3Alexander von Humboldt
Henriette Kohlrausch

Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie

Herausgegeben von
Christian Kassung und Christian Thomas

Insel Verlag

9Vorwort der Herausgeber

»Nur der Naturforscher ist verehrungswerth, der uns das Fremdeste, Seltsamste, mit seiner Localität, mit aller Nachbarschaft, jedesmal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich nur einmal Humbolden erzählen hören.

Goethe's Wahlverwandschaft.«1

Physikalische Geographie.
Vorgetragen von Alexander von Humboldt.

– so lautet der schlichte Titel des hier edierten Manuskripts (siehe Abb. 1).2 Doch wer ist dessen Autor oder dessen Autorin? Wer spricht, bzw. wer schreibt hier eigentlich?

Keine Frage könnte diesen Band besser eröffnen, könnte dessen Problemstellung, dessen Herausforderung und dessen Erkenntniswert besser umreißen. Wir werden in diesem Vorwort mögliche Antworten auf die eingangs gestellte Frage diskutieren und dabei gleich mit der naheliegendsten beginnen: mit Alexander von Humboldt,3 der im Winter 1827/28 die im Titel genannte Vortragsreihe über »Physikalische Geographie« in Berlin hielt. Wir werden jedoch zeigen, dass neben Humboldt noch weitere Akteure ganz maßgeblich mit der Geschichte der ›Kosmos-Vorträge‹ verwoben sind, wodurch sich diese allererst zu jenem Manuskript verdichten konnten, das heute unter der Signatur 10»Ms. germ. qu. 2124« in der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt wird und das die Grundlage dieser Edition bildet.

Da ist zum einen die Person, die Humboldts mündlichen Vortrag verschriftlicht und den hier edierten Text verfasst hat: Henriette Kohlrausch, die im Verlauf dieses Vorworts noch ausführlich vorgestellt werden wird. Denn das Manuskript stammt offensichtlich nicht vom Vortragenden selbst, sondern ist ein herausragendes Zeugnis einer im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Praxis: des Mit- bzw. Nachschreibens von Vorlesungen.4 Den Herausgebern ist es gelungen, die Identität der Verfasserin Henriette Kohlrausch zu belegen und somit auch ihren Beitrag zur Gestalt und Gestaltung des Textes herauszuarbeiten. Zum anderen sind neben den ›Begleitumständen‹ des Ereignisses, auf die das Vorwort kurz eingehen wird, selbstverständlich weitere Personen und Personengruppen involviert, die als Vorbilder, Ideengeber und Dialogpartner des Vortragenden ihre Spuren im Text der Nachschrift hinterlassen haben. Ebenso entscheidend für die Rezeptionsgeschichte des Vortragsereignisses wie der überlieferten Textzeugen sind die (früheren und aktuellen) Biographinnen und Biographen Humboldts sowie die Herausgeberinnen und Herausgeber, Kommentatorinnen und Kommentatoren historischer Quellen, in deren Genealogie sich der vorliegende Band einreiht. Und schließlich haben auch Sie selbst, die Leserinnen und Leser dieser Vorlesungsnachschrift, Anteil an deren Rezeption, Diskussion und Verbreitung in der jeweiligen Gegenwart.

11Im Folgenden wollen wir die angesprochenen Facetten kursorisch erörtern, um die Auseinandersetzung mit Humboldts berühmten Vorträgen der Jahre 1827 und 1828 und der hier edierten Nachschrift derselben insgesamt auf eine solide, quellenkritische, kultur- und wissenschaftsgeschichtlich informierte Grundlage zu stellen. Die wichtigste Frage ist dabei, weshalb es sich heute – und besonders heute – lohnt, die ›Kosmos-Vorträge‹ zu lesen.

Am 12. Mai 1827 kehrt Alexander von Humboldt nach Berlin zurück, wo er das letzte Drittel seines Lebens verbringen wird. Die beiden Vorlesungszyklen, die er zwischen November 1827 und April 1828 abhält, schließen an die zahlreichen Vorträge an, die er zuvor in Paris an der Académie des Sciences gehalten hatte. Dort hatte Humboldt unter anderem an der Auswertung, Ordnung und Publikation der Ergebnisse seiner großen amerikanischen Forschungsreise (1799-1804) gearbeitet.5 Als Anregung und in vieler Hinsicht als Vorbild für die eigene Unternehmung, über naturwissenschaftliche Themen vor einem ›gemischten‹ Publikum zu referieren, dienten Humboldt beispielsweise die öffentlichen, unentgeltlichen Vorträge seines Freundes und Akademiekollegen François Arago an der Pariser Sternwarte. Auch seine eigene Interpretation der »Physikalischen Geographie« als einer »physique du monde«6 stellte Humboldt bereits in Paris einem breiteren Zuhörerkreis vor, wo er ab 1825 eine Reihe von Vorlesungen im Salon der Marquise Amandine de Montcalm hielt.

Dank dieser Vorträge vor Besucherinnen und Besuchern 12großstädtischer Salons ebenso wie vor den Mitgliedern sowohl der Pariser als auch der Berliner Akademie, deren »ordentliches Mitglied« er 1805 geworden war, wusste Humboldt sehr genau, was mit der selbstgewählten Herausforderung auf ihn zukam, 1827/28 in der preußischen Hauptstadt einem großen, möglichst divers besetzten Auditorium die »Physikalische Geographie« zu vermitteln. Sein Berliner Publikum war seinerseits ebenfalls gut auf dieses Ereignis vorbereitet, hatte sich doch hier schon vor Gründung der Universität 1809/10 eine Tradition anspruchsvoller öffentlicher Vorträge etabliert. An prominenten Beispielen seien Friedrich August Wolf, Johann Gottlieb Fichte, August Wilhelm von Schlegel und Friedrich Schleiermacher genannt. Humboldts Hörerinnen und Hörer waren also durchaus auf akademische Inhalte mit einem hohen wissenschaftlichen Anspruch eingestellt – und der Vortragende war mit der Praxis der Vermittlung derselben bestens vertraut.

Da zu dieser Zeit keine technischen Apparaturen existierten, um eine Stimme zu speichern, kennen wir den genauen Wortlaut der Vorlesungen nicht. Und selbst wenn Humboldt seine Vorlesungen nicht 1827/28, sondern gut 50 Jahre später gehalten hätte, so dass sich seine Stimme in eine Wachswalze hätte einschreiben können und wir uns die Vorlesungen fast genau so anhören könnten wie deren zeitgenössische Zuhörerinnen und Zuhörer, wäre damit das historische Ereignis als solches dennoch nicht wiederholbar. Denn bei aller Faszination, die von einer solchen Aufzeichnung des gesprochenen Wortes ausgehen würde, unterscheidet sich unser heutiges Verständnis der Worte 13Alexander von Humboldts zwangsläufig sehr stark von dem, was zeitgenössische Zuhörerinnen und Zuhörer aufgefasst, verstanden, goutiert oder ignoriert haben werden. Vieles von dem, was damals fasziniert und gefesselt hat, würde für uns zu einem Rauschen, zu erklärungsbedürftigen Aussagen, zu wilden Spekulationen oder zu mittlerweile erwiesenermaßen falschen Tatsachen.

Das historische Ereignis bleibt also unverfügbar. Allerdings gab es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus Medienpraktiken, die eine zumindest rudimentäre Speicherung des gesprochenen Wortes erlaubten: Kurzschriften. Bereits seit der Antike bekannt, kennen wir in dieser Zeit allein in Deutschland Hunderte von Kurzschriftsystemen, teilweise in durchaus spannungsgeladenen Konkurrenzverhältnissen. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass derartige Aufzeichnungspraktiken zur Zeit der ›Kosmos-Vorträge‹ erstens noch keine vollständig verlässliche, ausgereifte Kulturtechnik sind. Zweitens handelt es sich damit um ›knappe‹ Medien, was dann auch die sekundäre Praxis des Abschreibens von Mitschriften motiviert bzw. erklärt.

Doch kehren wir zum konkreten Ereignis der ›Kosmos-Vorträge‹ zurück. Wir können davon ausgehen, dass im 19. Jahrhundert das Mit- und Nachschreiben von Vorträgen zwar eine durchaus verbreitete, aber individuelle Praxis war. Ziel war in der Regel eine auf wesentliche Inhalte fokussierte und d. ‌h. eben auch reduzierte Wiedergabe des Vortrags, wohingegen eine wortwörtliche Aufzeichnung desselben vermutlich nicht einmal im Interesse der Schrei14berinnen und Schreiber gewesen wäre – in jedem Fall lag sie nicht im Bereich der Leistungsfähigkeit dieser Medienpraxis.7 Blenden wir hierzu das Argument ein, dass selbst wenn wir über eine Aufzeichnung der Stimme verfügen würden, immer noch der Raum, die Bilder, die Gesten, die Mimik, das Publikum usf. fehlten, wird die Frage nach der Autorschaft einer Vorlesung zunehmend komplex. Von Humboldts Vorträgen gibt es keine autorisierte Publikation, ebensowenig ein überliefertes, vollständiges Manuskript, von dem er abgelesen hätte.8 Dokumentiert sind sie lediglich in Form einer ganzen Reihe von individuellen, bisweilen sogar widersprüchlichen Texten: Nachschriften aus dem jeweiligen Hörsaal, in denen seine Hörerinnen und Hörer über einen mehrstufigen Prozess – vom Hören und zwangsläufig selektiven Auffassen des gesprochenen Worts über die flüchtige, immer zeitversetzte und wiederum lückenhafte Notation desselben bis zum nachträglichen Anfertigen einer Reinschrift auf dieser Grundlage – ihre eigenen Vorlesungen konstruiert haben.

Eine solche Quellenlage ist übrigens bei weitem kein Einzelfall in der Kulturgeschichte, man denke nur an ›Hegels‹ Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte oder ›Saussures‹ Cours de linguistique générale. Das Ziel einer ›Rekonstruktion‹ der Vorlesung erweist sich angesichts dieser Überlieferungssituation wie überhaupt aufgrund der Natur jedes historischen Ereignisses als niemals erreichbare, ja sogar illusorische Reduktion.9 An seine Stelle tritt die Komplexität und Stärke der Konstruktion einer Vorlesung.

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Während von Humboldts ›Kosmos-Vorträgen‹ an der Berliner Universität mehrere Nachschriften bekannt sind und mittlerweile ediert wurden, ist das vorliegende Manuskript nach derzeitigem Kenntnisstand die einzige Nachschrift des Kurses an der Sing-Akademie.10 Die Handschrift gibt, gegliedert in 16 Vorträge, auf knapp 160 Seiten (mit Titelei insgesamt 81 Blatt) einen durchgehenden Fließtext in der ›Ich‹-Form wieder. Wir werden darin Zeugen einer Reise, in der sich Raum und Zeit miteinander verschränken. Denn wenn wir, dem Ich-Erzähler ›Alexander von Humboldt‹ folgend, den erloschenen Vulkan Chimborazo in Ecuador besteigen, dann ist das nicht nur die Erkundung einer bestimmten Gesteins- und Gebirgsformation, also nicht nur »Physikalische Geographie«, sondern darüber hinaus ein Hinabtauchen in die Geschichte der Erde, »indem wir annehmen, daß alle Gebirgsketten aus Spalten emporgetrieben, uns Bestandtheile der Erde aus größerer Tiefe sichtbar machen.« ( | Bl. 14r)11 Oder, wie Humboldt es 18 Jahre später im Kosmos formulieren wird: »Wir steigen aufwärts in die Zeit, indem wir, die räumlichen Lagerungsverhältnisse ergründend, von Schicht zu Schicht abwärts dringen.«12

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Abb. 2: Alexander von Humboldt: Notizen zur Meteorologie.

Zwei der Grundblätter sind von Humboldt als zur »52ste[n] Stund[e]« gehörig gekennzeichnet und lassen sich somit den ›Kosmos-Vorträgen‹ an der Berliner Universität 1827/28 zuordnen. Dadurch, wie auch durch den Abgleich des Textes mit den überlieferten Nachschriften, werden die Notizen als Teil des ursprünglichen Manuskripts erkennbar (vgl. auch Abb. 18). Die zahlreichen darauf fixierten Notizzettel dagegen enthalten teilweise spätere Datierungen, andere lassen sich nicht mit Sicherheit den Vorträgen zuordnen.

Wer also mit Humboldt den Raum der Welt erkundet, der reist zugleich in die Geschichte der Erde und kann deren »successive Bildung« ( | Bl. 17r) nachvollziehen. Die ›Kosmos-Vorträge‹ sind, worauf später noch einmal ausführlich zurückzukommen sein wird, eine Geschichte in doppeltem Sinne und setzen damit eine starke, einigen Biographien 17zufolge bisweilen gar heroische Autorschaft voraus. Womit sich uns die Frage stellt, wie wir den Hinweisen auf eine Autorschaft Humboldts nachspüren, wie wir diese sichtbar machen können, wenn nicht, wie zunächst dargestellt, an der Oberfläche des Textes, in den konkreten Worten, dem Stil, der Rhetorik, der Sprache der Vorlesung. Die Spur, so kann die Antwort auf diese Frage nur lauten, führt ins Innere des Textes, in seine Struktur. Und genau hier haben wir es tatsächlich mit einer starken Autorschaft zu tun, allerdings nicht – und dies soll im Folgenden näher begründet werden – in der Weise einer Überhöhung der ›Kosmos-Vorträge‹ zu einem Begründungsmoment der modernen populären Wissenskultur.13

Das entscheidende Datum dieser Autorschaftsdebatte ist der 6. Dezember 1827. Vor dem erst kürzlich vollendeten Gebäude der Berliner Sing-Akademie, dem derzeitigen Sitz des Maxim Gorki Theaters, herrscht großer Andrang. Humboldt ist der Star, den alle sehen und hören wollen. Deshalb eröffnet er Anfang Dezember parallel zu seinen von Beginn an überfüllten Vorlesungen an der Berliner Universität zusätzlich einen zweiten öffentlichen Zyklus von Vorträgen im Haus hinter der Neuen Wache. Das Themenspektrum, das in der Ankündigung im Lektionsverzeichnis der Universität nur unscharf als »Physische Erdbeschreibung, mit Prolegomenen über Lage, Gestalt und Naturbeschaffenheit der Gestirne«14 betitelt wurde, ist in beiden Zyklen identisch. Dennoch handelt es sich bei den beiden Vortragsreihen um jeweils eigenständige, individuelle Umsetzungen dieser inhaltlichen Leitmotive.

18Die Daten und Themen sowie die übergeordnete Gliederung notiert Humboldt in zwei- bzw. vierseitigen Übersichten, die in seinem Nachlass in der Berliner Staatsbibliothek erhalten geblieben sind (vgl. Abb. 3 und Abb. 8).15 In diesem Überblick treten die Unterschiede beider Zyklen, in denen Humboldt jeweils die »gute oder schlechte Verkettung einzelner Theile [s]einer Lehre«16 öffentlich auf den Prüfstand stellte, deutlich hervor. Letztlich wird Humboldt die Gliederung des ›kleineren‹, kompakteren Kurses an der Sing-Akademie als Ausgangspunkt für die Anlage seines letzten großen Buchprojekts Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845-62) übernehmen.17

Vermutlich wäre Humboldt, neben seinen ohnehin zahlreichen Aufgaben und Plänen, mit nur einem, d. ‌h. dem zuerst begonnenen Zyklus an der Berliner Universität schon mehr als ausgelastet gewesen. Diese Vortragsreihe in einem großen Hörsaal im Universitätsgebäude Unter den Linden wird besonders zum Ende hin zu einem erheblichen Kraftakt. Zunächst liest Humboldt dort vor etwa 400 Personen planmäßig zweimal pro Woche, mittwochs und sonnabends zwischen 12 und 13 Uhr. Doch ab März 1828 muss er die Schlagzahl deutlich erhöhen. Zuletzt steht er fast täglich am Katheder, um das von ihm entworfene Themenspektrum überhaupt bewältigen zu können. Der Stoff, den Humboldt seiner Konzeption gemäß abhandeln muss, um die physikalische, historische, kulturelle, ökonomische und soziale Themen verbindende ›Erd-‹ oder besser: ›Weltbeschreibung‹18 abzuschließen, sprengt schließlich den Rahmen der ursprünglich vorgese1920henen Vorlesungszeit: Die gesamten universitären Ferien hindurch, über die Osterfeiertage bis kurz vor Beginn des folgenden Semesters muss Humboldt seine Lehrveranstaltung ausdehnen, um schließlich nach insgesamt 62 Vorträgen19 sein ›Naturgemälde‹ zu vollenden. Diese Über-Lastung hatte Humboldt allerdings noch nicht absehen können, als er Ende November 1827 bekanntgibt, dass er sich parallel zu diesem ersten noch einen weiteren Kursus aufbürden würde.

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Abb. 3: Alexander von Humboldt: Übersicht über die Stundenzahl, Daten und Themen der ›Kosmos-Vorträge‹ an der Berliner Sing-Akademie.

Vgl. dazu die Rückseite dieses Blatts, Abb. 8. Zu seinem zeitlich teilweise parallel laufenden Zyklus von 62 ›Kosmos-Vorträgen‹ an der Berliner Universität ist eine vergleichbare Aufstellung Humboldts im Nachlass überliefert.

Mit diesem zweiten, an ebendiesem 6. Dezember 1827 eröffneten Kursus an der Sing-Akademie verzweigen also sich die ›Kosmos-Vorlesungen‹, verdoppelt sich quasi das Vortragsereignis. Dieser zweite Kursus verläuft entlang einer vom Vortragenden vollständig geänderten Gliederung in einem sehr viel gleichmäßigeren Rhythmus und kommt mit der 16. Vorlesung am 27. März 1828 zum Abschluss. Mit nur einer einzigen Unterbrechung nach den Weihnachtstagen20 liest Humboldt hier jeden Donnerstag zwischen 12 und 14 Uhr – und stets vor einem restlos gefüllten Saal mit bis zu 1 ‌000 Zuhörerinnen und Zuhörern. Im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte, die freilich schon mit den tagesaktuellen Zeitungsberichten beginnt, verdichtet sich dieses Ereignis immer mehr zum Begründungsmoment einer neuen Form von Öffentlichkeit, ja der bildenden Durchdringung auch deren entferntester Sphären. Oder, wie der Schauspieler und Regisseur Karl von Holtei an Johann Wolfgang von Goethe berichtet, gelingt Humboldt mit den ›Kosmos-Vorträgen‹ die Vermittlung des wissenschaftlichen state of the art an »die ganze schöne Welt«.21

21In dieser Verdichtung, mit Blick also auf die Breitenwirkung und das sich, außer in den Briefen und Erinnerungen diverser weiterer Besucherinnen und Besucher, auch in den Tageszeitungen niederschlagende enorme Interesse an dem Ereignis, gelten Humboldts öffentliche Vorträge im Berlin der Jahre 1827/28 als »Sternstunden in der Geschichte der Wissenschaftspopularisierung«.22 Diese extrem pointierte und in der Folge immer wieder aufgegriffene Würdigung der ›Kosmos-Vorträge‹ stammt von Jürgen Hamel und Klaus-Harro Tiemann, die Humboldts Vorträge an der Sing-Akademie erstmals ediert haben. Um die mit dieser Verdichtung zumindest implizit einhergehende Charakterisierung der Vorträge als vereinfachte, damit ›massentaugliche‹ und in diesem Sinne eigentlich ›populärwissenschaftliche‹ Version dessen, was soeben noch als state of the art der damaligen Forschung bezeichnet wurde, kritisch überprüfen zu können, sei im Folgenden ein exemplarischer Blick auf den wissenschaftlichen Inhalt des 14. Vortrags geworfen. Diese Vorlesung bietet sich insofern besonders an, da sie einen Knotenpunkt des gesamten Zyklus darstellt.

In den ersten zehn Vorlesungen entwirft Humboldt die »Skizze eines großen Bildes im Umrisse«, eines »Naturbildes« oder »Naturgemäldes«, das als »Uebersicht der Gesammtheit des Geschaffenen« zur »Weltbeschreibung« wird.23 Zwei Dinge sind daran bemerkenswert. Erstens springt der ›Ich‹-Erzähler in Kohlrauschs Manuskript, Alexander von Humboldt, direkt zu Beginn seiner Vorlesung – und seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit ihm – nahezu 22unvorbereitet ins kalte Wasser: keine Begrüßung, keine Captatio benevolentiae, keine Hinführung auf das Kommende. Vielmehr stellt er zunächst »Naturgeschichte« und »Bild der Natur selbst« ( | Bl. 2r) gegeneinander, um bereits mit dem zweiten Satz den Blick in den Himmel zu richten. Die also zunächst für die Astronomie entwickelten Prinzipien geben die Denkmuster vor, die anschließend in der Geognosie, der Klimatologie und weiter in der räumlichen Verteilung der Pflanzen, Tiere und »Menschenracen« ( | Bl. 9v u. ‌ö.) abgearbeitet werden. Das mit dieser Bewegung von Humboldt skizzierte »Naturgemälde« wird so für die Leserinnen und Leser zu einer Reise mit dem Anspruch, das Hier und Jetzt mit dem räumlich Entfernten und dem historisch Zurückliegenden zu verbinden.

Damit sind wir beim zweiten bemerkenswerten Punkt, auf den erst der Beginn der siebten Vorlesung explizit aufmerksam macht, der jedoch implizit bereits im Begriff der »Naturgeschichte« aufscheint. Während nämlich das in den ersten zehn Vorlesungen entworfene »Naturgemälde« ganz dem Lessing'schen Paradigma der bildenden Kunst als Raumkunst verpflichtet ist, also eine atemporale Struktur des reinen Nebeneinanders entwirft,24 geht Humboldt mit der 11. bis 13. Vorlesung zur Erklärung des Natursystems als einem Wissenssystem mit eigener Zeitlichkeit und Geschichte über. Genauso, wie die Dinge im Moment nicht nur neben-, sondern immer zugleich auch nacheinander existieren ( | Bl. 46r), rückt »das vernunftmäßige Begreifen jenes Natur-Ganzen« immer näher ( | Bl. 51r). Mit anderen Worten historisiert sich Humboldt ab der 11. Vorlesung selbst, be23greift sich als Teil einer von ihm ausführlich behandelten Wissensgeschichte, die immer zugleich System ist. Die ›Kosmos-Vorlesungen‹ werden damit zu einem Akteur der sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert vollziehenden Verzeitlichung der Natur und ihrer Erkenntnis, jenem von Wolf Lepenies bereits 1976 rekonstruierten Ende der vollkommen unhistorischen historia naturalis, das von ihm zugleich als Anfang der historischen Naturauffassung gesehen wird.25

Humboldts ›Kosmos-Vorlesungen‹ entfalten sich also zunächst entlang einer räumlichen (1./2. bis 10. Vortrag), sodann entlang einer raumzeitlichen (11. bis 13. Vortrag) Achse. Erst als raumzeitliches Gebilde erlauben sie ein Erkennen der Natur als ›Einheit in der Vielheit‹26 und der gegenwärtigen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In diesem Sinne sind Humboldts ›Kosmos-Vorträge‹ eben nicht bloß Ausflüge in räumlich entfernte Gegenden der Welt – sie sind zugleich und zwangsläufig Reisen in die (eigene) Vergangenheit. In diesem raumzeitlichen Reisen spürt Humboldt der Einheit der Natur bzw. genauer: der Geschichte der Entwicklung des Gedankens von der Einheit der Natur nach – und an dieser epistemisch wie vermittlungsstrategisch verdoppelten Reise lässt er das Berliner Publikum der Sing-Akademie teilhaben, er schickt es geradezu auf eine Zeitreise.

Womit wir nun zu der Frage kommen, welche Funktion die letzten drei Vorlesungen haben bzw. wie der wissenshistorische Status der 14. Vorlesung einzuschätzen ist. Um diese Frage beantworten zu können, sei die These aufgeworfen, 24dass der 14. Vorlesung nicht ein einzelnes Problem oder ein Teilbereich der »physischen Weltbeschreibung« zugrunde liegt, sondern schlichtweg das System der Physik: Humboldt spannt in dieser zentralen Vorlesung deren gesamten Wissensraum auf. Er beschränkt sich also nicht auf eine Darstellung des vorhandenen und gesicherten Wissens seiner Zeit, sondern adressiert Probleme, die in systematischer Hinsicht wichtig sind, indem sie Zusammenhänge vorwegnehmen, die erst deutlich später explizit erkannt bzw. formal erklärt werden. Gehen wir nun vor diesem Hintergrund ins Detail.

Als inhaltlichen Einstiegspunkt in seine ›Physik-Vorlesung‹ wählt Humboldt drei Entdeckungen, an denen sich ihm zufolge der wissenschaftliche Fortschritt ablesen lässt. Diese liegen zum Zeitpunkt des Vortrags unterschiedlich lange zurück, nämlich etwa 30 bis 40, 15 bis 20, und fünf bis sechs Jahre, führen also sukzessive in die Physik seiner Gegenwart. Mit der ersten, am weitesten zurückliegenden Entdeckung schöpft Humboldt quasi aus dem Vollen des zeitgenössischen Wissens, d. ‌h. das Auditorium weiß genau, wovon er spricht: Es handelt sich um »die große Entdeckung der Contacts-Elektricität« durch Luigi Galvani ( | Bl. 64r). Dieser hatte 1780 entdeckt, dass ein Froschschenkel, der mit einem Kupferhaken an einem Eisengitter aufgehängt ist, zusammenzuckt, sobald er das Eisengitter berührt.27 War zur Jahrhundertmitte das Vorführen elektrostatischer Entladungsversuche zu einem Modespektakel höfischer Unterhaltung geworden, sind es nun die zuckenden Froschschenkel Galvanis, die zu einer experimentellen Alltagspraxis 25wurden, während sich Humboldt im Selbstversuch von südamerikanischen Zitteraalen elektrische Schläge versetzen lässt.28

Im April 1820, und damit springen wir zur dritten von Humboldt genannten Entdeckung, beobachtet der dänische Physiker Hans Christian Ørsted während einer Vorlesung erstmals jene merkwürdige »Identität« zwischen Elektrizität und Magnetismus ( | Bl. 65v), die erst zwischen 1855 und 1873 von James Clerk Maxwell mathematisch formuliert wurde. Ørsteds Entdeckung, dass eine frei bewegliche Magnetnadel von einem stromdurchflossenen Draht abgelenkt wird, geschah nicht – wie ihm einige eher missgünstige Zeitgenossen zuschrieben – zufällig, sondern folgte dem romantischen Ideal einer einheitlichen Naturbeschreibung.29 Im gleichen naturphilosophischen Kontext greift Humboldt mit der Themenauswahl dieser 14. Vorlesung ein physikalisches Kernproblem seiner Zeit heraus, dessen tieferes Verständnis jedoch erst in den 1940er Jahren die Entwicklung der Quantenelektrodynamik lieferte: Die Problemkonstellation, die mit der Verknüpfung von Elektrizität und Magnetismus innerhalb der ›Kosmos-Vorträge‹ aufgerufen wird, beschäftigte die Physik also über 120 Jahre hinweg. Insofern kann die Wiederkehr des Magnetismus in der wissenschaftlichen Gegenwart Humboldts als ein erster Hinweis auf die systemische Struktur dieser Vorlesung gedeutet werden.

Zeitlich dazwischen liegend, und scheinbar unverbunden damit, führt Humboldt das Phänomen der Polarisation des Lichts an, das sein enger Freund François Arago ge26meinsam mit dem Physiker Augustin Fresnel seit 1817 experimentell intensiv erforschte. Wieso wählt er diese Entdeckung aus dem Bereich der Optik für den zwischenliegenden Zeitraum aus, wenn seine Rahmenerzählung auf die physikalische Vereinheitlichung von Elektrizität und Magnetismus hinausläuft? 1812 berichtet der römische Chemiker Domenico Morichini, dass es ihm gelungen sei, einen Eisendraht mithilfe von Sonnenlicht zu magnetisieren.30 Auf die Rezeption dieses Experiments verweist Humboldt am Ende dieses ersten Abschnitts ( | Bl. 67r), wobei er innerhalb der sehr kontroversen Debatte die Richtigkeit dieser Experimente unterstreicht. Damit wirft er implizit die Hypothese auf, dass Licht ein elektromagnetisches Phänomen ist: Froschschenkel, Magnetismus und Polarisation gehören in seiner Erzählung also zur selben Geschichte, auch wenn erneut erst Maxwell erklären konnte, dass die Polarisation einen besonderen Schwingungszustand der beiden zueinander senkrecht stehenden elektrischen und magnetischen Feldvektoren darstellt. Anders formuliert: Die von Humboldt am Beginn seiner 14. Vorlesung gewählte Beispielkonfiguration physikalischer Entdeckungen weist insofern über sich selbst hinaus, als die daraus resultierenden Fragen und Probleme erst sehr viel später und auf einer extrem abstrakten Ebene gelöst werden konnten.

Man könnte und müsste sicherlich die gesamte 14. Vorlesung einer kritischen wissenshistorischen Lektüre unterziehen, was im Rahmen dieses Vorworts nur angedeutet werden kann. Aber das entscheidende Argument tritt bereits jetzt deutlich hervor: Humboldt wählt in dieser Vor27lesung physikalische Probleme aus, deren struktureller Zusammenhang erst sehr viel später, ja teilweise sogar erst im 20. Jahrhundert erklärbar wird. Man könnte sogar die These vertreten, dass er – ob bewusst oder unbewusst – das gesamte Theoriegefüge der heutigen Physik andeutet, wenn er beispielsweise im weiteren Verlauf der Vorlesung auch die Planetenbewegung oder das Olbers'sche Paradoxon einführt, die erst mit der Allgemeinen Relativitätstheorie abschließend erklärt werden konnten.

Zu einem ›starken‹ Text wird die Vorlesung also nicht durch das jeweils einzelne Detail und dessen Verortung im Stand des zeitgenössischen Wissens, sondern durch die Auswahl und die sich daraus ergebende Konstellation der Beispiele. Wichtig und lesenswert wird die Vorlesung dadurch, dass Humboldt darin Dinge nebeneinander angeordnet hat, deren Zusammenhang sich erst im Nachhinein erwiesen hat. Dabei sei allerdings auch betont, dass wir heute zwar sämtliche von Humboldt genannten einzelnen Phänomene erklären können, es aber nach wie vor keine Theorie gibt, die alle Phänomene zusammen beschreibt. Gerade durch diese Offenheit und sein Gespür für ›wichtige‹ Probleme erweist sich Humboldts eigener Anspruch als gerechtfertigt, »ein Bild der Natur selbst […] entwerfen« zu wollen ( | Bl. 2r).

Damit zeichnet sich eine eigenartige, fast paradoxale Konstellation ab: auf der einen Seite ein extrem starker Autor, Alexander von Humboldt, der mit dieser Vorlesung in der für ihn charakteristischen Art und Weise um die (offene) 28Struktur einer raumzeitlichen Naturgeschichte ringt. Auf der anderen Seite aber ein Text, den es so niemals gegeben hat bzw. der selbst bereits eine nachträgliche (Re-)Konstruktion eines historischen Ereignisses ist: Denn weder ist das hier vorgelegte Manuskript von Humboldt selbst verfasst noch ist es von ihm zum wortwörtlichen Mitschreiben diktiert worden. Dieser Text ist zwar auf dem Titelblatt ausgewiesen als »Vorgetragen von Alexander von Humboldt«, (vgl. Abb. 1) ist aber niemals von diesem autorisiert oder gar zur Veröffentlichung freigegeben worden.31 Es handelt sich, wie eingangs bemerkt, um eine Nachschrift, d. ‌h. um eine auf Grundlage von Notizen aus dem Vorlesungssaal nachträglich angefertige Reinschrift (vgl. Abb. 4) dessen, was während des Vortrags in Stichworten festgehalten werden konnte. Wie bei vielen ähnlichen Erzeugnissen vermerkt das Manuskript an prominenter Stelle den Namen des Vortragenden, nirgends aber den des Schreibers oder der Schreiberin – oder der möglicherweise weiteren Personen, die, wie in anderen Nachschriften zu beobachten, gemeinsam an dem Text gearbeitet haben könnten.

Aus diesem Grund und auch, weil die Akzessionsjournale der Königlichen Bibliothek bzw. der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin hierzu keine Informationen liefern, wurde dieses bislang als anonym verfasstes Heft geführt. Dessen Schreiber bzw. Schreiberin (sowie ggf. weitere an dessen Herstellung beteiligte Personen) treten dadurch umso mehr hinter dem Vortragenden in den Hintergrund; so weit, dass man ihre Stimme durchaus leicht überhören, ihren nicht zu unterschätzenden Anteil an der Textherstellung allzu leicht 2930übersehen könnte. Das vorliegende Heft ist nach bisherigem Kenntnisstand die einzige überlieferte Nachschrift der ›Kosmos-Vorträge‹ an der Sing-Akademie und insofern, gerade weil autorisierte Papiere des Vortragenden fehlen, zweifellos ein immens wichtiger Textzeuge dieses historischen Ereignisses. Es gibt dieses jedoch in einer erst nachträglich, nach mehreren Vermittlungs-, Transformations- und Interpretationsschritten fixierten Form wieder – vom gesprochenen Wort über den davon aufgefassten und spontan für notationswürdig befundenen Sinn, das davon in abgekürzter Form Notierte, über möglicherweise weitere Stufen und eine mehr oder weniger große zeitliche Distanz bis hin zu dem reinschriftlich ausgearbeiteten Fließtext, der einzig erhalten geblieben ist – eben in der Nachschrift einer weiteren Person.

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Abb. 4: Eine Seite aus Henriette Kohlrauschs Nachschrift der ›Kosmos-Vorträge‹, Ende 9./Beginn 10. Vorlesung (Kohlrausch 1827/28, Bl. 42r).

Hier, wie auf fast allen Seiten des Manuskripts, erscheint die Handschrift wie in einem Zuge ausgeführt; das Schriftbild ist ruhig und sehr sauber, ohne Verschreibungen oder notwendige Korrekturen der Schreiberin.

Dies führt uns erneut zu der Frage, welche weiteren Autorschaften mit diesem Text verbunden sind oder schlicht: Wer überhaupt hat den konkret vorliegenden Text eigentlich verfasst? Springen wir nochmals zurück zum 6. Dezember 1827, in das neu eröffnete Gebäude der Sing-Akademie. Dessen Großer Saal ist im Parkett und auf der Empore bis auf den letzten Platz gefüllt. Das Publikum ist so divers wie im damaligen Preußen möglich. Zwar mag es nicht buchstäblich, wie Humboldt viele Jahre später, 1841, an Friedrich von Raumer schrieb, ›vom König zum Maurermeister‹ gereicht haben32 – denn während der König, Friedrich Wilhelm III., sowie auch der Kronprinz33 durchaus zu Gast waren, hätte sich der Maurer, jedenfalls sofern dieser noch werktätig und ohne Meisterbrief gewesen wäre, wochen31tags zwischen 12 und 14 Uhr einen regelmäßigen Besuch der Vorlesungen wohl kaum erlauben dürfen. Jedoch hatte Humboldt zumindest alle Anstrengungen unternommen, um möglichst viele Interessierte zu gewinnen: Von der ersten Ankündigung an hatte sich der Vortragende ein ›gemischtes‹ Publikum gewünscht – was durchaus auf eine gewisse soziale Mischung bezogen werden kann. In erster Linie und explizit aber wollte Humboldt damit die Ansprache an »Herren und Damen« richten.34 Denn während Frauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von preußischen Universitäten und somit auch vom Besuch der dortigen ›Kosmos-Vorträge‹ ausgeschlossen waren, hatte Humboldt sie ausdrücklich in der soeben zitierten Ankündigung des zweiten Zyklus in die Sing-Akademie eingeladen, um sich über die »Physikalische Geographie« zu informieren. Zudem trug der finanziell stets klamme35 Freiherr »die nicht unbeträchtliche Ausgabe für Miethe und Heitzung des Saales«, um seinen Zuhörerinnen und Zuhörern einen kostenfreien Eintritt zu ermöglichen.36

2 Henriette Kohlrausch

Unter diesen Zuhörerinnen und Zuhörern ist auch Henriette Kohlrausch, geborene Eichmann. Sie stammte aus Hannover, wo sie 1781 als Tochter des Ehepaars Male und Johann Wilhelm Eichmann geboren wurde. Während über ihre Mutter wenig bekannt ist, wissen wir zumindest, dass ihr Vater aus recht einfachen Verhältnissen kam und sich den Status 3233eines Geheimen Oberfinanz- und Kriegsrats erarbeitet hatte.37 Henriette lebt als junge Frau in Berlin, wo ihre ältere Schwester Charlotte sich 1806 mit dem Verleger Friedrich Parthey vermählt. Beide Eheleute waren zuvor mit jeweils einem Spross des bekannten Berliner Verlagsbuchhändlers Friedrich Nicolai und dessen Frau Elisabeth Macaria, geb. Schaarschmidt, verbunden: Charlotte Eichmann mit David Nicolai, der 1804 verstorben war, und Friedrich Parthey mit Wilhelmine Nicolai, die ein Jahr zuvor, 1803, verstorben war. Aus dieser ersten Ehe bringt der 61-jährige Bräutigam zwei Kinder in die neue Verbindung ein: Lili und Gustav, zu denen sich 1807 mit Moritz ein gemeinsamer Sohn Charlotte und Friedrich Partheys gesellt.

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Abb. 5: Stadtplan Berlins aus dem Jahr 1826.

Deutlich erkennbar die Prachtstraße Unter den Linden, die über den Platz am Opernhause und das Zeughaus zum Lustgarten und zum Königlichen Stadtschloss führt. Mit der Akademie, der Universität und dem sich noch im Bau befindlichen Gebäude der Sing-Akademie, bereits als »Sg. ‌A.« eingezeichnet, finden sich hier die wesentlichen Wirkungsstätten Humboldts. Er selbst wohnte seit seiner Rückkehr nach Berlin nur wenige Minuten entfernt, »Hinter dem neuen Packhofe« Nr. 4, auf der heutigen Museumsinsel.