlung nicht fristgerecht leistet. Für diese persönlichen Dinge bleibt ihr einfach keine Zeit, und wenn sie einmal etwas Zeit hat, fühlt sie sich sehr matt und, aufgrund der Gedanken an die Arbeit, unkonzentriert. Auch ärztliche Vorsorgeuntersuchungen und zahnärztliche Prophylaxen haben seit über zwei Jahren nicht mehr stattgefunden. Dass ihr Privatleben so „durcheinandergeraten“ ist, belastet sie, und sie sieht auch einen Zusammenhang mit dem starken beruflichen Engagement, doch kann sie sich nur schwerlich vorstellen, der Arbeit weniger Aufmerksamkeit zu schenken.

1.2.6 Sportsucht

Training gegen innere Leere: Steffen K. – sportsüchtig

Der 38-jährige Informatiker ist auf der Suche nach einem Therapieplatz, da ihn schon länger ein vages Gefühl von Unzufriedenheit mit seinem Leben begleitet und er sich nicht mehr an Dingen freuen kann, die ihm früher Spaß gemacht haben. Er empfindet die meiste Zeit des Tages „quasi gar nichts“. Alles sei wie hinter einem Schleier und sehr gedämpft. Ein Stück weit begleitet ihn dieses Erleben schon seit seiner Jugend, es hat sich in letzter Zeit aber gesteigert. Seine Tätigkeit als Programmierer übt er nun im zehnten Jahr in der gleichen Position aus, die ihn zunehmend langweilt, er erlebt dort keine Herausforderung und keine Sinnhaftigkeit mehr. Seit seine letzte Beziehung vor drei Jahren auseinandergegangen ist, hatte er an keiner Frau mehr Interesse. Er fragt sich häufig, „ob es das jetzt schon gewesen ist im Leben“. Einzig beim Sport im Fitnessstudio spürt er sich wirklich, und das umso besser, je härter das absolvierte Programm ist. Im letzten Jahr hat er die Häufigkeit der Besuche dort gesteigert, er trainiert täglich abends nach der Arbeit, manchmal auch in der Mittagspause. Der Sport ist für ihn inzwischen „der Höhepunkt des Tages“. Einladungen von Kollegen oder Verabredungen mit Freunden fallen dem Drang zum Opfer, mehr zu trainieren. Auch ein Infekt oder Schmerzen halten ihn nicht davon ab, ins Fitnessstudio zu gehen. Anzeichen körperlicher Überlastung häufen sich, abends fällt Steffen völlig ausgelaugt ins Bett und schläft sofort ein. Er hat festgestellt, dass er eigentlich nie in Ruhe und „bei sich“ ist, sondern entweder arbeitet oder Sport treibt.

1.3 In der Falle – warum wir es nicht lassen können

1.3.1 Die Macht der Gefühle

Oft warnt uns der Verstand: „Du ruinierst deine Existenz, wenn du mit XY nicht aufhörst“, „Es ist nicht gesund, wie du lebst“, „Es ist wichtig, dass du dich jetzt um deine Ausbildungsstelle kümmerst“, „So kann dich keine Frau kennenlernen“ oder „Wenn du so weitermachst, wird dich dein Partner verlassen“. Das sind Botschaften, die uns unsere innere Stimme in achtsamen Augenblicken zuflüstert. Von einer Verhaltenssucht betroffene Menschen wissen häufig um die Probleme, die sich aus ihrem exzessiven Verhalten ergeben, und erhalten mehr oder weniger regelmäßig solche „vernünftigen“ Botschaften. Dennoch scheint immer wieder eine andere Instanz im Gehirn die Kontrolle zu übernehmen – und schon ist es wieder passiert: Der gute Vorsatz „Morgen mache ich es anders“ wird immer wieder gebrochen.

Warum ist es so schwer, sein Verhalten zu ändern? Steckt Charakterschwäche dahinter oder mangelnder Wille? Oder gibt es andere Erklärungen dafür?

Von unseren Patienten in der Psychotherapie hören wir häufig Sätze wie: „Ich verstehe, dass ich mir damit schade, aber ich halte dieses Gefühl und diese Spannung nicht aus“ oder „Es passiert dann einfach so, ganz automatisch, ich habe mir gar nichts dabei gedacht“.

Jeder Mensch kennt das Dilemma, das sich ergibt, wenn der Verstand das eine vorgibt, der Bauch jedoch eine ganz andere Richtung einschlagen möchte. Wir alle wissen zum Beispiel, dass es für den Erhalt der Gesundheit wichtig ist, Sport zu treiben und sich gesund zu ernähren – und machen es trotzdem häufig nicht. Manchmal hängen wir in Beziehungen fest, die uns offensichtlich schaden – und können uns dennoch nicht lösen. Oder wir schieben wichtige unangenehme Dinge immer weiter vor uns her, obwohl wir wissen, dass es das nicht besser macht. Die Vorsätze an Silvester scheinen geradezu dafür gemacht, über den Haufen geworfen zu werden. Es gibt viele Beispiele dafür, dass sich Verstand und Gefühl nicht immer einig sind und dass es sehr schwer ist, Verhaltensgewohnheiten zu ändern. Meist übernehmen nämlich die Gefühle die Regie. Sie sind häufig stärker als unser Verstand und für unser Verhalten entscheidend.

In diesem Kapitel wollen wir Ihnen daher einen Einblick in die Bedürfnis- und Gefühlswelten von uns Menschen vermitteln, da Bedürfnisse und die damit in Zusammenhang stehenden Gefühle in großem Maße Einfluss auf unser Handeln und unsere Handlungssteuerung haben und dadurch nicht zuletzt auch auf das jeweilige Suchtverhalten. In den Folgekapiteln werden Sie dann auch noch weitere Mechanismen kennenlernen, die für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Suchtverhalten von wichtiger Bedeutung sind.

Was treibt unser Verhalten an? – Die Bedeutung von Gefühlen für unser Leben

Alle reden von Gefühlen. Aber was sind Gefühle eigentlich? Und wofür sind sie gut?

Eine Metapher halten wir zur Veranschaulichung für besonders eingängig. Bekannt geworden ist sie durch den 2015 verstorbenen amerikanischen Psychologen Marshall Bertram Rosenberg, den Begründer des Handlungskonzepts der Gewaltfreien Kommunikation. Rosenberg verglich Gefühle mit Signallampen an einem Auto, die anzeigen, was das Auto braucht: Gefühle zeigen uns Menschen an, was wir brauchen, also welches Bedürfnis gerade nicht erfüllt ist.