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PUR.

Popstar.

Poet.

 

Hartmut Engler

von Nadja Otterbach

 

 

 

 

 

 

kurz & bündig verlag | Frankfurt a. M. | Basel

Zum Buch

Hartmut Engler

Zehn Millionen Menschen haben seine Konzerte gesehen und Hartmut Engler findet: The show must go on! Auch nach fast vier Jahrzehnten auf der Bühne füllt der Frontman der Band PUR mühelos die großen Hallen. Wer ist dieser Mann, der mit seinen nachdenklichen, gefühlvollen Texten die Menschen mitten ins Herz trifft? Dieses Buch beschreibt nicht nur die Erfolgsgeschichte des Sängers – Hartmut Engler spricht offen darüber, was ihn bewegt, und auch enge Freunde kommen zu Wort.

Zur Autorin: Nadja Otterbach

Nadja Otterbach lebte 15 Jahre in derselben Kleinstadt wie Hartmut Engler. Für dieses Buch traf sie den Popstar in Bietigheim, auf dem Feldberg und backstage beim Konzert. Nadja Otterbach war 20 Jahre Zeitungsredakteurin und arbeitet heute als freie Journalistin in Stuttgart.

1.
Warum Hartmut manchmal mit seinen Fans auf Reisen geht

Hartmut Engler ist oben. Musikalisch sowieso. An diesem Herbsttag aber geht es um etwas anderes. Um Fans und Nähe und, ja, auch um Träume. Hartmut Engler steht auf dem Feldberg, dem höchsten aller Hügel in seinem Heimatland Baden-Württemberg. Die Mittagssonne thront senkrecht über ihm und strahlt, als ginge es sie nichts an, dass es schon Mitte September ist. Es dauert nicht lange, da schält sich Hartmut Engler aus seiner schwarzen gefütterten Jacke und freut sich über den unerwarteten Sonnenschein. Er, der Ausnahmemusiker, dessen Stimme man schon nach dem ersten Ton zweifelsfrei identifizieren kann, steht in fast 1440 Meter Höhe vor einem Panorama, das so schön ist wie ein Gemälde und nach Urlaub aussieht. Nach Seele baumeln und sich fallen lassen. Die 250 Fans, die mit Hartmut im Hochschwarzwald sind, lassen sich fallen. Manche in seine Arme, um ein Selfie zu schießen, andere auf eine der Bänke, die dazu einladen, den Blick in die Ferne zu richten und ausnahmsweise mal nichts zu tun, außer zu atmen.

Es ist die dritte Fanreise, die PUR auf die Beine gestellt haben und die ratzfatz ausverkauft war. Ein Wochen­ende an der klaren Luft. Natur pur. Deftige Schwarzwälder Spezialitäten. Dass Fans ihren Popstars zwei Tage lang so nahe sein können – für viele dürfte sich das anfühlen wie ein Sechser im Lotto. Nach gemeinsamen einwöchigen Strandabenteuern auf Zypern und in der Türkei 2012 bzw. 2015 geht es diesmal zünftig zu. Drei Herren in rot-weiß-karierten Hemden – das Trio Wälderbuebe aus Breitnau – spielen alpenländische Musik, direkt vor dem Bismarck-Denkmal. In Sichtweite rupfen Kühe die letzten getrockneten Grasbüschel aus der Erde – der Hitzesommer 2018 lässt grüßen. Macht nix. Hartmut Engler und seine Kollegen sind schließlich hier. Ein besseres Fotomotiv kann sich ohnehin niemand vorstellen. Alle 30 Sekunden schwebt surrend eine grüne Gondel herbei, aus der eine neue Gruppe gut gelaunter Menschen aussteigt.

Hartmut begrüßt jeden persönlich. Er lächelt in Handy­kameras, und wenn seine Fans ihn ehrfürchtig mit etwas Abstand beäugen, geht er ein paar Schritte auf sie zu und sagt: »Traut euch.« Schlank sieht er aus in seinen Used-Look-Jeans. Und definitiv jünger als der Mittfünfziger, der er ist. Immer wieder wird er gefragt, ob er gerade aus dem Urlaub komme. Das bringt seine Freundin Katrin zum Lachen. Ihr Hartmut sehe immer so aus, sagt sie. Er nehme eben schnell Farbe an, im Gegensatz zu ihr. Hartmut grinst in die immer größer werdende Runde auf dem Plateau unter dem Feldberg-Gipfel, und wenn es ihm zu eng wird, setzt er sich auf eine Bank, allein, und man spürt: Bloß nicht stören. Jetzt ist er ganz bei sich. Dass er diese Auszeiten braucht, wird er später sagen. »Es war ja nicht so, dass ich mich zwischendurch zwei Stunden aufs Hotelzimmer zurückziehen konnte wie bei den Fanreisen zuvor.« Er versuche dann auszustrahlen: Bitte, lasst mich mal kurz in Ruhe. Das funktioniere meistens. »Ich bin nicht per se vierundzwanzig Stunden an sieben Tagen die Woche freundlich. Das ist bei mir nicht in der Veranlagung. Es gibt schon Menschen, die selbst in der Depression noch einen witzigen Spruch auf Lager haben. Ich mache meine schlechte Laune gern mit mir aus. Und ich bin professionell absolut in der Lage, es niemanden merken zu lassen, wenn ich in so einer Phase bin.« Aber ab und zu müsse er sich eben mal rausnehmen und seine Gedanken ordnen. Anders auf der Bühne. »Wenn mir einer nach dem Konzert sagen würde, ich hab heute gemerkt, dass du Sorgen hast, dann hab ich’s ganz schlecht gemacht.« Wenn er krank sei, dann könne er das nicht überspielen. Aber eine innere Befindlichkeit, die wird man bei einem Hartmut Engler auf der Bühne nicht spüren. Und dann kommt ein typischer Hartmut-Satz: »Ich gebe mich den Songs hin. Das ist wie bei einem Schauspieler, der eine Rolle spielt. Ich spiele die Rolle, die mein Leben mir geschrieben hat.« Froh sei er gewesen, das alles so gut hinbekommen zu haben im Südschwarzwald. Erschöpft auch, nach diesen zwei Tagen des Nonstop-Redens – und er redet gern. Unumwunden gibt er zu, einen Autogrammwunsch auch mal abzulehnen, wenn’s zu viel wird. Alle Fans nehmen an diesem Wochenende signierte CDs und Autogrammkarten mit nach Hause. Aber: »Wenn 250 Leute zusätzlich sämtliche private Besitztümer unterschrieben haben wollen, auch die kleinsten Dinge, und das so ein Gefitzel wird, dann denke ich schon mal: Ich dreh durch! Wenn ich unter Strom bin, habe ich meistens keine ruhigen Hände.« Dann lieber ein schnelles Foto.

Es ist ein Treffen auf Augenhöhe. PUR und Fans tuckern gemeinsam mit einem Schiff über den Schluchsee, schieben sich Schwarzwälder Kirschtorte in den Mund, und immer wieder wandern sie an diesem Wochenende. Erst den Feldberg runter, dann am Seeufer entlang. Durch ziemlich schöne Natur unter der ziemlich gut gelaunten Sonne. Das Tempo gemütlich. Die nächste Gaststätte wartet schon. Hartmut führt die Gruppe an. »Ich kam mir vor wie Noah«, wird er sich einen Monat später daran erinnern und dabei laut lachen. »Ich drehe mich um und alle folgen mir. Das fühlt sich an wie: Ich führe das Volk in ein anderes Land. Kommt mit mir ins Abenteuerland.«

Das Abenteuerland ist in diesem Fall eine Premiere in der Fahrzeughalle einer Brauerei. Hier stellt die Band am zweiten Abend ihr neues, mittlerweile sechzehntes Studio-Album vor. »Zwischen den Welten«, das deshalb so heißt, weil Hartmut selbst manchmal nicht glauben kann, in welchen Sphären er sich bewegt. Eben noch auf dem Sofa vor dem Fernseher, am nächsten Tag vor 66000 Fans in der Arena auf Schalke. Dazwischen liegen nun mal Welten. Und nach diesen Sprüngen sanft zu landen, das muss man erst mal schaffen. In Interviews wird Hartmut nicht müde zu erklären, dass es uns allen guttun würde, öfter mal die Perspektive auf die Welt zu verändern, über den Tellerrand zu blicken. Auch dann tolerant und verständnisvoll zu sein, wenn uns etwas fremd erscheint. Auch davon handelt der Titel.

Hunderte Bierkästen stapeln sich in der Halle. Eine Bühne ist aufgebaut, Scheinwerfer leuchten. Die Fans fiebern den neuen Songs entgegen. Man sieht es an ihren Gesichtern. Und daran, dass sie sich keinen Zentimeter von der Bühne wegbewegen. Einige haben das Grillbüfett links liegen lassen, um ganz vorne zu stehen.

Vielleicht ist es für Hartmut wie für frischgebackene Eltern. Die Geburt ist gemeistert, nun gilt es, das Baby dem engsten Kreis vorzustellen. Stolz, glückselig, gespannt. Und wie das beim engsten Kreis so ist, nimmt er das Kind gerne in seine Mitte und freut sich darauf, es endlich beschnuppern zu können. Zwei Monate später bei der großen Arena-Tour werden 14600 Stimmen in Stuttgart jede Textsilbe mitsingen. Was Hartmut in diesem Moment vermutlich noch nicht ahnt. Er ist ein kleines bisschen angespannt heute, was aber nicht an den 250 Fans liegt, die gleich jeden Ton von ihm feiern werden. Das Konzert wird via Livestream übertragen. Es werden also sehr viel mehr Ohren mithören, wenn Hartmut zum ersten Mal die neuen Songs präsentiert. Die Band hat sich kurzfristig dazu entschlossen. »Wenn’s nicht gut wird, dann wirkt das nach und bekommt so eine Wichtigkeit«, glaubt Hartmut. Es beschäftigt ihn.

Er hat noch keinen Ton gesungen, schon knistert die Luft vor Energie. Die Fans kommen ihm zuvor: »Oh, wie ist das schöööön!« Eine Fanhymne, die sie singen, um PUR auf die Bühne zu locken. Und dann sind sie da, die sieben Herren aus Schwaben. Sie werden gefeiert, als wären sie gerade von einer drei Jahre andauernden Survival-Tour zurückgekehrt – ohne Kontakt zur Außenwelt. Stillstehen ist überhaupt keine Option. Zu jedem Song hat Hartmut eine Anekdote parat. Sagt, was es mit den Perspektivwechseln bei »Zwischen den Welten« auf sich hat, dass er Hermann-Hesse-Fan und »Siddhartha« seine Lieblingslektüre sei. Hartmut ist tiefgründig – auch beim Partymachen. Ganz hinten tanzt ausgelassen Katrin, seit zehn Jahren die Frau an seiner Seite. »Du bist mein Fixstern«, singt er gerade vermutlich nur für sie. Dem nächsten Lied »Auf alles, was noch kommt« hat er nur eins hinzuzufügen: »Wir sind hier noch lange nicht fertig!« Er ruft es in die Menge, und es klingt wie ein Versprechen.

Ulli, Helle und Silke sind aus dem Häuschen. Keine Sekunde stehen die Frauen aus Bremen still. 800 Kilometer sind sie gefahren, um das zu erleben. Ihre Männer haben sie zu Hause gelassen. Man trifft beim Fanevent viele, die wie sie jahrzehntelang Fans sind und für die es selbstverständlich ist, das auch bis in alle Ewigkeit zu bleiben. Seit 1995 hören sie die Musik von PUR, obwohl Ulli auch Heavy Metal mag. Einmal habe sie sich überreden lassen, auf ein PUR-Konzert mitzugehen. »Mitgegangen, mitgefangen«, sagt die 54-Jährige grinsend. Helene Fischer, das gehe gar nicht, aber wer einmal bei PUR gewesen sei, der komme wieder. Gar keine Frage. Für Silke, 51, ist es das dreißigste Konzert. Und die zweite Fanreise. »Wann hat man sonst die Möglichkeit, die Band persönlich kennenzulernen?« Was sie an Hartmut schätzt? »Er ist in seinen Liedern emotional, schreibt sich alles von der Seele.«

Heike ist 53 und kommt aus der Nähe von Aschaffenburg. Auch sie war mit Hartmut bereits auf Zypern und in der Türkei und findet: »Er wirkt manchmal verschlossen, aber in seinen Liedern gibt er viel von sich preis.« Auch sie hört seit 30 Jahren PUR. Und schuld daran ist ihre Tochter, die mit fünf Jahren vorm Fernseher saß, als auf dem Bildschirm plötzlich ein Mann mit einer blonden Locke auftauchte. Die Tochter tanzte begeistert durchs Zimmer und rief: »Da will ich hin!« Also fuhr die ganze Familie zur Frankfurter Festhalle. »Geweint vor Glück« ist Heikes Lieblingssong. Sie trägt die Zeilen auf ihrem grünen Fanshirt. Nach 16 Alben weiß sie: »Es ist immer ein Lied dabei, das etwas mit dem eigenen Leben zu tun hat.« Findet auch Birgit, 50, die keinen Geburtstag feiert ohne »Ein graues Haar« und die – das wundert jetzt keinen mehr – ebenfalls seit drei Jahrzehnten Fan ist. »Die stehen mitten im Leben, Hartmut trifft mit seinen Texten den Nagel auf den Kopf.« Während der Wandertour hat sie ihn in ihrem Fotoalbum blättern lassen mit Aufnahmen von der letzten Fanreise. Jedes Bild habe er betrachtet. Und dann das Album unterschrieben.

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»Ich spiele die Rolle,
die mein Leben mir geschrieben hat.«

2.
Warum Hartmut die Beine hochlegt und trotzdem noch lange nicht Schluss ist

Er könnte die Beine hochlegen, dabei ein Bierchen trinken und sich selbst auf die Schulter klopfen. Hartmut Engler müsste nicht mehr arbeiten. Er muss niemandem mehr etwas beweisen. Des Geldes wegen neue Platten aufnehmen? Auch dafür besteht keine Notwendigkeit. Schon lange nicht mehr. Hartmut Engler ist der Sänger einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Popbands aller Zeiten. Seine Karriere mit PUR begann 1975 und dauert bis heute an. In Zahlen klingt das so: über 12 Millionen verkaufte Tonträger, mehr als 20 Platin- und 40 Goldauszeichnungen sowie acht Nummer-Eins-Alben. Die Texte zu sämtlichen Hits stammen aus Englers Feder. Entsprechend viele Preise pflastern seinen Weg. Ein Bambi, fünf Echos, die Goldene Europa, zwei Goldene Kameras, neun Goldene Stimmgabeln und viermal die RSH-Gold dürfen PUR ihr Eigen nennen. Für seine gesellschaftskritischen und nachdenklichen Texte wurde Hartmut 1991 mit dem Fred-Jay-Textpreis belohnt – nach Jule Neigel und Rio Reiser. 2010 überreichte ihm der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus den Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg. Bis heute füllen PUR die großen Hallen, zehn Millionen Menschen haben die Konzerte in fast 40 Jahren Bandgeschichte gesehen. Und die Begeisterung ebbt nicht ab. Allein die Arena-Tour im Dezember 2018 erlebten 150000 Menschen. 200000 werden bei der Open-Air-Tour erwartet, die im Juni 2019 beginnt. Ja, Hartmut Engler müsste nicht mehr. Er liebt es, die Beine hochzulegen und dabei ein Bierchen zu trinken. Auf die Schulter klopft er sich selten. Und aufhören mit dem Plattenmachen? Es gab eine Zeit, da dachte er darüber nach. Da erlaubte er sich zumindest den Gedanken, was die Band wohl machen wird, wenn alle die 60 erreicht haben. Diese Zahl ist plötzlich nicht mehr so weit weg. Im November 2018 ist Hartmut 57 geworden. »Hätte mir mit zwanzig einer gesagt, da geht jetzt gleich ein 57-Jähriger auf die Bühne, hätte ich geantwortet: Die Rentner sollen doch Blasmusik hören.« Er lacht. Und freut sich darüber, dass das Alter heute keine große Rolle mehr spielt. 2014 in der Arena auf Schalke, da stand er mit Otto, Chris de Burgh und Chris Thompson auf der Bühne. »Die waren damals alle 66. Und ich war 53«, erinnert sich Hartmut und sagt: »Zack, plötzlich sind die siebzig!« Und immer noch gut im Geschäft. Für Hartmut ist das völlig okay. Peinlich findet er es, wenn man den Leuten ansieht, dass sie eigentlich lieber die Beine hochlegen würden, aber noch Geld verdienen müssen. »Wenn sie diesen Eindruck erwecken, dann tut’s mir leid. Dann kratzt man selbst an dem schönen Bild, das man hätte hinterlassen können.« Für ihn ist es auch eine Frage der Gene, wie lange jemand im Showbiz glänzen kann. Die Stones zum Beispiel, die findet er faszinierend. »Ja, natürlich könnte man sagen, das Rumzucken dieser skelettartig gebauten Superhelden, das wird langsam peinlich. Andererseits: Was die ihrem Publikum noch bieten!« Dann kommt Hartmut auf Udo Jürgens zu sprechen, »der mit 80 noch wie der Grandseigneur am Klavier saß«, kurz vor seinem Tod. »Hätte man sich den Udo als alten Tattergreis vorstellen können mit 90, immer noch auf der Bühne?«, fragt er sich. »Der hätte nicht aufhören können. Er war ein grandioser Typ!« Hartmut und Udo kannten sich persönlich. In Studentenzeiten hatte Hartmut als Beleuchter für ihn gearbeitet. Später liefen sie sich immer wieder bei Veranstaltungen über den Weg. Als Udo Jürgens seinen Sechzigsten feierte, waren PUR eine der auserwählten Bands, die ihm ein Ständchen sangen. Auch Udo Lindenberg, der mit 72 immer noch die Bühne rockt, findet Hartmut bemerkenswert. »Klar, wenn er trippelt, sieht es so aus, als ob er rennt, weil er so kurze Schritte macht. Aber er wurde immer unterschätzt. Schon mit Mitte 50 hat ihm keiner zugetraut, dass er die 60 überschreiten würde. Ich kann mich an Gerüchte erinnern, da hieß es, er habe einen Herzinfarkt, sei ständig in der Klinik. Es ist schon erstaunlich, wie er heute noch dasteht. Ich sag ja: die Gene.« Auf seine eigenen Gene verlässt sich Hartmut nicht. Lieber macht er Ausdauersport. Anders als sein Vater, der ab dem Rentenalter mit Kreislaufproblemen zu kämpfen hatte. Bei Hartmut zwickt’s mal hier, mal da. Die Hüfte, die Knie. Bei der letzten Tour erwischte es die Bandscheiben. Das nimmt er als nicht beeinflussbaren Verschleiß hin und sorgt dafür, dass er in Form bleibt. Adrenalin hilft mitunter auch. »Was für ein toller Stoff, der bringt einen dazu, Dinge zu tun, zu denen man sonst vielleicht nicht mehr in der Lage wäre. Mit Adrenalin geht alles!« Dass also auch PUR noch jenseits der 60 auf der Bühne stehen werden, scheint realistisch. Im Moment fühle es sich gut an, sagt Hartmut, auch mit Blick auf seine Kollegen. »Unser Ältester, Rudi, macht immer noch einen sehr fitten Eindruck.« Dass man es nicht immer selbst in der Hand hat, weiß Hartmut natürlich. Sein enger Bandkollege und Freund, der PUR-Mitgründer, Keyboarder und Komponist Ingo Reidl, kämpft seit über zwei Jahren gegen den Krebs. Ein Tumor an der Wirbelsäule veränderte sein Leben schlagartig und macht es ihm bis heute unmöglich, lange auf der Bühne zu stehen. Ingo war gerade 55 geworden, als er die Diagnose erhielt. Hartmut war am Boden zerstört, als er davon hörte. 2018 sagte er der Zeitschrift Stern: »Ich habe geheult wie ein Schlosshund.« Ihm sei klar gewesen, dass das nichts war, was man schnell operiert, und alles sei wieder gut. Nun hoffen sie gemeinsam, dass Ingo die Krankheit besiegen und zurück auf die Bühne kommen wird. In ihre Mitte, wo sein Platz ist, immer gewesen ist. »Auch wenn er vielleicht nicht der Belastung einer kompletten Tournee gewachsen sein wird, hoffe ich, dass er dabei sein kann.« Dass PUR zuletzt 2015 einen Echo als erfolgreichste deutsche Band gewonnen haben und 2019 erneut die Goldene Kamera für die »Beste Musik National« entgegennehmen durften, hält Hartmut für ein Zeichen. »Wenn das so weitergeht, gibt’s für uns keinen Grund zu sagen: Die nächste Platte wird die letzte sein.« Mindestens eine wird’s noch geben, das hat er versprochen. Er wird 60 Jahre alt sein, wenn es so weit ist. »Man könnte sagen: Mit 61 spielen wir auf Schalke das Abschiedskonzert.« Er schmunzelt und sieht nicht so aus, als meine er das ernst. »Vielleicht machen wir das Abschiedskonzert und dann drei Jahre nichts. Und dann gucken wir mal, ob das Nichtstun uns zufriedenstellt.«