Chaim Cohn

Aus meinem Leben

Autobiografie

Aus dem Hebräischen von Eva-Maria Thimme unter Mitarbeit von Jonathan Nieraad

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Inhalt

1
Lübeck

2
Hamburg

3
München

4
Jerusalem – die Yeschiva von Rav Kook

5
Frankfurt

6
Erste berufliche Erfahrungen

7
Als Rechtsanwalt tätig

8
Ketzerische Gedanken

9
Agnostizismus

10
Glaube an Gott

1. Die kosmologischen Argumente

2. Das teleologische Argument

3. Das ontologische Argument

4. Das emotionale Argument

5. Das ethisch-moralische Argument

11
Die Schoah

12
Glaube an den Menschen

13
Zionismus

14
Die Anfänge des Staates Israel

15
Die Todesstrafe

16
Oberstaatsanwalt

17
Rechtsberater

18
Rabbinische Rechtsprechung

19
Das »Recht auf Rückkehr«

20
Religiöse Gesetzgebung

21
Fanatismus

22
Religiöser Zwang

23
Jesus

24
Erziehung

25
Die Affäre Kasztner

26
Prozesse gegen Nazi-Verbrecher

27
Richter

28
Auf dem Richterstuhl

Hermann Chaim Cohn – Lebenslauf

Bildnachweis

Personenregister

1

Lübeck

Das fromme jüdische Milieu, in dem ich geboren wurde und aufwuchs, war von eigentümlicher Dichotomie: auf der einen Seite die strengste Observanz aller Gebote der Tora, der geringfügigen wie der gewichtigen, ein fraglos-selbstverständlicher, vollkommener und blinder Glaube an den Gott Israels, an dessen absolute Gerechtigkeit, Gnade und Barmherzigkeit sowie an seine Tora, die höchste, unanfechtbare Wahrheit; auf der anderen Seite das tiefe Bewusstsein von den Werten der deutschen Kultur in all ihren Verästelungen und Erscheinungen, dazu auch die sorgfältige Pflege aller weltlichen Wissenschaften und schönen Künste. Wir waren deutsche Juden: Juden, was die Gottesfurcht, die Liebe zum Höchsten und den Lebenswandel auf den von ihm gewiesenen Wegen betraf; und Deutsche hinsichtlich der Sprache, der Kultur und dem Land. Anders gesagt: Als Menschen und in gesellschaftlicher Hinsicht empfanden wir uns nicht als Deutsche. Die Kontakte zwischen orthodoxen Juden und ihren deutschen Nachbarn beschränkten sich auf geschäftliche Beziehungen oder den gemeinsamen Unterricht in Schule und Universität. »Es ist ein Greuel, mit ihnen Brot zu essen«[1] – die Hauptsache war, die Kaschrut einzuhalten; doch bestand auch seitens der meisten Deutschen keinerlei Bedürfnis, mit Juden Umgang zu haben und sie etwa nach Hause einzuladen. Unter diesem Aspekt war unser Deutschtum etwas abstrakt, während das Judentum auch die kleinsten Bereiche unseres Lebens – des inneren, spirituellen wie des äußeren, praktischen – durchdrang.

Die Dichotomie, die ich hier beschrieben habe, war ihrer halachischen Grundlage wegen religiöser Natur. Die Lehrsätze von Rabbi Eliezer ben Azarya – »Ohne Tora keine Lebensart, und ohne Lebensart keine Tora« (BT Nezikin Avot 3,21)[2]– und von Rabban Gamliel, dem Sohn von Rabbi Yehuda ha-Nasi – »Schön ist das Studium der Tora mit weltlichem Tun verbunden, denn auf beides verwandte Mühe lässt die Sünde in Vergessenheit geraten« (ebd. Avot 2,2)[3] – wurden so verstanden, dass mit der »Lebensart« entsprechend der traditionellen Exegese nicht nur die Arbeit für den Lebensunterhalt gemeint war, sondern auch – und vielleicht vor allem – im wortwörtlichen Sinn die Konventionen, das Brauchtum des Landes, in dem wir in der Verbannung lebten. Dabei ging es nicht um den Weg, den die Tora uns zu gehen untersagt (beispielsweise nicht-jüdische Gepflogenheiten zu übernehmen), sondern um jene Lebensweise, die sich aufs Schönste mit der Tora verbindet. Samson Raphael Hirsch, Rabbiner in Frankfurt am Main und einer der führenden Köpfe unter den Gründern der deutschen Orthodoxie, prägte die Formulierung »Tora mit Lebensart« als Losungswort dieser Richtung im Judentum.

Und weil geschrieben steht: »Raum schaffe Gott dem Japhet, dass er wohne in den Zelten Schems« (1. Moses 9,27), lehrten die Weisen, »Schönheit schaffe Gott für Japhet, und er wohne in den Zelten Schems; die Sprache Japhets sei in den Zelten Schems zu finden … das Schönste Japhets sei in den Zelten Schems zu finden.« (BT Moʿed Megilla 9b; Raschi ebd.) Obwohl die Massora den Begriff »Schönheit« (yafyut) im Sinne von »Weisheit« (chokhma) interpretiert und mit der Sprache das Griechische gemeint ist, in denen sich die Nachkommen Japhets auszeichneten, fanden die Rabbiner Deutschlands die wortwörtliche Interpretation angemessener und subsumierten unter »Schönheit« alles Schöne, was es auf der Welt gab und der christlichen Tradition und Kultur zufiel.

Unter den Rabbinern Deutschlands, den Anhängern Samson Raphael Hirschs und jenen, die seiner Richtung folgten, nahm mein Großvater, Rabbi Schlomo Carlebach, Rabbiner in meiner Geburtsstadt Lübeck, einen bedeutenden Platz ein. Er war der Vater meiner Mutter und mein erster Lehrer, und als Kind sah ich in ihm das Sinnbild des vollkommenen Menschen – den jüdischen Gerechten und den deutschen Gelehrten. Er war eine höchst beeindruckende Persönlichkeit, sein Gesicht umkränzt von einer weißen Mähne und seinem weißen Bart, »der hinabwallte, so weit seine Gewänder reichten«[4]; dazu seine strahlenden, funkelnden Augen, das gütige Lächeln auf seinen Lippen. Zu Hause trug er eine große Kippa aus Samt, die er, wenn er unterwegs war, mit einem schwarzen breitkrempigen Hut vertauschte, den er mit einer tiefen Verbeugung zog, wenn er den Gruß von Mitgliedern seiner Gemeinde erwiderte, ja selbst vor den Schülern des jüdischen Lehrhauses nahm er ihn ab. Er kannte alle und erinnerte sich an jeden Einzelnen: Die Gemeinde war verhältnismäßig klein, und der Rabbi galt gleichsam als Vater aller Familien. Jede Angelegenheit, sie mochte geringfügig oder bedeutsam sein, wurde vor ihn gebracht – angefangen von ehelichen Problemen und Fragen der Kindererziehung bis zu geschäftlichen Dingen und finanziellen Streitigkeiten. Er hatte in Lübeck noch zwei Rabbiner eingesetzt, um im Bedarfsfall ein halachisch einwandfreies Bet Din – das rabbinische Gericht – einberufen zu können, und diese verdienten sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Talmudunterricht erteilten. Der gute Ruf als väterlicher Typ des idealen orthodoxen Rabbis ging meinem Großvater überall in Deutschland voraus, und obwohl man ihm das Rabbinat in etlichen großen Gemeinden antrug, zog er es vor, in Lübeck zu bleiben. Nicht bloß aus Anhänglichkeit an den Ort und Verbundenheit mit seiner Gemeinde, sondern hauptsächlich deshalb, weil er nur in einer kleinen Gemeinde die meiste Zeit seinem Studium der Tora und dem Schreiben von Büchern widmen und jedem wie jeder aus der ihm anvertrauten Herde seine persönliche Aufmerksamkeit schenken konnte.

Die Bücher, die er schrieb, und die Themen, denen er sich zuwandte, spiegeln seine intellektuelle Vielseitigkeit wider. Zum einen verfasste er drei Bände mit Kommentaren zum Talmud, übrigens in hebräischer Sprache; zum anderen schrieb er auf Deutsch Bücher, die für Laien bestimmt waren: eines zum Thema der rituellen Reinheitsgebote für Frauen, das Reinheitsvorschriften enthielt, die noch heute befolgt werden; ein anderes mit dem Titel Praktischer Ratgeber für das jüdische Haus gab ausführliche Anweisungen, wie ein jüdisches Haus zu führen sei und insbesondere wie man Kinder aufziehen und ihnen den Geist des Erzvaters Jakob einflößen solle; wieder ein anderes beschäftigte sich mit der Geschichte der Juden in Lübeck, das er dem Andenken an dessen Rabbiner und jüdische Einrichtungen früherer Zeiten widmete. Als »Ratgeber für das jüdische Haus« veröffentlichte er einen Katalog von Büchern, die seiner Ansicht nach in jedem guten jüdischen Haus stehen sollten: Nach theologischen Werken – die hebräische Bibel, der Babylonische und der Jerusalemer Talmud, Midraschim, Gebetbücher – und Schriften zur jüdischen Geschichte, die von frommen Juden verfasst worden waren (mit Ausnahme beispielsweise von Heinrich Graetz) folgte eine Liste mit nicht-jüdischen Büchern, die in keiner Bibliothek eines jüdischen Hauses fehlen durften, darunter alle Werke von Goethe, Schiller, Lessing, Rückert, Hebbel, Grillparzer, Geibel, Liliencron, Körner, Kleist, Uhland, Hauff, Börne, ferner die Werke von Shakespeare, Ibsen, Bjørnson, Tolstoi, Racine und Molière und noch viele andere. Dazu kamen noch allgemeine Nachschlagewerke, auch zu Geographie und Geschichte und weiteren säkularen Wissenschaften. Er pries die »Einladung« der Geistesgrößen aller Völker und Generationen, mit ihrer Hilfe das eigene Heim zu zieren. Man durfte selbst am heiligen Schabbat, nachdem man der Pflicht Genüge getan und den Wochenabschnitt samt dessen Kommentatoren studiert sowie auch die Aussagen der mündlichen Lehre gemäß Halacha und Aggada gelesen hatte, zum Vergnügen sich eine Weile mit weltlichen Werken beschäftigen, um gleichsam den Bibelvers zu verwirklichen: »Und du sollst den Schabbat ein Vergnügen nennen« (Jesajas 58,13).

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1 Beim Torastudium mit dem Großvater Yosef Cohn, 1926

Ich war etwa drei Jahre alt, als ich bei meinem Großvater anfing, Tora zu lernen. Aus irgendeinem Grund wählte er mich unter all seinen Enkeln aus, um mich nicht durch Hauslehrer, die von einer Anstellung zur anderen wechselten, sondern höchstselbst zu unterrichten. Bis zu seinem Tod, sechs Jahre später, ging ich weder in einen Kindergarten noch besuchte ich eine Schule. Nach dem Morgengebet ging ich mit ihm aus der Synagoge nach oben in seine Dienstwohnung, die sich im selben Haus befand, und nach einem kargen Frühstück betraten wir seine Bibliothek, das Allerheiligste; dann widmete er mir, dem kleinen Knirps, eine volle sehr konzentrierte Stunde, um am Schluss des Unterrichts die Schublade seines Schreibtisches zu öffnen und mir gleichsam als Lehrgeld ein Bonbon zu schenken. Ich erwähne die tägliche Näscherei, weil sie, was meine Ausdauer und meinen Fleiß betraf, von nicht geringer Bedeutung war. Zunächst lehrte er mich Hebräisch (selbstverständlich in der aschkenasischen Aussprache), um die Gebete und die Tora lesen zu können: Die Gebete lasen wir nach der Weise ihrer Melodien, den Pentateuch entsprechend der Intonation der Heiligen Schrift. Ob er – wie Rabbi Yochanan – der Ansicht war, dass, »wer die Schrift ohne Melodie liest und ohne Sang studiert« (BT Moʿed Megilla 32a), Gebote erfülle, die nicht zum Guten dienen, oder ob er meinte, dass es kein probateres mnemotechnisches Mittel als die Melodie gäbe, auf jeden Fall prägten sich meinem Gedächtnis die Texte nicht nur ihrem Wortlaut nach, sondern auch in ihrer Melodik ein. Und erst, nachdem er mich und meinen kleinen Schädel mit dem Unterrichtsstoff aus den Heiligen Schriften vollgestopft hatte, brachte er mir Lesen und Schreiben auf Deutsch, auch ein bisschen Rechnen und weitere Elementarkenntnisse bei – bis es mir in Fleisch und Blut übergegangen war, jeden Tag die erste Hälfte der Unterrichtsstunde dem Studium der Heiligen Schriften, die zweite den säkularen Fächern zu widmen. Seitdem habe ich es immer so gehalten und mir mein Lebtag zur Gewohnheit gemacht, meine Freizeit zu genau gleichen Teilen zwischen jüdischen Studien und der Beschäftigung mit anderen Themen aufzuteilen. Auch wenn meiner Ansicht nach die Wissenschaft des Judentums nicht als religiöse Pflicht, nicht als Theologiestudium angesehen werden kann, ist sie für mich nach wie vor ein unerschöpflicher Quell von Vergnügen und Inspiration. Ich sollte vielleicht noch darauf hinweisen, dass Großvater Nachfahre süddeutscher Landjuden war, die seit Jahrhunderten als Viehhändler lebten. Von ihren Kunden und Lieferanten nahmen sie »zehn Maß« (BT Naschim Kidduschin 49b) ihrer unverwechselbaren schwäbischen Mundart auf, die auch in ihren Gebeten und Gesängen in der heiligen Sprache unverkennbar zur Geltung kam. Sie wahrten die Tradition ihrer Väter und hielten die Gebote, dazu bestellten sie stets einen Lehrer für die Kleinen im Cheder, einen Chazan und einen Schochet. Gelegentlich sogar lauschten sie am Schabbat der Predigt eines von Gemeinde zu Gemeinde ziehenden Rabbiners. Als mein Urgroßvater glaubte, in diesem einen Sohn Zeichen intellektueller Begabung zu entdecken, schickte er ihn auf das Gymnasium in der Nachbarstadt – ein Fußweg von je zwei Stunden hin und zurück. Großvater musste – übrigens auch wir, seine Enkel, sechzig, siebzig Jahre später – zu Beginn jedes Schuljahrs ein Attest vom Rabbiner beibringen, dem zufolge es dem jüdischen Schüler untersagt war, am Schabbat und an den jüdischen Feiertagen die Schule zu besuchen. Von christlicher Seite wurde dieses Dokument aufgrund der Glaubensfreiheit verlangt und respektiert. Die Hoffnungen des Urgroßvaters sollten in Erfüllung gehen: Nachdem sein Sohn mit Auszeichnung das Gymnasium absolviert hatte, erhielt er ein Stipendium der Universität Tübingen und nahm das Studium mit dem Ziel auf, Lehrer zu werden. Als Hauptfach wählte er deutsche Literatur, und seine Doktorarbeit schrieb er über die deutsche Lyrik vor Lessing. Aber der Ehrgeiz seines Vaters gab sich nicht mit einem Deutschlehrer als Sohn zufrieden: Er wollte seinen Sohn als Rabbiner, als einen großen jüdischen Gelehrten sehen. Das von Esriel Hildesheimer gegründete Rabbinerseminar war noch nicht eröffnet. Es war damals üblich, dass die Kandidaten für das Rabbinat bei renommierten Rabbinern – zwei oder drei nacheinander – die Bibel studierten, bis sie für würdig befunden wurden, die Lehr- und Amtsbefugnis als Rabbiner zu erhalten. Fünfundzwanzig Jahre alt war mein Großvater, der Doktor der deutschen Literatur, als er von seinen Lehrern ordiniert und unmittelbar darauf berufen wurde, das Amt des Rabbiners in der kleinen Gemeinde von Lübeck zu übernehmen.

Seit drei, vier Generationen war es üblich, dass der kurz zuvor berufene junge Rabbiner die Tochter seines Vorgängers zur Frau nahm, und es dauerte nicht lange, dass Großvater Esther heiratete, die Tochter seines Vorgängers Alexander Susman Adler. Diese Ehe zwischen dem Sprössling ungebildeter Leute vom Land (in wörtlichem wie übertragenem Sinn)[5] mit der Tochter und Enkelin bedeutender Talmudgelehrter, die aus Osteuropa stammten, war überaus glücklich. Esther gebar acht Söhne und vier Töchter, und fünf der Söhne traten in die Fußstapfen ihres Vaters und wurden berühmte Rabbiner. Um das geringe Einkommen des Rabbiners aufzubessern, zogen die Großeltern in ihrem Heim noch sechs Kinder von auswärts groß, die sie de facto, nicht de jure, an Kindesstatt annahmen. Die Großmutter, bei der wegen der vielen Hausarbeit nachts nie das Licht ausging[6], war mit lyrischem Talent begnadet: Zu jedem freudigen Familienereignis verfasste sie ein Gedicht, das den Held des Tages pries; sie schrieb – ob sich eine Gelegenheit bot oder auch nicht – Liebesgedichte an ihren Mann, und zu jedem Fest und Feiertag reimte sie ein Liebeslied an den Vater im Himmel; schon möglich, dass die poetischen Talente und Neigungen dieser Großmutter meiner Tochter Yehudit vererbt wurden.

Der Bruder der Großmutter, Dr. Efraim Adler, war nicht allein der Vorsitzende der Gemeinde, sondern gehörte auch zu den führenden Köpfen der religiösen zionistischen Bewegung in Deutschland. Die zionistische Einstellung seines Schwagers ärgerte meinen Großvater, im persönlichen Umgang übergingen beide dieses Thema in einvernehmlichem Schweigen, um das enge Verhältnis zwischen ihnen nicht zu beeinträchtigen. Sonst aber sparte der Großvater nicht mit seiner scharfen Kritik an der zionistischen Idee. Das Vorhaben, die Juden aus den Ländern ihres Exils zu holen und ins Land Israel zu bringen, kam seiner Auffassung nach einer Gotteslästerung gleich, einer Grenzüberschreitung gegenüber dem Heiligen, gelobt sei Er, der uns in die Zerstreuung unter den Völkern geführt hatte und dessen Willen es war, uns aus unserem heiligen Land zu verbannen, bis zu dem Tag, da er uns seinen heiligen Messias senden werde, uns zu erlösen und in seinem Erbarmen nach Zion zurückzuführen. Die überstürzte Hast – die ihm als dünkelhaft und anmaßend erschien –, den Wiederaufbau von Zion und Jerusalem vor dem von Gott bestimmten Zeitpunkt voranzutreiben, war nichts anderes als eine Unverschämtheit gegenüber dem Himmel, eine Beleidigung des Schöpfers der Welt. Solange wir unter den Völkern zerstreut lebten, war uns geboten, die Zerstörung von Jerusalem zu beklagen, zu Gott zu flehen, er möge sich der Stadt erbarmen und sie in Bälde wieder errichten, und unsere Liebe zu ihr war von Sehnsucht und nimmermüdem Gedenken geprägt. Verständlicherweise rührte seine Gegnerschaft gegenüber dem Zionismus auch daher, dass die zionistische Idee ja von Beginn ihrer praktischen Umsetzung national-säkular und nicht religiös war. Er sprach der zionistischen Führung jegliche Autorität ab, den Juden neue Mitsvot zu geben, die ganz und gar nichts mit der Halacha göttlichen Ursprungs zu tun hatten. Er befürchtete, dass unter dem Einfluss der zionistischen Wortführer die Juden vom Weg der Tora und der Gebote abweichen würden, insofern ihr Zionismus als Surrogat für Gottesfurcht diente.

Als die Vereinigung der orthodoxen Rabbiner sich allerdings anschickte, Bann und Ausschluss über die zionistische Bewegung zu verhängen, sprangen er und seine Söhne in die Bresche und widersprachen entschieden diesem Vorhaben – nicht, weil der Zionismus etwa des Widerstands nicht würdig gewesen wäre, sondern weil Großvater es zutiefst verabscheute, überhaupt einen Cherem zu verhängen, ganz gleich aus welchem Anlass. Und bei Geldspenden entschied er rein theoretisch, dass es gestattet ist, die Armen Jerusalems, die der Tora und dem Gebet zuliebe dort leben, sogar den Bedürftigen der eigenen Stadt vorzuziehen. Als einer seiner Söhne nach Jerusalem berufen wurde, um an der Lämelschule Mathematik und Naturwissenschaften zu unterrichten, gab er ihm seinen Segen: Es war eine Mitsva, die Kinder des alten Yischuv auch in säkularen Fächern zu unterweisen. Die Broschüre, die er gegen den Zionismus geschrieben hatte, hielt er unter Verschluss, um den Konflikt unter den Juden nicht weiter zu verschärfen. Doch von da bis zur Aliya Tausender Juden ins Land Israel, die es wieder aufbauen und dort leben wollten, klafft ein tiefer Abgrund. Die Ablehnung des Zionismus fand ihre Entsprechung, wenn nicht teilweise ihren Ursprung, in Großvaters Deutschtum. Er war ein glühender deutscher Patriot: Er liebte seine deutsche Heimat und sah in der deutschen Kultur den Gipfel der europäischen Zivilisation. Dieses Deutschtum war für ihn auch ein religiöses Gebot: Es war Gott gewesen, der uns nach Deutschland gebracht hatte, und bei dem, was Gott tat, gab es keine Zufälligkeit und keine Willkür, und wer waren wir, dass wir die Richtigkeit seiner Erwägungen und die Lauterkeit seines Ziels anzweifeln dürften? Die Weisung des Propheten: »Suchet das Wohl der Stadt, in die ich euch verbannt habe, und betet für sie zum Herrn; denn ihr Wohl ist auch euer Wohl« (Jeremias 29,7), war seiner Ansicht nach ein Gebot der Tora, denn es steht geschrieben »Einen Propheten … wird dir der Herr, dein Gott, erstehen lassen … auf ihn sollt ihr hören« (5. Moses 18,15). Mehr noch: Wer sich gegen das Wort des Propheten vergeht, der wird durch die Hand Gottes des Todes schuldig, wie es heißt: »Wer aber auf meine Worte, die er in meinem Namen reden wird, nicht hört, an dem werde ich selbst es ahnden« (5. Moses 18,19; Maimonides, Sefer ha-Mitsvot, Osseh, 172; BT Nezikin Sanhedrin 89a). Und die Zusicherung des Propheten, der zufolge das Wohl Deutschlands auch das der Juden sei, wurde als zufriedenstellender – und verpflichtender – Grund genommen, das Wohl Deutschlands zum höchsten Ziel zu erklären: Es ging nicht bloß darum, für sein Wohl und das seiner Regierung zu beten, sondern es bestand auch die Pflicht eines jeden, seinen Beitrag zu Förderung und Gedeihen des Landes zu leisten. »Drischat ha-schalom« – die unermüdliche Suche nach Frieden, das dringende Fordern desselben – war nicht bloß gleichbedeutend mit äußerlicher Loyalität gegenüber den Gesetzen der Regierung und der Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten, sondern auch ein innerliches Streben mit Herz und Hirn, den Frieden zu mehren – im weitesten Sinn des Wortes. Diese Mitsva war nicht an Bedingungen geknüpft: Die Pflicht, die man gegenüber dem Staat hatte, lag nicht darin begründet, dass der Staat zum Wohle seiner Bürger wirkt und Übles von ihnen abhält; die Mitsva galt auch gegenüber einem antisemitischen Staat. Die Tatsache, dass man staatlicherseits gehasst wird und Hindernisse in den Weg gelegt bekommt, ändert nichts an der religiösen Pflicht, alles in seinen Kräften Stehende zu seinen Gunsten zu tun.[7]

Persönlich war Großvater allem Anschein nach nicht vom deutschen Antisemitismus betroffen oder je irgendwie beleidigt worden. Ganz im Gegenteil: Auch unter den nicht-jüdischen Bürgern hatte er als bedeutender Gelehrter, als begnadeter Redner und als Kenner der deutschen Sprache einen guten Ruf. Er wurde mehrfach einstimmig in die Bürgerschaft der Hansestadt gewählt und verstand es, dessen Mitglieder mit seinen flammenden Reden zu begeistern. Seine patriarchalische Erscheinung gehörte zum Erscheinungsbild der Stadt – und alle brachten ihm Hochachtung entgegen.