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MASS EFFECT – DIE ROMANREIHE

MASS EFFECT Andromeda: Der Aufbruch der Nexus

Jason M. Hough, K. C. Alexander, ISBN 978-3-8332-3358-6

MASS EFFECT Andromeda: Feuertaufe

N. K. Jemisin, Mac Walters, ISBN 978-3-8332-3521-4

MASS EFFECT Andromeda: Vernichtung

Catherynne M. Valente, ISBN 978-3-8332-3618-1

MASS EFFECT Sammelband 1: Die Offenbarung / Der Aufstieg

Drew Karpyshyn, ISBN 978-3-8332-3631-0

MASS EFFECT Sammelband 2: Vergeltung / Blendwerk

Drew Karpyshyn / William C. Dietz, ISBN 978-3-8332-3767-6

MASS EFFECT – DIE GRAPHIC NOVELS

MASS EFFECT: Discovery

Die offizielle Fortsetzung des Games Mass Effect: Andromeda

ISBN 978-3-7416-0325-9

MASS EFFECT Comicband 1: Erlösung

ISBN 978-3-86201-011-0

MASS EFFECT Comicband 2: Evolution

ISBN 978-3-86201-076-9

MASS EFFECT Comicband 3: Invasion

ISBN 978-3-86201-314-2

MASS EFFECT Comicband 4: Heimatwelt

ISBN 978-3-86201-557-3

MASS EFFECT Comicband 5: Foundation I – Im Auftrag von Cerberus

ISBN 978-3-86201-814-7

MASS EFFECT Comicband 6: Foundation II – Projekt Lazarus

ISBN 978-3-86201-815-4

MASS EFFECT Comicband 7: Foundation III – Shepards Klon

ISBN 978-3-95798-187-5

Weitere Info und Titel unter:

www.paninishop.de

Roman

Von Catherynne M. Valente

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Titel der Englischen Originalausgabe: „Mass Effect Andromeda: Annihilation“ by Catherynne M. Valente, published by Titan Books, UK, November 2018

© 2019 Electronic Arts Inc. Mass Effect, Mass Effect: Andromeda, BioWare, the BioWare logo, EA and the EA logo are trademarks of Electronic Arts Inc. All Rights Reserved.

Deutsche Ausgabe 2019 by Panini Verlags GmbH, Rotebühlstraße 87,

70178 Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: marketing@panini.de)

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Andreas Kasprzak

Lektorat: Grinning Cat Productions

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDMEAN003E

ISBN 978-3-7367-9963-9

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, Februar 2019, ISBN 978-3-8332-3618-1

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PROLOG

Hephaestus-Station: Caleston-Rift

Der Tech-Spezialist zweiter Klasse Oliver Barthes betrachtete den dunstigen, glänzenden Wirbel der Galaxie, die sich tief unter ihm ausbreitete. Sterne und rotorangene Wolken aus Sternenstaub spiegelten sich auf der glatten, polierten Oberfläche seines Universalwerkzeuges. Es war spät – 0300 –, er war noch nicht fertig mit seiner Arbeit, und für ein Stück echtes Fleisch oder ein Glas echten Gin hätte er seinen besten Freund ermordet. Wenn er einen besten Freund gehabt hätte. Oder ein Glas. Eine weitere Kalibrierungsreihe befand sich noch zwischen ihm und seinem wohlverdienten Schlaf. Doch Oliver stand einfach nur da, auf seiner winzigen silbernen Zugangsplattform und starrte die Sterne an, wie ein dummer Grünschnabel, der zum ersten Mal im Orbit war. Sein Unterarm befand sich über einem Abschnitt des galaktischen Arms, ein schwarzer, ganz und gar unhimmlischer Umriss vor dem roten Glühen – wie ein sehniger Muskel. Oder eine Narbe.

Natürlich war das nicht sein erstes Mal. Mitnichten. Wenn er seine grauen Zellen richtig anstrengte, konnte Oliver Barthes sich gerade so noch an eine Zeit erinnern, als sein Leben nicht nur aus Shuttles, Kreuzern, Raumstationen, Formularen, Verträgen, Programmiercode und winzigen Bullaugen in endlosen grauen Metallwänden bestanden hatte. Eine Zeit, als sein Leben voller Grün und Wärme und Güte gewesen war; als er noch echte Erde unter seinen Fingernägeln gehabt hatte und jede Nacht in einem echten Bett eingeschlafen war. Aber das war früher gewesen, auf Eden Prime. Jetzt war jetzt, auf der Hephaestus-Station.

Selbst um 0300 herrschte auf den Werften der Hephaestus noch rege Aktivität. Für all die Techniker war dies die Geisterstunde, wenn Maschinenführer und Ingenieure und Frachtverlader und neugierige Passagiere alle in ihre bevorzugten Bars oder Kojen verschwunden waren und sie sich endlich an die eigentliche Arbeit machen konnten. Nicht, dass irgendjemand sonst Olivers Ansicht teilte. Sie sahen den Plastahl, der sie vom Vakuum des Alls trennte; die Energie der biotischen Stöße, die besagten Plastahl innerhalb eines Wimpernschlages zerfetzen könnten. Aber den Code, der all das möglich machte, den sahen sie nicht. Denn der Code war unsichtbar und somit unbedeutsam. Und Codeschreiber waren sogar noch unsichtbarer und unbedeutsamer. Sie waren ersetzbar, übersehbar und in tragischem Maße unterbezahlt. Heutzutage konnten Kinder schon programmieren, bevor sie gehen konnten, also warum Geld für etwas ausgeben, was im Prinzip so selbstverständlich wie essen und trinken war?

So dachten die großen Tiere – bis etwas schiefging.

Zugangsplattformen hingen am titanischen Rumpf der Keelah Si’yah wie kleine Krebse am Bug alter Segelschiffe, jede an einen offenen Systemport geheftet, von wo aus sie direkt auf die Speicherbänke zugriffen. Eine sicherere Methode gab es nicht. Oliver wies sein Universalwerkzeug an, ihm seine letzte Dosis zu injizieren. Die Stims fluteten in seine Adern, entspannten ihn, und er vergaß die Sterne, die sich in seinem Universalwerkzeug widerspiegelten, das echte Fleisch und den echten Gin und die grünen Felder, die er einst bepflanzt hatte. Nun war er wieder ganz Tech-Spezialist zweiter Klasse, und er streckte die Arme nach oben aus, zur Außenhülle des quarianischen Tiefraumschiffes hin, als wollte er es umarmen. Anschließend aktivierte er die Gravitationsflexoren an seinem Anzug, und nachdem er mit eingeübter, beinahe akrobatischer Anmut auf das Schiff zugeglitten war, berührten seine Hände tatsächlich den glänzenden Plastahl. Eine ruhige, künstliche Stimme in seinem Innenohr informierte ihn über den Status seiner Anzugsysteme.

Handflächenflexoren: Kontakt hergestellt. Sohlenflexoren: aktiv. Knieflexoren: hochgefahren und bereit. Sie können mit Ihrer Außenbordaktivität beginnen, Specialist Barthes.

Seine Füße und Knie hefteten sich mit einem vertrauten, befriedigenden Klacken an der Schiffshülle fest.

„Danke, Helen“, sagte er mit einem Grinsen. Nicht, dass Helen sich darum scherte, wie er sie nannte. Sie war keine voll ausgereifte VI – sie war ebenso wenig zu eigenem Denken imstande wie eine Bratpfanne. Sie war nicht mal eine Sie. Aber diese kühle, gefasste, zufallsgenerierte Stimme war während dieser langen Schichten seine einzige Freundin, und man ignorierte seine einzige Freundin nicht, nur weil sie ein Universalwerkzeug war.

Oliver konnte sich glücklich schätzen, dass er diesen Job bekommen hatte, und das wusste er auch. Die Initiative zahlte besser als sonst irgendjemand, sogar besser als die Allianz, und was noch wichtiger war: Sie zahlten pünktlich. Das war notwendig. Oliver brauchte das Geld, und er brauchte es regelmäßig. Sein Blick wanderte erneut nach unten zu den dunstigen Sternen auf Helens glänzender Oberfläche. Einer von ihnen war Sahrabarik, und irgendwo in der Nähe von Sahrabarik befand sich die Omega-Station. Und irgendwo auf der Omega-Station befand sich eine Asari namens Aria T’Loak. Ihr schickte Oliver jeden Credit, den er nicht unbedingt brauchte, um seinen Körper und seine Seele bei Kräften zu halten. Er schauderte, als er an ihre kalten blauen Augen dachte, an ihr kaltes blaues Lächeln. An den Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters, als Aria verkündet hatte, dass sie seinen einzigen Sohn an eine mobile Arbeitseinheit in Sigurds Cradle verkauft hatte. Es war keine beispiellose Tragödie; tatsächlich geschah so etwas jeden Tag. Tausende Flüchtlinge, die dem Angriff auf Eden Prime entkommen waren (oder dem auf Noveria, Virmire oder einen der zahllosen anderen), fanden sich in einer solchen Situation wieder: heimatlos und bankrott, gekauft und verkauft. Das Einzige, was Oliver Barthes’ Fall besonders machte, war die Tatsache, dass seine Arbeitseinheit von einem halbwegs gnädigen Elcor namens Lumm geleitet worden war, und Lumm erlaubte es seinen Arbeitern, sich ihre Freiheit zurückzukaufen. Oliver glaubte aber, dass die wenigsten dieses Angebot tatsächlich in Anspruch nahmen; die meisten gaben ihre mickrigen Löhne für batarianischen Scherbenwein oder Mädchen oder Quasar oder – falls sie verzweifelt genug waren – für Roten Sand aus. Aber nicht Oliver. Er hatte gespart und gehungert. Er hatte sich die Mädchen nicht einmal angesehen, auch wenn sie ihn oft ansahen – auch, wenn er gern hinsehen wollte. Er hatte Wasser getrunken und nur dann einen Fuß in eine Bar gesetzt, wenn Lumm ihn hinschickte, um einen defekten Quasar-Automaten zu reparieren, der zu oft Gewinne ausspuckte. Oliver war gut darin, zu sparen und zu hungern. Er hatte ein Talent dafür, beinahe ebenso groß wie sein Talent für das Programmieren von Raumschiffen. Und als Lumm Oliver das Angebot gemacht hatte, ihm seine Freiheit zurückzugeben, hatte er seinen Preis gezahlt und sich eine Quittung ausstellen lassen.

Denn Oliver arbeitete und hungerte nicht länger für sich selbst. Zumindest nicht nur. Nein, er war dabei, seinen Eltern die Freiheit zu erkaufen, und er durfte keine Rate verpassen. Er bezahlte Aria, damit sie die beiden nicht zu schwerer körperlicher Arbeit einteilte, und er bezahlte sie, damit sie seine Eltern eines Tages gehen lassen würde.

Es war nicht leicht, die Raten zusammenzukratzen. Codieraufträge waren in der Regel zeitlich befristet, und man wusste nie, wo sich eine neue Gelegenheit ergeben würde oder wann. Dies war der längste Job, den er je ergattert hatte. Seine Arbeit für die Initiative war größtenteils simpel und minimalistisch: die Systeme eines Langstreckenkreuzers an die Passagiere anpassen – Asari oder Menschen oder Turianer oder Salarianer –, damit diese sechshundert Jahre in Tiefschlaf versetzt werden konnten, um dann in der Andromeda-Galaxie wieder aufzutauen, wo viel bessere Einrichtungen und ein gesundes, ausgewogenes Frühstück auf sie warteten. Schnell, effizient, sauber.

Aber das hier war ein quarianisches Schiff, und Quarianer hatten immer Sonderwünsche. Sie würden niemals mit einem Kreuzer reisen, der einfach nur gebaut war, um von Punkt A nach Punkt B zu fliegen. Ihre gesamte Spezies lebte in einer Flotte, die von System zu System zog, während die Quarianer darauf warteten, dass die Geth von ihrer Heimatwelt verschwanden – ein Ort, den die meisten von ihnen noch nie auch nur gesehen hatten. Schiffe waren ihre Mütter und ihre Kinder. Schiffe waren ihr Zuhause. Und sie würden kein Schiff betreten, es sei denn, sie konnten sicher sein, dass sie im Notfall für alle Zeit darin leben könnten. Dementsprechend war die Liste der angeforderten Änderungen so lang wie der Rift selbst. Und sie wurde beständig länger, seit die vogelartigen Quarianer auf Drängen der Initiative zugestimmt hatten, andere Spezies an dieser Reise teilnehmen zu lassen, die sich über sechshundert Lichtjahre erstreckte. Folglich mussten die Bedingungen auf diesem Schiff für alle Wesen akzeptabel sein, die sich einen Platz an Bord erkauft oder erhandelt hatten, seien es nun reptilische Drell, elefantenartige Elcor, wasserbewohnende Hanar, ammoniakatmende Volus oder vieräugige Batarianer – alles in allem zwanzigtausend Seelen, zusammengedrängt in dieser Blechkiste wie Schrauben in einem Werkzeugkasten. Und sie hatten sogar ihren eigenen Namen für das Schiff, eine Abänderung von Keelah Se’lai, jenem alten, quarianischen Spruch, der so viel bedeutete wie „Bei der Heimatwelt, die ich eines Tages zu sehen hoffe“. Sie nannten es Keelah Si’yah.

„Bei der Heimatwelt, die ich eines Tages zu finden hoffe.“

Oliver Barthes fuhr mit den Fingern über den Bauch der Si’yah und fragte sich, was das wohl für Quarianer waren, die freiwillig die Mission aufgaben, für die ihre gesamte Spezies lebte und atmete: nach Rannoch, auf ihren Heimatplaneten zurückzukehren. Quarianer, denen ihre Heimat nicht länger wichtig war? Das war in etwa so selten wie Menschen, die sich in keinster Weise fürs All interessierten. Oder wie Salarianer, die noch nie einen Gedanken an die Wissenschaft verschwendet hatten. Oder ein roter Asari. Oliver hatte versucht, in den Bars der Hephaestus-Station ein wenig Konversation mit ihnen zu machen, aber Small Talk war noch nie seine Stärke gewesen, und davon einmal ganz abgesehen: Warum sollten diese wunderschönen Außerirdischen ihre Zeit mit jemandem wie ihm vergeuden, der schon lange tot sein würde, ehe sie ihr Ziel erreichten. Es waren sechshundert Jahre bis nach Andromeda. Für sie war er jetzt schon ein Geist.

Aber manchmal … manchmal träumte er nachts davon, dass er mit ihnen fliegen würde. Dass eine der zwanzigtausend identischen, gemütlichen Kryokapseln für ihn bestimmt war. Dass auch er in sechshundert Jahren aufwachen und eine neue Welt unter sich erblicken würde. Eine Welt, die noch niemand ruiniert hatte; eine Welt, die er gemeinsam mit den anderen in ein Paradies verwandeln könnte. Aber dann wachte er auf und sah nur die verbeulte Decke seiner Kabine auf der Hephaestus-Station. Weil er für immer hier festsitzen würde. Weil er an Eden Prime und seine Eltern und Helen und diese verfluchte Aria T’Loak gebunden war. Weil die neue Welt nicht für Oliver Barthes bestimmt war. Weil er zu einem trostlosen Dasein verdammt war, und zwar schon seit seiner Geburt.

Also hatte er sich langsam durch seinen Teil der endlosen Checkliste gearbeitet, und ehe er sichs versah, war ein Jahr seines Lebens verstrichen. Allmählich begann er sogar, die Hephaestus-Station zu mögen, mitsamt all ihrer undichten Leitungen und nicht richtig funktionierenden Türen und ihrem nicht existenten architektonischen Charakter. Das Leben hier war nicht angenehm; das war es auf keiner entlegenen Raumstation. Falls sich die Bewohner der Kabine nebenan stritten, wenn man ins Bett ging, wurde nicht selten eine Leiche weggeräumt, wenn man aufwachte. Und die kulinarische Bandbreite reichte gerade einmal von tiefgefrorenen Nudeln zu Soyatabletten. Aber um 0300 sah es fast wie ein Zuhause aus – wenn man ein Auge ganz fest zudrückte. Du klingst wie eine alte Oma, dachte er angewidert. Als Nächstes fängst du an, Zierdecken in deiner Koje auszubreiten.

Oliver öffnete den nächsten Systemport auf Höhe des Kryodecks der Keelah Si’yah und verband Helen mit den schlummernden Systemen des Schiffes, dann seufzte er. Es gab nichts Schlimmeres als den Code anderer Leute. Er tat sein Bestes, wirklich, aber alles Praktische oder halbwegs Elegante, was er programmierte, ging einfach in dem hässlichen, grauen Blockcode der tausend anderen Techniker unter, die hier die Hand im Spiel hatten. Eines Tages, dachte Oliver. Eines Tages werde ich ein Schiff von Grund auf programmieren. Nur ich, sonst niemand. Es wird ein VI-Interface haben, alle Prozesse werden voll automatisiert und reibungslos ablaufen, und es wird perfekt gesichert sein. Niemand hat je ein perfekt gesichertes Schiff gebaut, aber das wird das erste sein. Selbst ein Elcor wird weinen, wenn er es sieht. Und mit diesem Monster in meinen Referenzen wird es nicht lange dauern, bis sie mich auch nach Andromeda einladen.

Oliver blickte nach unten. Man sollte nicht nach unten sehen. Die Hephaestus war kaum mehr als eine Orbitalplattform, und ihre Werften befanden sich an den Enden schmaler Sektionen, die wie die Strahlen einer besonders hässlichen Sonne vom Mittelteil der Station abstanden. Hier nach unten zu blicken, bedeutete, direkt in die nackten Tiefen des Alls zu schauen. Da war nichts zwischen ihm und der endlosen Schwärze als der bläuliche Film der künstlichen Atmosphäre. Die Gravitationsflexoren verhinderten, dass er hinabstürzen konnte, aber man konnte sich trotzdem übergeben oder ohnmächtig werden oder durchdrehen, und wenn das passierte, konnte man sich von seinem Job verabschieden. Zum Glück hatte die gähnende, leere Finsternis des endlosen Raums Oliver nie sonderlich beunruhigt. Er war ein Mann, und da draußen war das All; sie kannten einander inzwischen ziemlich gut. Sein Blick wanderte vom schwarzen Nichts zu dem Netz silberner Rampen und Plattformen, in die das quarianische Schiff eingewoben war, und kurz suchte er nach … nach was? Nach jemandem, der sehen konnte, was er vorhatte? Warum machte er sich überhaupt die Mühe? Was er tun würde, war nichts Verbotenes. Im Gegenteil, es war sogar etwas sehr Nettes, wenn man genauer darüber nachdachte. Und daran änderte auch der Umstand nichts, dass Oliver Barthes für diese Nettigkeit großzügig bezahlt werden würde. So großzügig, dass er seine Eltern von Aria T’Loak freikaufen und ihnen ein neues, besseres Leben ermöglichen könnte. Und vielleicht – nur vielleicht – würde es sogar reichen, um danach seinen eigenen Traum zu erfüllen und ein Ticket in die sechshundert Jahre entfernte Zukunft zu lösen.

Techniker in schmucklosen Arbeitsanzügen wuselten auf den Rampen und Treppen hin und her, und ein paar Nachtschwärmer standen an den Geländern, um zu rauchen oder einen Flachmann herumgehen zu lassen oder einfach nur die schiere Größe des Schiffes zu bewundern – das pure Ausmaß dessen, was es symbolisierte. Wer dieses Schiff bestieg, würde nie wieder seine Heimat zu Gesicht bekommen, es sei denn auf einem Langstrecken-Scan. Er würde nie wieder vertraute Pflanzen, Tiere oder Gesichter sehen.

Sie waren schon ein komischer Haufen, diese Si’yah-Kolonisten. Keiner von ihnen ließ sich als normaler Vertreter seiner Spezies beschreiben. Wie auch? Der Gedanke, dass auch nur ein Quarianer die Migrantenflotte auf Nimmerwiedersehen verlassen würde, war vollkommen untypisch für ihre Art. Und es befanden sich viertausend von ihnen an Bord. Es war ein Schiff voller Narren. Und Vagabunden. Und Idealisten. Und Radikaler, Exilanten, Krimineller, Künstler und Intriganten. Die Quarianer hatten jedem einen Platz gewährt, der für eine Kryokapsel zahlen oder beweisen konnte, dass er in einer neuen Kolonie von Nutzen sein würde. Ganz gleich, wo sie herkamen. Ganz gleich, was sie zuvor getan hatten. Die Si’yah war für sie alle ein Neuanfang.

Ein sicheres Rezept für Chaos. Oliver wünschte nur, er könnte dabei sein und es mit ansehen.

Sein Blick huschte über die Gestalten auf dem Gerüst. Da war eine weibliche Drell mit hellen Markierungen, die einen Rauchring von ihren dunkelgrünen Lippen in die Nacht blies. Ein vieräugiger Batarianer diskutierte mit einem Volus, der ihn aus den traurigen Dachsaugen seines Schutzanzugs anstarrte. Zwei Quarianer schlenderten auf einem nächtlichen Spaziergang dahin, um das Beste aus ihrer Schlaflosigkeit zu machen, und die Arbeitsbeleuchtung der Keelah Si’yah spiegelte sich auf den Gesichtsmasken ihrer eigenen Anzüge. Ein paar Techniker unterhielten sich darüber, wie Quarianerinnen wohl unter ihrer Rüstung aussahen, wie man eine dazu kriegen könnte, sich auszuziehen, und wie sie besagte Quarianerin verführen würden, ehe sie für immer von hier verschwand. Oliver hatte sich diese Frage nie gestellt. Er wusste, wie quarianische Schiffe aussahen. Er wusste, wie quarianischer Code aussah. Er wusste alles, was er über Quarianer wissen musste.

Oliver glaubte nicht, dass jemand ihn beobachtete. Er war sich sogar ziemlich sicher. Alle waren vollauf mit ihren eigenen Problemchen beschäftigt. Verdammt, Barthes, es ist nur eine Audio-Subroutine, dachte er. Hör auf, paranoid zu sein. Trotzdem, etwas fühlte sich nicht richtig an. Oliver war nicht dumm; er hatte viel von Lumm gelernt. Er wusste, wenn ein Job, den er gesichtslos über seinen Datenblock erhielt, so obszön gut bezahlt wurde, dann war er vermutlich weit, weit von ehrlicher Arbeit entfernt. Aber er hatte die Codeschleife selbst überprüft. Mehrmals. Es schien wirklich nur das zu sein, was seine Kontaktperson behauptete: ein altes quarianisches Schlaflied namens „Ich und mein Anzug“. Dieses Lied sollte den schlafenden Kolonisten in ihren Kapseln einmal pro Jahrhundert vorgespielt werden, bis sie ihr Ziel erreichten. Vollkommen harmlos. Höchstens sentimental. Und Sentimentalität war ein weitverbreitetes Phänomen bei neuen Schiffen, insbesondere den Tiefraumtransportern wie der Si’yah. Das begann mit Fotos, die an die Innenseite von Kryokapseln geklebt wurden, und reichte bis hin zu kleinen Päckchen echten Tees, die ein Kolonist an Bord schmuggelte, um seinem Heimweh vorzubeugen. Einer der Techniker, der in derselben Schicht arbeitete wie Oliver, war von irgendeinem reichen Narren bezahlt worden, um eine winzige Parfümkapsel in alle Drell-Kapseln einzubauen, so programmiert, dass sie den Geruch der Usharet-Blume kurz vor der großen Schneeschmelze freisetzte. Usharets waren auf Rakhana gewachsen, der armen, nunmehr toten Heimatwelt der Drell. All diese Mühe, nur damit die Kolonisten einen vertrauten Duft in der Nase hatten, wenn sie die andere Seite des Universums erreichten. Als ob es wichtig wäre, was sie beim Auftauen rochen! Andererseits war es wohl immer so, überlegte Oliver. Sentimentalität ließ einen die seltsamsten Dinge tun. Er hatte seinen Wohltäter gefragt, warum etwas so Unbedeutendes all diese Geheimniskrämerei wert war, und ihm war gesagt worden, dass es eine gut gemeinte Überraschung sein sollte, eine Geste der Einheit und des Friedens für dieses buntgemischte Schiff von Narren. Sie waren jetzt alle Quarianer. Sie gehörten alle zur selben Familie.

Und was tat man nicht alles für seine Familie? Was tat man nicht alles, um ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern?

Oliver Barthes konnte nicht mit nach Andromeda fliegen, ganz gleich, wie oft er auch davon träumte. Aber er konnte das hier tun – für all jene, die diese Reise unternahmen und in die Fremde zwischen den Sternen hinausflogen, um eine neue Zivilisation zu begründen. Er konnte sie im Schlaf zum Lächeln bringen. Das war vielleicht nicht gerade etwas, wovon man stolz seinen Enkelkindern erzählte, aber es war besser als gar nichts.

Er spreizte die Zehen in seinem Anzug, um das taube Prickeln daraus zu vertreiben, während er Helen anwies, die Subroutine in die Wartungsmatrix für die Kryokapseln hochzuladen, dann löschte er jegliche Spuren dieses Eingriffs. Für jemanden wie ihn war das ganz einfach. So einfach, wie das Licht auszumachen oder die Tür abzuschließen, wenn man ausging.

„Schlaft gut“, wisperte Oliver diesem großen, dummen, verrückten, wunderschönen Schiff zu. „Und gute Reise!“

Alle Flexoren sind im Sicherheitsmodus. Sie haben Erlaubnis, in die Hephaestus-Station zurückzukehren, Specialist Barthes. Viel Vergnügen nach Ende Ihrer Schicht!

„Dir auch, Helen. Dir auch. Bei was immer gestutzte VI-Programme nach Ende ihrer Schicht so treiben.“

Vorsichtig deaktivierte Oliver seine Flexoren und kletterte wieder auf seine Arbeitsplattform hinab. Sobald seine Füße erneut das Metall berührten, zog er seinen Datenblock hervor und schickte eine Bestätigung an die Adresse, die man ihm gegeben hatte. Anschließend rief er sein Konto auf und wartete. Und wartete. Und dann verschwanden die vertrauten, bescheidenen Zahlen plötzlich, und neue Zahlen blinkten auf. Unglaubliche, erstaunliche Zahlen. Wunderschöne Zahlen. Oliver Barthes starrte seinen Datenblock an wie ein Kind, das vor dem Schaufenster eines Süßigkeitenladens stand. Oh ja, ein neues Leben erwartete ihn, genauso wie die Kolonisten. Ein Leben mit seiner Familie. Ein Leben voller Sicherheit. Ein Leben, in dem das Schicksal von Eden Prime keine Rolle mehr spielte.

Oliver stapfte beinahe beschwingt über den Laufsteg. Dabei nahm er seinen Helm ab und fuhr sich mit der Hand durch sein kurzes braunes Haar. Seine Bartstoppeln juckten; es war Zeit für eine Rasur. Aber er hatte es getan. Er hatte es getan, und wisst ihr was? Es fühlte sich toll an, dass zwanzigtausend Seelen durch die kalte Leere zwischen den Galaxien fliegen und dabei alle einhundert Jahre Freies Radio Barthes hören würden. Er hatte nie geglaubt, dass er irgendwann einmal etwas Besonderes erreichen würde, aber vielleicht war es das hier. Natürlich war es nicht allzu besonders, aber doch ein bisschen. Während er die Hand auf die Bedientafel legte, stellte er sich das Gesicht seiner Mutter vor, wenn er ihr alles erzählte: das Funkeln der Freude, das er noch von früher kannte. Der Aufzug kam, aber die Türen öffneten sich nicht. Oliver verdrehte die Augen und schlug ein paarmal mit der Faust dagegen. Es würde vermutlich nicht mal einen Tag dauern, die Programmierung dieses dummen Dings in Ordnung zu bringen, aber niemand machte sich die Mühe. Er beschloss, sich gleich morgen früh freiwillig dafür zu melden – sozusagen sein Abschiedsgeschenk für die gute, alte Heph. Von mir für euch, Freunde.

Erneut berührte er die Bedientafel, und diesmal glitt die Tür mit einem Ächzen auf. Die Kabine war leer, also trat er ein. Natürlich würde er seiner Mutter nicht sofort die ganze Geschichte erzählen. Erst würde er mit ihnen zur Citadel fliegen, damit sie die grünen Bäume im Präsidium und die Lichter der andockenden Schiffe und die Steaksandwiches bei Apollos genießen konnten. Und dann würde er ihnen das Apartment im Zakara-Bezirk zeigen, dass er bis dahin für sie gekauft hätte. Er konnte die Stimme seiner Mutter fast schon hören, selbst hier, in diesem schmutzigen Aufzug. Oh, Ollie, wie ist das nur möglich? Sie würden so froh sein. Ganz sicher würden sie weinen. Er selbst vermutlich auch. Und dann, wenn sie alle am Esstisch saßen, mit vollen Mägen und voller Pläne für die Zukunft – dann würde er ihnen davon erzählen, dass seinetwegen ein Schiff voller Nichtmenschen sechshundert Jahre lang mit Gutenachtliedern beschallt wurde. Ich frage mich, ob man in der Kryostase wohl träumt? Vielleicht werden wir es eines Tages ja herausfinden. Gemeinsam.

Tech-Spezialist zweiter Klasse Oliver Barthes trat aus dem Aufzug auf den langen Korridor hinaus, der die Hauptsäule der Hephaestus-Station mit den Unterkünften für die Arbeiter verband. Mit schnellen Schritten ging er dahin; er konnte es kaum erwarten, sich schlafen zu legen und seiner Zukunft einen Tag näher zu kommen. Den Zakara-Bezirk und den grünen Bäumen und dem Fett an den schwieligen Fingern seines Vaters, wenn er ein echtes Steaksandwich aß.

Oliver stellte sich noch immer das lachende Gesicht seiner Mutter vor, als eine Gestalt in einem dunkelgrauen Mantel aus einem Seitengang trat und ihm zweimal in den Kopf schoss.

Kurz blickte die Gestalt auf seine Leiche hinab. Sie stieß ihn mit der Fußspitze an, um auf Nummer sicher zu gehen, dann ging sie davon, wobei sie leise ein Schlaflied vor sich hin summte.

Ich und mein Anzug im Sternenmeer

Singen ein Lied, kommen Träume daher …

Die schmutzige, nackte Metalldecke der Hephaestus-Station spiegelte sich dumpf auf der Oberfläche eines deaktivierten Universalwerkzeuges.

Die Kälte des Alls, die stört mich nicht

Und auch nicht die Hitze der Sonnen Licht

Ich hab meinen Anzug, mein Anzug hat mich

Und wir träumen gemeinsam ewiglich …

1. TEIL

KEELAH SI’YAH

1. KAPITEL

Oberflächenrezeptoren

Senna’Nir vas Keelah Si’yah, Leiter des Sleepwalker-Teams, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Senna stöhnte. Eine Woge von Muntermacher-Drogen schwappte durch das System des Quarianers, und der stellvertretende Kommandant versuchte, seine Augen zur Seite zu rollen und die optischen Systeme seines Anzugs zu dämpfen, wie er es immer tat, wenn er verschlafen hatte. Nichts war so wichtig, dass er nicht noch fünf Minuten weiterschlafen konnte, ehe er sich darum kümmerte. Sein Anzug reagierte nicht auf die Anweisung.

Als Senna versuchte, sich aufzusetzen, stieß er erst mit dem Ellbogen und dann mit der Stirnplatte seines Helms gegen hartes Isoglas, dann kippte er zurück auf sein schmales Bett. Stecknadelköpfe aus greller Helligkeit stachen in seine Augen, und einen Moment später loderte der ultraviolett glühende Text mehrerer Anzeigen auf seinem Frontsichtdisplay auf.

Flugstatus: Schiff Keelah Si’yah der Initiative operiert innerhalb der normalen Parameter

Position: 1,26 % hinter dem Reiseplan

Kardiovaskulärer Zustand: Gut

Abweichungen von endokrinen/neurologischen Normen: Innerhalb der standardmäßigen Parameter

Chemische Aktivität: Intravenöse Stimulantien, Injektion zur Steigerung der Muskeldichte, Schmerzmittel #4 (doppelte Dosis)

Status Anzug (ganzheitlich): Alle Systeme funktionieren, keine undichten Stellen

Lagebericht Sleepwalker-Team: Keine neuen Meldungen

Antriebsleistung: Eezo-Konvertierung 0,7 % über erwartetem Effizienzwert

Kurzstreckenscan: Binärer brauner Zwergstern 44N81/44N82 wird in zwei Wochen und zwei Tagen passiert

Kommunikation: Empfänger intakt, Signal klar, Download des Relais-Kommunikationspakets ohne Informationsverlust abgeschlossen; nächster geplanter Download in neunzehn Monaten und sechzehn Tagen

Selbstdiagnose der virtuellen Intelligenz des Schiffes: Alle Systeme bei optimaler Leistung

Außerdem war da ein hilfreiches Diagramm, das ihm anzeigte, in welchem Maß seine Knochendichte abgenommen hatte (4 %) und mit welchen Substanzen er diesem Effekt entgegenwirken konnte. Und da war eine ungelesene Nachricht von seiner Großmutter, Liat’Nir vas Achaz, die in der Ecke seines Blickfelds blinkte; Liat hatte sie vor ihrem Abflug aufgezeichnet, aber so programmiert, dass sie ihm erst nach seinem Erwachen übermittelt wurde. Kleine Details wie dieses waren es, die eine Familie ausmachten.

Nach seiner Ankunft …

Dann mussten sie angekommen sein. Hier. In ihrer neuen Heimat.

Senna’Nirs Herz schlug ein wenig schneller, wie immer, wenn er an seine Großmutter dachte, und so auch jetzt, als ihn die altbekannte Sorge um ihr Wohl überkam – eine Sorge, die ihn seit seiner Kindheit begleitete. Sie war so klein und zerbrechlich. Andererseits: Waren sie das nicht alle? Er atmete durch und saugte die übersättigte Luft seines Anzugs tief in die Lungen. Liat ging es gut. Sie lag gemeinsam mit all den anderen Quarianern im Kälteschlaf. Ihr konnte nichts geschehen. Senna formte mit seinem Sprechapparat den lautlosen Befehl, die Nachricht zu archivieren, die vor so langer Zeit an einem so fernen Ort aufgenommen worden war. Das konnte warten. Er war froh, dass er seine Großmutter mit in die Andromeda-Galaxie genommen hatte, aber er war noch nicht wach genug, um ihre Stimme zu hören. Sie war so … durchdringend.

Alles ist gut, dachte er. Ein kräftiger Wind und eine starke Strömung tragen das Schiff über die See. Verschwommen sah Senna seinen Atem als Wolke vor seinem Gesicht. Gut. Jetzt leg dich wieder hin. Schlaf mit Wärme und Wohlempfinden ein und erwache in Kälte und Unbehagen. Er blinzelte den Ansturm interstellarer und anatomischer Informationen fort und sank zurück. Ein paar Minuten mehr würden niemandem schaden. Der schwierige Teil lag bereits hinter ihnen, und sie würden schon bald an die Nexus andocken, sofern sie es nicht bereits getan hatten. Und sobald der Captain das Kommando gab, die Luftschleusen zu öffnen und das wundervolle Zischen frischer, hereinströmender Atmosphäre erklang, wäre seine Aufgabe endlich beendet.

Da meldete sich erneut diese förmliche, geschlechtslose Stimme zu Wort:

Es tut mir leid, Teamleiter Senna’Nir vas Keelah Si’yah, aber ich kann nicht erlauben, dass Sie Ihre sensorische Wahrnehmung wieder herunterfahren. Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

„Hmpf“, brummte Sleepwalker-Anführer Senna’Nir vas Keelah Si’yah, als helles weißes Licht in seine Kryokapsel flutete. „Nein! Was? Du hast doch gesagt, alles ist in Ordnung!“

Drell-Sleepwalker Anax Therion, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Anax wachte ruckartig auf, und ihre durchsichtigen, reptilischen Nickhäute klappten mehrmals über ihren großen, schwarzen Augen auf und zu. In Sekundenschnelle hatten sich ihre Gedanken aus dem narkotischen Dunst befreit, der ihren Körper erfüllte, und sie erfasste die Situation mit völliger Klarheit. Das war einer der Vorteile, wenn man niemals den Luxus gehabt hatte, einfach auszuschlafen. Anax blickte zu der Notiz hoch, die ein paar Zentimeter über ihrer Nase in ihrer eigenen Handschrift auf dem Display glühte:

Hallo, Anax! Du bist in einer Kryokapsel auf dem quarianischen Schiff Keelah Si’yah, unterwegs in die Andromeda-Galaxie. Du bist einunddreißig Jahre alt, 1,84 Meter groß, 77,1 Kilo schwer und Linkshänder. Du bist ein Mitglied von Sleepwalker-Team Blau-7. Dein Lieblingsessen sind Ataulfo-Mangos, die auf der Heimatwelt der Menschen wachsen. Der letzte Film, der dir gefallen hat, war Blasto 8: Die Qualle sticht immer zweimal zu. Denk an diese Dinge. Erinnere dich daran, bis du fühlst, dass sie wahr sind. Die gute Nachricht: Du bist nicht tot! Die Stimme in deinem Ohr gehört dem Computer des Schiffes. Alle nennen ihn K, wegen Keelah Si’yah, aber er ist keine echte Person, nicht mal eine echte virtuelle Intelligenz, du musst dich also nicht mit Nettigkeiten aufhalten, wenn du mit ihm sprichst. Beschimpf ihn, falls du möchtest. Beleidige seine Mutter. Er wird dich morgen früh trotzdem pünktlich wecken. Dein vergangenes Ich hat dir diese Nachricht geschrieben, um uns beiden zwei Stunden und zweiunddreißig Komma fünf Minuten Desorientierung und Identitätsverwirrung zu ersparen. Du musst dich nicht bedanken. Ich wünsche dir einen fröhlichen Reisetag 219 706. Willkommen in der Andromeda-Galaxie!

Anax Therions Blick wanderte zu der Zeit/Datums-Anzeige links unter der Nachricht. Da stand: 02:00 Uhr, Reisetag 207 133.

„Ich bin wach, K“, sagte sie. „Sind wir früher angekommen als geplant?“

Nein, System-Analytikerin Anax Therion. Unsere gegenwärtige Position ist 110 804,77 Lichtjahre vom Zielort entfernt. Vorausgesetzt, wir behalten Geschwindigkeit und Kurs bei, beträgt die geschätzte Zeit bis zur Ankunft dreißig Jahre, fünf Monate, zwölf Tage, sechzehn Stunden und vier Minuten.

Anax streckte ihre langen, oliv-schwarzen Finger und faltete sie über ihrer Brust. „Warum wurde ich dann geweckt?“

Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

Die Drell atmete tief ein und schmeckte einen schalen, medizinischen, silbrigen Geschmack in ihrem Mund. Anschließend zupfte sie mit den Fingern an ihren orangefarbenen Wangenrillen – das Äquivalent eines Menschen, der sich ohrfeigte, um wach zu werden. In Gedanken versuchte sie, die vorhandenen Informationen in der richtigen Konstellation anzuordnen, und selbst halb aufgetaut war ihr Gehirn schneller als das der meisten anderen. Schneller – und pessimistischer.

„Wie tief stecken wir in der Scheiße, K?“, seufzte sie.

Elcor-Sleepwalker Yorrik, Ihre Anwesenheit ist erforderlich.

In einem Gebilde auf Deck 8 sprang die bläuliche Innenbeleuchtung an. Man konnte es nicht wirklich eine Kryokapsel nennen; Kapseln waren klein, ergonomisch, modular. Das hier war eher eine Kryogarage, und gemeinsam mit Tausenden anderen – 3311, um genau zu sein – stand sie in einem umfunktionierten Hangar des Schiffes. Unter den Schichten aus Isoglas, Metall und Frost bewegte sich etwas Gewaltiges, Graues. Es schüttelte seinen Kopf von einer Seite auf die andere, dann sagte es mit nasaler Stimme, die vollkommen flach und monoton klang:

„Mit großer Abneigung: Geh weg!“

Ich kann nicht weggehen, Facharzt Yorrik. Ich bin fest im Speicherkern des Schiffes installiert. Falls Sie mich deinstallieren möchten, geben Sie bitte das Kommandopasswort ein.

Yorrik rammte sein elefantenartiges Vorderbein gegen die Wand seiner riesigen Kryokapsel. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass es eine Kryokapsel war oder dass sein Name Yorrik war, und erst recht erinnerte er sich nicht daran, was ein Speicherkern sein sollte oder was deinstallieren bedeutete – aber es klang großartig. Da war ein Schmerz in seinem Kopf. Zwischen seinem … seinem … Riechknochen und seinem Denkfleisch. Ja, das klang richtig. Yorriks Denkfleisch pulsierte dumpf, als wäre es wütend. Eine Sturmwoge aus Stimulantien brandete auf sein Nervensystem ein, aber sein Stoffwechsel war zu träge und zu alt, um das bereits zu registrieren.

Mit dem Knie aktivierte Yorrik die Verschlussplatte seiner titanischen Schlafkapsel, woraufhin ein lautes Zischen erklang. Anschließend versuchte die riesige Kreatur, aus der Kapsel zu steigen, aber sie stolperte über den vorstehenden Rand des Gebildes und landete mit einem lauten Knall auf dem Boden. Nicht, dass irgendjemand es hören konnte. Die anderen Kapseln waren noch immer verschlossen und blinkten friedlich vor sich hin, wie Yorrik benommen feststellte. Seine tiefe, summende Stimme unterbrach das fröhliche Zirpen des Schiffscomputers.

„Mit trockenem Sarkasmus: Und auch dir einen guten Morgen!“

Sleepwalker Yorrik, ich habe die Dosis Ihrer Muntermacher erhöht und außerdem Enzyme zur Stimulation Ihrer sensorischen Wahrnehmung und Antidepressiva hinzugefügt. Außerdem habe ich Ihren Stoffwechsel beschleunigt, wofür ich mich im Voraus entschuldige. Das wird eine höchst unangenehme Erfahrung für Sie, aber leider ist es notwendig. Die normale Aufwachphase eines Elcor dauert zu lange, und die aktuelle Situation erlaubt keinen Aufschub. Ihre medizinischen Kenntnisse werden benötigt. Bitte melden Sie sich umgehend in der Radialsektion. Ihre medizinischen Fähigkeiten werden benötigt. Bitte melden …

Yorrik stöhnte, ein lautes Geräusch wie von einer Posaune. Sein Denkfleisch wollte nichts sehnlicher, als etwas zu zertrampeln, vorzugsweise diese verfluchte Stimme. Aber sein Riechknochen war bereits in Aktion, und als er das Gesicht zusammenzog und schnüffelte, brandete eine Woge von Informationen auf ihn ein: abgestandene Luft, antibakterieller Dunst, tauender Frost. Sofort fühlte er sich wacher, ruhiger, mehr als Herr der Lage. Plastahl, säuerlich und herb. Sein eigener Schweiß, heiß und sauer. Der Duft des tiefen Raums, wie ein kalter Wald, erfüllt vom bitteren Rauch von einhundert Millionen Lagerfeuern draußen in der Dunkelheit. Aber unter alldem war noch etwas anderes. Etwas weit Entferntes; nicht auf diesem Deck oder dem darüber, aber an Bord. Etwas Süßes und Fleischiges und Geschwollenes, wie Milch, kurz bevor sie schlecht wurde.

Tod.