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Für Sarah

Christine Auer

MIRIAM IM
STERNSCHNUPPENJAHR

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Neue Rechtschreibung

© 2018 by Obelisk Verlag, Innsbruck – Wien

Lektorat: Regina Zwerger

Alle Rechte vorbehalten

Druck und Bindung: CPI Books, 25917 Leck, Deutschland

ISBN 978-3-85197-886-5

eISBN 978-3-85197-919-0

www.obelisk-verlag.at

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Danksagung

Über den Autor

1.

Das Erste, das Miri an Max auffiel, waren seine Cowboystiefel.

Nämlich exakt drei Sekunden, nachdem sie gestolpert war, und zwei Sekunden, bevor sie sie vollkotzte. Was nicht an den Stiefeln lag, sondern am Wodka Lemon.

Miri fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund und zog sich langsam an dem fremden Hosenbein hoch.

Irgendetwas sollte sie jetzt wohl sagen.

Eine Entschuldigung? Einen witzigen Spruch?

So gut es ging, straffte sie ihre Schultern und nuschelte: „Ups.“

Er starrte sie an. Dann wanderte sein Blick langsam zu seinen Stiefeln.

Miri fiel nichts ein, was sie noch hätte sagen können. Sie drehte sich um, wischte sich die Haarsträhnen aus den Augen und schwankte in Richtung Toilette.

„He!“, rief er ihr nach.

Mist! Gleich würde der Typ ihr nachlaufen.

In einem atemberaubenden Zick-Zack-Kurs stolperte Miri über den Holzboden auf die Toilettentür zu und schmiss sich mit voller Wucht dagegen. Als die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie ihn draußen schimpfen. „Das darf doch nicht wahr sein! Wie bist du denn drauf?“

Miri ging zum Waschbecken und hielt ihre Hände unter das kalte Wasser. Sie spritzte sich das Gesicht nass und spülte den Mund aus. Das dumpfe Pochen in ihren Ohren wurde leiser, und der Fußboden hörte endlich auf, Wellen zu schlagen. Den Kopf an die kühlen Fliesen gelehnt, rutschte sie die Wand hinunter zu Boden.

Das hast du wieder einmal super hingekriegt, Miri!

Warum hatte sie sich nur von Amelie überreden lassen mitzukommen?

Miriam Klein auf einer Vernissage! Das war von Anfang an eine Schnapsidee gewesen.

Sie umklammerte ihre angewinkelten Knie und schloss die Augen. Wie in Stroboskoplicht getaucht blitzten die Erinnerungen an die letzten Stunden vor ihr auf.

Amelie, die ihre langen graumelierten Haare vor dem großen Spiegel im Vorzimmer zu einem Knoten steckt. Miri, die widerwillig die ausgetretenen Sportschuhe aus- und die eleganten schwarzen Ballerinas anzieht. Amelie und Miri auf dem Kiesweg durch den kleinen Park. Der filigrane Schatten, den die Holzschnitzereien des kleinen Pavillons auf den Weg zaubern. Die Burgruine, die dunkel und bedrohlich vom Felsen herunterblickt. Die dicken Mauern des alten Klosters, in dem sich nun das Kulturzentrum befindet. Der helle Lichtschein, der sie beim Betreten des Saales blendet, so dass sie ihre Augen zukneift.

Helga, die Obfrau des Kulturvereins, in einem grellbunten Kleid und mit einer durch Haarspray fest an den Kopf betonierten Hochsteckfrisur. Verzweifelt auf der Suche nach den Gemüseröllchen.

Amelie, die sagt, sie sei gleich wieder da und mit Helga weggeht. Miri, alleine zwischen den Einwohnern von Schachenstein, die sie alle zu mustern scheinen. Getuschel hinter vorgehaltenen Händen.

Das riesige Foto einer Melone, die einen kleinen schwarzen Hut und eine Fliegerbrille trägt. Eine Melone mit einer Melone. Dahinter ein roter Himmel, auf dem sich ein Gewitter zusammenbraut.

Das hellgraue Sofa, das in einer Ecke steht und Miri durch den ganzen Raum hinweg wie eine Rettungsinsel in stürmischer See entgegenleuchtet. Sie selber in den weichen Sofakissen mit einem Wodka Lemon in der Hand. Der Kellner, der immer wieder mit einem freundlichen Lächeln ihr leeres Glas gegen ein volles tauscht. Ihre Hand, die sich mühsam an der Sofalehne anhält, um sich hochzuziehen. Eine wacklige Miri auf der Suche nach Amelie. Und schließlich diese unheilvollen Cowboystiefel in Großaufnahme.

Miri schrumpfte noch mehr zusammen und legte die Stirn auf die Knie.

Plötzlich wurde die Toilettentür mit Schwung aufgerissen.

Miri zuckte zusammen. Das war bestimmt dieser Stiefeltyp! Sie wollte sich hochrappeln, um in eine der Kabinen zu flüchten, als sie Amelies Stimme erkannte.

„Hier bist du also. Ich hab dich schon gesucht.“ Als sie Miri sah, verzog sie missbilligend den Mund. Über Miris blasse Wangen zogen sich schwarze Wimperntuscheschlieren, die braunen Stirnfransen klebten an ihrem Kopf und ihr T-Shirt war mit Wasserspritzern überzogen. „Miriam Klein! Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?“

„Wodka Lemon.“

„Das ist nicht dein Ernst! Steh auf. Wir gehen nach Hause.“

Miri murmelte: „Das geht nicht. Ich kann hier erst wieder raus, wenn alle weg sind.“

Amelie hielt ihr ein feuchtes Papiertuch hin und legte tröstend die Hand auf Miris Knie. „Mach dir keine Sorgen. So schlimm siehst du nicht aus. Niemand wird etwas merken.“

Miri betrachtete die faltige Hand mit den dunklen Pigmentflecken. Wie kleine Sandinseln in einem weißen Meer, dachte sie.

„Direkt vor der Tür steht der junge Mann, der ein paar von den Fotos hier gemacht hat.“ Amelie zog Miri langsam hoch. „Der hat nur rote Socken an und trägt seine Stiefel in einer Plastiktüte herum. Du musst dir also keine Sorgen machen, dass DU auffällst.“

„Cowboystiefel?“

„Schon möglich.“

„Direkt vor der Tür?“

„Ja.“

Miri legte sich das feuchte Papiertuch über die Augen und seufzte.

Mist! Er war einer der Künstler.

In roten Socken – auf seiner eigenen Vernissage!

Und sie war schuld. Und alles, was sie zu ihm gesagt hatte, war ups.

„Oma, ich muss dir was erzählen“, murmelte Miri. Normalerweise nannte sie ihre Großmutter beim Vornamen, weil die sich sonst „alt und runzlig“ fühlte. Doch in dieser verzwickten Situation konnte es nicht schaden, an die gütigen Gefühle einer Oma zu appellieren.

Als Miri mit ihrer Geschichte fertig war, legte sich Stille über den Waschraum. Nur fernes Gläserklirren und leises Stimmengewirr waren von draußen zu hören.

Und dann prustete Amelie los.

„Das ist überhaupt nicht lustig!“, nuschelte Miri beleidigt.

„Doch, Süße, das ist unglaublich lustig!“ Amelie fächelte sich Luft zu. Dann wurde sie wieder ernst. „Du musst dich bei ihm entschuldigen.“

Miri schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht.“

„Miriam Klein!“, sagte Amelie streng.

„Kannst du nicht vielleicht? Bitte!“ Miri setzte ihren „Ich-hab-dich-so-lieb-und-werde-dir-ewig-dankbar-sein-Blick“ auf. Sie wusste, dass ihre Großmutter diesem Blick nicht widerstehen konnte.

Mit einem Seufzer erhob sich Amelie und ging nach draußen. Miri hörte dumpfe Stimmen und dann lautes Gelächter.

Macht euch nur über mich lustig, dachte sie.

Kurze Zeit später kam ihre Großmutter wieder zurück. „Na los, du Schnapsdrossel.“

Miri kaute nervös an ihrer Unterlippe.

„Keine Sorge, du wirst ihm nicht begegnen. Er ist weg.“

Am nächsten Morgen schreckte ein lautes Klingeln Miri aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch, nur um sich gleich wieder mit einem Stöhnen aufs Kissen fallen zu lassen. Ein grelles Feuerwerk explodierte in ihrem Kopf. Vorsichtig öffnete sie die Augen.

Das große, bemalte und mit Büchern vollgestopfte Regal, die noch nicht ausgepackten Umzugskisten, der mit Zetteln bedeckte Schreibtisch, die leeren weißen Wände und das Teleskop, das unter Omas rosafarbenen Rüschenvorhängen hervorblitzte, zogen in langsamen Schaukelbewegungen an ihr vorbei.

Dort! Auf dem Nachtkästchen stand ein Wecker.

Der war doch gestern noch nicht da gewesen?!

Miri warf ein Kissen nach ihm, woraufhin er mit einem Ping auf den Boden fiel und verstummte. Ein kleiner Zettel segelte ebenfalls durch die Luft. Sie beugte sich vor, um ihn aufzuheben. In Amelies sorgfältiger Schrift stand darauf geschrieben:

Guten Morgen, du Schlafmütze!

Wer trinken kann, kann auch aufstehen! Ich fahre jetzt zu der Vorbesprechung für das Herbstfest. In der Küche stehen frische Muffins. Freue mich schon auf unser Gespräch … image

Kuss, A.

Na toll!

Miri wickelte sich wieder in die Decke, steckte den Kopf unter das Kissen und schwebte zurück in einen ruhelosen Traum.

Gemeinsam mit dem süßen Sänger der Band, die sie neulich im Fernsehen gesehen hatte, betrachtete sie ein riesiges Foto von einem Kürbis, auf dem ein einzelner Cowboystiefel stand. Gerade als sich der Sängertyp zu ihr hinüberbeugen wollte, kam der junge Fotograf von gestern in den Raum gestolpert. Er trug Boxershorts und einen roten Socken. Den anderen schwenkte er mit einem lauten Yee-haw über seinem Kopf. Er kam geradewegs auf sie zugestürmt und lallte: „Wodka Lemon!“ Miri versuchte in den nächsten Raum zu gehen, aber ihre Füße klebten am Parkettboden fest. Bei jedem Versuch, die Füße hochzuheben, bogen sich die Holzbretter wie Gummischnüre in die Höhe. Der Fotograf kam immer näher.

Dann zeigte er mit der rotbesockten Hand auf Miri und rief mit schriller Stimme: „Miri! Miiiiri! Miriiii! Schläfst du etwa noch?“

Miris Herz begann wie wild zu hämmern. Ihre Wange fühlte sich kalt und nass an. Mit der Hand wischte sie etwas Spucke weg, die aus ihrem offenen Mund auf das Kissen getropft war.

„Guten Morgen, Schlafmütze. Hat mein Wecker überlebt?“

Miri öffnete ein Auge und sah Amelie lächelnd in der offenen Zimmertür stehen.

Zur Begrüßung grunzte Miri etwas, das mit ein bisschen Fantasie nach „von wegen guter Morgen“ klang. Es hätte aber genauso gut „verlegen, ohne Sorgen“ oder „trun Segen schnuter borgen“ heißen können.

Vorsichtig setzte sie sich auf.

Amelie warf ihrer Enkelin einen amüsierten Blick zu und sagte: „Jaja, der Kater am Tag danach ist wirklich nicht schön. Trotzdem solltest du aufstehen und etwas trinken und essen.“

In Zeitlupentempo streckte Miri die Füße aus dem Bett und schaute ihrer Oma nach, die mit wehendem Rock wieder im Flur verschwand. Langsam schlurfte Miri ins Badezimmer. Sie drehte das kalte Wasser auf und hielt das Gesicht unter den Strahl. Wasserfontänen spritzten in alle Richtungen. In den Fliesenfugen des Fußbodens bildeten sich kleine Wasserstraßen und versickerten im flauschigen Teppich. Ihrem Körper war noch nicht nach Bücken und Aufwischen, also tapste sie quer durch die Wasserpfützen.

Miri meisterte die enge Holztreppe ins Erdgeschoss und folgte den Klavierklängen, die aus der Küchentür strömten.

Amelie stand an der Kücheninsel. Vor sich ein wildes Durcheinander von Schüsseln, Töpfen, Ölflaschen und frischen Kräutern. Als sie Miri bemerkte, lächelte sie. „Tschaikowski, das erste Klavierkonzert. Wunderschön, nicht wahr?“

Mit einem Seufzen griff sich Miri an die Stirn. Jede neu angeschlagene Klaviertaste ließ einen imaginären Hammer auf ihren Kopf niedersausen.

Zwinkernd wischte sich Amelie die Hände trocken und drehte den CD-Player leiser. „Ich habe ganz vergessen, dass dein Körper noch damit beschäftigt ist, den Restalkohol von gestern abzubauen.“

Miri runzelte die Stirn. Machte sich Oma gerade über sie lustig? Doch sie hatte keine Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn Amelie hielt ihr einen Löffel unter die Nase, auf dem eine dunkle Flüssigkeit hin und her waberte. „Diese Sauce musst du probieren! Ich nenne sie ‚Sauce Surprise’.“

Miri starrte auf den Löffel und spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie murmelte: „Nein, danke“ und ließ sich auf einen Küchensessel plumpsen.

Amelie stellte ein großes Glas vor ihrer Enkelin auf den Tisch. „Probier mal. Das ist mein Spezial-Kater-Getränk.“

Miri nippte vorsichtig daran. Das Gebräu war gar nicht so schlecht! Verlegen starrte sie auf die Tischplatte. „Es tut mir leid.“

„Ach, Miri“, Amelie schlang die Arme um ihre Enkelin und drückte sie fest an sich. Miris Gesicht verschwand wie in einem großen Daunendeckenberg in ihrer wogenden Oberweite.

„Ich … bekomme … keine … Luft …, Oma“, flüsterte sie.

Ihre Großmutter drückte ihr einen Kuss aufs Haar und lockerte die Umarmung.

In diesem Moment klingelte das Telefon und Amelie eilte ins Vorzimmer.

Als sie zurückkam, sagte sie: „Das war Helga! Wir sind gestern so schnell von der Vernissage aufgebrochen, dass ich meine Tabletts und Schüsseln vergessen habe. Ich fahre schnell noch einmal rüber.“ Seufzend löste sie die Bänder ihrer Schürze.

Miri rutschte auf ihrem Sessel hin und her. „Soll ich für dich hinfahren?“

Amelie hielt inne und lächelte sie an. „Wenn du das tun würdest, wäre das großartig. Dann könnte ich weiter an dem neuen Rezept für die Feier der Rubensteins herumtüfteln. Danke, Miri. Du musst aber gleich fahren. Helga wartet noch auf ihren Sohn, der sie abholt, und fährt dann auch nach Hause.“

Miri knabberte an ihrem Zeigefinger. „Oma, da ist noch etwas … bitte erzähle Mama und Papa nichts vom gestrigen Abend …“

„Also ich weiß nicht, Miri. Ich soll sie anlügen?“

„Nein, du sollst nur einfach den Wodka Lemon und alles andere nicht erwähnen. Bitte! Ich verspreche, so etwas kommt nicht wieder vor.“

Amelies Stirn überzog sich mit einem Netz aus Falten. Schließlich nickte sie: „Na gut. Aber wenn dieses Jahr mit uns beiden funktionieren soll, dann muss ich mich auf dich verlassen können. Solange deine Eltern in Amerika sind, habe ich die Verantwortung für dich und dafür, dass du einen ordentlichen Schulabschluss schaffst.“

Miri verdrehte die Augen. „Was hat denn die Schule damit zu tun?“

Amelie drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn. „Deswegen bist du doch hiergeblieben, oder?“

Miri seufzte. „Also? Bleibt der Abend gestern unter uns?“

Die kühle Hand ihrer Oma strich über ihre Wange. „Gut, aber nur unter einer Bedingung. Du musst dich bei dem Jungen entschuldigen. Das ist ja wirklich dumm gelaufen! Ausgerechnet bei seiner ersten Ausstellung muss so etwas passieren!“

Miri schluckte: „Okay, ich werde mich entschuldigen.“

„Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich werde ihn bitten, für meinen Party-Service ein paar Fotos zu machen. Er hat wirklich Talent und bestimmt einige gute Ideen. Ich muss mich anpassen und endlich eine Homepage machen. Sogar Annelies hat schon eine Seite im Internet für ihr Handarbeitsgeschäft.“

Amelie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen.

„Du brauchst gar nicht so mit den Augen zu rollen, Miriam Klein! Ich möchte nämlich, dass du ihm dabei hilfst.“

Miris Wangen begannen rot zu glühen wie Sanddünen im Sonnenuntergang. „Das ist nicht dein Ernst, Oma?!“

„Das ist mein voller Ernst! Du schreibst wunderschöne Texte und ich bin sicher, ihr bekommt das gemeinsam toll hin. Außerdem möchte ich, dass du selber diese peinliche Sache wieder gut machst. Wenn du möchtest, dass ich dich wie eine Erwachsene behandle, musst du auch für deine Handlungen die Konsequenzen übernehmen.“

„Oma, bitte! Ich kann doch nicht mit diesem Typen zusammenarbeiten. Ich habe ihm auf die Stiefel gekotzt!“

„Eben deswegen! Also, abgemacht?“

Miri kaute an ihrem Zeigefinger. Nach einer Weile murmelte sie: „Von mir aus.“

„Na gut, dann also Schwamm drüber!“ Amelie band sich die Schürze wieder fest um den Bauch und kicherte leise vor sich hin: „Das ist fast wie damals auf dem Stones-Konzert.“

Oma auf einem Konzert der Rolling Stones? Den Blick erwartungsvoll auf Amelie gerichtet, ließ sich Miri zurück auf den Sessel plumpsen. Doch ihre Großmutter scheuchte sie sofort wieder hoch. „Vergiss es gleich wieder. Da gibt es nichts zu erzählen. Du musst los, Helga wartet.“

Miri stand auf und schnappte sich ihre Jacke.

„Na gut, bis später!“

„Miri, warte! Du hast noch deinen Pyjama an!“, rief Amelie ihr nach, doch Miri hatte die Tür bereits zugeschlagen.

Miri atmete tief durch. Sie spürte, wie sich ihre Lunge mit Sauerstoff füllte und das Dröhnen im Kopf leiser wurde.

Nie wieder Wodka Lemon!

Sie holte das schwere Lastenfahrrad aus dem Schuppen, schob es zur Straße und schwang sich mit einem Seufzer auf den Sattel. Schwerfällig setzte sich das Rad in Bewegung. Die große hellgrüne Box vor dem Lenker mit der Aufschrift Augenschmaus & Gaumenfreude begann leicht zu schwanken. Seitlich war noch vermerkt: Essen ist ein Bedürfnis, Genießen eine Kunst.

Langsam fuhr Miri die leicht abfallende Straße entlang. Vorbei an einer Reihe pastellfarbener Häuser mit geschnitzten Holzbalkonen. Wie die Glieder einer Zuckerlkette schmiegten sie sich aneinander. Die Hecken waren ordentlich geschnitten und in den Vorgärten wuchsen Blumen in kunstvoll arrangierten Beeten.

Schachenstein. Ein verschlafener, freundlicher Ort, der einen mit der Zeit vermutlich auch erdrücken konnte. Wie würde es sein, hier zu leben? Die Leute aus dem Ort tuschelten jetzt schon darüber, dass ihre Eltern einfach nach Amerika gegangen waren. Für ein Jahr! Und das arme kleine Kind – also Miri – hatten sie alleine bei der Oma zurückgelassen. Wenn die wüssten, dachte Miri bitter. Es war ganz allein meine Entscheidung. ICH wollte nicht mit. Wenn es nach Mama gegangen wäre, säße ich jetzt in Kalifornien, mit meinen streitenden Eltern, und dürfte mich als Vermittlerin betätigen, so wie die letzten Wochen vor ihrer Abreise. Nein danke!

Eine Windböe blies ihr kalt ins Gesicht. Trotzdem, ein Jahr ist eine verdammt lange Zeit.

Kleine Steine spritzten in alle Richtungen, als sie in den Kiesweg bog, der zum Kulturzentrum führte. Ihre Gedanken wanderten zum gestrigen Abend zurück.

Von den Fotos hatte sie nicht viel gesehen. Vielleicht konnte sie noch eine schnelle Runde durch die Ausstellung machen. Welche Bilder dieser Typ wohl gemacht hatte?

Miri bremste ab.

Was ist, wenn er dort ist?

Sie atmete tief durch.

Warum sollte er heute schon wieder da sein? Bestimmt saß er gemütlich zu Hause und erzählte allen, die es hören wollen, die Geschichte von der Verrückten auf seiner Ausstellung.

Seufzend trat sie wieder in die Pedale.

Die Türen des Kulturzentrums standen weit offen und Helga lief geschäftig hin und her. Als sie Miri sah, rückte sie die Brille zurecht und musterte sie von oben bis unten. „Die Sachen für deine Oma stehen drüben bei der Küche.“

Langsam schlenderte Miri durch den Raum und betrachtete die Fotos an den Wänden.

„Brauchst du Hilfe?“, rief Helga und klapperte mit dem Schlüsselbund.

Miri hörte, wie sich Schritte näherten. Auf Smalltalk hatte sie nun wirklich keine Lust!

„Nein, nein. Alles okay. Ich bin gleich weg.“

Miri stapelte die Plastikschüsseln und Tabletts ihrer Großmutter zu einem hohen, wackligen Turm und richtete sich vorsichtig auf. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Das gibt’s doch nicht.“

Sie starrte auf die Fotografie an der Wand. Vor ihren Augen thronte ein einsamer Cowboystiefel auf einem riesigen Kürbis. Das Foto sah genauso aus wie das Bild in ihrem Alptraum. Hektisch drehte sie sich um und rannte geradewegs in den jungen Fotografen, der hinter ihr stand.

„Mist!“ Mit einem lauten Scheppern krachte der Geschirrturm in Miris Händen in sich zusammen und die Schüsseln rollten über den Fußboden.

Verzweifelt wünschte sie sich, unsichtbar zu werden. Ihre Arme und Beine würden durchsichtig werden und nach und nach verschwinden, bis kein einziger Miri-Pixel mehr übrig war. Dann müsste sie nicht mit dem Stiefeltypen reden. Er würde alleine dastehen, mit der unglaublichen Geschichte über ein sich auflösendes Mädchen. Und niemand würde ihm glauben.

„Du schon wieder!“

Er ging einen Schritt zurück und musterte sie. „Hast du noch deinen Pyjama an?“

Langsam wanderte Miris Blick zu ihren Beinen, auf denen Charly Brown und Snoopy herumturnten.

Oh nein! Warum hatte sie ausgerechnet dieses alte, ausgewaschene Ding angezogen? Aber gestern Abend war ihr alles egal gewesen. Sie wollte einfach nur ins Bett!

Die viel zu kurze Hose reichte gerade bis zu ihren Waden und die zu engen Ärmel schnitten in ihre Oberarme ein. Mit zitternden Händen versuchte sie vergeblich, das Oberteil über ihren Nabel zu ziehen.

„Du bist Miri, oder?“

Sie nickte und spürte, wie sich heiße Flecken auf ihren Wangen bildeten.

„Du schuldest mir eine Stiefelreinigung.“

Mit aufeinandergepressten Lippen flüsterte Miri „Tut mir leid!“ und begann verlegen die verstreuten Schüsseln aufzuheben.

Wieso war er hier? Egal, sie hatte Amelies Bedingung erfüllt und sich bei ihm entschuldigt. Also nichts wie weg!

„Mädchen, du solltest die Finger vom Alkohol lassen. Du verträgst einfach nichts.“ Was redete er da?

„Oder liegt es einfach nur an der Menge? Trinkst du immer so viel?“

So ein unverschämter Idiot!

Wütend richtete sie sich auf und funkelte ihn an. „Hey, du … du … arroganter … du … Stiefeltyp.“ Ihr Gesicht nahm die Farbe eines Granatapfels an.

Und dann zeigte sie ihm die Zunge.

Oh! Mein Gott!

Sie benahm sich wie ein kleines Mädchen!

Miri schnappte Amelies Geschirr und lief, so schnell sie konnte, zum Ausgang. Mit Schwung warf sie alles in den Lastenkorb des Fahrrads.

Dumpf hörte sie seine Stimme aus dem Gebäude. „Du bist ja eine echte Drama-Queen. Da kann sich Schachenstein ja noch auf einiges gefasst machen. Mein Name ist übrigens nicht Stiefeltyp, sondern Max.“

Pffhh. Dann heißt du eben Max. Mir doch egal, dachte Miri.

Hastig trat sie in die Pedale. Nichts wie weg!

2.

Mit einem Knall schlug Miri die Schuppentür zu und balancierte den Schüssel-Stapel zur Eingangstür. Als ihre Großmutter öffnete, drückte ihr Miri mit einem „Ich gehe zu Laura“ die Schüsseln und Tabletts in die Hand und lief zum Nachbarsgarten.

Miris beste Freundin wohnte gleich neben Amelie. Von dem Tag an, als sie Miri mit den Worten „Da, lecker“ ein klebriges Malzzuckerl durch ein Loch im Zaun in die Hand gedrückt hatte, war Laura D’Angelo ein fixer Bestandteil von Miris Leben. Damals waren sie zwei Jahre alt gewesen. Seitdem hatten sie gemeinsam Sandkuchen gebacken, die weiße Hausfassade der Familie D’Angelo mit Kreide verziert, einen Detektivclub gegründet, die unglückliche Liebe zu Konstantin Haas überwunden, der ihnen beiden am Spielplatz einen Zettel mit der Frage „Willst du mit mir gehen?“ zugesteckt hatte. Bei Pyjamapartys in Lauras Baumhaus hatten sie sich gegenseitig aus ihren Tagebüchern vorgelesen. Sogar die Tatsache, dass sie nicht in derselben Stadt lebten und sich oft nur in den Ferien oder an Wochenenden sehen konnten, änderte nichts an ihrer Freundschaft. Egal mit welchem Problem Miri sich gerade herumschlug, alles wurde einfacher und klarer, sobald sie ihre Sorgen mit Laura bis ins kleinste Detail zerlegt hatte.

Miri öffnete das blaue Gartentor und wäre beinahe über das Fahrrad gestolpert, das mitten auf dem gepflasterten Weg lag. Sie umrundete Sandspielsachen, Wasserkübel und einen Puppenwagen, sprang über ein Skateboard und klingelte schließlich ungestüm an der Haustür. Als Laura öffnete, fiel ihr Miri schluchzend um den Hals.

„Was ist passiert?“

„Alles … furchtbar … so gemein“, stieß Miri zwischen tiefen Schluchzern hervor.

Verwirrt tätschelte Laura ihr den Rücken. „Deine Eltern sind mehrere Flugstunden von dir entfernt, du wohnst bei deiner großartigen Oma und hast dadurch die beste Nachbarin aller Zeiten. Ich finde, dein Leben ist gerade ziemlich perfekt.“

Miri löste sich von der Schulter ihrer Freundin, auf der sie große Tränenflecken hinterließ, und verzog den Mund zu einem angedeuteten Grinsen. „Sehr witzig!“

Laura zog sie ins Haus.

„Komm rein. Eine riesige Packung Banane-Stracciatella-Eis liegt im Gefrierschrank. Es gibt so gut wie kein Problem, das man damit nicht lösen kann.“ Als sie Miris Blick sah, fügte sie hinzu: „Vielleicht lösen sich damit nicht alle Dinge, aber es schadet ja nicht, es zu probieren.“ Grinsend schubste sie ihre Freundin auf das geblümte Wohnzimmersofa und machte sich auf den Weg in die Küche. „Stell dir vor, sie sind alle gemeinsam zum Einkaufen gefahren. Mama und Papa müssen für die Zwillinge Schuhe besorgen und Rafael wollte in den neuen Skater Shop.“

Nachdem Laura zwei gut gefüllte Eisschüsseln samt Löffeln auf den Couchtisch gestellt hatte, streckte sie theatralisch die Arme aus und lachte. „Das ganze Haus gehört nur mir alleine. Naja, zumindest für die nächsten zwei Stunden. Also, was ist los?“ Mit einem Blick auf Miris Hose fügte sie hinzu: „Praktisch, dass du schon die Pyjamahose anhast. Da kuschelt es sich gleich noch besser.“

Seufzend schnappte sich Miri einen Löffel.

Am Ende ihrer Erzählung nuschelte sie mit vollem Mund: „Was soll ich denn jetzt nur machen?“

Kleine Ziehharmonikafalten erschienen auf Lauras Stirn, wie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. „Am besten, du bringst diese Homepage-Sache schnell hinter dich. Du kommst da sowieso nicht mehr raus. Triff dich mit ihm, überleg dir ein paar Texte zu seinen Fotos, und damit ist die Sache erledigt.“

Geräuschvoll kratzte Miri den letzten Rest Eis aus ihrer Schüssel. „Wie soll ich denn auch nur einen einzigen Tag mit diesem arroganten Typen verbringen? Diese komischen Gemüsefotos sind bestimmt von ihm. Wahrscheinlich ist er der totale Spinner. Welche Texte soll man denn bitteschön zu Fotos von Gemüse schreiben?“

Sie lehnte sich zurück in das weiche Sofakissen. Tröstend legte Laura ihre Hand auf Miris.

„Der Typ heißt Max, oder?“ Als Miri nickte, fuhr sie fort: „Rafael ist mit ihm in die Klasse gegangen und im Sommer waren sie ständig gemeinsam unterwegs.“ Nachdenklich strich sich Laura eine dunkle Locke aus den Augen. „Er hat Rafael letzte Woche von hier abgeholt. Eigentlich war er ganz nett.“ Mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: „Außerdem sieht er ziemlich gut aus.“

Miri verdrehte die Augen, doch ihre Freundin fuhr fort: „Bestimmt wird es gar nicht so schlimm, wie du denkst. Die Sache könnte sogar richtig Spaß machen. Wahrscheinlich fotografiert er deine Oma, wie sie mit Tomaten jongliert oder auf einer riesigen Zucchini balanciert.“

Gegen ihren Willen musste Miri kichern.

„Ich bin wieder da!“ Mit einem Krachen ließ Miri die Tür ins Schloss fallen. Amelie kam mit einem hölzernen Kochlöffel in der Hand aus der Küche. „Das ist nicht zu überhören, Süße.“ Mit gerunzelter Stirn musterte sie ihre Enkelin. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles gut.“ Miri drängte sich an ihrer Oma vorbei und ließ sich auf den einzigen leeren Küchensessel plumpsen. Inzwischen gab es kaum einen Platz, der nicht mit Schüsseln, Tabletts, Zutaten oder Rezeptseiten bedeckt war.

Miri liebte es, wenn Oma an neuen Rezepten tüftelte. Sie fühlte sich dann jedes Mal wie in einer Hexenküche, in der Zaubertränke gemischt wurden. Überall köchelte und brodelte es, Dampfwolken stiegen aus den Töpfen am Herd auf und unzählige kleine Dosen mit Kräutern standen herum. Die Luft war erfüllt von süß-säuerlichen Gerüchen. Zerknüllte Geschirrtücher lagen in der ganzen Küche verteilt und die Arbeitsplatte war mit grünen, roten und braunen Saucen-Klecksen überzogen.

„Wie in einem Bild von Jackson Pollock, oder?“ Amelie stemmte eine Hand in die Hüfte.

Miri zuckte mit den Schultern. „Pollock? Nie gehört. Ein Freund von dir aus Schachenstein?“

Amelies Mundwinkel begannen zu zittern, als sie versuchte ein Lachen zu unterdrücken. Kopfschüttelnd sagte sie: „Wir müssen wohl deine Kunstkenntnisse im nächsten Jahr ein bisschen auf Vordermann bringen.“

Verwirrt schaute Miri ihre Oma an. Cookie, Omas schwarze Katze, strich schnurrend um Amelies Beine.

Oma sieht aus wie eine liebe gute Kräuterhexe, dachte Miri.

Doch in diesem Moment wedelte Amelie mit dem Kochlöffel in ihre Richtung und sagte: „Ich habe Max für nächsten Dienstag zu uns eingeladen.“

Entgeistert starrte Miri sie an.

„Er wird mit uns abendessen und wir werden den Entwurf für die Homepage durchbesprechen.“

Nervös begann Miri an ihrem Zeigefinger zu knabbern und murmelte: „Ich kann bei dem Essen nicht dabei sein.“ Angestrengt suchte sie nach einer Ausrede. „Ich treffe mich mit Laura. Sie braucht meine Hilfe bei einem Schulprojekt.“

Amelie schwenkte den Kochlöffel wie ein Schwert durch die Luft und fixierte ihre Enkelin mit einem Blick, der einen wildgewordenen Rottweiler dazu gebracht hätte, sich winselnd auf den Boden zu ducken. Miri zog die Knie an und rutschte auf ihrem Sessel nach unten.

„Miriam, ich bin doch nicht dumm. Übermorgen ist euer erster Schultag. Ich bin ganz sicher, dass weder Laura noch du bereits am zweiten Schultag etwas für die Schule vorbereiten müsst.“

Mist! Warum war ihr nichts Besseres eingefallen?

Amelie holte tief Luft, und dann brach auch schon ein Donnerwetter über Miri nieder. Ihre Großmutter ließ dabei nichts aus. Wie wichtig es sei, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Sich nicht wie ein trotziges Kind aufzuführen. Erwachsen werden.

Maunzend sprang Cookie auf Miris Beine und rieb mit ihrem Kopf über Miris Arm. Mit der schnurrenden Katze auf dem Schoß fühlte sie sich wesentlich wohler. Sanft kraulte sie Cookies Kopf, woraufhin sich die Katze bei Miri einkuschelte und genüsslich die Augen schloss.

Als Oma endlich fertig war, klingelten Miri die inzwischen knallroten Ohren.

Kleinlaut sagte sie: „Okay, okay.“

Amelie ließ den Kochlöffel sinken und sagte versöhnlich: „Na siehst du. Du wirst dich mit Max sicher gut verstehen und es wird ein netter Abend werden.“

Miri rollte die Augen und sagte leise: „Genauso nett wie ein Besuch beim Zahnarzt.“

„Was hast du gesagt?“

„Nichts, nichts. Was gibt’s zum Abendessen?“ Essen war eines von Omas Lieblingsthemen und Miri hatte keine Lust, weiter über Max zu reden.

Amelie wischte ihre Finger an der Schürze ab und hob langsam den Deckel von einem dampfenden Kochtopf. Der Geruch nach indischen Gewürzen erfüllte den Raum. „Gemüsecurry. Hast du schon Hunger?“

Mit einem Nicken stand Miri auf und holte zwei Teller aus der Anrichte.

„Deine Mutter hat sich am Nachmittag über Skype gemeldet.“

Als sie den erschrockenen Blick ihrer Enkelin sah, fügte Amelie hinzu: „Keine Sorge, ich habe nichts von gestern erzählt.“

Erst jetzt bemerkte Miri, dass sie die Luft angehalten hatte, und atmete geräuschvoll wieder aus. Ihre Mutter hätte für die Sache mit dem Wodka Lemon kein Verständnis, vor allem dafür, dass sich Miri so hatte gehen lassen.

Bisher war sie ja ein absolut vorbildlicher Teenager gewesen. Keine Partys, kein nächtelanges Ausgehen, keine Trinkgelage. Im Gegensatz zu ihren Klassenkolleginnen, die jedes Wochenende zu einer anderen Party loszogen, hatte Miri mit ihren siebzehn Jahren noch nicht viele Erfahrungen gesammelt. Die meisten ihrer Mitschüler hielten Miri für langweilig. Anstatt mit den anderen in Clubs zu gehen, verbrachte sie ihre Abende damit, den Himmel nach unerforschten Phänomenen abzusuchen, oder bei Treffen des Astronomieklubs ihrer Schule.

Manchmal ging sie mit Freunden ins Kino oder Pizza essen oder Laura übernachtete bei ihr in Donnersfeld. Wenn Miri gefragt worden wäre, ob sie nicht auch zur berühmt-berüchtigten Poolparty von Konrad Kramer – dem derzeit beliebtesten Jungen in der Schule – gehen wollte, hätte sie vehement beteuert, dass das nur Zeitverschwendung wäre. Überhebliche Gäste, oberflächliches Getue und dumpfes Geschwätz. Aber ganz tief in ihrem Herzen verspürte Miri Neid – zugegeben hätte sie das jedoch nie.

Also, was machte es schon, dass sie ein einziges Mal zu viel getrunken hatte. Ihr Vater hätte bestimmt darüber gelacht. Er sah die Dinge viel lockerer als Mama.

„Miri!“

Sie zuckte zusammen, der Löffel fiel ihr aus der Hand. Gemüsecurry-Spritzer verteilten sich auf der Tischdecke.

Amelie wedelte mit der Hand vor Miris Augen. „Alles okay?“

„Ja, klar. Was hat Mama erzählt?“ Sie wischte mit der Hand über die Curryspritzer.

„Sie haben ein kleines Appartement direkt am Campus bekommen, das sie schon ein wenig eingerichtet haben. Heute Abend veranstaltet der Rektor ein großes Abendessen, bei dem sie alle Kollegen kennenlernen wird. Sie hat sehr aufgeregt geklungen. Sie meldet sich am Montag wieder, um zu hören, wie dein erster Schultag war.“ Mit einem Lächeln fügte Amelie hinzu: „Dein Vater hat beschlossen, wieder mit dem Malen zu beginnen. Er hat sich schon eine große Staffelei und Farben gekauft und möchte morgen auf die Suche nach geeigneten Motiven gehen. Der Aufenthalt wird ihm gut tun.“ Sanft drückte sie Miris Hand, als wollte sie ihr sagen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihre Eltern alleine nach Amerika gehen zu lassen.

„Hmh.“ Miri hatte keine Lust auf ein Gespräch über ihre Eltern und deren Probleme. Sie simulierte ein lautes Gähnen. „Ich geh ins Bett, ich bin hundemüde.“

Amelie drückte ihrer Enkelin einen Kuss auf die Stirn. „Dann schlaf gut, meine Süße.“

Aber an Einschlafen war nicht zu denken. Unruhig wälzte sich Miri im Bett hin und her. Immer wieder schoben sich die Bilder vom Flughafen in ihr Gedächtnis.

Bei der Verabschiedung hatte ihre Mutter ihr einen Briefumschlag zugesteckt. „Für Miri“ hatte sie mit einem roten Faserschreiber in Blockschrift darauf geschrieben. Dann hatte sie Miri so fest an sich gedrückt, dass die Knöpfe an ihren Jackenärmeln Abdrücke auf Miris Nacken hinterlassen hatten. Mit ihrer Hand verwirbelte sie jede einzelne Strähne auf Miris Kopf. „Meine kleine Große.“ Ihre Mutter hatte geseufzt und Miris Gesicht mit Küssen bedeckt. „Du kannst dich jederzeit bei uns melden, wenn du etwas brauchst. Ich hab dich lieb, Mirilein.“

In Miris Hals hatte ein Brocken gesteckt, der immer größer zu werden schien. Aufregung, Nervosität, Trauer, Angst. Er war so groß geworden, dass kein Wort mehr daran vorbei konnte. Sie hatte ihrer Mutter sagen wollen, dass sie sie vermissen werde, doch alles, was aus ihrem Mund gekommen war, war ein Krächzen gewesen. Mama hatte ein Taschentuch gezückt, sich energisch die Augenwinkel gerubbelt und mit einem Kopfnicken zu Miris Vater gesagt: „Los, Paul. Wir verpassen noch unser Flugzeug.“ Mit diesen Worten war sie in Richtung Passkontrolle verschwunden, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen.

Papa hatte Miri mit seinen riesigen Armen umfangen. Wie in einer warmen Höhle hatte sie sich gefühlt und sich gewünscht, dass er nie mehr loslassen würde. Doch dann hatte Mama nach ihm gerufen und er hatte sie aus seinen Armen freigegeben. Plötzlich war sie so einsam gewesen, als wäre sie der einzige überlebende Mensch einer Naturkatastrophe. Papa hatte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze gegeben und gesagt: „Krümelchen, du schaffst das schon!“

Normalerweise verdrehte Miri die Augen, wenn er sie so nannte. Schließlich war sie nicht mehr sechs. Doch in diesem Moment war das Wort Krümelchen wie ein warmer Sonnenstrahl direkt in ihr Herz gerutscht.

Und dann waren sie weg. Verschluckt von der Glastür hinter der Passkontrolle.

Oma Amelie hatte den Arm um Miris Schultern gelegt und leise in ihr Ohr geflüstert: „Komm, lass uns nach Hause fahren.“ Aus Miris Augen waren kleine Tränen gekullert und auf ihr T-Shirt getropft.

Das war erst vor zwei Tagen gewesen. Am Freitag hatte Amelie sie dann zur Ablenkung auf die Vernissage im Kulturzentrum mitgeschleppt.

Miri schaltete ihre Nachttischlampe ein und öffnete die Lade ihres Nachtkästchens. Behutsam zog sie einen schon leicht verknitterten Briefumschlag hervor. Er roch sogar noch nach dem Parfum ihrer Mutter: Frisch gewaschene Wäsche mit einem Hauch von Zitrusfrüchten. Miri sog die Luft tief in ihre Lungen ein und zog vorsichtig die zusammengefalteten Blätter heraus. So oft hatte sie sie schon gelesen, dass an ein paar Seiten Eselsohren entstanden waren.

Sorgfältig glättete sie das Papier.

Dein Jahr bei Oma

Liebe Miri,

ich bin sicher, dass Oma Amelie gut für dich sorgen wird. Aber du kannst Papa und mich jederzeit erreichen: E-Mail, Skype, Telefon … Eigentlich hatte ich ja gehofft, dass wir alle gemeinsam nach Amerika gehen würden. Aber ich verstehe und respektiere deine Entscheidung, bei Oma zu bleiben.

Erneut entfuhr Miri an dieser Stelle ein verächtliches Schnauben. Von wegen, dachte sie. Wochenlang habe ich dich davon überzeugen müssen, dass ich hierbleiben darf.

Ich hoffe, du verstehst unsere Entscheidung auch.

So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Besonders für eine Frau in der Forschung sind derartige Angebote rar. Ich habe mir überlegt, in welchen Situationen du im nächsten Jahr vielleicht Unterstützung brauchen könntest und dir einen kleinen „Leitfaden“ zusammengeschrieben.

Miri musste lächeln. Mama liebte Listen. Sie packte ihr Leben und das ihrer Familie in Tabellen, Checklisten, Notizbücher und auf Haftzettel. Das gab ihr anscheinend das Gefühl, es damit ordnen und kontrollieren zu können.

Schule

Du bist eine gute Schülerin und das solltest du auch in deinem letzten Schuljahr bleiben! Melde dich möglichst oft zu Wort. Lehrer wissen das zu schätzen und bemerken, dass du dem Unterricht folgst und dir Gedanken machst. Du musst dich von den anderen Schülern abheben.

Auch im Berufsleben muss man sich von den anderen abheben, um erfolgreich zu sein. Lass dich nicht zu sehr ablenken oder von anderen auf Partys verschleppen. Vielleicht kannst du ja einmal Muffins in die Schule mitbringen. Schließlich sitzt du bei Oma Amelie jetzt an der richtigen Quelle

Hatte ihre Mutter nachgedacht, bevor sie diesen Brief schrieb?

Miri stellte sich vor, wie sie wie Rotkäppchen mit einem großen Weidenkorb voller Schokolade-Muffins in die Schule ging. Auf der Seite des Korbes wippte eine riesige rote Seidenmasche und er wurde in ihrer Hand immer schwerer und größer. Schließlich musste sie ihn auf dem Fußboden hinter sich herziehen, um ihn vorwärtszubewegen. Der Gang streckte sich plötzlich in die Länge wie ein ausgezogener Kaugummi. Am anderen Ende sah sie eine strahlend hell erleuchtete Tür mit der Aufschrift Lehrerzimmer. Plötzlich gingen die Türen zu beiden Seiten des Ganges auf und Schüler stürmten heraus. Als sie Miri mit dem riesigen Korb sahen, bildeten sie einen Menschenkorridor. Sie johlten und lachten. Mit ihren Fingern zeigten sie auf Miri und riefen: „Schleimerin! Schleimerin!“

Hastig blätterte Miri weiter. Ihre Mutter hatte tatsächlich für fast jede Lebenslage einen Ratschlag aufgeschrieben:

Schlafbedürfnis eines jugendlichen Körpers

Alkohol und Drogen (einen weiten Bogen darum machen)

Jungs (nur ja nicht auf etwas „Ernstes“ einlassen, Männer ticken anders und Jungs wollen ja doch nur „das Eine“)

Tricks gegen Pickel