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Christine Rhömer

Wind aus Südwest 2

Vergeltung





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Impressum

Vorspann

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20. Leseprobe zu „Weißgold-Flügel“

21. Leseprobe aus Abgetaucht im Paradies

22. Christine Rhömer

23. Anhang

 

 

 

 

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und wurden nicht beabsichtigt. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

 

 

Dieser Roman ist die Fortsetzung von

„Wind aus Südwest – Sünde der Väter“

 

 Von Christine Rhömer sind außerdem erschienen:

Weißgold-Flügel (2017)

Abgetaucht im Paradies (2017)

 

 © Christine Rhömer 2018, alle Rechte vorbehalten

 

Kontakt: Christine Rhömer

www.facebook.com/Christine-Rhömer

https://christinerhoemer.blogspot.de

 

Cover: Daniel Engelhardt

Titelfoto: Pixabay

Lektorat/Korrektorat: J. Müller

 

 

 

 

 

Vorspann

 

 

Sein Unterkiefer bereitete ihm noch immer Probleme. Vorsichtig bewegte er ihn hin und her, während er durch das nächtliche Köln cruiste. Die Lichter der Geschäfte und Clubs am Hohenzollernring brachen sich in den Regentropfen auf der Windschutzscheibe und das monotone Geräusch des Motors besänftigte ihn ebenso wie die majestätische Musik, die er eingelegt hatte. Nahezu meditativ glitt er durch die Straßen wie ein Gondoliere über die Kanäle in Venedig, denn es bedurfte keines Nachdenkens. Bremsen, Schalten und Beschleunigen funktionierte intuitiv. Eine absurde Vorstellung angesichts der Mission, in der er unterwegs war. In seiner Jackentasche auf dem Beifahrersitz steckte die Pistole, die er in der Wohnung gefunden hatte. Er war im Umgang mit Schusswaffen nicht geübt, in der Verbindung wurde ausschließlich mit Hiebwaffen gekämpft. Aber der Wolf hatte ihn hin und wieder mit zum Training am Schießstand genommen, sodass er nicht gänzlich unerfahren war. Er hatte gelernt, wie er entsichern, zielen und den Rückstoß auffangen musste.

Es war ihm bewusst, dass nur der blanke Zufall ihn auf diese Weise mit seinem Opfer zusammenführen konnte. Aber was blieb ihm anderes übrig? Ihm zu Hause aufzulauern war auch nicht aussichtsreicher. Wer wusste, ob er sich dort überhaupt aufhielt? Es war sogar anzunehmen, dass er das nicht tat, denn schließlich musste er damit rechnen, dass jemand aus der Verbindung ihm einen Besuch abstatten würde. Er seufzte und seine Gedanken gingen auf Wanderschaft.

Nach einer Zeit, die ihm endlos vorkam, hielt er plötzlich inne und trat auf die Bremse. Manchmal musste man einfach unverschämtes Glück haben. Eine der beiden Gestalten, die vom Stadtgarten aus die Venloer Straße stadtauswärts gingen, war unverkennbar sein Opfer. Er triumphierte innerlich. Natürlich würde er ihn nicht hier auf offener Straße stellen, umgeben von den vielen Nachtschwärmern, die unterwegs ins Belgische Viertel waren. Obwohl es einen ganz eigenen, filmreifen Reiz gehabt hätte, ihn aus dem fahrenden Auto heraus zu erschießen und dann mit quietschenden Reifen davonzurasen. Doch er war kein guter Schütze und die Gefahr, dass sich irgendjemand sein Kennzeichen merkte, zu groß. Und er war eben auch nicht Teil eines Fernsehkrimis, wo so etwas funktionierte. Also folgte er den beiden unauffällig.

Die zwei Gestalten unterhielten sich so angeregt, dass sie von ihrer Umgebung nichts mitbekamen. Unter der Unterführung des Westbahnhofs war es derart dunkel, dass er sie im Getümmel fast aus den Augen verlor. Einen Moment lang befürchtete er, sie würden an der Kreuzung nach rechts abbiegen, weil sie ihren Wagen dort geparkt hatten. Er durfte nicht gegen die Einbahnstraße fahren und das Auto abstellen konnte er hier auf diesem Abschnitt der Venloer Straße erst recht nicht. Aber zu seiner Erleichterung spazierten die beiden weiter geradeaus am Hans-Böckler-Platz vorbei. Mit grimmig-entschlossenem Gesicht folgte er seinem Zielobjekt samt Begleiter in Richtung der dunklen Universitätswiese, wo außer ihnen kein Mensch mehr unterwegs war.

 

 

1

 

 

Sechs Wochen zuvor

 

Der Anruf erreichte Magano Mungbate in New York, als sie auf dem Weg zum John F. Kennedy Airport war. Die Straße glänzte vom Regen und das Gesicht der Stadt spiegelte sich darin wie ein Trugbild. Das Taxi rauschte über die Brooklyn Bridge und sie schaute aus dem Fenster auf den schimmernden East River im Schein der Straßenlaternen. Frustriert drückte sie sich tiefer in den abgewetzten Ledersitz auf der Rückbank. Ihre Delegation, die stellvertretend für die Herero und Nama eine Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland eingereicht hatte, war damit konfrontiert worden, dass die Bundesregierung noch nicht einmal bereit war, die Anklageschrift entgegenzunehmen. So hatte man sie ins Leere laufen lassen. Aber sie war nicht gewillt, sich geschlagen zu geben. Sie würde direkt nach Berlin fliegen und zu den dortigen Vertretern Namibias und einigen Bundestagsabgeordneten, die ihrem Anliegen positiv gegenüberstanden, Kontakt aufnehmen.

Es musste etwas Außergewöhnliches passiert sein, wenn die Dorfälteste von Okahandja sich persönlich die Mühe machte, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und sie auf dem Handy anzurufen.

„Du musst nach Deutschland reisen“, erklärte sie Magano ohne Umschweife auf Otjiherero.

„Ich bin bereits auf dem Weg dorthin“, erwiderte diese gelassen.

„Vergiss die Anzugträger im Parlament“, entgegnete die Ondangere, „es ist etwas Merkwürdiges passiert.“

„Was denn?“

„Carina hat mir ein Paket mit einem Brief geschickt. In dem Schreiben steht, dass sie den Gürtel von Chief Gabriel gefunden hat und mir nun zuschickt, um ihn unserem Stamm zurückzugeben. Aber in dem Päckchen war kein Gürtel, nur der Brief.“

„Aha.“ Magano versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was die Ondangere ihr da mitteilte. „Vielleicht kommt der Gürtel mit einem anderen Paket.“

„Warum sollte sie einen Brief in einem leeren Päckchen schicken?“

„Keine Ahnung..., um eine falsche Fährte zu legen?“

„An dem Paket ist herumgepfuscht worden. Das sieht man.“

Magano wurde hellhörig.

„Außerdem hat Carina geschrieben, dass ihr in Deutschland schlimme Sachen passiert sind.“

Magano blieb einen Moment lang das Herz stehen. „Hat sie das näher ausgeführt?“

„Nein. Kümmere dich bitte um das Mädchen. Ich mache mir Sorgen um sie.“

„Okay, tue ich. Wo finde ich sie?“

Die Ondangere buchstabierte ihr die Kölner Adresse, die auf dem Paket stand.

„Und Magano?“

„Ja?“

„Bring uns endlich den Gürtel nach Hause, wenn sie ihn hat.“

„Mache ich.“

„Gute Reise. Mögen die Ahnen über dich wachen!“

Nachdenklich sah Magano durch die Wasserperlen auf dem Fenster zu den spärlicher werdenden Häusern. Parkanlagen säumten rechts und links den Expressway, um dann doch wieder im Großstadtbrei zu münden. Gerade eben noch waren ihre Gedanken von der Verärgerung über das ignorante Verhalten der deutschen Bundesregierung beherrscht, nun war sie erfüllt von Sorge um ihre Nichte. Möglicherweise benötigte diese den Schutz der Ahnen mehr als sie selbst. Magano hatte es von Anfang an missbilligt, dass die Ondangere Carina ständig die alten Geschichten erzählte und sie abrichtete wie einen Kindersoldaten ohne Waffe. Wo sollte das enden, wenn man einem jungen Menschen einbläute, dass ein Teil seiner Vorfahren großes Unrecht begangen hatte? Man erreichte damit, dass das Kind sich als mitschuldig empfand und den entsprechenden Erbanteil in sich verachtete. Und dass es diesen bekämpfen wollte, um sich frei von Schuld fühlen zu können. Man säte Hass, wo vorher keiner gewesen war, davon war Magano überzeugt. Aber man widersprach der Ondangere nicht. Niemals. Weil sie die Dorfälteste war, die das Feuer hütete, an dem sich die Ahnen versammelten. Was mochte dem Mädchen passiert sein?

Magano fühlte sich Carina verbunden, denn sie war die Tochter ihrer Halbschwester Mhabate. Auch wenn sie nie verstanden hatte, was Letztere an dem Schwächling von Entwicklungshelfer gefunden hatte und warum sie ihn unbedingt heiraten wollte. Aber das waren nun ebenfalls alte Geschichten. Die beiden waren tot und sie fühlte sich für Carinas Wohlergehen verantwortlich. Dabei war es unerheblich, dass diese inzwischen erwachsen war. Für Magano blieb Carina das kleine Mädchen, das ihr in Okahandja barfuß auf Schritt und Tritt durch den Sand folgte und sich von ihr die Welt erklären ließ. Ihre Kleidchen stammten nicht selten aus deutschen Kleiderspenden, aber sie bewegte ihre dürren Glieder darin mit der gleichen Anmut und dem Stolz wie Mhabate es mit ihren abgetragenen Kleidern tat. Wissbegierig war sie gewesen und klug. Nichts musste man ihr ein zweites Mal beibringen, weil sie sich merkte, was man ihr sagte, und alles aufsaugte wie ein Schwamm. Magano seufzte und versuchte den Gedanken an das zu verdrängen, was Carina bei der Suche nach dem Ahnengürtel widerfahren sein mochte.

Das Taxi steuerte den Abflugterminal an. Über ihnen schwebten Flugzeuge im Himmel und vom Geräusch der Triebwerke vibrierte die Luft. Magano richtete ihren Geist wieder auf ihr Reiseziel aus und auf das, was sie vor Ort zu erledigen hatte. Der Flug war nach Berlin gebucht, also würde sie dort auch zunächst bleiben und zügig regeln, was sie bereits arrangiert hatte. Abraham war informiert und würde sie mit dem Abgeordneten der Regierungspartei zusammenbringen. Einen Moment lang erwog sie, zu diesem Treffen ihre rote Nationaltracht anzuziehen, die sie alle als Besucher vor dem US-Gericht getragen hatten. Die Fotos davon waren durch die deutsche Presse in eine breite Öffentlichkeit gelangt und Magano fand, sie sahen würdevoll darauf aus. Doch sie war sich nicht sicher, ob es merkwürdig wirkte, wenn sie alleine in einem viktorianischen Kleid im Abgeordnetenhaus erschien. Die Stofflagen raschelten bei jeder Bewegung, als tanze sie auf einem dieser albernen europäischen Bälle, wo Debütantinnen in das gesellschaftliche Leben eingeführt wurden. Sie wollte sich aber nicht lächerlich machen, sondern beeindrucken. Also musste das sorgfältig abgewogen werden. Magano atmete tief durch.

Danach würde sie sofort nach Köln reisen und Carina unter der Adresse aufsuchen, die sie auf dem Paket hinterlassen hatte. Hoffentlich ging es ihr gut. Sorgenvoll legte Magano die Stirn in Falten.

 

***

 

Den Deutzer Hafen hatte Lukas sicher nicht ohne Hintergedanken als Treffpunkt für ihr erstes Wiedersehen nach dreieinhalb Jahren ausgesucht. Dort hatten sie sich ein letztes Mal gesehen, bevor er alleine nach Saudi Arabien gegangen war, um einen Job als Bauleiter-Assistent anzutreten. Leonie bekam noch immer Magenschmerzen, wenn sie an ihren Abschied am Rheinufer dachte. Er wollte damals mir ihr besprechen, wie es mit ihnen weitergehen sollte. Weil sie sich von ihm an die Wand gedrängt fühlte, hatte sie ihm aber nur die Tüte mit seinen restlichen Sachen hingehalten und ihm mit kalter Stimme mitgeteilt, dass Carina in ihre gemeinsame Wohnung eingezogen war. Aus den geplanten zwei Jahren Auslandsaufenthalt waren dreieinhalb geworden. Sie hatte ihn furchtbar vermisst und mehr als einmal bereut, ihn derart vor den Kopf gestoßen zu haben. Die Zeit ohne ihn war wie ein Vakuum gewesen, in der Ablenkung zwar gut tat, die Leere aber nicht heilte. Wie hatten sie das einander antun können? Nun rebellierte ihr Magen vor Aufregung, als sie die Straßenbahn bestieg und zum Treffpunkt fuhr. Sie ahnte, warum er nicht in die Wohnung kommen wollte, in der sie zusammen gewohnt hatten. Zuviel gemeinsame Geschichte, und zu sehen, dass jemand anderes da mit ihr gelebt hatte, tat sicher weh.

Eine eisige Wintersonne beschien das Ufer und den Rheinauhafen auf der gegenüberliegenden Seite. Wie im Frost erstarrt zeichneten sich die Konturen der Kranhäuser dort ab. Ein Frachtschiff zog vorbei und hinterließ das Dröhnen des Signalhorns in der Luft. Lukas stand an derselben Stelle wie damals. Zitternd vor Kälte und Aufregung ging sie langsam auf ihn zu, in der Hoffnung, dass er nicht um dieses Treffen gebeten hatte, um sich endgültig von ihr zu verabschieden. Forschend suchte sie seine Mimik und Körperhaltung nach Hinweisen ab. Sie wollte ihm so vieles auf einmal sagen und brachte nun kein Wort heraus. Der Ausdruck seiner Augen hatte etwas Schmerzliches und zugleich Abwartendes. In seinem Gesicht bemerkte sie feine Linien, die die arabische Sonne hineingegraben hatte und einen bitteren Zug um den Mund, der vorher nicht da gewesen war. Die vergangenen Jahre alleine im Ausland und die Art und Weise ihrer Trennung hatten Spuren hinterlassen. Ob er das auch in ihren Gesichtszügen las?

Die Furcht, ihn für immer zu verlieren, überwältigte Leonie. „Lukas, ich ... Bitte sag nicht, dass du ... Ich weiß nicht, was – du hast mir so gefehlt!“, stammelte sie und blieb stehen.

Vor ihren Augen verschwamm die Sicht. Noch einmal kam der ganze Schmerz in ihr hoch: Die Trennung, die Sehnsucht nach ihm und all das Furchtbare, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte. Es war kaum zu ertragen und ihr Körper geriet ins Taumeln. Lukas zögerte, weil er nicht verstand, was sie ihm sagen wollte. Als er sah, dass sie weinte und zu fallen drohte, war er mit zwei Schritten bei ihr, fing sie auf und drückte sie an sich. Einen Moment lang verharrten sie in dieser Umarmung. Dann verstärkte er seinen Griff, als die Erkenntnis zu ihm durchdrang, dass sie ihn noch immer liebte. Er schob die Nase in ihre Haare und atmete den vertrauten und lange vermissten Duft tief ein, der nach Heimat roch.

„Lass mich bitte nie mehr so allein“, flüsterte Leonie heiser.

„Nie wieder!“, sagte er und nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Nie wieder!“

 

Sie sprachen nicht viel miteinander in den ersten Stunden ihres Wiedersehens. Sich streichelnd und mit Hingabe küssend fuhren sie dann doch in ihre ehemalige gemeinsame Wohnung, in der Leonie inzwischen zu Lukas´ Erleichterung ohne Mitbewohner lebte, und liebten sich die halbe Nacht hindurch. Dabei erzählten sich ihre Körper, was in ihnen vorging. Da war Verzweiflung, Bitterkeit und Wut, da war Einsamkeit und Sehnsucht und vor allem war da Liebe.

„Wieso haben wir uns das gegenseitig angetan?“, fragte er, als sie erschöpft nebeneinanderlagen und mit dem Schlaf kämpften.

„Ich weiß es nicht“, erwiderte sie und rollte sich dicht an ihn gedrückt ein, wobei das Bettzeug leise knisterte. „Ich weiß nur, dass ich das nie, nie wieder erleben möchte.“

Er zog die Decke über ihren Körper und legte seinen Arm um sie. „Wenn uns das noch mal passiert, drehe ich durch!“ Nach einem Zögern hob er erneut an: „Warum bist du so dünn geworden?“

Sie seufzte und drückte sich enger an ihn. „Ich habe eine schlimme Zeit hinter mir. Muss ich dir mal in Ruhe erzählen.“

„Hat das etwas mit der verbeulten Wohnungstür zu tun?“

Sie nickte.

Augenblicklich war er wieder hellwach. „War das Uli oder einer von seinen Leuten?“

„Nein, die waren meine Rettung.“

Nun bekamen ihre Tränen und das Taumeln bei ihrem Wiedersehen eine neue Bedeutung. Er richtete sich auf und drehte sanft ihr Gesicht in seine Richtung. „Was ist passiert, Leo?“

Sie blinzelte mit halb geschlossenen Lidern gegen das Dämmerlicht der Nachttischlampe. „Erkläre ich dir morgen, okay?“ Schläfrig fügte sie hinzu: „Und warum bist du so lange in Riad geblieben?“

„Das muss ich dir auch mal in Ruhe erzählen.“

Von draußen fiel der Schimmer der Straßenlaternen durch den Vorhang. Lukas löschte das Licht, nahm sie wieder fest in den Arm und hielt sie, bis sie eingeschlafen war.

 

***

 

Deutschland war kalt und grau. Das passte zu der Mentalität der Leute hier, die nicht bereit waren, sich ihrer Verantwortung als ehemalige Kolonialmacht zu stellen, dachte Magano. Es war wahrscheinlich ungerecht, so zu denken, aber sie war noch immer sehr verärgert über das Verhalten der Bundesregierung. Und diese repräsentierte doch nun mal die Bevölkerung, oder etwa nicht?

Missmutig saß sie in der scheppernden S-Bahn, die sie vom Flughafen Berlin-Schönefeld in die Innenstadt brachte. Die trostlosen Vororte, an denen sie vorbeirauschte, erinnerten sie an südafrikanische Apartheid-Gettos. Und das hier sollte eines der wohlhabendsten Länder der Erde sein? Warum ließ man so viele Menschen unter solchen Bedingungen leben und schaute tatenlos zu, wie die Reichsten der Reichen ihr Geld in Steueroasen verschoben? Magano hatte sich auf ihren Besuch sorgfältig vorbereitet und im Internet recherchiert. Sie war nicht stolz auf das weiße Blut, das in ihren Adern floss, auch wenn ihr Großvater Paul Hillgerts ein anständiger Mann gewesen war. Zum Glück sah man ihr diesen europäischen Einfluss nicht an, denn er war der einzige Hellhäutige in ihrer Herero-Blutlinie. Sie wirkte nicht weniger afrikanisch als Mhahabi oder irgendeine andere der Frauen in Okahandja. Ihre Lippen waren aufgeworfen, die Wangenknochen hoch, ihre Figur ausladend und sie war stolz darauf. In weiten Teilen Afrikas galt die Körperfülle noch immer als Statussymbol, denn sie zeugte von Wohlstand und Gesundheit. Es leuchtete ihr überhaupt nicht ein, wieso junge Frauen mit Radikaldiäten ihre Körper in unnatürliche Formen hungerten. Einem Ideal nacheiferten, bei dem Ausnahmeerscheinungen - überlange, rappeldürre Exemplare - zur Norm erhoben wurden, nach der man nur vergeblich streben konnte.

Gedankenverloren schüttelte Magano den Kopf und dachte an Carina, deren Äußeres sich durch den mehrfachen europäischen Einfluss nahezu gänzlich vom Afrikanischen entfernt hatte. Zuletzt durch diesen blassen Schwächling Martin Kamerande. Sie schürzte die Lippen, denn es war nicht gut, schlecht über Verstorbene zu denken. Und eigentlich war er ja auch kein verkehrter Kerl gewesen, nur leider hatte er keinerlei Durchsetzungsvermögen und ließ zu vieles mit sich machen. Wieso um alles in der Welt musste ihre Halbschwester Mhabate ihn unbedingt heiraten? Und warum hatte die Ondangere Carina den Floh ins Ohr gesetzt, es sei ihre Aufgabe, den Gürtel zurückzubringen?

Magano seufzte. Ihre Gedanken begannen, sich im Kreis zu drehen. Sie würde einiges anders handhaben, wenn sie erst einmal Dorfälteste und Hüterin des Feuers war. Da sie selber keine Kinder hatte, würde sie Carina zu ihrer eigenen Nachfolgerin machen, sollte diese bereit dazu sein und willens, Deutschland wieder zu verlassen. Verdrossen sah sie auf die misslungenen Graffitis auf dem heruntergekommenen Bahnhof, in den ihr Zug gerade einlief. Was könnte Carina in diesem eisigen und kaltherzigen Land schon halten? Hoffentlich kein Mann!

Ungeduldig warf sie einen Blick auf die schmale Armbanduhr, die sich in ihr kräftiges Handgelenk einschnitt. Heute Abend war sie mit Abraham in der Hotellobby verabredet. Wenn sie Glück hatte, würde sie bis dahin Zeit für ein Nickerchen finden, denn der Flug hierher war unbequem und zu kurz für einen erholsamen Schlaf gewesen. Zumal ihre geschwätzige Sitznachbarin immer wieder versucht hatte, ihr ein Gespräch aufzunötigen. Da sich Magano aber weder für die Trauungen in den europäischen Königshäusern, noch für die Liebesverhältnisse amerikanischer Filmstars interessierte, fanden sie kein gemeinsames Thema.

„Stimmt es eigentlich, dass die Könige ihren Reichtum unter anderem den Bodenschätzen zu verdanken haben, die sie in den Kolonien erbeutet haben? Ich glaube, ich habe da mal so etwas gelesen“, erwiderte Magano, als ihre Sitznachbarin erneut von der royalen Hochzeit sprach, die in Großbritannien bald anstand.

„Keine Ahnung“, bekannte die Dame irritiert. Als Magano dann begann, ihr die Folgen der Kolonialisierung für den afrikanischen Kontinent zu erläutern, winkte diese ab.

„Ich verstehe davon nichts. Darum kümmern sich die Abgeordneten in den Parlamenten. Dafür werden sie ja gewählt.“ Sie lachte unbekümmert, zog ein Klatschblättchen aus der Rückenlehne vor sich und schickte sich an, darin zu lesen.

„Ja, wenn die Volksvertreter das Mal täten, sähe die Welt anders aus“, hatte Magano entgegnet und es sich in ihrem Sitz für ein Schläfchen bequem gemacht, so gut es ging.

Nun saß sie stirnrunzelnd in der S-Bahn und hatte die Frage „Nationaltracht tragen - Ja oder Nein“ noch nicht für sich beantwortet. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Aufenthalt in diesem abweisenden Land von viel längerer Dauer sein würde als geplant. Zu der Klage vor dem US-Gericht kam das Theater um die Gebeine verstorbener Stammesmitglieder hinzu, die in einigen deutschen Instituten lagerten, unter anderem in den Beständen der Charité. Mit Glasscherben mussten die Herero-Frauen nach dem verlorenen Kolonialkrieg ihren toten Verwandten das Fleisch von den Knochen kratzen, die dann nach Deutschland zum Zwecke der Rassenforschung verschifft wurden. Zwei Rückgaben waren bereits erfolgt, Ende August sollte die Dritte stattfinden, und hochrangige Herero-Vertreter, die Klage gegen die Bundesrepublik erhoben hatten, waren nicht eingeladen worden. Vermutlich befürchtete man einen ähnlichen Tumult bei der Übergabe wie 2011, als man der Delegation Schädel in Pappkartons überreicht hatte. Den Deutschen war scheinbar nicht bewusst, welche Bedeutung die Ahnen in der Herero-Kultur haben, wie groß die Wut der namibischen Bevölkerung über ihre Hinhaltetaktik war, und dass die Zeremonie in Namibia live übertragen werden sollte. Es gab also einiges zu klären.

 

***

 

Die Zeiten des Einkaufens in Second Hand Läden und des Stöberns auf dem Sperrmüll waren für Lukas offensichtlich vorbei, er trug jetzt Markenkleidung. Die von der arabischen Sonne ausgebleichten Haare waren jedoch unverändert schulterlang, weil er in seinem tiefsten Inneren ein Zimmermann geblieben sei, beteuerte er. Dabei hatten die vergangenen Jahre im Nahen Osten ihn verändert. Er hatte eine Menge Geld verdient und sich dort auf der Baustelle behauptet. Das hatte seinem Selbstbewusstsein noch einmal Vortrieb gegeben. Und die Bräune seiner Haut verlor sich nur zögerlich. Er sah aus, als käme er frisch aus dem Urlaub.

In den ersten Tagen gab es vieles aufzuarbeiten für sie beide. Wer wen aus welchem Grunde nicht angerufen hatte und warum. Wer dem anderen übler mitgespielt hatte und wer mehr gelitten hatte in den vergangenen Jahren. Sie standen sich mit verschränkten Armen in der Küche gegenüber, Lukas lehnte am Kühlschrank und Leonie am Herd. Als sie ihm zum wiederholten Male vorwarf, einfach ausgezogen zu sein und sie verlassen zu haben, fasste Lukas sie am Arm.

„Bitte, tu das nicht. Lass uns über alles reden, aber nicht streiten. Ich ertrage das noch nicht. Irgendwann einmal können wir uns auch mal gerne von Herzen in die Wolle kriegen, doch nicht schon jetzt. Ich habe da unten lange gelitten wie ein verstoßener Welpe. Was dich betrifft, ist meine Haut dünn wie Pergamentpapier. Ich halte es nicht aus, mit dir im Unfrieden zu sein.“

Sie zögerte, denn es war ihr wichtig, all das loswerden zu können. Dann gestand sie sich ein, dass sie gar nicht oft genug hören konnte, dass es ihm nach der Trennung nicht besser ergangen war als ihr.

„In Ordnung“, erwiderte sie, „ich glaube, ich will mich einfach nur immer wieder vergewissern, dass du mich vermisst hast.“ Sie strich über seinen Unterarm.

Sanft fügte er hinzu: „Außerdem habe ich mich nicht von dir getrennt. Ich habe dir geschrieben, dass ich mein Leben mit dir verbringen will und dass ich ununterbrochen an dich denken werde.“

Sie senkte den Blick. „Ja, ich weiß, du hast recht.“

Er lehnte sich wieder zurück und zog sie an sich. Ernst sah er sie an und nur das Brummen des alten Kühlschranks war zu hören. „Was ist denn nun mit der Wohnungstür passiert? Wobei war Uli deine Rettung?“

„Das ist eine ziemlich lange und komplizierte Geschichte.“

„Ich habe Zeit und bin ganz Ohr.“

Leonie seufzte und rang mit sich. „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Also, Carina war zwei Jahre weg und ich habe in der Zeit so gut wie nichts von ihr gehört. Dann ist sie im letzten September plötzlich zurückgekommen und war total verändert.“

„Was meinst du mit: Sie war weg?“

„Sie ist mit ihrem damaligen Freund nach München gezogen. Der mit dem schwarzen Sportwagen, von dem du dachtest, er sei mein Neuer.“

Lukas verzog den Mund. „Ja, ich erinnere mich an den Typen.“

„Als sie wiederkam, war sie apathisch und depressiv. Aber sie hat mir nicht gesagt, was passiert war. Und dann habe ich sie eines Tages mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne gefunden. Alles war voller Blut.“ Sie schauderte bei der Erinnerung an diesen Anblick.

„In unserer Wanne hier in der Wohnung?“, fragte er schockiert nach.

Leonie bejahte. „Ich habe den Notarzt gerufen und man hat sie auf die Intensivstation gebracht, aber sie hat nicht überlebt.“ Ihre Hände begannen zu zittern.

Lukas´ Gesichtsausdruck verdunkelte sich. Er hielt Leonie an beiden Armen fest und sah sie aufmerksam aus weit geöffneten Augen an. „Das ist ja furchtbar! Warum hat sie das getan?“

Leonie zögerte. „Das ist es ja. Ich glaube nicht, dass sie es selber gemacht hat.“

„Sondern?“

„Ein paar Tage später stand die Polizei vor der Tür und hat gefragt, ob hier eingebrochen worden sein. In Carinas Blut war ein starkes Beruhigungsmittel nachgewiesen worden. Dann habe ich einen Drohanruf von einem Kerl mit verzerrter Stimme bekommen und einen Brief von Carina gefunden. Darin hat sie geschrieben, dass ihr möglicherweise Schlimmes geschieht und dass sie in der Wohnung etwas versteckt hat, was ich finden und nach Namibia schicken soll.“ Ihr Herzschlag beschleunigte sich bei der Erinnerung.

Lukas Miene verdunkelte sich zunehmend und missbilligend legte er die Stirn in Falten. „Und die ganze Zeit über musstest du alleine hier klarkommen?“

Leonie nickte und Lukas machte sich Vorwürfe, ihr nicht beigestanden zu haben. Er hätte hier sein und ihr helfen müssen, sich zu wehren. „Warum hast du mich nicht angerufen?“, fragte er. „Ich wäre sofort gekommen, das weißt du!“

„Ja, aber das ging alles so schnell und du warst weit weg. Irgendwann bin ich zu Uli gegangen und habe ihn gebeten, mir zu Hilfe zu kommen. In der Zwischenzeit hatte ich nämlich herausgefunden, mit welchen Typen ich es da zu tun hatte. Ich habe Videos gesehen, die sie ins Darknet gestellt hatten, auf denen sie Frauen misshandelt haben. Unter anderem Sarah und Carina.“

Entsetzt starrte Lukas sie an. „Leo!“

Mit einem Mal war alles wieder so nah. Leonies Sicht verschwamm und sie begann am ganzen Körper zu zittern.

Lukas zog sie eng an sich und streichelte sie beruhigend. „Leo, es tut mir so leid“, flüsterte er.

Als sie sich beruhigt hatte, fragte er: „Haben die unsere Tür so zugerichtet?“

„Ja. Sie wollten hier einbrechen und sich holen, was Carina ihnen weggenommen hatte.“

„Und was war das?“

„Scheinbar ein alter Gürtel, der unbedingt wieder nach Namibia sollte.“

„Ein Gürtel?!“ Ungläubig versuchte Lukas zu verarbeiten, was Leonie ihm da alles erzählte. Die Geschichte klang abenteuerlich und absurd zugleich. Aber er kannte sie seit seiner Kindheit und zweifelte keinen Moment lang an dem, was sie ihm da präsentierte. Sein Gewissen plagte ihn. „Ich habe dich dazu überredet, hierher zu ziehen und dir versprochen, auf dich aufzupassen. Und dann habe ich dich damit allein gelassen. Es tut mir unendlich leid!“

„Es ist nicht deine Schuld. Aber ich hätte dich wirklich gebraucht. Zum Glück hat Uli ein paar von seinen Leuten abgestellt, die mir die Kerle vom Hals gehalten haben.“

Ausgerechnet Uli, sein Erzrivale hier im Viertel, hatte Leonie beigestanden. Natürlich war er Uli dankbar, dass er eingegriffen hatte, doch es hinterließ einen fahlen Beigeschmack bei ihm. Er kannte Leonie gut genug, um zu wissen, wie verzweifelt sie gewesen sein musste, wenn sie Uli um Hilfe gebeten hatte. Nie wieder würde er sie allein lassen! Ihm wurde mulmig bei der Vorstellung, ihr zu erzählen, was er in Saudi Arabien gemacht hatte, während sie hier in Lebensgefahr schwebte und ausgerechnet auf Ulis Beistand angewiesen war. Aber zum Glück vergaß sie ihre Frage, warum er länger als geplant in Riad geblieben war, und er war nicht gezwungen, ausweichend mit Halbwahrheiten zu antworten.

 

 

2

 

 

Missmutig blickte Melina Gande auf die Akte Gereon von Treunstein, die ihr Vorgesetzter ihr erneut auf den Schreibtisch platziert hatte. Sie war das doch alles mehrfach durchgegangen! Als ob sie nun auf Hinweise stoßen würde, nur weil dieser Adelsfuzzi wegen gravierender Vergehen geschnappt worden war! Aber der hatte schwere Anwaltsgeschütze aufgefahren und wenn sie nicht bald Beweise hatten, liefen sie Gefahr, dass er nahezu ungeschoren davonkam. Deshalb hatte der Chef ihr noch einmal die Akte auf den Tisch gelegt, damit sie etwas fand, womit man ihn festnageln konnte.

Sie ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen, zog sich an den Schreibtisch heran und schlug den Aktendeckel auf. Das arrogante Gesicht des Delinquenten blickte ihr entgegen. Weshalb dringt ein schwerreicher Adeliger mit taudicken Seilschaft-Connections in eine kleine Postfiliale in einem Kölner Stadtrandviertel ein?! Das ergab wenig Sinn. Es ließ sich auch keine Verbindung zu den Verbrechen herstellen, wegen denen er angeklagt war. Melina blätterte weiter in der Akte. Sämtliche Notizen und Einträge stammten von ihr selber. Hatte sie einen Hinweis oder ein Detail übersehen?

Sie las sich ihre eigenen Aktennotizen noch einmal durch. Gereon von Treunstein hatte im November des vergangenen Jahres versucht, in die Paketaufbewahrung der Postfiliale einzudringen, und war dann von mehreren Angestellten entdeckt und überwältigt worden. Entwendet wurde nichts. Geistesgegenwärtig hatte sie sich von der Filialleitung eine Liste mit den aufgegebenen Paketen ausdrucken lassen. Abermals ging sie die Aufstellung sorgfältig durch. Was wollte er stehlen und warum? Plötzlich blieb ihre Aufmerksamkeit an einem Personennamen hängen. Ein Päckchen der Größe S war von einer Carina Kamerande abgegeben und nach Namibia verschickt worden. Der Name hallte in ihrem Kopf nach. Sie kreiste ihn ein und durchkämmte ihr Gedächtnis, aber es stellte keine Übereinstimmung her. Also fuhr sie ihren Rechner hoch und tippte die Angaben in die Suchmaske des Präsidiums ein. Im nächsten Moment poppte ein Bild vor ihr auf, von einer ausnehmend hübschen jungen Frau, die von ihrem WG-Mitglied mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne aufgefunden worden und später im Krankenhaus am hohen Blutverlust verstorben war.

Mit einem Mal erinnerte Melina sich, dass sie zusammen mit Ruthenmöller diese Mitbewohnerin aufgesucht hatte, weil im Blut der Frau ein starkes Sedativum und auf ihrem Rücken relativ frische Striemen und Narben gefunden worden waren. Sie hatten daraufhin verfügt, dass niemand zu ihr auf die Intensivstation gelassen wurde. Es hatte ihr leider nichts mehr genützt. Die Freundin war damals völlig irritiert darüber gewesen, dass hier möglicherweise kein Selbstmord, sondern eine Fremdeinwirkung vorlag. Aber sie hatte sich auch merkwürdig verhalten. Hatte es etwas zu bedeuten, dass ausgerechnet ein Paket von der jungen Frau dort abgegeben wurde? Melina stutzte und überprüfte die Daten.

Dann lehnte sie sich zurück und pfiff durch die Zähne. Das Päckchen war von einer Toten aufgegeben worden!

 

***

 

Arm in Arm spazierten Leonie und Lukas über den Weihnachtsmarkt am Dom. Schneeflocken schwebten sachte vom Himmel herunter, aus den Buden roch es nach Glühwein und deftigen Speisen. Von der Bühne erklangen Adventslieder, gesungen von einem Kinderchor. Lukas dachte an die Wüste Saudi Arabiens, an die staubige, trockene Hitze und den Sand, der durch alle Ritzen des Ausländer-Gettos drang, in dem er gewohnt hatte. Obwohl er kein Kirchgänger war, lösten der Anblick und die Nähe des Doms heimatliche Gefühle in ihm aus. Es tat so gut, hier zu sein! Dies war der Ort, an dem er zu Hause war, und nirgendwo sonst. Leonie war die Frau, die an seine Seite gehörte, und keine andere. Die Kontinente, die sich auf seinem inneren Globus merkwürdig verschoben hatten, rutschten an ihre natürlichen Plätze zurück. Nun war seine Welt wieder in Ordnung.

Leonie war dankbar für die Ablenkung vom Lernen. In jeder freien Minute hatte sie sich durch den Sartorius und die Alpmann Schmidt-Skripte gearbeitet, um sich auf die Klausur in Öffentlichem Recht im Januar vorzubereiten. Dabei war es ihr schwergefallen, die Konzentration auf die Paragrafen und Querbezüge innerhalb der Gesetzestexte zu richten, weil sie immer wieder an Lukas denken musste und überwältigt war von dem Glücksgefühl, das der Gedanke an ihn in ihr auslöste. Nun erinnerte sie sich, dass sie noch vor Kurzem alleine durch die Stadt gelaufen war und daran gedacht hatte, wie es wäre, mit ihm eine Familie zu gründen. Viel schneller, als sie erhofft hatte, war das nun erneut in greifbare Nähe gerückt. Liebevoll sah sie zu ihm auf. Er erwiderte ihren Blick mit glänzenden Augen, in deren Blau sich die Adventsbeleuchtung ringsherum spiegelte.

Das Gedränge vor dem afrikanischen Stand verstopfte den Durchgang, und sie blieben stehen. Traurig schaute Leonie auf die landestypischen Gerichte, die sie wiedererkannte. Sie sah Carina vor sich, wie sie mit ihren langen, schlanken Fingern Polenta zubereitete und ihr Geschichten aus Okahandja erzählte. Wie sie den Teig großzügig würzte und sich dabei die Paprikareste in den Mund schob. Wie sie beide mit einem Glas Wein anstießen, herumalberten und lachten. Nun lag Carina in der Familiengruft der Hillgerts auf dem Melatenfriedhof mit dem Kopf Richtung Norden begraben. Augenblicklich spürte Leonie einen zentnerschweren Stein in der Brust.

Lukas sah sie fragend an: „Möchtest du etwas essen?“

„Nein, ich schaue nur.“ Sie zögerte. „Diese Gerichte hat Carina manchmal für uns beide gekocht.“

Lukas legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Das schlechte Gewissen, die Frauen hilflos ihrem Schicksal überlassen zu haben, nagte an ihm. Er hatte nicht einmal geahnt, dass etwas Derartiges vor sich ging. Er musste diese Gedanken verdrängen, sie waren unerträglich. Endlich konnten sie weitergehen. Lukas dirigierte Leonie auf die Mitte des Marktes, sodass sie unter dem Sternenmeer der Lichterketten flanierten. Auf einer freien Stelle blieb er stehen und nahm ihr Gesicht in seine von der Kälte geröteten Hände. Gerne hätte er ihr nun gesagt, dass er sie liebte. Doch das schien ihm angesichts dessen, was während seiner Abwesenheit passiert war, unpassend. Also sagte er nur: „Ich bin so froh, dass ich dich zurückhabe!“

Leonie lächelte ihn an. „Und ich bin glücklich, dass du wieder bei mir bist!“

Als sie sich küssten, erschien es Leonie, als würden sie angestarrt. Sie wandte ihr Gesicht in diese Richtung, konnte aber niemanden sehen, der sie beobachtete. Unwirsch schüttelte sie den Kopf. Sie sah wohl Gespenster, weil sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, dass die Bedrohung vorüber war.

 

Schleunig zog Robin Tobias hinter den Glühweinstand, als er merkte, dass sie in ihre Richtung sah.

„Ist das nicht Leonie?“, fragte dieser und deutete auf das Liebespaar.

„Ja. Ich denke, es ist besser, wenn sie uns nicht sieht. Außerdem ist sie offensichtlich mit anderen Dingen beschäftigt.“

„Wir könnten ihr doch Hallo sagen. Wer ist der Kerl? Kennst du ihn?“

„Nein. Ich glaube nicht, dass sie scharf darauf ist, mich zu sehen, nach allem, was passiert ist.“

Tobias schob die Unterlippe vor. „Schade, ich mag sie.“

Robin zog ihn humpelnd mit sich fort. „Lass uns irgendwohin gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.“

Das Gesäusel der Adventslieder ging ihm auf die Nerven. Er war nicht in besinnlicher Stimmung. Dass sich die Menschen um ihn herum unbekümmert mit Glühwein und Essbarem vollstopften, obwohl in seinem Leben schreckliche Dinge geschehen waren, schien ihm unerträglich. Zügig drängten sie sich durch die dichte Menge an Weihnachtsmarktbesuchern in ihren gefütterten Jacken und mit in die Stirn gezogenen Mützen.

Im Peters Brauhaus am Alter Markt fanden sie im hinteren Teil des Gastraums einen abgetrennt stehenden, freien Tisch. Tobias rutschte auf die Bank und Robin ließ sich am Kopfende auf einem der Holzstühle nieder. Aus Gewohnheit blätterte er in der „Fooderkaat“, wurde sich jedoch bewusst, dass er gar keinen Appetit hatte. Der Köbes kam mit einem Kranz vorbei, stellte ungefragt zwei Gläser Kölsch vor ihnen ab, wischte sich die Hand an seiner Schürze trocken und verschwand.

Tobias sah Robin lange an. „Warum hast du auf die Stelle im CERN verzichtet?“, fragte er schließlich.

Robin vermied den Blickkontakt. „Seit Carinas Tod ist der Posten für mich uninteressant geworden“, erwiderte er halblaut. Ihm war klar, dass er den Job ohnehin nicht mehr bekommen würde, nachdem er sich den Verbindungsmitgliedern in den Weg gestellt hatte. Er war ohne Begründung aus der Burschenschaft ausgeschlossen worden. Auch das war zu erwarten gewesen.

„Du weißt, dass man stattdessen mir den Job angeboten hat?“

Nein, das wusste Robin nicht. Doch es war ihm egal. Gleichgültig schüttelte er den Kopf.

Tobias musterte ihn forschend. „Ich war mir nicht sicher, ob ich die Stelle annehmen soll, und habe die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen. Aber du warst wie vom Erdboden verschluckt“, fuhr er fort.

Robin sah ins Leere.

„Du warst noch nicht einmal bei ihrer Beerdigung“, sagte Tobias mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme.

„Doch, war ich“, widersprach Robin. „Aber ich habe mich im Hintergrund gehalten.“

„Warum denn das? Ihr habt euch so nahe gestanden!“

„Ich trage eine Mitschuld an ihrem Tod.“

Verblüfft sah Tobias ihn an. Der Köbes kam erneut mit seinem Kranz vorbei und machte Anstalten, nach einer Kölschstange zu greifen. Als er erkannte, dass beide Männer ihr Bier nicht angerührt hatten, schüttelte er missbilligend den Kopf und zog weiter. Das Gelächter der überwiegend männlichen Gäste und das Geräusch von klirrenden Gläsern drangen aus dem Schankraum nebenan.

„Du denkst, sie hat sich umgebracht, weil du mit ihr Schluss gemacht hast?“, fragte Tobias, als sie wieder ungestört waren.

„Sie hat sich nicht umgebracht!“, entgegnete Robin barsch.

Tobias runzelte verständnislos die Stirn.

„Dahinter stecken Gereon und Randalf, da bin ich mir sicher. Sie haben versucht, in Leonies Wohnung einzubrechen, weil Carina bei ihr untergetaucht war.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Warum sollten die beiden bei Leonie einbrechen?“

„Sie haben den Gürtel gesucht, den Carina Gereon weggenommen hat.“

Tobias starrte ihn an. „Der Gürtel, den Gereon beim Einbruch in diese Postfiliale aus einem der Pakete gesichert hat?“

Nun erwiderte Robin seinen Blick. „Davon weiß ich nichts.“

Tobias´ Augen weiteten sich, als sich ihm erschloss, was die Gerüchte zu bedeuten hatten, die während der vergangenen Wochen in der Verbindung kursierten. „Es war Leonies Wohnung, in die sie einzudringen versucht haben?“

Robin nickte, hob das Bierglas an seine Lippen und leerte es in einem Zug. Tobias sah ihm dabei zu, dann leerte er seines ebenfalls. Wie aus dem Nichts stand der Köbes an ihrem Tisch und stellte zwei volle Gläser vor ihnen ab. Er hinterließ Bleistiftstriche auf dem Bierdeckel und ging zufrieden.

„Hab´ ich´s doch geahnt, dass es um den Scheißgürtel geht!,“ sagte Robin mehr zu sich selber. „Was ist mit dem Teil?“, wollte Tobias wissen.

„Angeblich ein Familienerbstück. Gereons Vater kontrolliert wohl immer, ob es noch da ist.“

„Ich glaube, mit dem Alten ist nicht zu spaßen. Den möchte ich nicht zum Feind haben. Erst recht nicht jetzt, wo Gereon wegen dieser Videos in U-Haft sitzt.“

Robin sah wieder starr vor sich hin. Eine der misshandelten Frauen war mit Sicherheit Carina gewesen. Leonie hatte ihm erzählt, dass sie völlig wesensverändert aus München zurückgekehrt war. Er selber hatte ihr nichts angetan, also gab es keine andere naheliegende Erklärung. Seine Trennung von ihr hatte sie mit Fassung aufgenommen und ihn mit einem vernichtenden Blick bedacht, weil sie wusste, dass es ihm um seine Karrierepläne gegangen war. Nun schämte er sich deswegen. Es war ein Pakt mit dem Teufel, auf den er sich eingelassen hatte, und dafür hatte er diese schöne, intelligente Frau fortgeschickt und Gereon ausgeliefert. Wie hatte er das nur tun können?

Beklommen stürzte er das nächste Kölsch hinunter. Er fühlte sich schuldig und gleichzeitig spürte er, wie sehr er Carina vermisste und wie viel sie ihm bedeutet hatte. Er war derart auf seine Karriere fixiert gewesen, dass er das nicht wahrgenommen und sich zu dieser unbedachten Tat hinreißen gelassen hatte. Er fragte sich, weshalb sie alle so blind für Carinas Herkunft gewesen waren. Warum hatten sie nicht erkannt, dass sie ein Mischling war? Es musste an der besonderen Aura gelegen haben, mit der sie sich umgeben hatte. Er war auch deshalb aus München zurückgekommen, weil er gemerkt hatte, dass er Carina mehr liebte, als das, was die Verbindung ihm geben konnte. Er wollte sie zurückgewinnen.

Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. „Hast du die Stelle im CERN angenommen?“

„Nein, noch nicht. Ich wollte erst mit dir sprechen. Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich Treunstein dann etwas schuldig bin und dass er eine Gegenleistung erwartet.“

Anerkennung lag in Robins Gesichtsausdruck, als er seinen Freund ansah, den der Ehrgeiz nicht blind machte für das, was um ihn herum geschah.

„Wie kam denn der Gürtel in das Paket? Carina war doch schon tot, als Gereon in das DHL-Lager eingedrungen ist“, fragte Tobias. „Kannst du dir das erklären?“

„Vielleicht hat Leonie das für sie getan“, antwortete Robin nachdenklich und überdachte, ob es sinnvoll wäre, sie darüber zu informieren, was mit dem Paket geschehen war. Die Szene auf dem Weihnachtsmarkt von vorhin kam ihm in den Sinn. Wenigstens hatte Leonie nun einen Mann an ihrer Seite, der aussah, als sei im Ernstfall nicht mit ihm zu spaßen. Und er war sich sicher, dass es diesen Ernstfall früher oder später geben würde, nun da das unvollständige Paket in Namibia angekommen sein musste. Die Treunsteins setzten garantiert alles daran, Gereon vor einer Haftstrafe zu bewahren, und würden dabei, wenn nötig, auch über weitere Leichen gehen.

 

***

 

Eine Zeit lang wälzte Melina Gande im Polizeirevier ihre neue Erkenntnis im Kopf hin und her. Das alles ergab wenig Sinn. Welche Verbindung sollte es zwischen diesem Gereon von Treunstein, wohnhaft in München, und Carina Kamerande geben? Sie war in Namibia geboren worden und hatte sich zuletzt in Köln aufgehalten. Melina konnte keine Beziehung erkennen. Alleine kam sie so nicht weiter. Sie steckte sich ein frisches Kaugummi in den Mund und wählte widerwillig Ruthenmöllers neue Nummer. Der Schürzenjäger saß jetzt bei den Todesermittlern im KK1 und sie hockte immer noch in dieser Klitsche hier!

„Hallo, Melli“, meldete Ruthenmöller sich. Die Freude in seiner Stimme war kaum zu überhören.

„Hallo Karrierist“, erwiderte Melina und ließ eine Kaugummiblase laut in den Hörer platzen.

„Autsch!“, rief er. „Rufst du an, um mich zu foltern? Möchtest du, dass ich taub werde und dein liebliches Stimmchen nicht mehr vernehmen kann?“

„Würde ich am liebsten“, antwortete sie. „Doch ich bin auf etwas gestoßen, das ich dir leider nicht verheimlichen darf.“

Ruthenmöller lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der freien Hand durch die raspelkurzen, schwarzen Haare. Er hörte sie Kaugummi kauen und stellte sich vor, wie ihre vollen Lippen sich öffneten, um aus der Gummimasse eine Blase zu formen. Ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht. „Na, dann sperre ich die Lauscher jetzt aber mal ganz weit auf.“

„Erinnerst du dich an den Suizid einer gewissen Carina Kamerande unter Sedativ-Einwirkung?“

„Natürlich erinnere ich mich daran. Ist doch erst ein paar Monate her. Die Mitbewohnerin“, er blätterte in seinen Unterlagen, die er vom Rand des Schreibtischs herangezogen hatte, „Leonie Bühlig, war hier und hat mir die Onion-Adresse der Deutschnationalen Liga gebracht, über die wir auf den Kreis rund um Gereon von Treunstein gestoßen sind. Sie hat den entscheidenden Hinweis gegeben. Wieso, was ist mit dem Fall?“

In Melinas Kopf liefen augenblicklich die Synapsen heiß. Das war das Bindeglied: die Mitbewohnerin! Am liebsten hätte sie ihre Entdeckung für sich behalten, um selber die Lorbeeren einzustreichen, aber das konnte sie in diesem Fall nicht riskieren. Außerdem war es besser, nicht wieder zu eng in Ruthenmöllers Nähe zu rücken. Sie waren sich zu nah gekommen. Viel zu nah.

„Carina Kamerande hat einige Zeit nach ihrer Beerdigung an demselben Tag ein Paket in der Postfiliale abgegeben, an dem Gereon von Treunstein in diese einzubrechen versucht hat.“

Ruthenmöller schnalzte mit der Zunge. „Und sie war eines der Opfer auf den Videos.“

„Was?! Wieso weiß ich davon nichts?“, schnauzte sie ihn an.

„Mädchen, das sind nicht deine Ermittlungen.“

Sie hasste es, wenn er sie „Mädchen“ nannte und wichtige Ermittlungsergebnisse für sich behielt. „Ich wäre viel schneller darauf gekommen, wäre ich informiert gewesen!“, rief sie. „Stattdessen lasst ihr mich hier orientierungslos die Akten vorwärts und rückwärts durchwälzen, ohne zu wissen, wonach ich suchen muss! Was ist denn das für ein unprofessionelles Alphatierchen-Gehabe? Lass die Russin ruhig mal im Trüben fischen. Mal sehen, wie gut sie klarkommt, oder was?“ Vor Wut überschlug sich ihre Stimme.

„Komm mal wieder runter und steck deinen Russen-Joker zurück in die Tasche. Den kannst du sicherlich irgendwann mal gut gebrauchen. Bei mir brauchst du ihn nicht einzusetzen, Süße. Du weißt, wie ich zu dir stehe. Ich wusste nicht, dass Kaltenbach dich noch mal mit dem Fall betraut hat. Er hätte dich über den Stand der Ermittlungen informieren müssen, nicht ich.“

Melina zog hörbar die Luft ein und atmete dann lange aus. Ruthenmöller erkannte, dass sie dabei war, sich wieder zu beruhigen, weil sie wusste, dass er recht hatte. Es gab einige Kollegen, die sie ihre weißrussische Herkunft spüren ließen. Aber dazu gehörte er nicht. Wenn sie unbeobachtet waren, strich er gerne mit dem Daumen über ihre hohen Wangenknochen und nannte sie Madame Chauchat, heiße Katze, nach seiner Lieblingsfigur aus Thomas Manns Zauberberg. Und wenn es noch intimer wurde, duldete sie es sogar, dass er sie mit ihrem Zweitnamen Swetlana ansprach.

„Ich denke, wir sollten Leonie Bühlig einen weiteren Besuch abstatten“, sagte er besänftigend.

„Ich bin nicht mehr in deinem Team. Schon vergessen, Karrierist?“, erwiderte sie barsch.

„Du hast dich soeben dafür qualifiziert“, entgegnete er ungerührt und sein Puls beschleunigte sich bei der Vorstellung, seine heiße Katze bald wieder ständig in der Nähe zu haben.

„Ich will nicht mit dir zusammenarbeiten“, fauchte Melina in den Hörer, aber Ruthenmöller hatte schon aufgelegt.