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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Neue Rechtschreibung

© 2017 by Obelisk Verlag,
Innsbruck Wien
Cover und Illustrationen: Julie Völk
Alle Rechte vorbehalten
Druck und Bindung:
Finidr, s.r.o. Český Těšín,
Tschechien

ISBN 978-3-85197-862-9
eISBN 978-3-85197-900-8

www.obelisk-verlag.at

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Renate Welsh

ZEIT IST
KEINE
TORTE

Illustrationen von
Julie Völk

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Inhalt

1. Die Schönste Tochter der Welt

2. Alles Gut, Herr Poposchall

3. Finnis Zauberflöte

4. Eine Freundin wie Dich

5. Taschens Pielereien

6. Arme Ritter

7. Ein Geschenk Für die Ganze Welt

8. Fliegenfurz und Autodrom

9. Papa Hebt Nicht Ab

10. Pospischil, Sie Sind Ein Esel

Die Autorin

Die Illustratorin

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1. DIE SCHÖNSTE TOCHTER DER WELT

Papa hat gesagt, er kommt gleich wieder zurück.

Das war vor Ewigkeiten.

Die Uhr im Wohnzimmer behauptet zwar, es war vor einer halben Stunde.

Entweder sie lügt oder sie ist kaputt.

Elli hat keine Lust auf das große Puzzle.

Sie hat keine Lust zu lesen.

Und erst recht keine Lust, ihren Bauernhof aufzuräumen.

Sie hat keine Lust auf gar nichts.

Alle Kinder aus ihrer Klasse sind weggefahren, in die Berge oder sonst wohin. Eigentlich wollten sie ja auf Schiurlaub fahren, zum ersten Mal, Mama, Papa und Elli. Dann wurde Mama zu diesem Kongress eingeladen.

„Es tut mir schrecklich leid“, hat sie gesagt. „Diese Gelegenheit bekomme ich nie wieder. Und ihr beide werdet es ganz fein miteinander haben. So ein Vater-Tochter-Schiurlaub ist doch etwas Besonderes.“

Einen Tag später bekam Papa einen großen Auftrag.

„Es tut mir schrecklich leid“, hat er gesagt. „Aber ich kann es mir einfach nicht leisten, diesen Auftrag sausen zu lassen. Wir holen den Schiurlaub nach, ich versprech’s dir. Morgen kommt meine neue Assistentin, die wird mit dir tolle Sachen unternehmen, du wirst sehen, ihr werdet ganz viel Spaß miteinander haben.“

Elli geht zum Fenster. Von hier oben sieht sie nichts als Regenschirme mit zwei Beinen, das ist aber auch nur für sehr kurze Zeit lustig. Sie könnte ins Stiegenhaus gehen und Treppenspringen üben. Vier Stufen hat sie gestern geschafft. Bernhard behauptet, dass er über sechs Stufen springen kann. Sechs glaubt sie ihm nicht. Er ist sowieso ein Angeber.

Aber seine Eltern fahren mit ihm weg. Die haben nicht immer etwas anderes zu tun.

Fünf Stufen möchte sie unbedingt probieren. Es ist ein tolles Gefühl, wenn alle Schmetterlinge im Bauch gleichzeitig verrückt spielen. Sie schaut hinunter, und es kommt ihr vor, dass vier Stufen doch sehr hoch sind, da passiert’s – ihre Füße machen ganz von selbst einen kleinen Hopser, und schon ist sie unterwegs.

Einmal ist sie oben im vierten Stock gestanden und losgesprungen und hinuntergeflogen. Ganz langsam über die Stufen, so wie die großen Raubvögel über den Wiesen ihre Kreise ziehen. Herrlich war das. Aber dann ist sie aufgewacht.

Sechs Stufen wird sie nicht so bald schaffen. Sechs nicht. Fünf vielleicht, fünf könnten möglich sein. Und jetzt ist die Gelegenheit. Mama ist auf ihrem blöden Kongress, Papa ist in seinem blöden Büro.

Elli zieht die Turnschuhe an. Damit die Wohnungstür nicht ins Schloss fällt, legt sie ein Paar dicke Schisocken in den Spalt.

Beim Treppenspringen gibt es feste Regeln. Man beginnt von unten, geht eine Stufe hinauf, springt hinunter, geht zwei Stufen hinauf, springt hinunter, geht drei Stufen hinauf, springt hinunter, geht vier Stufen hinauf, springt hinunter, und wenn man dann noch fünf Stufen hinaufgeht, weiß man plötzlich, wo das Herz sitzt und spürt, wie verrückt es klopfen kann.

„Basti!“, ruft eine Stimme oben im zweiten Stock. „Bastilein!“ Elli erkennt die Stimme nicht. Da beugt sich Frau Neudeck übers Geländer. „Hast du meine Basti gesehen?“

Frau Neudeck, die immer das Gesicht verzieht, als hätte sie gerade etwas Übles gerochen. Jetzt klingt sie kleinlaut und jämmerlich. „Bastilein!“, ruft sie wieder und raschelt dazu mit einem Papiersäckchen. „Bist du sicher, dass du sie nicht gesehen hast?“

„Tut mir echt leid, ich weiß gar nicht, wer sie ist“, sagt Elli.

„Basti ist meine Katze. Sie ist erst drei Monate alt.“ Frau Neudeck holt tief Luft. „Würdest du mir suchen helfen?“

Elli ist ziemlich gut im Suchen und hat viel Übung. Mama und Papa sind ständig auf der Suche nach Brillen, Autoschlüsseln, Notizzetteln und anderen wichtigen Dingen, besonders wenn sie es eilig haben. Sie haben es fast immer eilig.

„Wann haben Sie Basta zuletzt gesehen?“, fragt Elli.

„Basti, nicht Basta. Bast nach der ägyptischen Katzengöttin, mit i dran, weil sie noch so klein ist.“

Elli verdreht die Augen. Frau Neudeck ringt die Hände. „Ich bin so durcheinander. Wann ich sie gesehen habe …? Als der Briefträger kam, glaube ich. Du glaubst doch nicht, dass er …“

Nein, das glaubt Elli ganz gewiss nicht. Aber sie hält es für möglich, dass eine kleine ägyptische Katzengöttin genauso neugierig ist wie gewöhnliche Katzenkinder und einfach hinausgelaufen ist.

„Heiliger Himmel!“ Frau Neudeck will die Polizei anrufen. Oder doch lieber die Feuerwehr. Oder beide. Vor lauter Aufregung verwählt sie sich.

„Nein“, sagt sie plötzlich. „Finni Neudeck, du bist keine dumme Ziege, du bist eine vernünftige Frau.“

Sie wendet sich wieder an Elli. „Würdest du mir wirklich suchen helfen? Meine Knie sind leider so steif, dass ich ganz schlecht auf dem Boden herumkriechen kann.“

Elli sucht in allen Winkeln der Neudeck-Wohnung, kriecht unter alle Möbel. Bald ist sie ziemlich staubig.

Inzwischen klingelt Frau Neudeck an jeder Wohnungstür, schaut in jede Nische in allen Gängen im Haus.

Bleibt nur noch Dachboden oder Keller?

Elli entscheidet sich für den Dachboden. Den Keller mag sie nicht.

Die Dachbodentür klemmt. Frau Neudeck und Elli stemmen sich dagegen, drücken mit aller Kraft, bis die Tür sich ächzend und knarzend aufschieben lässt. „Wie in aller Welt soll sie da hereingekommen sein?“, fragt Frau Neudeck.

Elli zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung.“ Aber wenn sie schon hier sind, will sie nachsehen. Sie war noch nie hier oben, der Boden ist mit Schlacke bedeckt, darüber liegen Bretter. Elli balanciert über ein Brett, das schwingt ein wenig.

„Bitte sei vorsichtig!“, mahnt Frau Neudeck.

Durch das Dachfenster fällt ein dünner Lichtstrahl, in dem glitzernde Staubkörnchen tanzen.

Plötzlich knattert es direkt neben Elli, sie stolpert, wäre fast heruntergefallen.

Flügel rauschen neben ihr, hinter ihr, vor ihr, sie schlägt um sich, etwas steckt ihr im Hals, sie muss fürchterlich husten, bekommt keine Luft, kann nicht heraushusten, was sie nicht atmen lässt.

Aber da ist ein Geräusch, das kommt aus der tiefsten Dunkelheit in der hintersten Ecke.

Elli steht still, horcht.

Das könnte doch …

Nichts mehr zu hören.

Nein, dorthin gehe ich nicht. Das kann ich nicht …

Und sie setzt Fuß vor Fuß. Ganz vorsichtig. Die Tauben fliegen auf einen Dachsparren, hocken sich nebeneinander, gurren und kümmern sich nicht weiter um sie.

Eine Taschenlampe wäre gut.

Au! Jetzt hat sie sich den Kopf angeschlagen. Das muss der Kamin sein.

Ganz deutlich hört sie das Geräusch von vorhin. Ein schwaches Wimmern.

„Basti?“

„Basti?“, wiederholt Frau Neudeck. „Hast du Basti gesagt?“

Wenn sie nur etwas sehen könnte! Elli kniet sich hin. Da ist ein Loch! Die kleine Katze muss in das Loch gefallen sein.

Ganz weit weg, ganz tief unten aus dem Treppenhaus hört sie ihren Namen. Laut und sehr ärgerlich. „Elli, wo zum Kuckuck steckst du? Elli!!“

„Hier bin ich!“ Der Schrei bleibt Elli im Hals stecken.

Frau Neudeck aber ruft mit einer Stimme, die von allen Seiten widerhallt: „Hier sind wir, und bringen Sie eine Taschenlampe mit!“ Gleich darauf flüstert sie mit einer völlig anderen Stimme: „Bastilein, hab keine Angst, wir holen dich da raus.“

Es vergeht sehr viel Zeit, bis Elli endlich Schritte auf der Stiege hört, bis endlich die Dachbodentür aufgerissen wird und Papas Taschenlampe aufleuchtet. Mit einem Satz springt er auf das Brett – und bricht durch. Er flucht. „Sie halten sich jetzt besser die Ohren zu“, sagt er zu Frau Neudeck.

„Nicht nötig, mein Vater war Kapitän“, sagt sie. „Geben Sie mir die Taschenlampe, das ist meine Katze da vorne.“

„Und meine Tochter!“, sagt Papa.

Er leuchtet den Boden vor sich aus, Frau Neudeck hält sich an seiner Schulter fest und folgt ihm. Endlich steht Papa neben Elli und richtet den Lichtstrahl in das schwarze Loch. Tief ist es und eng.

Frau Neudeck schluchzt auf. „Bastilein.“

Es ist nichts zu hören, nichts zu sehen.

Papa legt sich neben dem Schacht auf den Bauch und greift nach unten. Er greift ins Leere.

„Da muss eine Art Höhle sein“, sagt Papa.

Elli holt tief Atem. „Lass mich an den Händen runter. Ich schau nach.“