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Wenn du dich nicht mehr schuldig fühlst,

der zu sein, der du bist,

fällt es dir leichter,

der zu werden, der du sein könntest

Vorwort

Die neue Leichtigkeit des Seins

Wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelassenes Selbst. Dies ist der Schlüssel zu einer alternativen Sicht der Welt, die uns zu entspannteren, humorvolleren, mutigeren Menschen machen kann. Sie löst nicht alle Probleme, mit denen wir uns herumschlagen müssen. Aber sie verhilft uns zu einer neuen Leichtigkeit des Seins, die uns die Kraft gibt, leichter zu ertragen, was wir nicht verändern können, und effektiver zu verändern, was wir nicht ertragen müssen.

Ich habe diese »neue Leichtigkeit des Seins« bereits vor einem Jahrzehnt in meinem Buch Jenseits von Gut und Böse geschildert[1]. Seither haben mir erstaunlich viele Menschen berichtet, das Buch habe ihr Leben verändert. Gut erinnere ich mich zum Beispiel an den Brief einer Leserin, die fast dreißig Jahre lang den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatte und der es nach der Lektüre endlich gelungen war, sich wieder mit ihnen zu versöhnen.

Seit 2009 sind Leserinnen und Leser mit der Bitte an mich herangetreten, die Grundaussagen von Jenseits von Gut und Böse noch einmal in einer »einfacheren, kompakteren Form« darzustellen. Nun, zehn Jahre nach der Entstehung des Buches, scheint mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, um diesem Wunsch zu entsprechen.[2] Mut macht mir dabei, dass selbst Arthur Schopenhauer, der alte Griesgram der Philosophie, sich dazu überwinden konnte, seine Überlegungen zur Welt als Wille und Vorstellung auf allgemein verständliche Aphorismen zur Lebensweisheit herunterzubrechen.[3]

Das vorliegende Buch greift auf vieles zurück, was ich in den letzten 25 Jahren geschrieben habe.[4] Und doch unterscheidet es sich grundlegend von meinen anderen Büchern. Denn es behandelt ausschließlich Themen, die uns als Individuen unmittelbar betreffen, die für unser Sosein als Menschen von Bedeutung sind. Aus ebendiesem Grund ist dieses Buch auch in Dialogform geschrieben – in Gestalt einer direkten Kommunikation zwischen mir, dem Autor, und dir, der Leserin oder dem Leser.

Ich bitte, dieses »Du« nicht falsch zu verstehen. Es geht mir nicht ums »Kampfduzen«, nicht um eine manipulative Anbiederung an meine Leserinnen und Leser. Das »Du« soll vielmehr helfen, die vornehme, aber wenig hilfreiche Distanz zwischen Autor und Leserschaft zu überwinden. Diese Distanz führt nämlich dazu, dass wir die Aussagen eines Textes oft nur rational verstehen, nicht aber emotional begreifen.

Doch genau darum soll es in dem vorliegenden Buch gehen: Es will nicht bloß Wissen vermitteln, sondern dich dazu ermuntern, dieses Wissen auf deinen Alltag anzuwenden, deine innere Wahrnehmung und gegebenenfalls auch dein Verhalten zu verändern. Dazu ist es erforderlich, dass wir die Mauern einreißen, die wir gewöhnlich um unser »ach so empfindliches Selbst« errichten. Denn erst unter dieser Voraussetzung werden wir das Menschlich-Allzumenschliche entdecken, das dich mit mir und allen anderen verbindet.

»Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd«, lautete ein geflügeltes Wort der Antike.[5] So sehr wir Menschen uns in unseren Eigenschaften auch unterscheiden mögen, letztlich verbindet uns untereinander sehr viel mehr, als uns trennt. Daher glaube ich, dass die Einsichten, die mir geholfen haben, eine entspanntere, gelassenere und humorvollere Haltung zur Welt zu entwickeln, möglicherweise auch dir helfen könnten, die »neue Leichtigkeit des Seins« zu erfahren.

Dabei hat dieses Buch nichts, aber auch rein gar nichts, mit esoterischen Heilslehren zu tun! Im Gegenteil: Ich werde versuchen, dir eine möglichst klare, rationale Sicht der Dinge zu vermitteln. Wenn du dich darauf einlassen kannst, wirst du schon bald eine Lebenshaltung entwickeln, die der große Physiker und Menschenfreund Albert Einstein (wie wir im Verlauf des Buches noch sehen werden) als eine »unerschöpfliche Quelle der Toleranz« begriffen hat, welche ihm »beim Erleiden der Härten des Lebens immer ein Trost gewesen« ist – nicht zuletzt auch deshalb, weil sie »besonders dem Humor sein Recht lässt«.[6]

Ich bin überzeugt, dass man kein »Überflieger« wie Einstein sein muss, um zu dieser besonderen Lebensauffassung zu gelangen. Wir alle könnten die Welt so heiter und gelassen sehen wie er, wenn wir nur dazu bereit wären, uns selbst und den anderen nichts mehr vorzumachen. Ich weiß, dass dies einige Überwindung kostet und dass viele Menschen große Angst davor haben, ihre Illusionen aufzugeben – aber falls du dazu bereit bist, wird dieses Buch dir vielleicht helfen können, dich selbst nicht mehr gar so ernst zu nehmen und die Welt, die dich umgibt, in einer realistischeren, entspannteren, humorvolleren Weise zu betrachten.

Lektion 1

Die Lotterie des Lebens

Kannst du dich an den Moment erinnern, in dem du dich das erste Mal bewusst geschämt hast? Hat man dich gescholten als »böser Junge« oder »böses Mädchen«? Haben die anderen im Vergleich zu dir besser abgeschnitten? Waren sie schöner, klüger, sportlicher, erfolgreicher als du?

Scham ist eine Form des Zorns, die sich nach innen richtet. Sie kann dich zu größeren Leistungen motivieren, aber auch das glatte Gegenteil bewirken. Denn das peinigende Gefühl der Scham führt dazu, dass viele von uns vorschnell resignieren. Die Angst vor dem Versagen, vor der Blamage, kann einen so sehr hemmen, dass man ein Leben führt, das weit unter den eigenen Möglichkeiten bleibt.

Dies gilt allerdings auch für die Kehrseite der Scham, den Stolz. Um das Hochgefühl des Stolzes zu erleben, nehmen wir große Anstrengungen in Kauf, wir feilen an unseren Fähigkeiten und optimieren unsere Talente. Tragischerweise aber macht uns der Stolz blind für unsere eigenen Fehler, die wir unter dieser Voraussetzung nicht korrigieren können. Und so leben nicht nur besonders schamhafte, sondern auch besonders stolze Menschen häufig unter ihren Möglichkeiten. Warum auch sollten sie sich um Verbesserung bemühen, wenn sie sich ohnehin für etwas »Besseres« halten?

Oft verbirgt sich hinter ausgeprägtem Stolz ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl. Hochmütige Menschen meinen gerade deshalb, etwas Besonderes zu sein, weil sie die beschämende Wahrheit nicht ertragen können, dass sie nichts Besonderes sind. Tief in ihrem Inneren spüren sie zwar, dass sie keineswegs so »großartig« sind, wie sie sich nach außen darstellen. Doch diese Erkenntnis ist so schmerzhaft, dass sie sie schnell wieder verdrängen.

In der christlichen Tradition galt der Stolz als die erste der sieben Todsünden, gewissermaßen als Wurzel allen Übels.[1] Und auch in der antiken Philosophie hatte er keinen guten Ruf. Im Unterschied zu den christlichen Theologen störte es die griechischen und römischen Philosophen allerdings nicht, dass unser Hochmut eine Beleidigung »des Schöpfers« sein könnte. Sie sahen im Stolz bloß eine schlechte Strategie, das Leben in den Griff zu bekommen. Warum? Ganz einfach: Weil alles, worauf wir uns irgendetwas einbilden könnten, über kurz oder lang verschwunden sein wird, weshalb wir uns beim besten Willen nicht daran klammern sollten.[2] Hochmut kommt vor dem Fall.

Wer wollte dies auch bestreiten? Tatsächlich sind alle Eigenschaften, auf die wir in unserem Leben stolz sein könnten, nur von kurzer Dauer. Schönheit beispielsweise ist ebenso vergänglich wie Sportlichkeit oder intellektuelle Brillanz. Und genau hier liegt das Problem, denn: Je stolzer du auf die Qualitäten bist, über die du heute verfügst, desto größer wird deine Scham sein, wenn sie dir verloren gehen.

Aber nicht nur deshalb zeugt Hochmut nicht gerade von Lebensweisheit. Die siamesischen Zwillinge Stolz und Scham sind auch bestens geeignet, unser Verhältnis zu den Mitmenschen zu vergiften. Warum? Weil Scham sehr schnell Neid gebiert und Stolz Überheblichkeit. Wir sind eifersüchtig auf diejenigen, die schöner, klüger, erfolgreicher sind als wir, und strafen jene mit Verachtung, die es im Leben nicht so weit gebracht haben wie wir selbst mit unserem »ach so grandiosen Ich«.

Dies führt zu schweren sozialen Verwerfungen und öffentlichen Demütigungen. Es zwingt uns dazu, an einem unaufhörlichen Überbietungswettbewerb teilzunehmen, bei dem man stets auf der Hut sein muss, nicht selbst zum Opfer von Neid und Missgunst zu werden. Ein kluges Rezept für ein gutes Leben ist dies zweifellos nicht. Und doch haben all die gut gemeinten Ratschläge, all die eindringlichen Warnungen vor der »Todsünde des Stolzes« über die Jahrhunderte hinweg nur wenig ausrichten können. Noch immer sind wir hin- und hergeworfen zwischen grenzenloser Selbstüberschätzung und maßloser Selbstzerknirschung. Woran liegt das?

Man könnte hier ein biologisches Argument anführen und darauf hinweisen, dass die Natur uns zu solchen »Überbietungswettbewerben« anstachelt, da wir untereinander um Ressourcen und Liebespartner(innen) konkurrieren müssen. Allerdings übersieht dieses Argument, dass die Evolution nicht nur Konkurrenzdenken, sondern auch Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, ja sogar Opferbereitschaft hervorgebracht hat.[3] Zudem wissen wir, dass einige Menschen, deren Leistungen wir besonders bewundern, im persönlichen Umgang keinerlei Überheblichkeit zeigten, sondern äußerst bescheiden aufgetreten sind.[4] An ihren Genen allein wird dies mit Sicherheit nicht gelegen haben.[5]

Man könnte an dieser Stelle auch ein soziologisches Argument bemühen und aufzeigen, dass uns das »kapitalistische System« in besonderer Weise dazu drängt, in einen Konkurrenzwettbewerb mit anderen zu treten und unsere eigenen Qualitäten auf dem Markt anzupreisen.[6] Auch das ist richtig, übersieht aber, dass Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen Neid und Missgunst zeigten – und dass einige unserer heutigen Zeitgenossen diese zweifelhaften Eigenschaften trotz des bestehenden Wirtschaftssystems nicht an den Tag legen.

Ich bin überzeugt, dass es einen sehr viel tiefer liegenden Grund dafür gibt, warum die wohlmeinenden Ratschläge der Philosophen und Theologen nur selten auf fruchtbaren Boden gefallen sind (und warum viele von ihnen diese Ratschläge im eigenen Leben kaum befolgen konnten). Denn wir stehen hier nicht zuletzt vor einer existenziellen Frage, nämlich der Frage danach, wie wir uns selbst als Menschen verstehen und wie wir uns als bewusstseinsfähige Wesen in dieser Welt verorten.

Der Kern des Problems besteht darin, dass wir das Wechselspiel von Überheblichkeit und Demütigung so lange nicht überwinden werden, solange wir an den althergebrachten Überzeugungen festhalten, welche besagen, dass wir zu Recht stolz auf eigene Leistungen sein können, und uns zu Recht dafür schämen müssten, wenn wir diese Leistungen nicht erbringen.

Genau hier liegt aber ein fundamentaler Denkfehler – und wenn du ihn als solchen erkennst, bist du schon ein gutes Stück weiter auf dem Weg zu größerer Gelassenheit. Denn wir erleben die Gefühle von Stolz und Scham nur deshalb, weil wir die Gründe für unseren Erfolg oder Misserfolg uns selbst zuschreiben. Doch diese Zuschreibung beruht auf einer Illusion. Je genauer wir nämlich hinschauen, desto klarer erkennen wir, dass die Ursachen für unsere Siege und Niederlagen, für unsere Qualitäten und Mängel, keineswegs in unserem »grandiosen« oder »kläglichen« Selbst zu finden sind, sondern in einem chaotischen Netzwerk von Milliarden und Abermilliarden Faktoren, über die wir keine Kontrolle hatten.

Wenn man diese kausalen Zusammenhänge in ihrer Tiefendimension begreift (wie es Albert Einstein getan hat, siehe die Lektionen 3, 4 und 6), so nimmt dies viel von der Dramatik, die wir gemeinhin erleben, wenn wir an einer Aufgabe scheitern. Mehr noch: Es gibt unserem seltsamen Verhalten, bei positiven Erlebnissen mit stolzgeschwellter Brust durch die Welt zu marschieren und bei negativen schamhaft in uns zusammenzusacken, eine geradezu komische Note. (Die Einsteinsche Sichtweise führt, wir erinnern uns, zu einer Lebensauffassung, die »auch besonders dem Humor sein Recht lässt«.)

Schauen wir uns dies an einem einfachen Beispiel an: Viele Menschen sind stolz auf ihr gutes Aussehen, bilden sich also etwas darauf ein, in puncto Schönheit besser abzuschneiden als andere. Nun wissen wir aber, dass Schönheit über weite Strecken nichts weiter ist als das Produkt der zufälligen Kombination von Erbmerkmalen beim Verschmelzen einer Samenzelle mit einer Eizelle. Gutes Aussehen geht also maßgeblich auf ein Ereignis zurück, das zu einem Zeitpunkt stattgefunden hat, als das »stolze Ich« längst noch nicht existierte. Macht man sich dies bewusst, wird klar, dass Stolz auf die eigene Schönheit vor allem eines ist: lächerlich. Da niemand etwas dafür kann, welche Erbinformationen bei seiner Entstehung zufällig aufeinandertrafen, ist es einfach grotesk, sich irgendetwas auf das eigene Aussehen einzubilden.

Das gilt allerdings auch für andere hochgeschätzte Merkmale, etwa für unsere Intelligenz: Auch die Fähigkeit zu intellektuellen Leistungen ist zu einem großen Teil von der zufälligen Mischung von Erbmerkmalen abhängig. Manche Menschen können sich anstrengen, so viel sie wollen, schwierige Zusammenhänge werden sie nie verstehen. Anderen hingegen fällt das Lösen komplexester Gleichungen in den Schoß. Doch wie könnten sie darauf »stolz« sein?! Schließlich gab es ihr Ich noch nicht, als die Voraussetzungen für ihre Fähigkeiten gelegt wurden. Und das bringt mich zu einer etwas paradox klingenden Schlussfolgerung: Wer tatsächlich meint, sich etwas auf seine Klugheit einbilden zu müssen, zeigt damit nur, dass er so klug gar nicht ist. Stolz auf Intelligenz ist kein Zeichen von Intelligenz.

Um nicht missverstanden zu werden: Ich behaupte keineswegs, dass wir bloß »Marionetten unserer Gene« sind. Wer wir sind und was wir können, ist selbstverständlich nicht allein unseren Erbanlagen geschuldet, sondern auch den Erfahrungen, die wir in unserem Leben gemacht haben. Doch auch diese haben wir uns nicht freiwillig ausgesucht. Wir hatten keine Kontrolle darüber, in welche Zeit, in welche Kultur, in welche Gesellschaft, in welches Milieu oder in welche Familie wir hineingeboren wurden. Wir hatten keinen Einfluss darauf, ob man uns als Kinder gefördert oder vernachlässigt, ob man uns als eigenständige Wesen respektiert oder zu Befehlsempfängern degradiert, ob man unsere Neugier genährt oder durch Denkverbote abgetötet hat.

Worauf ich hinauswill: Wir sollten begreifen, dass jeder von uns nur der sein kann, der er aufgrund seiner Anlagen und Erfahrungen sein muss. Auch du hattest in dieser Hinsicht keine Wahl. Es mag zwar sein, dass du über dein Leben heute in hohem Maße selbst bestimmen kannst, aber das ändert nichts daran, dass dein Selbst in hohem Maße von Faktoren bestimmt wurde, über die du nicht bestimmen konntest.

Vielleicht widerstrebt dir diese Perspektive. Du könntest einwenden, dass es doch viele Menschen gegeben habe, die trotz widrigster Ausgangsbedingungen ihren Weg gegangen sind. Was im Leben zähle, so könntest du sagen, sei doch nicht, ob man mit besonderen Talenten oder mit einem »goldenen Löffel im Mund« geboren wurde, sondern ob man bereit ist, hart genug an sich zu arbeiten, um die Ziele zu erreichen, die man sich gesetzt hat.

Dem will ich gar nicht widersprechen. Tatsächlich kommt es im Leben weniger darauf an, mit welchen Anlagen man geboren wurde, als darauf, was man aus ihnen macht. Und es ist auch überhaupt nicht zu bezweifeln, dass besondere Leistungen nicht nur eines besonderen Talents bedürfen, sondern vor allem auch eines besonderen Trainings, eines besonderen Fleißes und einer besonderen Ausdauer. Ohne einen solchen Fleiß und ohne eine solche Ausdauer hätte es Thomas Edison, der aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und nur wenige Wochen Schulbildung genießen konnte, mit Sicherheit nicht geschafft, zu einem der erfolgreichsten Erfinder der Menschheitsgeschichte zu werden. Edison war sich dessen voll bewusst: »Genialität«, so sagte er einmal, »ist ein Prozent Inspiration und 99 Prozent Transpiration«.[7] Ohne Schweiß kein Preis.

Allerdings dürfen wir in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass auch Leistungsbereitschaft, Selbstdisziplin und Frustrationstoleranz nicht »vom Himmel fallen«, sondern – wie unsere anderen Eigenschaften auch – auf Milliarden und Abermilliarden von Faktoren zurückzuführen sind, die wir uns nicht ausgesucht haben. Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die genetischen Informationen in unseren Zellen, der Hormonspiegel unserer Mutter während der Schwangerschaft, das Einkommen, der Bildungsstand, die psychische Gesundheit unserer Eltern, sondern auch die vielen kleineren und größeren Zufälle unserer Lebensgeschichte: die Menschen, denen wir begegnet sind, die Texte, die wir gelesen, die Filme, die wir gesehen, die Musik, die wir gehört haben, und so vieles andere mehr.

Wir machen uns viel zu selten bewusst, wie sehr unsere individuellen Eigenschaften von solchen zufälligen Faktoren bestimmt sind – und wie leicht es hätte anders kommen können: Schon ein kurzer Sauerstoffmangel bei meiner Geburt hätte dafür gesorgt, dass ich keine Bücher schreiben, sondern Kugelschreiber in einer Behindertenwerkstatt zusammenschrauben würde. Eine andere Familie oder ein anderer Freundeskreis hätten womöglich schon genügt – und ich würde heute nicht auf Vortragsreisen gehen, sondern eine langjährige Haftstrafe als Mörder verbüßen.

Fakt ist: Mit anderen Anlagen und anderen Erfahrungen wären wir andere Menschen mit anderen Eigenschaften. Wenn du also in deiner persönlichen Lebensbilanz zu einem positiven Ergebnis kommst, wenn du über Eigenschaften verfügst, die andere an dir wertschätzen, so hast du allen Grund dazu, dich darüber zu freuen. Aber bilde dir bitte nichts darauf ein! Sei vielmehr dankbar für die unüberschaubare Kette von Faktoren, die dich in deine jetzige, komfortable Lage gebracht haben – statt ins Gefängnis, die Psychiatrie oder in eines der vielen Elendsquartiere dieser Welt.

Wie sehr man dich auch dafür loben mag, der zu sein, der du bist und das zu können, was du kannst, hebe nicht ab, sei bescheiden! Denn letztlich bleibt es dabei: Das Leben ist ein Glücksspiel, eine Lotterie, bei der einige von uns ein Traumlos ziehen, während es andere übel trifft. Wer sich darauf etwas einbildet, hat nur wenig vom Leben begriffen.

Lektion 2

Ein virtuelles Theaterstück