Cover

Über dieses Buch

Viele überlieferte Gewissheiten aus den Traditionen von »Aufklärung« und »Moderne« sind brüchig geworden – es scheint, als ob sich unser gewohntes Weltbild gerade auflöst. Andererseits haben wir den Kopf noch nicht frei für den Entwurf von Alternativen. Diesen Befund spiegeln Hans Ulrich Gumbrechts Glossen und Artikel, etwa über Muhammad Ali, Armut in Indien, Kinderkriegen, Liebe im Alter, die Ästhetik des Selfies, Political Correctness, den Tod der eigenen Mutter, Freiheit oder Gewalt.

Die Texte des Bandes wurden ausgewählt und eingeleitet von René Scheu, Feuilletonchef der NZZ.

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Fußnoten

Hans Ulrich Gumbrecht, Weltgeist im Silicon Valley, Zürich 2018, S. 209.

Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012, S. 245.

Hans Jacob Christoph von Grimmelshausen, Der abentheuerliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio, hrsg. von Dirk Niefanger, Stuttgart 2017, S. 15.

Glenn Gould, Freiheit und Musik. Reden und Schriften, Stuttgart 2017 (Reclams Universalbibliothek. 19412), S. 16 f.

Der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (First Amendment) lautet: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.« (»Der Kongress darf kein Gesetz mit Bezug auf die Einführung einer Staatsreligion verabschieden; oder ein Gesetz, das die freie Religionsausübung verbietet; oder das die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen.« (Übers. R. S.).

Auch Intellektuelle haben ihre schrulligen Accessoires: Hans Ulrich Gumbrecht trägt diesen breiten Schnauz. Ja, man müsste wohl sogar sagen: Hans Ulrich Gumbrechts Gesicht lässt sich ohne diesen Zierrat, der zwischen Oberlippe und Nase geradezu unheimlich präsent ist, überhaupt nicht vorstellen. Nach eigenem Bekunden verdankt sich das Körper-Accessoire einem seiner Idole, dem Fußballer Sandro Mazzola.1 Der große Mittelfeldspieler von Inter Mailand, genannt »Il baffo«, »der Schnauz«, spielte in den 1960er und 1970er Jahren scharfe Pässe – und Hans Ulrich Gumbrecht führt seither nicht minder scharfe Denkbewegungen aus. Sein Schnauz erinnert ihn täglich an seine denkathletischen Ambitionen. Nur wer in die Tiefe denkt (oder spielt), macht einen Unterschied. Wo Vagheit war, muss Ekstase werden.

Aber Intellektuelle neigen nicht nur zu Accessoires, sondern auch zu Obsessionen. Gumbrechts Obsession ist, der Titel dieses Bands bringt es auf den Punkt, die Frage nach der Gegenwart, oder genauer: nach der Gegenwärtigkeit unserer Gegenwart – einer Zeit, die in Gumbrechts Augen brüchig geworden ist.

Warum brüchig? Weil sie uns zunehmend abhandenkommt. Präsenz als körperliche Anwesenheit, als undekonstruierbare Verbundenheit mit dem, was hier und jetzt geschieht, können wir zwar weiterhin erleben – etwa, wenn wir fokussiert verfolgen, wie Cristiano Ronaldo den Rasen zur Bühne seiner Kunst erhebt. Doch zählen Fußballstadien – und allgemeiner: Sportstätten – mittlerweile zu den letzten Refugien für Erfahrungen solcher Art. An die Stelle eines Lebens

Natürlich gibt es verschiedene Arten, sich zum Affen zu machen. Die derzeit beliebteste ist der Gebrauch des Smartphones bei jeder Gelegenheit. Der affige Zeitgenosse schiebt die digitale Schnittstelle zuverlässig zwischen sich und die Welt. Wenn er ein Museum oder ein Kino besucht oder ganz einfach einem Sonnenuntergang beiwohnt, zeichnet er alles auf – und natürlich auch sich selbst, indem er das Auge der Kamera zuletzt auf sein lächelndes Gesicht hält und ein Selfie schießt. Obwohl er als Chronist auftritt, ist davon auszugehen, dass er sich die allermeisten Aufzeichnungen nie mehr ansieht.

Dieser Zeitgenosse lebt im Gefühl, nichts verpassen zu dürfen, obwohl er doch ständig alles verpasst. Ihm kommt – nach Gumbrechts Diagnose – die Erfahrung der Präsenz abhanden. Wirklich ist nicht mehr das sinnlich Erlebte. Echt ist einzig, was auf der Festplatte gespeichert ist und sich beliebig aktualisieren lässt. Doch lagern die meisten Files mit den Aufzeichnungen unberührt auf den Speichermedien, bis sie eines Tages entsorgt werden – oder mit dem Träger zu Staub zerfallen. Der Wille zur Aufzeichnung zeitigt ein paradoxes Ergebnis: Wer versucht, die schwindende Gegenwart zu bannen, endet

Die Gegenwärtigkeit unserer Gegenwart hat sich im Zeichen der Digitalisierung fundamental verändert. Sie hat nicht nur begonnen zu entschwinden, sondern sie vervielfältigt sich dank neuen Speicherkapazitäten zugleich in eine potenziell unendliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Alles ist verfügbar, nichts verbindlich. Unser Leben gleicht immer mehr einem Film, in dem wir selbst eine Rolle spielen: Es gibt keine Mode, keinen Stil, keine Frisur und keine Lebensform mehr, die nicht zu den Requisiten zählte, die wir als zeitgenössisch betrachteten. Die Vergangenheit vergeht nicht mehr, die Gegenwart wird immer breiter, und die Zukunft gerät nur mehr als das radikal Andere in den Blick, das uns bedroht. Einigkeit unter Zeitgenossen besteht immerhin hinsichtlich eines politischen Punkts: Es kann nicht ewig so weitergehen wie bisher, und doch wissen wir nicht, wie es anders sein könnte, also machen wir trotzdem weiter wie bisher. Die Beschwörung alternativer Welten klingt, nachdem sie lange Zeit furchteinflößend war, nur noch abstrakt und hohl. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum Nostalgie zur Grundstimmung unserer Tage geworden ist: Die Zukunft liegt in der Vergangenheit.

Gumbrecht erinnert sich in diesem Band an allerlei Details aus seiner Kindheit und Jugend – und ist doch in jeder Zeile des Erinnerten ein dezidierter Anti-Nostalgiker. Er will nicht zurück in irgendeine vergangene Welt, und ebenso wenig hat er es darauf abgesehen, sie zu erklären oder für die Nachwelt im Detail aufzuzeichnen, wie es damals wirklich gewesen war. Wenn er dennoch detailversessen beschreibt, wie die erste Sauce Hollandaise in seinem Leben schmeckte oder wie sehr

Aus großen Erwartungen können große Enttäuschungen werden. Gumbrecht, der zu den bedeutenden Intellektuellen der Gegenwart gehört, machte nie einen Hehl aus seinem Bedauern, dass seine Leistungen trotz allem unter den eigenen Erwartungen blieben. Es lässt sich nicht leugnen: Er wurde kein zweiter Platon. Seine Frau Ricky sagt bei solchen Gelegenheiten, Bescheidenheit sei nicht das Hauptproblem ihres Mannes. Gumbrecht pflegt daraufhin zu lächeln. In das Eingeständnis seines eigenen Ungenügens mischt sich in der Tat nicht der geringste Anflug von Bitterkeit. Dazu besteht auch kein Grund. Denn er ist überzeugt: Nur ein Leben am Rande der Überforderung ist ein erfülltes Leben.

Gumbrecht beherrscht die große Kunst der Selbstmotivation wie kaum ein Zweiter. Sie speist sich aus dem Willen zur Intensität und der Gewissheit, dass das Leben auch jenseits der 70 Jahre noch viel vorhat mit ihm. Eine Existenz in Latenz

Gumbrecht, der seit 1989 in Stanford lehrt und längst einen amerikanischen Pass besitzt, hat sich den American Way of Life zu eigen gemacht. Du darfst dich selbst enttäuschen, so oft du willst, vergiss bloß nie, jede neue Enttäuschung mit einer neuen Erwartung zu kontern. Suche die Spannung, die dir zu Höchstform verhilft. Sei bereit, alles anders zu denken (aber bleib dem Schnauz und deinem existenziellen Stil treu). Dann darfst du damit rechnen, dass das Leben intensiv bleibt – und eine eigene Schönheit bewahrt. Von diesem Leben zeugt dieser Band.

Eine jüdisch-deutsche Idylle der fünfziger Jahre

Noch heute, mehr als ein halbes Jahrhundert später, überkommt mich eine große Peinlichkeit bei der Erinnerung an die Versuche meiner Eltern, viele der Lehrer, die ich in der Volksschule und im Gymnasium hatte, zu ihren Freunden zu machen. Was genau sie dazu motivierte, werde ich nie mehr erfahren. Vielleicht war es ein für mich in vieler Hinsicht traumatischer (wie man heute sagen würde) Schulanfang. Frau Fruh, die Lehrerin in der ersten Klasse, beraumte ein Gespräch mit den Eltern an, indem sie ihnen nahelegte, die (damals sogenannte) »Hilfsschule« als Lösung meiner Probleme zu nutzen. Von da an ging es freilich – schulisch gesehen – nur aufwärts, zur Freude der Eltern gewiss, aber doch zu ihrer fragilen Freude, weil sie stets fürchteten, ich könne plötzlich »nachlassen« (noch heute geht mir dieses Wort nur schwer aus den Fingern und über die Zunge).

Frau Fruh, die aus Siegen stammte und an der Würzburger Pestalozzi-Schule (wohl schon nahe der Pensionsgrenze) unterrichtete, gewann allerdings bloß den distanzierten Respekt meiner Eltern. Ein intimeres Verhältnis versuchten sie zu den Lehrern der folgenden drei Volksschuljahre, Herrn Volk und Herrn Russ, zu etablieren. Ich entsinne mich noch ganz genau: meine Eltern überhäuften sie mit Weihnachtsgeschenken nach einer einstudierten Strategie. Ich musste Päckchen und Blumen an den Haustüren der Lehrer abgeben, während mein Vater oder meine Mutter freundlich aus dem Opel Olympia winkten. An Bedenken der Lehrer, solche Geschenke anzunehmen, kann ich mich nicht erinnern – und an irgendwelche zählbaren Vorteile oder Privilegien, die wir dadurch erkauft hätten, ebenso wenig.

Dr. Fina sagte nicht nein. Vielleicht fand er keine Ausrede, möglicherweise beeindruckte ihn die Karriere meines Vaters, der eben Chefarzt geworden war und sich bald einen Mercedes 190 leisten konnte. So hatten Dr. Fina und ich vor und nach den Unterrichtsstunden jeden Tag zwei Gespräche von 25 Minuten zu bestreiten, in denen er mich die jeweils letzten Merkverse mit Regeln der lateinischen Grammatik wiederholen ließ – während mein übereifrig-elfjähriges Ich, das langsam die Schulangst des Anfangs vergaß, ihm von Gott und der Welt erzählte. Da die Finas und meine Eltern bald zu respektvoll Distanz haltenden Freunden wurden (meine Eltern luden zu Hans-Joachim Kulenkampffs Fernsehabenden plus Sekt mit Orangensaft und Kanapees ein, die Finas revanchierten sich mit Dia-Abenden von ihrer jeweils letzten »Reise in die

Niemand hatte solche Vorbehalte gegenüber den Judenwitzen, die gerade erstaunlich hoch im Kurs standen. Eine einschlägige Anthologie mit gelbem Schutzumschlag, herausgegeben von Salcia Landmann, empfahlen meine Eltern immer wieder, weil man bei der Lektüre lerne, »dass die Juden ja auch über sich selbst lachen«. Besonders mein Vater berichtete bei jeder unpassenden Gelegenheit, dass er »Prostata-Patienten im jüdischen Altersheim ohne Verrechnung« behandle – solange dies nicht als Geste der »Wiedergutmachung missverstanden« werde (dass sein Klavier-beflissener Schwager Emil Vorsitzender des Deutsch-Jüdischen Kulturvereins wurde, hielt er hingegen für überzogen). Inmitten jener eigentümlichen Ambivalenzen erinnere ich mich an eine Idylle – die in Bad Kissingen entstehen musste und dort auch verging.

56 Kilometer nördlich von der Bezirkshauptstadt Würzburg in der Rhön liegt der kleine Ort Bad Kissingen. Er war aufgrund seiner »Heilquellen« und eines Gesundheitsfanatismus in den Oberschichten des 19. Jahrhunderts zu einem »Weltbad« aufgestiegen, wo die Kaiserin Sisi, der russische Zar und König Ludwig II. von Bayern lange Wochen konzentrierter Entspannung verbracht haben sollen. Auch Otto von Bismarck – trotz des Attentatsversuchs eines Böttchergesellen, den er

Ab und an erreichten meinen Vater, der sich vor 1960 als Urologe der ersten Stunde wohl eines Moments medizinischer Prominenz erfreute, Anrufe von den zwei oder drei pompösen Kissinger Badehotels, die ihn um Hilfe bei der Behandlung prominenter Gäste baten. Die Namen, an die ich mich in diesem Zusammenhang erinnere, lassen vermuten, dass jene jüdische Bourgeoisie, die allen Anlass gehabt hatte, nach dem Ersten Weltkrieg (und vor allem nach 1933) Europa zu verlassen, in den Sommern der frühen Bundesrepublik nach Bad Kissingen zurückkehrte.

Begeistert reagierte auf meinen Vater vor allem Adolf Axelrath aus New York. Er war ein klein gewachsener Mann, der im Vergleich zu den Onkels und Großvätern meines Alltags sehr gepflegte Haut, einen dunklen Teint und viele Altersflecken hatte. Herr Axelrath sprach ein irgendwie altmodisches, etwas wienerisches Deutsch, das zugleich ein wenig amerikanisch klang (von der damals noch offiziellen »amerikanischen Besatzung« war uns ein deutlicherer Akzent vertraut), wirkte sehr distinguiert, kleidete sich ebenso elegant wie teuer (Schweizer Schuhe und italienische Krawatten) und beeindruckte uns alle mit der freundlichen Souveränität seiner Umgangsformen. Nie sonst in meinem Leben war ich dem Stil des klassisch-europäischen Bürgertums so nah, und nicht zufällig erinnerten mich viele Jahre später einige Porträtfotos des großen Literaturwissenschaftlers Erich Auerbach an Adolf Axelrath. Sein in

Da ich noch heute gerne an meine zwei Tage in der Nähe von Adolf Axelrath denke, habe ich im Internet nachgesehen, welche Spuren er hinterlassen hat. Aufgrund von ein paar dürren chronologischen Daten bin ich zu der Vermutung gelangt, dass er der 1886 (vielleicht im heutigen Rumänien, dafür spräche der Familienname) geborene und 1970 in New York gestorbene Adolf Axelrath gewesen sein muss, der 1920 in die Vereinigten Staaten eingewandert war, 1925 (zum rechtlich frühestmöglichen Termin) die amerikanische Staatsangehörigkeit beantragte, vor 194019471950195119521954195519561957

40