von Kopp, Diana Richtig schmecken macht gesund

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1 Guter Geschmack

Können wir überhaupt noch schmecken?

Ohne unsere Zunge wären wir vermutlich längst tot. Wir hätten giftige Beeren in den Mund gesteckt, oder Waschmittel getrunken, oder beim Baden im Meer freiwillig große Mengen Salzwasser geschluckt bis zum Nierenkollaps. Wir wüssten nicht, in welchen Früchten die meiste Energie in Form von Zucker steckt und hätten womöglich anstelle von Erdbeeren Tollkirschen geknabbert. Äpfel und Pflaumen hätten wir in unreifem Zustand verzehrt und unsere Bäuche sähen aus wie geblähte Segel im Wind.

Die Zunge signalisiert als Mittlerin zwischen Bauch und Hirn, wann wir aufhören sollten zu essen, dank ihr essen wir zum Frühstück Brot statt Schokolade. Als Wächterin am Eingang des Körpers prüft sie akribisch jeden einzelnen Bissen auf dessen Genießbarkeit, Qualität und Energiegehalt. Sie warnt uns vor giftigen Nahrungsbestandteilen und schützt uns vor allzu einseitiger Ernährung.

So weit, so theoretisch. Praktisch haben wir irgendwo zwischen Hotdogs, Chickenwings und Superfood den Geschmack verloren.

Spitzen-Kulinarik, Kochshows und hippe Streetfoodtrucks können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir auf bestem Wege sind, uns einen Universalgeschmack anzueignen. Nehmen wir Frühstückscerealien – die Angebote im Supermarkt füllen laufsteglange Regalmeter mit bunten Verpackungen, drin ist allerdings immer dasselbe. Geringfügige Variationen finden sich allenfalls in den Aromastoffen und in der Textur. Teigwaren an der Backtheke sind überwiegend industriell vorgefertigt, Wurst und Fleisch sind geschmacksoptimierte Massenprodukte. Viele Tonnen Aromen werden jährlich EU-weit ins Essen gerührt, teilweise mit einer bis zu fünfhundertfachen Überdosierung. Den Lebensmittelkonzernen gelingt das Unvorstellbare: Sie vereinen die Geschmacksvorlieben sämtlicher Kulturen und Bevölkerungsschichten. Nichtwissen auf der einen Seite und Gewinnoptimierung auf der anderen lassen zu, dass Täuschungen immer perfider werden, teilweise gestützt von der Politik. Die in der Herstellung vergleichsweise billige Isoglukose, ein Sirup aus Maisabfällen, ist nur ein Beispiel von vielen. Seit 2017 darf dieses fruktosehaltige Süßungsmittel auch in der EU verwendet werden – doch das körpereigene Sättigungssignal, das bei Haushaltszucker durchaus funktioniert, versagt im Fall von Fruktose. Gesundheitsgefährdende Transfette, die durch industrielle Verarbeitung von Pflanzenölen entstehen, wandern vom Geschmackssinn unerkannt in den Körper, ebenso Aromen, Geschmacksverstärker und Emulgatoren. Letztere konsumieren wir jährlich kiloweise mit unserer Nahrung, ohne davon Notiz zu nehmen.

Und das macht die Sache kompliziert. Die Fähigkeit, natürliche Lebensmittel zu schmecken, nimmt nämlich rapide ab. Wer oft aromatisierten Erdbeerjoghurt isst, mag diesen meist nicht nur lieber, sondern hält ihn auch für natürlicher als einen Joghurt ohne Aroma. Gleiches gilt für Tiefkühlpizzen, Backmischungen und Fertigsoßen, Aufstriche und Milchprodukte. Zwar scheint das Angebot riesig, in der Schüssel oder auf dem Teller ähneln sich die Produkte aber wie eineiige Zwillinge, auch wenn sie von unterschiedlichen Herstellern stammen. Den Unterschied machen bestenfalls die Würzmengen aus. Als würden sie den einen Zwilling in rosa und den anderen in knallrote Farben kleiden.

»Iss nichts, was eine Verpackung hat und nichts, was deine Urgroßeltern nicht als Essen erkannt hätten«, rät Buchautor Michael Pollan. Wenn unsere Urgroßeltern müde waren und erschöpft, nahmen sie die Knochen eines Weiderinds und kochten daraus eine kräftigende Brühe. Heute haben wir Energydrinks, mit künstlichen Aromen angereicherte, synthetisierte Äquivalente des Stierhodeninhalts.

Zwischen uns und der Natur hat sich eine riesige Lücke aufgetan. Dabei ging etwas verloren, nennen wir es Instinkt oder Geschmack. Um es zurückzubekommen, brauchen wir die Natur. Mit Kräutern und Gewürzen lassen sich vielschichtige Geschmacksnoten erzeugen bzw. verstärken, und zwar kalorienarm, natürlich und heilsam. Gewürze zu entdecken, zu kombinieren und auf unterschiedlichste Weise in ein Essen zu integrieren gehört zu den grundlegenden Fähigkeiten des Menschseins und hat eine jahrtausendealte Tradition. Neu hingegen in der Menschheitsgeschichte ist es, aus den spärlichen Resten eines Huhns eine kompakte, bissfeste aromatisierte Serienware namens Chicken Nugget herzustellen. Oder einen Käse ohne Zutun von Milch zu produzieren, der unter Einsatz von Geschmacksverstärkern ähnliche Eigenschaften aufweist wie das hochwertige Original.

Das fehlende Qualitätsbewusstsein ist ein gesellschaftliches Problem, meint Deutschlands einflussreichster Gastrokritiker Jürgen Dollase. Er beklagt: »Wenn Sie nicht kochen können und das schlechteste Zeug essen, können Sie trotzdem Bundeskanzler werden!«, und schiebt wenig schmeichelhaft hinterher: »Wir werden regiert von Pommesbuden-Liebhabern.« Die als Volksnähe verkaufte Anbiederung von Fast-Food steht in krassem Gegensatz zu den Ernährungsempfehlungen von Krankenkassen und Medizinern. Unsere Essgewohnheiten haben uns weder schlanker, klüger noch gesünder werden lassen, dafür abgestumpft in Sachen Geschmack.

 

Deshalb sollten wir vor allem eines tun: über Geschmack reden und Genuss zulassen. Schmecken ist nämlich eine der intelligentesten Fähigkeiten unseres Körpers. Den Geschmackssinn kennenzulernen heißt, sich selber kennenzulernen. Abgesehen davon, dass Schmecken ein ungemein sinnliches Vergnügen ist, hat es unmittelbaren Einfluss auf die Psyche und auf den Body-Mass-Index.

Machen wir ein kleines Gedankenexperiment. Angenommen, vor Ihnen stünde eine Schüssel voll Kartoffelchips. Wie viele würden Sie davon essen, wenn sie ungesalzen und ohne Würze wären? »Es kommt darauf an«, werden Sie jetzt antworten, je nach Hunger würden sie mehr oder weniger davon probieren. Gleiche Situation, vor Ihnen steht eine Schüssel mit Kartoffelchips, diesmal gesalzen und gewürzt. Wie viele würden Sie jetzt davon knabbern? Die Antwort dürfte eindeutig ausfallen. Jetzt kommt es eben nicht mehr auf den Hunger an, sondern nur noch, ob Sie standhaft bleiben oder einen ersten Chip probieren. Alles Weitere passiert von selbst. Und das ist Kalkül. Hinter dem perfekten Chip stehen nämlich Heerscharen von Geschmacksdesignern. Die Frage ist nur, wie viel Würze verträgt der Gaumen noch? Gehören auch Sie zur großen Zahl derer, die jedes Essen ungekostet mit einer Ladung Salz berieseln? Und Kaffee nur mit Süßstoff trinken? Sie sind nicht allein – wir alle leiden unter erfahrungsbedingtem Sensibilitätsverlust. Fleisch ohne Marinade? Nüsse ohne Salz? Pudding ohne cremig machende Emulgatoren? Ketchup ohne Süßstoffe und Säureregulatoren? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Den echten, natürlichen Geschmack einer Tomate sucht man in einer Flasche Ketchup vergebens. Trotzdem schmeckt es, und genau da liegt das Problem. Geschmack und Ernährungsstil bedingen einander. Wer die Fähigkeit verliert, natürliche Aromen zu schmecken, kann seinen Ernährungsstil nur mit Mühe umstellen. Studien zeigen, dass Übergewicht, Diabetes und Karies häufig mit geringerer Geschmackssensibilität einhergehen. Es kommt weniger darauf an, was wir essen oder nicht essen, sondern ob und wie wir unseren guten Geschmack zurückgewinnen und genießen lernen. Beides findet in Ernährungsdebatten kaum Beachtung. Das zu ändern, ist Ziel dieses Buches.

2 Welcher Geschmackstyp bin ich?

Schmecken ist auch eine Frage der Gene

Möchtest du noch von dem Schinken?

Nein danke. Ich bin satt.

Es schmeckt dir nicht.

Doch, doch es war toll, aber ich kann nicht mehr, wirklich.

Maria, ihm schmeckt’s nicht.

Doch, wirklich, es war vorzüglich.

Na, dann iss doch noch was.

Gut, ich, äh, esse vielleicht noch etwas Käse.

Na also. Und eine bistecca?

Um Himmels willen, nein danke. Ich kann nicht mehr.

Schmeckt’s nicht?

 

Jan Weiler beschreibt in seinem Buch Maria, ihm schmeckt’s nicht eine typische italienische Tischszene. Sie könnte überall stattfinden. Geschmack spielt in unserem Leben eine maßgebliche Rolle, auch wenn wir uns dessen selten bewusst sind. Wenn wir für jemanden kochen, wollen wir, dass es ihm schmeckt. Wer mäkelig in einem Essen herumstochert, gilt als schlechter Esser. Bei allem ist Geschmack doch etwas höchst Intimes. Dazu fällt mir die Bemerkung einer jungen, attraktiven Frau ein. Auf einer Lesung meldete sie sich aus dem Publikum zu Wort. Sie gestand, dass die Frage, ob es denn schmecke, sie regelmäßig in Verlegenheit versetze. »Schmecken«, sprach sie sichtlich aufgewühlt, das sei doch so etwas derart Intimes, »was soll man denn darauf antworten!« Hand auf’s Herz, wann haben Sie zum letzten Mal ehrlich gesagt, wie es Ihnen wirklich schmeckt? Es muss an einem außergewöhnlich guten Abend gewesen sein. Im Alltag machen wir wenig Gebrauch von unserer Gabe, Geschmack in Worte zu fassen. Sei es aus Scham, Unvermögen oder schlichter Unachtsamkeit. Wo wir doch über sämtliche sonstigen Körpervorgänge – Schlaf, Verdauung, Fortpflanzung – freimütig plaudern, sind wir erstaunlich zurückhaltend, sinnliche Erlebnisse wie Geschmack zu beschreiben. Warum die Scheu? Haben wir nicht gelernt, Geschmack in Worte zu fassen? Nehmen wir ihn als eine Selbstverständlichkeit hin? Wir analysieren unsere Nahrung akribisch, doch wie wir sie uns täglich einverleiben, bleibt außerhalb unserer Betrachtungen. Beim Schmecken reagieren wir zweckgebunden. Es gibt nur zwei Kategorien: Ja oder nein. Dabei ist Geschmack so unglaublich reich, vielschichtig, unvorhersehbar und individuell wie das äußere Erscheinungsbild. Obschon es Ähnlichkeiten und geteilte Vorlieben gibt, existiert auf der ganzen weiten Welt kein Zweiter, der genau dasselbe schmeckt. Ebenso, wie es keinen Zweiten mit identischem Aussehen gibt. Und das ist eine Frage der Genetik.

 

Während der Recherche zum Buch Die Kunst des klugen Essens, das ich gemeinsam mit der Journalistin Melanie Mühl schrieb, stieß ich auf eine Forschungsarbeit der Universität Florida aus dem Jahr 1993. Die Wissenschaftlerin Linda Bartoshuk beschrieb darin einerseits Menschen, die Essen mit einer ungeheuren Intensität wahrnehmen, andererseits solche, die kaum etwas schmecken. Sie schlussfolgerte daraus, dass es von Geburt an unterschiedliche Geschmackstypen geben muss. Für mich war das ein aufregender Gedanke – dass Geschmack angeboren und damit genetisch vorherbestimmt sein soll.

Geschmack war für mich bis dahin eine vom Objekt ausgehende Eigenschaft. Eine Banane schmeckt wie eine Banane, man unterscheidet höchstens zwischen einer reifen und einer unreifen Frucht. Ein Stück Fleisch schmeckt wie Fleisch, je nach Zubereitungsart eben. Brokkoli ist bitter, aber wie bitter er für jemand anderen ist, darüber hatte ich nie einen Gedanken verschwendet. Nur so viel wusste ich: dass man über Geschmack nicht streiten soll (und es dennoch immer wieder tut).

Bartoshuks Erkenntnisse bringen eine völlig neue Dimension ins Spiel. Schmecken wird zur Fähigkeit, zu der man bestimmte genetische Voraussetzungen mitbringt. Endlich gibt es eine wissenschaftliche Erklärung für Sonderwünsche und seltsame Nahrungsvorlieben. Umso erstaunlicher ist, wie diese Fakten so lange unbeachtet bleiben konnten. Man denke nur, wer alles schon längst davon hätte profitieren können. Eltern, die sich den Kopf über die seltsamen Nahrungsvorlieben ihres Kindes zerbrechen, oder Paare, die über vermeintlich richtigen Geschmack streiten, Hobbyköche, die an den Kommentaren ihrer Tischgesellschaft verzweifeln.

Wer glaubt, alles über Geschmack zu wissen, sei spätestens hier eines Besseren belehrt. Über die Zunge wusste man lange Zeit verblüffend wenig. Dass sich dies allmählich ändert, ist unter anderem Geschmacks-Pionieren wie Linda Bartoshuk zu verdanken. Sie arbeitete mit einer bitteren Substanz namens Propylthiouracil, kurz PROB. PROB ist verwandt mit der pulvrigen Chemikalie Phenylthiocarbamid, PTC. Damit hatte im Jahr 1931 bereits der amerikanische Chemiker Arthur Fox experimentiert und dabei feststellen müssen, dass sich verflüchtigende Teile der Substanz bitter schmeckend anfühlen. Fox selbst spürte nichts dergleichen, wohl aber sein Laborkollege, der sich über den bitteren Geschmack in der Luft beschwerte. Als Fox weitere Mitarbeiter befragte, traf er auf ähnlich gegensätzliche Bewertungen. Menschen, die Bitteres wahrnahmen, mussten einen speziellen Sensor dafür haben, der anderen fehlte. Jedenfalls wiederholte Linda Bartoshuk die Untersuchung. Und zwar setzte sie einer Gruppe von Studenten ein mit PROB vermischtes Wasser vor. Auch hier lagen die Reaktionen weit auseinander. Während die Hälfte der Teilnehmer das Wasser als normal bitter empfand, schrillten bei etwa einem Viertel die Alarmglocken – sie empfanden die Flüssigkeit als extrem bitter. Ein weiteres Viertel konnte dagegen überhaupt keinen oder allenfalls einen schwachen Bittergeschmack erkennen. Dieses Ergebnis trieb die Medizinerin zu weiterer Ursachenforschung an. Möglicherweise kam ihr dabei eine Theorie des Franzosen Jean Anthelme Brillat-Savarin zu Hilfe. Der notierte bereits im Jahr 1825: »Wie schon gesagt, findet Geschmack in den Zungenpapillen statt. Untersuchungen zeigten nun, dass nicht jede Zunge dieselbe ist. Manche Zungen haben bis zu dreimal mehr Geschmackspapillen als andere. Dieser Umstand erklärt, warum von zwei Dinnergästen an ein und demselben Tisch der eine angenehm berührt von einer Speise ist, die sich ein anderer beinahe hineinzwingen muss.« Von Brillat-Savarin stammt übrigens der viel zitierte Spruch: »Sag mir, was du isst, und ich sag dir, wer du bist.« Dass der Geschmackstyp von der Anzahl der Geschmackspapillen bestimmt ist, dafür fand nun Linda Bartoshuk endgültig einen Beweis. Mit einer blauen Lebensmittelfarbe und einem Wattestäbchen bewaffnet, bepinselte sie sorgfältig die Zungen ihrer Versuchsteilnehmer. Aus der blau eingefärbten Zungenoberfläche ragten in zartem Rosa die Geschmackspapillen hervor. Bei den einen waren es zahlreiche kleinere, andere hatten indes nur wenige große. Brillat-Savarin hatte also recht behalten: Die Anzahl der Zungenpapillen spielt für die Geschmackssensibilität eine entscheidende Rolle. Wer über viele kleine Zungenpapillen verfügt, erweist sich als Sensibelchen oder Bitterschmecker. Bartoshuk gab diesen Probanden den Namen »Supertaster«, Superschmecker also. Als das Gegenteil erwies sich, nämlich als »Nontaster« oder Nichtschmecker, wer nur über wenige einzelne Zungenpapillen verfügte. Beide Gruppen waren etwa gleich groß und umfassten jeweils etwa ein Viertel aller Teilnehmer. Jeder Zweite ist mit einer durchschnittlichen Anzahl von Zungenpapillen, nämlich etwa zweihundert pro Quadratzentimeter, ausgestattet und gehört damit zu den »Tastern« oder Normalschmeckern. Ein Superschmecker bringt es auf bis zu tausend Geschmacksknospen pro Quadratzentimeter, Nichtschmecker dagegen gerade einmal auf elf oder zwölf Knospen pro Quadratzentimeter Zungenoberfläche! Das ist, als würde der eine einen Film auf einem ultrahochauflösenden Superbildschirm angucken, der andere denselben Film mit einem verpixelten Schwarz-Weiß-Fernseher Baujahr 1960. Um sich ein Bild von den extremen Unterschieden zwischen Superschmeckern und Nichtschmeckern zu machen, schlägt Bartoshuk vor, sich die Welt der Superschmecker als neongrell vorzustellen, während die Welt der Nichtschmecker eine pastellfarbene sei.

Superschmecker

Nicht jeder kann mit einem Gemüseteller etwas anfangen. Des einen Lebenselixier ist des anderen blanker Horror, besonders, wenn Brokkoli im Spiel ist. »Das Gemüse ist das tödlichste auf Erden, weshalb es versucht, dich mit seinem schrecklichen Geschmack zu warnen«, doziert Dr. Hibbert, während er Homer Simpson von einem im Hals stecken gebliebenen Brokkolistück befreit (in der Folge Treehouse of Horror XI).

Auch der ehemalige US-Präsident George W. Bush ist leidenschaftlicher Brokkoli-Hasser. Vor laufenden Kameras verkündete er, niemals wieder in seinem Leben Brokkoli zu essen. »I do not like broccoli and I haven’t liked it since I was a little kid and my mother made me eat it. And I am President of the United States and I am not going to eat any more broccoli.«

 

Gibt es möglicherweise eine angeborene Abneigung gegen das Gemüse? Gegen Gemüse überhaupt? Die Frage stellte sich mir, als meine Tochter geboren war und ich mir zum Ziel gesetzt hatte, das gesündeste Baby auf Erden zu haben, sprich es mit dem besten, weil selbst gemachten Babybrei zu füttern. Besonders der letzte Teil entpuppte sich als eine der größten Herausforderungen. Obwohl das Gemüse vom Wochenmarkt stammte, das hochwertige Öl fein dosiert und der Brei so makellos cremig püriert war wie eine exklusive Gesichtsmaske, widersetzte er sich seiner Bestimmung vehement. Reste davon finden sich vermutlich noch heute in der damaligen Küche, denn nach jedem erfolgreich im Kindermund versenkten Löffel verteilte sich der Brei als feiner Sprühnebel im Raum, ausgestoßen aus dem gespitzten Mund einer Einjährigen, die Essen für ein amüsantes Spiel hielt. Von Neophobie konnte hier keine Rede sein. Essen wanderte ohne Umschweife in den Mund hinein – und begleitet von Kopfschütteln wieder hinaus. Immerhin schmeckte genau derselbe Brei dem gleichaltrigen Sohn meiner Freundin. Wie auf Knopfdruck schlemmte er genüsslich drauf los, gluckste zufrieden und hielt erst inne, wenn die Schüssel restlos leer geputzt war. Das Kind einer weiteren Freundin wiederum mochte von klein auf nur Nudeln ohne alles, allen gut gemeinten Versuchen zum Trotz. Die Freundin erinnert sich, als Kind ein ähnlich hoffnungsloser Fall gewesen zu sein. Sie ekelte sich vor allem, was knorpelig, schwabbelig, fettig, sauer, besonders aber bitter war und damit vor fast allem, was auf ihrem Teller landete. Ihre Großmutter nahm sie stets in Schutz – auch sie war nach eigenem Bekunden als Kind das gewesen, was man einen »schwierigen Esser« nannte.

Wenn man sich ein wenig umhört, kennt jeder jemanden mit einseitigen Nahrungsvorlieben. Sei es ausschließlich Toast mit Erdnussbutter oder nur Pommes und Fleischwurst oder ausschließlich Pasta mit Butter.

Ebenso verbreitet sind familiäre Häufungen von Superschmeckern. Linda Bartoshuk würde sagen, die betreffende Familie trägt ein Supertaster-Gen.

Die mehr oder weniger ausgeprägte Sensibilität gegenüber Geschmacksstoffen wird über Generationen vererbt. Dahinter steckt ein evolutionärer Kunstgriff. Ein Überlebenssicherungsmechanismus. Es gibt Lebensräume, in denen der Versuch, eine neue Nahrung zu identifizieren, tödliche Gefahren birgt. Brokkoli ist dabei vergleichsweise harmlos – die Rede ist hier von wirklich giftigen Pflanzen, die bereits in kleinster Dosis gefährlich werden: Tollkirsche, Paternostererbse und Brechnuss gehören dazu. Pflanzen schützen sich seit Jahrmillionen vor Schädlingen, indem sie bitter schmeckende giftige Stoffe produzieren, die als natürliche Pflanzenschutzmittel wirken und Insekten davon abhalten sollen, ihnen zu Leibe zu rücken.

Nun ist jedoch nicht alles, was bitter schmeckt, giftig: In der richtigen Dosis kann es sogar Heilkräfte anregen. Wissenschaftler der Ohio State University haben entdeckt, dass Brokkoli und Rosenkohl den Organismus zur Bildung einer bestimmten krebsbekämpfenden Substanz anregen. Sie heißt Indol-3-Carbinol (I3C) und kann die Ausbreitung von Krebszellen wirksam stoppen. Der Inhaltsstoff Sulforaphan schützt die Haut vor Sonnenbrand und damit vor vorzeitiger Hautalterung, indem er die Herstellung bestimmter Eiweißstoffe in den Hautzellen anregt.

Weitere bitter schmeckende Pflanzenstoffe sind Tannine und Flavonoide. Sie finden sich besonders häufig in Pflanzen, die extremen Umweltbedingungen ausgesetzt sind. Kälte oder große Hitze, Feuer, Dürreperioden, Stürme und karge Böden – alle diese äußeren Bedingungen sorgen dafür, dass die Pflanze sich innerlich wappnet, indem sie diese schützenden Stoffe produziert. Tannine, auch Gerbstoffe genannt, sind bekannt für ihre bitter schmeckende und zusammenziehende Wirkung. Sie kennen sie von Rotwein, grünem und schwarzem Tee. Geschmacklich ist die Rede dann von der Adstringenz. Ein anderer Inhaltsstoff ist das Resveratrol: Es schützt die Pflanze vor intensiver Sonneneinstrahlung. Im menschlichen Körper bewahrt es die Zellen vor Umwelteinflüssen, Viren, Mikroben und Bakterien, stärkt das Herz und wirkt entzündungshemmend. Resveratrol gehört zur Gruppe der Polyphenole. Ginkgo, Granatäpfel, Quitten – und Kohl, insbesondere Brokkoli, haben besonders viele davon. Dass sie bitter schmecken, unterstreicht ihre gesundheitsfördernde Wirkung. »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, erkannte schon Nietzsche.

Tatsächlich: Wenn etwas potenziell Schädliches heilend wirkt, spricht die Wissenschaft von Hormesis (griechisch für »Anregung, Anstoß«). In geringer Dosis setzen Toxine die Zellen unter leichten Stress. Die Zellen sterben nicht daran, vielmehr gehen sie gestärkt daraus hervor. Eine Art von Abhärtungskur, wie Eisbaden oder Saunabesuche. Ähnliches geschieht auch bei sportlicher Betätigung oder längerem Fasten: Stressreaktionen wappnen die Zellen für zukünftige Belastungen. Das Wirkprinzip der Hormesis ist möglicherweise hauptverantwortlich für die gesundheitsstiftende Wirkung von Obst und Gemüse. Allerdings nützt es wenig, Unmengen davon zu futtern. (Sie gehen ja auch nicht zehn Stunden in die Sauna, nur weil es gesund ist.) Wer literweise Grünkohl-Smoothies in sich hineinkippt, darf keinen gesundheitlichen Mehrwert erwarten. Und Haferflocken können den Cholesterinspiegel wirklich senken, eine Haferflocken-Diät, die allerdings fünf Portionen Haferflocken täglich vorsieht, ist nicht nur eine verteufelt langweilige Schikane, sondern entbehrt jeder gesundheitlichen Berechtigung. Vergessen Sie den Mythos »Viel hilft viel«. Richtig ist: Auf die Dosis kommt es an. Der Neurowissenschaftler und Altersforscher Mark Mattson hat die Wirkung hormetisch wirkender Substanzen in einer zweiphasigen Kurve dargestellt, in der er den physiologischen Effekt gegen die Dosis aufträgt (siehe »Erst gut, dann schlecht«). Die entstehende Linie verläuft zunächst im Bereich »nützlich« und zeigt damit, dass der Verzehr einer kleinen oder mittleren Menge des jeweiligen Pflanzenstoffs gesundheitsfördernd wirkt. Mit zunehmender Dosis geht sie jedoch in den Bereich »schädlich« über, was die steigende Toxizität widerspiegelt. Als Beispiel nennt Mattson Paranüsse. Sie enthalten das Spurenelement Selen. In geringen Mengen verzehrt, kann es das Risiko für Herz- und Krebserkrankungen senken, indem es die Aktivität eines Enzyms fördert, das solchen Erkrankungen entgegenwirkt. In großen Mengen eingenommen, wirkt Selen jedoch stark toxisch und vergiftet Leber und Lunge.

Hilft eine sensible Zunge möglicherweise, genau jene kritische Schwelle herauszufinden, ab deren Überschreitung sich die positive Wirkung ins Negative umkehrt? In Teilen Afrikas gibt es noch heute Bevölkerungsstämme mit ausgeprägter Geschmackssensibilität. Die Genetikerin Sarah Tishkoff untersuchte Angehörige mehrerer Hirtenstämme in Kamerun und Kenia auf ihre Schmeckfähigkeit und entdeckte dabei sieben unterschiedliche Ausprägungen eines Gens (TAS2R38), von dem in Europa und Asien lediglich zwei Ausprägungen existieren. Die sensible Zunge hilft den Nomaden offenbar, sich in unterschiedlichsten Lebensräumen mit wechselndem Nahrungsangebot zurechtzufinden.

Nachkommen jener Nomaden und Sammler könnten diese außergewöhnliche Sensibilität bis heute beibehalten haben. Freilich ist es in der heutigen Zeit wenig hilfreich, mit der Zunge eines Hochleistungsschmeckers ausgestattet zu sein. Unsere Nahrung ist ja bereits mehrfach als sicher geprüft, niemand muss mehr Karotten oder Salatblätter neu entdecken. Dennoch gibt es Superschmecker, deren Zungensinn so unglaublich fein ist, dass ihnen sogar vergleichsweise milde Gemüsesorten zu bitter erscheinen. Rosenkohl, Radicchio, Spinat und Chicorée sind Superschmeckern ohnehin ein Graus. Anfänglich zumindest, denn, und das ist der Clou, mit der Zeit können sie sich durchaus daran gewöhnen. Der positive Lerneffekt ergibt sich aus der wiederholten Darbietung und der damit einsetzenden Anpassung an den Reiz, der zunehmend schwächer wahrgenommen wird.

Superschmecker profitieren durchaus von ihrem Feingespür, und das in mehrerlei Hinsicht. Menschen, die besonders gut auf Bitterstoffe in Lebensmitteln reagieren, erkennen offenbar auch kleinste Mengen von krank machenden Bakterienmolekülen in der Luft. Bei ihnen kann das Immunsystem frühzeitig auf eine Bakterieninvasion reagieren, beispielsweise durch Aktivierung von Flimmerhärchen und Flüssigkeitssekretion. Bei allen anderen geschieht das erst ab einer hundertfach höheren Molekülmenge, berichten Wissenschaftler im »Journal of Clinical Investigation«. »Unsere Ergebnisse zeigen, dass der Rezeptor T2R38 eine Wächterfunktion für die angeborene Immunabwehr in den oberen Atemwegen hat. Und seine genetisch bedingten Variationen tragen dazu bei, dass es individuelle Unterschiede in der Anfälligkeit für Atemwegsinfektionen gibt«, erklären Noam Cohen von der University of Pennsylvania in Philadelphia und seine Kollegen. Superschmecker sind nicht nur besser gegen Nasennebenhöhlenentzündungen gewappnet, auch gegen Übergewicht, Diabetes und damit verbundenen koronaren Erkrankungen.

 

Vor einer Buttercemetorte kapituliert ein Superschmecker schon nach wenigen Bissen, die ist ihm zu süß und zu fettig. Der Zusammenhang zwischen Geschmackssensibilität und einem niedrigen Body-Mass-Index ist mittlerweile wissenschaftlich belegt. Vergorenes erkennt ein Superschmecker schon lange, bevor ein anderer den Unterschied im Geschmack bemerken würde. Es gibt Superschmecker, die erkennen Milch, die dabei ist, sauer zu werden, schon zwei Tage vor dem kritischen Punkt. Ihre Zungen entdecken kleinste Veränderungen und Ungereimtheiten, weshalb Superschmecker in den Lebensmittellaboren dieses Planetenheiß begehrt als Geschmackstester oder »Profi-Panelisten« sind, deren Urteil über die Einführung neuer Produkte und Rohstoffe entscheidet. Auch unter Sommeliers und Restaurantkritikern gibt es überdurchschnittlich viele Superschmecker. Ihr Urteil ist so gefürchtet wie präzise. Während ein Superschmecker mühelos Dutzende unterschiedliche Beschreibungen für »süß« finden kann, ist unter Normalschmeckern das Gespür für die feinen Abstufungen eines Geschmacks bei Weitem nicht so ausgeprägt. Eine britische Studie mit dreitausend Teilnehmern zeichnet ein ziemlich ernüchterndes Bild über die durchschnittliche Schmeckfähigkeit. Von den Probanden, die anhand einer Reihe von Geschmacksproben die vier Grundrichtungen erkennen sollten, schmeckten 90 Prozent »süß«, 67 Prozent »sauer«, lediglich 53 Prozent »salzig« und nur 48 Prozent »bitter«. Gerade einmal einem von fünf Menschen gelang es, alle vier Geschmacksrichtungen korrekt zu identifizieren. Mit Sicherheit war es ein Superschmecker.

Bekommt ein Superschmecker genügend Nährstoffe?

Das ist eine Frage, die sich viele Betroffene stellen. Die allermeisten Studien führen zu dem beruhigenden Ergebnis, dass auch mäkelige Esser ausreichend Nährstoffe und Vitamine zu sich nehmen. Der Körper ist klug genug, einen Mangel rechtzeitig zu kompensieren. Auch wenn das nicht zu jeder Mahlzeit, sondern erst nach mehreren Tagen, manchmal sogar erst nach Wochen geschieht. Trotzdem ist die Sorge von Eltern nachvollziehbar, deren Kind partout nicht essen will und daher nur wenig an Gewicht zulegt. An dieser Stelle sei eine Studie über Hühnereier erwähnt, die ja Bestandteil beider Leibspeisen aller Superschmecker sind, nämlich Pasta und Pfannkuchen.

Eine Wissenschaftlerin der Washington University in St. Louis wollte herausfinden, ob Kinder in Entwicklungsländern besser gedeihen, wenn sie täglich ein Hühnerei essen. Dazu wurde für hundertsechzig Babys in einer ländlichen Region in Ecuador ein spezieller Nahrungsplan erstellt, der für die Hälfte der Kinder ein Ei pro Tag vorsah, für die andere Hälfte nur gelegentlich ein Ei. Nach nur vier Monaten waren die Unterschiede deutlich messbar. Die Eier-Esser gediehen sichtlich besser als die Vergleichsgruppe, sie legten sowohl an Gewicht als auch an Länge zu. Die Unterentwicklung ging um 50 Prozent zurück. »Wir waren überrascht, wie groß der Effekt dieses Eingriffs war«, so die Studienleiterin Lora Ianotti. »Eier enthalten eine Kombination vieler verschiedener Nährstoffe, das war hier ausschlaggebend.« Eier enthalten neben Proteinen zahlreiche Vitamine, Eisen, Folsäure, Kalzium, Magnesium und Fluor, besonders dann, wenn es sich um die Eier von Freilandhühnern handelt.

Tipp: Falls Sie öfter Pfannkuchen backen, ersetzen Sie schrittweise Weizenmehl gegen Dinkelmehl, später gegen Dinkelvollkornmehl und zusätzlich ein Drittel Mandelmehl. Und backen Sie die Pfannkuchen bei nicht zu großer Hitze in einem Öl mit einfach ungesättigten Fettsäuren (zum Beispiel Olivenöl oder Rapsöl). Benutzen Sie als Aufstrich Marmelade mit einem niedrigen Zuckeranteil. z. B. Himbeermarmelade mit 70 Prozent purer Frucht und 30 Prozent Zucker. Damit haben Sie ein super Nährstoffpaket für Ihren Superschmecker geschnürt. Wenn er nur Nudeln essen will, kaufen Sie welche auf Vollei-Basis aus biologischer Haltung und sparen Sie bloß nicht mit Butter!

 

Nichtschmecker

»Auch im Königreich des Schmeckens gibt es Blinde und Taube«, resümierte einst Brillat-Savarin. Blind und taub gegenüber den Feinheiten einer fein aromatisierten Bouillabaisse, dem Jodgeschmack eines ungesalzenen Fisches oder der natürlichen Süße von geschmorten Zwiebeln. Nichtschmecker verlangt es nach Käsebrot mit Marmelade oder gesalzenem Eis. Es sind diejenigen, die schon als Kinder Oliven oder sauren Hering mögen, die am Bier nippen und nach einem zweiten Schluck verlangen, denen Kapern und Senfsoße wie gerufen kommen. Über jeden neuen Geschmack fallen sie her wie Heuschrecken über ein Weizenfeld. Und sie hören erst auf, wenn der Teller mit einem letzten Stück Brot blank geputzt wurde. In ihrem Umfeld gelten sie als »gute Esser«. Auf Familienfesten heimsen sie die Anerkennung aller Verwandten ein, weil sie so unglaublich »unkompliziert« sind und Dinge essen, vor denen mancher Erwachsene zurückschreckt. »Aus dir wird mal was«, wird ihnen prophezeit, während den Superschmecker bestenfalls mitleidige Blicke treffen.

Nichtschmeckern fehlt es nicht an Appetit, eher schon an kulinarischem Feingespür. Geschmackswahrnehmungen gegenüber sind sie eher unsensibel. Vorurteilslos und ohne Gefahr zu wittern kosten sie von allen verfügbaren Speisen, ungeachtet dessen, ob sie bitter, sauer oder ungewöhnlich salzig sind. Die Zunge der Nichtschmecker ist so widerstandslos wie ein Eiskanal, sämtliche Geschmäcker gleiten an ihr ab. In freier Wildbahn wären sie in ständiger Gefahr. Gifte würden sie erst ab einer tödlichen Dosis erkennen, Verdorbenes erst nachdem es vor Bakterien wimmelnd quälend sauer schmeckt. Andererseits – und hier greift wieder das Prinzip der Hormesis –, was uns nicht umbringt, macht uns stärker. Wem Tannine, Polyphenole und Milchsäurebakterien in Mengen nichts anhaben können, der ist gesundheitlich vermutlich robuster als ein vorsichtiger Superschmecker. Gleich mehrere Studien bestätigen diese Annahme. So stieß Valerie Duffy von der University of Connecticut im Rahmen von routinemäßigen Vorsorgeuntersuchungen des Dickdarms bei älteren Männern auf eine Häufung von Polypen – eine Vorstufe von Darmkrebs –, wenn diese Superschmecker waren. Nichtschmecker waren dagegen augenscheinlich besser gewappnet, sie hatten ein geringeres Risiko für entzündliche Darmerkrankungen und Darmkrebs. Dafür sprechen gleich mehrere Gründe. Einerseits sorgt Vergorenes für eine Vermehrung von gesundheitsfördernden Darmbakterien, andererseits regt Bitteres die Darmbakterien an, eine schützende Schleimschicht zu bilden, eine Barriere also, die verhindert, dass Schadstoffe in den Blutkreislauf gelangen und an anderer Stelle Schaden anrichten. Zusätzlich sind Obst und Gemüse reich an entzündungshemmenden Antioxidantien und an Ballaststoffen, die wiederum als Bakterienfutter dienen und günstige Wirkung auf den Blutzuckerspiegel haben. Jeder, der Obst und Gemüse in seine tägliche Ernährung aufnimmt, profitiert von diesen Vorteilen.

Nun ist aber nicht jeder Nichtschmecker automatisch ein Gemüseliebhaber. Tatsächlich stehen bei ihnen häufiger würziges Fleisch, Fettiges und Süßes auf dem Speiseplan. Die Vorliebe für fetthaltiges, süßes und intensiv gewürztes Essen kann zu gesundheitlichen Problemen führen – so weit, so bekannt. Die Kehrseite ist: Offensichtlich haben Nichtschmecker Probleme, den Fettgehalt von Lebensmitteln auch nur annähernd korrekt zu bestimmen. Das kann in Überkonsum ausarten. Das Gleiche gilt für Alkohol und Zigaretten, die tendenziell von Nichtschmeckern stärker bevorzugt werden als von Superschmeckern, die den bitteren Nikotingeschmack ablehnen.

Dass typische Zivilisationsleiden wie Diabetes, Herzkreislauferkrankungen, Karies und Atemwegserkrankungen bei Nichtschmeckern häufiger anzutreffen sind, zeigt, wie wichtig Geschmackstrainings sind. Schmecken zu lernen heißt, gesünder zu leben. Tatsächlich beinhalten viele Programme zur Behandlung von Übergewicht Übungen, in denen die Fähigkeit geschult wird, sensibler auf Nahrungsbestandteile zu reagieren. Das wiederum erfordert, dass man sich Zeit zum Genießen nimmt. Ron Ramsay von der Universität Amsterdam entwickelte in den Siebzigerjahren ein Genusstraining als Therapie. Der Gedanke dahinter: Alles ist erlaubt, egal ob Schnitzel, Schokolade oder Kuchen – einzige Bedingung ist, mit Genuss zu essen. Die Erlaubnis zum Genießen soll den Umgang mit Lebensmitteln entspannen, aber auch dazu anregen, langsam und bewusst zu essen. Tatsächlich scheint der Genuss das Essverhalten zu verändern. In derselben Zeit werden weniger Kalorien aufgenommen. Sättigungssignale, die nach fünfzehn Minuten wahrnehmbar sind, werden rechtzeitig als solche erkannt.

Nichtschmecker haben aufgrund ihrer Offenheit gegenüber Geschmäckern ein großes Talent zum Genießen, sie müssen es lediglich nutzen. Es könnte sich bei ihnen um die Nachkommen eines sesshaften Stammes handeln, die sich mit dem zu begnügen hatten, was die unmittelbare Umgebung an Essbarem hergab. Mäkelig durfte man hier nicht sein, erfinderisch schon eher. Das Frühstücksei mit Maggi, Senf und Butter? Warum nicht? »Süß-sauer« wie beim Marmeladenbrot mit Essiggurke: Wenn’s denn schmeckt … Nichtschmecker beweisen immer wieder reichlich Fantasie bei der Zubereitung ihrer Nahrung. Die Würzfalle ist die einzige, in die ein Nichtschmecker tappen kann. Künstliche Aromen und Geschmacksverstärker schädigen langfristig den Geschmackssinn. Falls auch Sie zu außergewöhnlichen Geschmäckern neigen, tun Sie gut daran, Kräuter und Gewürze natürlichen Ursprungs in Ihren Speiseplan zu integrieren. Auch hier gibt es intensive Geschmacks-Booster, die garantiert für Gaumenkitzel sorgen, beispielsweise den Szechuanpfeffer. Der kribbelt so stark, dass die Zunge hinterher für eine Weile betäubt ist. Wer weiß, vielleicht inspiriert Sie das ja zu einer Neuinterpretation von »süß-sauer-scharf«.

Test: Welcher Geschmackstyp sind Sie?

Zählen Sie Ihre Zungenpapillen. Was Sie dazu brauchen? Blaue Lebensmittelfarbe, 1 Wattestäbchen, 1 Lochverstärker für Aktenordner, 1 Pinzette, 1 Lupe

Und so geht’s: 1. Pinseln Sie mit dem Wattestäbchen blaue Lebensmittelfarbe auf das erste Drittel Ihrer Zunge 2. Legen Sie den Lochverstärker auf Ihre Zunge 3. Benutzen Sie die Lupe und einen Spiegel, zählen sie die hervorstehenden rosa Zungenpapillen. Tipp: Machen Sie ein Foto und zählen anhand des Fotos oder machen Sie den Test zu zweit und zählen Sie Ihre Zungenpapillen gegenseitig.

Auswertung

Anzahl der Papillen

Geschmackstyp

Prozentsatz in der Gesamtbevölkerung

Weniger als 15

Nichtschmecker

25 %

15 – 35

Schmecker

50 %

Mehr als 35

Superschmecker

25 %

 

 

Bitterschmecker

Nicht zu verwechseln mit den Superschmeckern sind die sogenannten Bitterschmecker. Ein Team um Wolfgang Meyerhof vom Deutschen Institut für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke entdeckte, dass einzelne Bitterstoffe unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Die genetische Information für den Bau der Bitterrezeptoren ist beim Menschen auf fünfundzwanzig Gene verteilt. Eines davon ist das besagte TAS2R-38-Gen. Das Besondere des TAS2R-38-Gens ist, dass an dieser Stelle der DNA die Basenabfolge geringfügig variiert. Somit liegt der TAS2R-38-Rezeptor in mehreren Formen vor: Die eine erkennt Bitterstoffe, die andere nicht. Bei jedem vierten Menschen fehlt das empfindlichere Gen – sie sind daher mit Bartoshuks Nichtschmeckern vergleichbar.

Jedes der fünfundzwanzig Gene für Bittergeschmack ist für unterschiedliche Gruppen von Bitterstoffen zuständig. So gibt es einen weiteren Rezeptor, den TAS2R-46, der auf das Gift der Brechnuss (das Strychnin) reagiert und der gleichzeitig für Chloramphenicol zuständig ist, das typisches Bitterempfinden bei der Einnahme von Antibiotika auslöst. Ein anderer Rezeptor, der TAS2R-14 wird aktiviert, wenn er mit dem Bitterstoff Thujon aus Wermut, Rosmarin und Salbei in Berührung kommt.

Bitterschmecken hat in diesen Fällen also weniger mit der Anzahl der Geschmacksknospen zu tun als mit der genetischen Variation der Rezeptoren. So gibt es in Ausnahmefällen Nichtschmecker, die trotzdem sensibel auf Bitterstoffe reagieren, und Superschmecker, die für bestimmte Bitterstoffe nicht empfänglich sind. Ob Superschmecker oder Bitterschmecker, die Frage ist lediglich, ob und wie sich die Gene überlisten lassen. Oder anders gesagt: Wie Köche zukünftig mit empfindsamen und unempfindsamen Gaumen umzugehen haben.

 

Was soll ich tun, wenn es keinem schmeckt?

Nehmen wir ein typisches Abendessen mit Freunden. Sie kochen, für den Veganer ohne Milchprodukte, für den Allergiker ohne Erdnüsse, ohne Gluten für alle. Wer keinen Fisch mag, bekommt Fleisch, wer kein Fleisch mag, bekommt Auberginen. Oder so ähnlich. Bei all dem geben Sie sich natürlich große Mühe, dass es schmeckt. Sie würzen, bis Sie das sichere Gefühl haben, jetzt passt alles. Mehr aus Höflichkeit als aus Mangel an Zuversicht stellen Sie dennoch den Salzstreuer und die Pfeffermühle auf den Tisch, sicherheitshalber auch noch Sojasoße und Gewürze.

Und dann kommt die Überraschung. Dem einen ist alles zu scharf, dem anderen fehlt Salz, die Barbecuesoße geht reihum, und Sie fragen sich, was Sie falsch gemacht haben.

Nichts haben Sie falsch gemacht, gar nichts. Wenn es nicht schmeckt, liegt es eher an den Genen des Gasts, seltener an den Fähigkeiten der Köchin oder des Kochs.

Sicher, Geschmack kann eine kulturelle Frage sein, auch spielen die Erziehung und die Essensumgebung eine Rolle, die Gespräche am Tisch, sogar die Farbe des Tellers und die Musik im Hintergrund nehmen Einfluss auf das Geschmackserlebnis. Die genetische Komponente des Schmeckens ist allerdings so evident wie die Vitamine im Gemüse. Zwar ist die Zunge ein vergleichsweise kleines Organ, ihr Einfluss auf das soziale Miteinander ist allerdings immens. Gehen Sie einfach davon aus, dass Sie auch beim nächsten geselligen Abendessen mit Freunden nur jeden Zweiten zufriedenstellen können.

 

Gerade weil