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Haftungsausschluss:

1. Ebook-Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten.

eISBN 978-3-947508-21-1

DR. MED RAINER MARIEN

PSYCHOTHERAPIE UND
SPIRITUALITÄT

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DAS BESTE AUS ZWEI WELTEN FÜR DIE SEELE

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FÜR MEINE ENKELIN FRIDA

INHALT

Einleitung

Teil 1 – Ausgangspunkte für ein befreites Leben

1. Grundlagen

2. Drei Körper-Geist-Seele-Modi

3. Ruhe ich sich finden und das bewusste Sein aktivieren

4. Achtsam sein

5. Loslassen im Alltag

Teil 2 – Wenn es schwierig wird

6. Umgang mit Problemen

7. Sich kennenlernen

8. Verantwortung für sich übernehmen

9. Wünsche und damit verbundene Probleme erkennen

Teil 3 – Tiefer schauen

10. Der Blick zurück

11. Dekonstruktion 1: Reifikationen erkennen

12. Dekonstruktion 2: Das „Ich”

13. Dekonstruktion 3: Das „falsche Selbst”

14. Dekonstruktion 4: Glaubenssätze überprüfen

15. Den Körper befragen

16. Umgang mit Gewohnheiten

17. Lebenselixier Kontakt

Teil 4 – Psychotherapie und spirituelle Suche: Den richtigen Weg für sich finden

18. Praktische Hinweise zur Psychotherapie

19. Bemerkungen zum „spirituellen Marktplatz”

20. Das Beste aus beiden Welten

Checkliste für das Wesentliche

Rezept für ein gesundes Leben

Danksagung / Bibliografie/ Über den Autor

EINLEITUNG

Die lautlose Revolution

Die Zeiten ändern sich dramatisch: Das Internet und die Telekommunikation verbinden immer mehr Menschen auf dem ganzen Planeten Erde miteinander, schaffen damit unendlich viele neue Möglichkeiten. Informationen und Wissen vermehren sich exponentiell und sind weltweit in Sekundenbruchteilen für Millionen und Milliarden Menschen verfügbar. Damit verbunden entsteht so etwas wie eine globale Bewusstheit, zunächst vor allem allerdings auch eine Bewusstheit der Nöte, Schrecken, Katastrophen. Flugzeugabstürze, Erdbeben, Überschwemmungen, Hungersnöte, Kriege, Terroranschläge, Folter, Vergewaltigungen, Zerstörung der Natur und der Umwelt durch den Menschen … die Liste ist sehr lang. Das Positive und etwas Tröstliche daran: Die Wahrnehmung dieser quälenden, schmerzhaften, trostlosen Seite des Weltgeschehens kann und wird ein Anfang für Veränderung zum Besseren sein, denn so ist es mit allem, dem wir mit größerer Bewusstheit begegnen.

Parallel dazu vollzieht sich eine ebenso dramatische, aber kaum sicht- oder hörbare Entwicklung im Inneren von immer mehr Menschen, an immer mehr Orten, auf immer mehr Wegen: Es ist die „lautlose Revolution“ wie der Autor, Coach und spirituelle Freigeist Arjuna Ardagh sie in seinem gleichnamigen Buch (Kamphausen Media) beschrieben hat. Immer mehr Menschen bemühen sich um Befreiung aus der Begrenztheit des „normalen“ Alltagsgeistes und suchen nach ihrem höheren, wahren Wesen, einer neuen Klarheit, nach dem Ende vom Leiden und Konflikten, innerem und äußerem Frieden, einem wirklichen inneren Heil-Werden. Was bei vielen Menschen, die mit dem „ganz normalen Leben“ zufrieden genug zu sein scheinen, Unverständnis auslöst, wird für eine immer größer werdende Gruppe zum wichtigen, vielleicht auch wichtigsten Lebensziel.

Ein Gipfelerlebnis

Für mich begann die Suche danach mit Anfang 30, also etwa 1982. Damals hatte ich erste wichtige Lebensziele erreicht: Ich war glücklich verheiratet, wurde Vater einer Tochter und eines Sohnes und stieg beruflich nach Medizinstudium und Promotion in eine Ausbildung zum Facharzt an einer Universitätsklinik ein. Alles schien gut zu gehen, aber es meldete sich eine leise Regung, eine Sehnsucht in mir: Es kann doch nicht alles im Leben sein, in dieser komplizierten Welt der Gegensätze abwechselnd zufrieden und glücklich, dann wieder unglücklich und leidend zu sein … endlose Wiederholungen derselben Probleme … eine Open-End-Veranstaltung … bis ans Ende meiner Tage?! Ich sah zunehmend, dass wir uns in einer Gesellschaft bewegen, in der das Tragen von Masken „normal“ ist, ein oberflächliches Interagieren ohne wirkliche Tiefe, ohne wirklichen Kontakt. Eine Sehnsucht nach einem anderen, erfüllteren, freudigen, authentischen, befreiten und einfachen Leben kam auf.

Intuitiv fand ich zur Meditation bei der Buddhistischen Gesellschaft in Hamburg, wo Gruppenmeditationen im Stil des Zen-Buddhismus abgehalten wurden. Hier erlebte ich auf dem Meditationskissen Momente von uneingeschränkter, konfliktfreier, von den äußeren Umständen unabhängiger Klarheit, die Möglichkeit im Hier und Jetzt auf eine frische, neue Art glücklich und frei zu sein. Dies war der Lockstoff, von dem ich mehr haben wollte. So nahm ich im Sommer 1983 an einer Intensivwoche in Form eines Zen-Retreats teil. Neben klassischen, von japanischen Zen-Meistern geleiteten Retreats, gab es diese modifizierte Variante, die von der Deutsch-Amerikanerin Toni Packer angeboten wurde. Sie konnte sich als Nachfolgerin eines bekannten „Meisters“ ebenfalls „Zen-Meisterin“ nennen, hatte sich kurz danach aber von den für sie unerträglich gewordenen hierarchischen Strukturen und traditionellen Einengungen gelöst und ihren eigenen Weg als spirituelle Lehrerin begonnen.

Im Laufe der intensiven Woche in ländlicher Abgeschiedenheit, striktem Schweigen – nur unterbrochen von täglichen kurzen Treffen mit der Lehrerin, die keine sein wollte („Es gibt nichts, was ich euch lehren könnte!“) – und vielen Stunden täglicher Meditation, beginnend um fünf Uhr morgens, konnte ich mich voll und ganz nur auf mich selbst und meine Innenwelt konzentrieren. Entsprechend meiner damaligen Verfassung war das eine ziemlich verkopfte Angelegenheit. Ich übte wie verrückt. Während mein Körper in der Meditationshalle das stundenlange Sitzen auf dem Kissen, zu dem ich mich zwang, ertragen musste, war ich erfüllt von der Idee, „Erleuchtung“ zu erlangen, selbst ein „Meister“ zu werden, um das, worum es hier ging, für immer zu haben.

Am fünften Tag jener Woche kamen Zweifel und Enttäuschung in mir auf. Es dämmerte mir, dass ich nicht vorankam; nichts tat sich – trotz meiner verbissenen, leidenschaftlichen Bemühungen. Bald würde die Woche vorüber sein. Nein, ich würde nicht strahlend und erleuchtet heimkehren, als ein „Meister“, sondern niedergeschlagen und mit einem Misserfolg. Mein Körper hatte auch genug von dem ungewohnten, ewigen Sitzen auf dem Meditationskissen. Mein ganzer Rücken und zahlreiche Knochen taten weh. Die Frage, was das Ganze sollte, kam in mir auf. Wozu diese ganzen Mühen?

Schließlich gab ich auf, wehrte mich nicht mehr gegen die Niederlage und setzte mich irgendwo draußen auf den Boden, den Rücken entspannt gegen eine Wand gelehnt. Schluss mit dem „richtigen“ Sitzen in korrekter Haltung, unbeweglich und mit gekreuzten Beinen! Ich gönnte meinem Körper eine wohlige Bequemlichkeit. Und dann war ich plötzlich da, wo ich hingewollt hatte. Wie lächerlich und unsinnig war das ganze Unterfangen!

Ich erlebte erstmals einen unbegrenzten Raum um mich, in dem ich irgendwie enthalten war, ohne die fortwährenden ängstlichen Einschränkungen oder Begrenzungen. Grenzenlos frei in alle Richtungen! Dabei war ich absolut klar. Wahrnehmung, Verstand, Denken, Erinnerung funktionierten mühelos und effektiver denn je, aber das Denken machte quasi leise und schnell seine Arbeit und hörte auf, zu dominieren und ständig neue Fragen und Probleme aufzuwerfen. Alles erschien einfach und kristallklar, die Farben intensiv und brillant. Was für eine wunderbare Welt voller Schönheit und Möglichkeiten!

Um zu überprüfen, ob das, was ich da wahrnahm, auch wirklich stattfand und nicht nur ein Traum war, kniete ich nieder und fühlte über die Kieselsteine am Boden. Ja, die waren ganz real spürbar – runde, harte Steine. Alles war ganz real, dies war kein Traum! Alles fühlte sich dabei neu an, frisch, vibrierend. Zurück in der Halle gingen wir im Kreis und ich dachte dabei wie absurd es sei, wenn einer im Kreis sich als „Erster“ fühlt, wo er und alle anderen genauso ein Mittlerer oder auch der Letzte sein könnten. Ein unbändiges Lachen stieg tief aus dem Bauch in mir auf. Wie unsinnig war dieses ganze Denken in Hierarchien! Niedrig, höher, am höchsten? Alles ist, wie es ist. Punkt. Ganz einfach. Ganz, ganz einfach!

Suche nach dem Leben auf dem Hochplateau

Das ist jetzt mehr als 30 Jahre her, und seitdem bin ich noch viele Wege – um nicht zu sagen: Umwege – gegangen auf der Suche nach Möglichkeiten, immer in diesem wunderbaren Zustand zu leben. Als ich nach jener Woche mit meinem „Gipfelerlebnis“ zurückgekehrt war, kam ich tatsächlich strahlend nach Hause, voller Liebe und Energie, mit geistiger Frische und diesem intensiven Gefühl von Gegenwärtigkeit, in dem das Leben bunt und vielfältig, immer neu und frisch, spannend, in ständiger Bewegung erscheint.

Mein Ziel wurde es dann, diese ungemein intensive Art zu (er-) leben, von der ich nun wusste, dass es sie gab. Ich wollte diese Lebensweise überall fortführen, nicht nur während einsamer Stunden auf dem Meditationskissen im Rückzug, sondern eben jederzeit, überall, auch im Alltag, im Kontakt mit anderen Menschen und in meinem Beruf als Psychiater und Psychotherapeut. Also ging es darum – um im Vergleich zu bleiben –, nicht nur einen Gipfel zu erklimmen, um auf ihm für kurze Zeit zu verweilen, sondern ein Leben auf einem Hochplateau zu führen. So ging ich auf die Suche nach Methoden, Techniken und „Tricks“, um genau das zu erreichen.

Heute bin ich kein Suchender mehr. Die Fragen haben sich geklärt oder auch einfach aufgelöst. Die Aufspaltung in vermeintliche Parallelwelten, „normaler Alltag“ und „meditatives Leben“, gibt es so nicht mehr. Das ist sehr entspannend! Einfach leben, sich dabei zeigen, wie man ist, ohne ständiges Rollenspiel, ohne ständigen Konflikt. Im Privaten wie auch in meiner Berufstätigkeit fühle ich mich integriert. Körper, Seele, Geist spielen zusammen ein komplexes, immer neues Konzert.

In diesem Buch geht es aber nicht um meine persönliche Suche – als Privatperson wie auch als Arzt und Psychotherapeut – und die Wege und Irrwege, auf die sie mich führte. Vielmehr möchte ich die sehr praktischen, handfesten Resultate schildern, die möglicherweise auch anderen nützen können. Ich formuliere das Destillat aus meinen Erfahrungen und Erkenntnissen in grundlegenden Prinzipien, die in der Selbsthilfe, der Psychotherapie und auf einem „spirituellen Weg“ anwendbar sind, und beschreibe kraftvolle, wirksame Tools, die wirklich hilfreich sind. Alle diese Prinzipien und Werkzeuge sind mir von der Anwendung für mich selbst wie auch zur Unterstützung anderer vertraut, und deshalb weiß ich, dass sie funktionieren.

I. TEIL

AUSGANGSPUNKTE FÜR EIN BEFREITES LEBEN

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1. GRUNDLAGEN

In diesem Buch beschreibe ich Prinzipien der Heilung und gehe darauf ein, wie unnötiges seelisches Leid reduziert oder ganz vermieden und unvermeidbares Leid möglichst gelindert werden kann. Schwere Krankheit, Unfälle, Katastrophen, der Verlust geliebter Menschen sind schwere Herausforderungen, denen man sich im Leben nicht immer entziehen kann und die auch durch keine Methode „wegmeditiert“ oder sonst wie aufgelöst werden können. Demgegenüber steht aber die sehr viel größere Menge an vermeidbarem Leid, das durch unaufmerksames, unbewusstes, gedankenloses Leben im Autopilot-Modus ohne wirklichen Kontakt zu sich und der Realität immer wieder erzeugt wird. Die Welt ist voll davon.

Seit über 30 Jahren habe ich mich damit intensiv beschäftigt, in meiner persönlichen Entwicklung und meinem privaten Leben, auf der „spirituellen Suche“, die mich lange bewegt hat, und in meiner beruflichen Tätigkeit als Psychiater und Psychotherapeut in der Arbeit mit meinen Patientinnen und Patienten.

Zu Beginn, Anfang der 80er-Jahre, gab es „Spiritualität“ oder „Mystik“ auf der einen Seite und Psychotherapie auf der anderen, wie getrennte Welten, Paralleluniversen, die abgespalten und verbindungslos nebeneinander existierten. Dabei ging es auf beiden Seiten immer um die Verminderung von seelischem Leid, nur eben auf ganz unterschiedlichen Wegen und in ganz verschiedenen Kontexten, mit jeweils anderen Methoden.

Während meiner psychotherapeutischen Ausbildung hätte ich bei der bloßen Erwähnung von Möglichkeiten der Meditation nur verständnislose Blicke geerntet und wäre als esoterischer Spinner schnell in die Ecke von mangelnder Seriosität und Wissenschaftlichkeit gestellt worden. Das habe ich damals tunlichst vermieden, weil ich damals als Persönlichkeit viel zu unsicher war und auch weil die Welt von Psychiatrie und Psychotherapie schon für sich genommen ein kaum durchschaubarer Dschungel von unzähligen, sich oft widersprechenden Meinungen, Behauptungen und Mutmaßungen darstellte. Wirklich gesichert schien hier so gut wie gar nichts. Es war schon schwer genug, sich dort überhaupt zurechtzufinden.

Auf der anderen Seite hatte ich schon vorher begonnen zu meditieren und dabei einen ersten Geschmack bekommen, wie es sich anfühlt, klar im Kopf und dabei innerlich frei zu sein. Im Umfeld buddhistischer Meditation wäre niemand auf die Idee gekommen, dies als Behandlung seelischer Erkrankungen zu sehen. Nach dem tieferen Grund für die Teilnahme am gemeinsamen Meditieren wurde niemand gefragt. Mit Sicherheit hatten aber viele Mitstreiter, wenn nicht gar alle, ihre ganz persönlichen Probleme, die sie dorthin geführt hatten. Mit dem gleichen Recht hätten sie auch einen Psychotherapeuten aufsuchen können.

Heute, mehr als 30 Jahre später, hat sich in den beiden Welten sehr vieles verändert und die Abgrenzungen haben sich gelockert. Geblieben ist die Frage, was wirklich tief greifend und nachhaltig verändert und heilt, und was nur ein flüchtiges Aufflackern oder eine vorübergehende, oberflächliche Anpassung zum besseren Funktionieren ist.

In diesem Buch versuche ich, darauf eine Antwort zu geben, unabhängig vom Kontext einer „Krankenbehandlung“ in einer Psychotherapie, eines spirituellen Weges unter Führung von Gurus, „Meistern“, spirituellen Lehrern, oder der ganz persönlichen Beschäftigung mit Selbsthilfe-Methoden für sich allein im stillen Kämmerlein. Es geht mir dabei um größtmögliche Einfachheit, Klarheit und Transparenz, die zum Verständnis, zur Aufklärung und damit zur größeren Selbstwirksamkeit und Selbstermächtigung beitragen. Damit verbunden geht es um die Befreiung und die Auflösung unguter, einengender Abhängigkeiten von anderen Menschen, die es vermeintlich besser wissen.

Glaubt nicht dem Hörensagen und heiligen Überlieferungen, nicht Vermutungen oder eingewurzelten Anschauungen, auch nicht den Worten eines verehrten Meisters; sondern was ihr selbst gründlich geprüft und als euch selbst und anderenzum Wohle dienend erkannt habt, das nehmet an.[Buddha]

Unser Innerstes ist unverletzt

Unser Innerstes, unsere Seele, ist durch zahlreiche Schichten geschützt, wie durch Verteidigungswälle, die von außen nicht durchdrungen werden können. Mauer um Mauer müsste abgetragen werden, um schließlich zum Zentrum zu gelangen. Diese tief verborgene Quelle, von der unser Leben lang die Energie ausstrahlt, die uns lebendig erhält und uns unsere Kraft gibt, ist gleichzeitig höchst verletzlich und muss deshalb selbst absolut zuverlässig geschützt werden. Sie ist so gut abgeschirmt und wird durch so viele Schichten geschützt, dass wir selbst zu ihr keinen direkten Kontakt haben und auch nur schwer in ihre Nähe kommen können.

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Im innersten Kern sind wir heil, gesund, unverletzt, auch wenn die äußeren Schichten vielleicht zahlreiche Verletzungen erlitten haben und vernarbt sind. Seelisch gesund sein bedeutet, dass unsere Schutzwälle durchlässig bleiben, um das Strahlen unseres Kerns nach außen dringen zu lassen – zunächst in uns selbst, dann auch nach außen in unsere Umwelt.

Diese Durchlässigkeit kann niemand von außen für uns erzeugen. Nur wir selbst können uns von innen her öffnen. Jede Hilfe zur seelischen und spirituellen Weiterentwicklung ist deshalb dabei im besten Fall Hilfe zur Selbsthilfe. Jede grobe oder gewaltsame Einwirkung von außen führt reflexartig zu einem inneren Zusammenziehen, einer Kontraktion, zum Schutz unserer Seele. Im kontrahierten Zustand werden unwillkürlich abgespeicherte Verteidigungsmechanismen automatisch aktiviert. Das ist die Zeit für die Abwehr von Gefahren und nicht für Veränderungen.

Wirklich tiefe und bleibende Veränderungen in uns erfordern umgekehrt eine Öffnung tiefer Schichten. „Verknotungen“ in uns lockern sich durch Loslassen, nicht durch gewaltsames Ziehen. Wir brauchen dafür eine geschützte Umgebung, in der wir uns sicher genug fühlen, um uns auf grundlegende Veränderungen einlassen zu können. Und wir brauchen viel Zeit für die Umgewöhnung, um uns auf neue Wege in unserem Leben einstellen zu können.

Warte, bis du in dich selber blickst –

Erkenne, was dort wächst,

O Suchender.

Ein Blatt in diesem Garten

Bedeutet mehr als alle Blätter,

Die im Paradies du findest![Rumi]

Moderne Mystik / Spiritualität

Der Begriff „Spiritualität“ hat sich in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, während der Ausdruck „Mystik“ eher selten verwendet wird. Gemeint ist nach meinem Verständnis mit diesen Worten dasselbe. Während es in der Religion um den Glauben an etwas geht, das unseren Sinnen nicht zugänglich ist, geht es in Spiritualität/Mystik um direkte, unmittelbare Erfahrung. Im Glauben gibt sich jemand zufrieden mit dem Bild vom Menschen, der Welt und Gott, das von anderen ge- und erfunden wurde und ihm mitgeteilt wird. Dagegen will der Mystiker die Verbindung zur Welt, zum Höheren und zum Tieferen in sich selbst direkt erleben, will dies unmittelbar begreifen und in sich spüren. Er will nicht glauben, sondern erfahren.

Vor vielleicht 60 Jahren war das in der westlichen Welt noch eine Angelegenheit einer kleinen Randgruppe, die still für sich auf der Suche war oder unter der Anleitung von Menschen, die sich dazu berufen fühlten, versuchten, diese direkte Erfahrung zu erreichen. Mit dem Aufkommen der 68er-Bewegung, die gegen die konservative, materialistisch orientierte Gesellschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte, rebellierte, wandten sich zunehmend mehr Menschen auch der östlichen Weisheit zu. Die christliche Mystik spielte als lebendig gelebter Zugang damals so gut wie keine Rolle. Sie wurde erst später ein wenig wiederbelebt.

„Spirituelle Sucher“ fuhren nach Asien zu indischen Gurus oder japanischen Zen-Meistern, um einen höheren Geisteszustand zu erreichen und eine höhere Wahrheit direkt zu erleben. Dazu gehörten auch Prominente wie etwa die Beatles. Später wurden dann die Lehrer aus dem asiatischen Raum in die westliche Welt eingeladen und kamen auch.

Zuvor hatte Anfang der 60er-Jahre unter anderem die Verfügbarkeit der „Anti-Baby-Pille“ die „sexuelle Revolution“ ausgelöst, die zu einem freieren, zum Teil auch bewussteren Umgang mit Sexualität führte. Viel Verklemmtheit und Unehrlichkeit mit Ausblendung und Verleugnung körperlicher Bedürfnisse wurden dabei überwunden und eine neue, freiere Einstellung gegenüber dem eigenen Körper breitete sich aus. „Make love, not war“ öffnete aber auch den Blick auf die größeren Zusammenhänge, vor allem darauf, wie Frieden in der Welt geschaffen werden könnte. Denn nur sexuell befreit zu leben ließ die tiefe Sehnsucht nach dem Höheren und Tieferen in sich unbefriedigt.

Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – begann so etwas wie die „lautlose Revolution“, die Arjuna Ardagh in seinem gleichnamigen Buch ausführlich beschrieben hat. Immer mehr Menschen, die die sexuelle Revolution mitgemacht hatten, blieben dabei nicht stehen, sondern wurden zu dem, was man „moderne Mystiker“ nennen kann. Während der direkte Zugang zum Höheren auch in Asien im Wesentlichen in der Zurückgezogenheit von Klöstern meistens mit einem zölibatären Leben verbunden war, steht der moderne spirituelle Mensch – unauffällig und ohne Mönchsrobe – mitten im „richtigen Leben“, hat eine Familie, liebt Sex, fährt vielleicht Motorrad oder begeistert sich fürs Fallschirmspringen.

Damit wird er zum „Verwirklicher“, der versucht, den höher entwickelten Geisteszustand in den Alltag zu bringen, anstatt nur in der konfliktfreien Zone meditierend vermeintlich in höheren Sphären zu schweben. Das scheinbar ganz Heilige verliert an Bedeutung, während durch Achtsamkeit das ganze Leben mit allem, was dazugehört, wertgeschätzt und „geheiligt“ werden kann.

Die Frage ist nicht, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Die Frage ist, ob du vor dem Tod lebendig bist.[Osho]

Spiritualität in der Psychotherapie

Der Vorgang der Durchdringung des „normalen“ Lebens mit höherer Bewusstheit und Achtsamkeit erreichte auch die Psychotherapie. Immer mehr Psychotherapeuten interessierten sich wie ich für die moderne Mystik und erlebten dadurch einschneidende Veränderungen in ihrem persönlichen Leben, die sich dann wie von selbst auch im Umgang mit ihren Patienten* auswirkten. Darüber hinaus begannen immer mehr Therapeuten Elemente aus der spirituellen Welt in ihren Behandlungen einzusetzen, wenn es ihnen passend erschien. Am weitesten fortgeschritten ist diese Entwicklung wohl durch die Pionierarbeit von Jon Kabat-Zinn, Professor für Medizin an der University of Massachusetts Medical School, der mit seinem Ansatz des MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction – achtsamkeitsbasierte Stressreduktion) vor allem die Achtsamkeit für den Körper in die Kliniken brachte. Seine inzwischen klinisch erprobte Methode, die von der buddhistischen Vipassana-Tradition abgeleitet ist, ist inzwischen „hoffähig“ geworden und bereichert heute auch die Psychotherapie.

So wie das autogene Training, einer vor allem in Deutschland sehr verbreiteten Entspannungsmethode, die der Nervenarzt J. H. Schultz in den 20er-Jahren entwickelte, enthält sein Ansatz keine ungeprüften philosophischen oder religiösen Annahmen. Bei beiden Ansätzen handelt es sich sozusagen um ein Destillat, um die Essenz, die mit einem (natur-)wissenschaftlich geschulten Geist in einem Prozess entstanden ist, bei dem sich Glaube und Aberglaube verflüchtigt haben. Ähnlich wie auch in der Zen-Meditation, die im Kern nichts „Buddhistisches“ im Sinne eines Glaubenssystems enthält, eröffnen diese auf das Wesentliche reduzierten Ansätze allen interessierten Menschen einen direkten Zugang zu einer spirituellen Dimension, weil es kein unnötiges Beiwerk irgendwelcher philosophischer oder religiöser Annahmen gibt, die man mit der Methode mitgeliefert bekäme und zwangsläufig übernehmen müsste.

Der Body-Scan, ein wesentlicher Bestandteil der MBSR-Methode, entspricht in seiner neutralen Schlichtheit ganz dem modernen Denken des aufgeklärten Menschen. Ich werde ihn später ausführlich beschreiben. Der äußerst simple Grundansatz, einfach nur wahrzunehmen, was sich in jedem Moment tatsächlich im Körper-Geist-Seele-System abspielt, ermöglicht eine forschende Haltung sich selbst gegenüber und ist – mit Hingabe ausgeführt – gleichzeitig eine Meditation.

Ein (Natur-)Wissenschaftler macht zuallererst nichts anderes, als äußerst sorgfältig genau und vorurteilsfrei aufzunehmen, was er vermittelt durch seine Sinne vorfindet, und zu beschreiben, was er sieht, hört, fühlt, riecht, schmeckt. So kam Isaac Newton der Legende nach zu seinen zündenden Ideen, die zur Grundlage der modernen Physik wurden, als er zum Beispiel schlichtweg beobachtete, wie ein Apfel von einem Baum fiel. Jahrhunderte später war es dann unter anderem Albert Einstein, der ebenso neugierig und unvoreingenommen das untersuchte, was er vorfand, und den Mut und die Genialität besaß, daraus revolutionäre neue Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der englische Psychoanalytiker Wilfred Bion, von dem gesagt wird, er sei der Mystiker der Psychoanalyse, plädierte schon vor Jahren ebenfalls für die radikale Offenheit einer vorurteilsfreien Bestandsaufnahme und fand dafür die Formel: „Jede Stunde ein neuer Patient.“ Das ist das radikale Gegenmotiv zur ansonsten enormen Theorielastigkeit der Psychotherapie und vor allem auch der Psychoanalyse.

Der aufgeklärte Mensch im dritten Jahrtausend will umfassende Transparenz und Nachvollziehbarkeit aufgrund der eigenen Anschauung, wie ein Wissenschaftler. Er will wissen, was wirklich „Sache ist“ und nicht nur leere, austauschbare Worthülsen serviert bekommen. Er gibt sich nicht damit zufrieden, die Meinungen von Autoritäten oder Experten ungeprüft zu übernehmen, sondern will Beweise für deren Wahrheitsgehalt. Zumindest will er nachvollziehen können, aufgrund welcher Quellen die geäußerten Ansichten entstanden sind. Und er will sich überzeugen, dass die Motivationen des Betreffenden wahrheitsliebend und redlich sind, der Autor kompetent und verlässlich ist, und es ihm nicht etwa darum geht, aus verdeckten, von persönlichen Interessen geleiteten Absichten heraus, Menschen zu manipulieren.

Der nächste Schritt: 1 Prozent Theorie, 99 Prozent Praxis

Das bringt mich zum Verhältnis von Theorie und Praxis. In meiner Jugend war ich eher ein intellektueller Mensch, der alles durch Nachdenken vom Kopf her lösen wollte. Das änderte sich als ich Vater wurde. Kleinen Kindern kann man nicht mit irgendwelchen Theorien kommen, wenn sie sich gerade das Knie aufgeschlagen haben. Besonders in meiner zeitweiligen Tätigkeit als Notarzt war ich dann herausgefordert, schnelle Entscheidungen darüber zu treffen, was im jeweiligen Moment hilfreich sein kann, vielleicht sogar lebensrettend.

Wenn es um das konkrete Leben und vielleicht auch Leiden geht, stehen immer wieder höchst pragmatische Dinge im Vordergrund. „Der Teufel steckt im Detail“, wie man so sagt. Bei Schwierigkeiten und Störungen sind es oft Kleinigkeiten, winzige Details, die das Problem verursachen und – wenn sie erkannt worden sind – zur Lösung führen. Ein klitzekleiner Schlüssel, der richtig ins Schloss passt, ein Code aus vier Ziffern in der richtigen Reihenfolge eingegeben, lassen große Tore aufgehen und eröffnen neue Welten.

Dementsprechend geht es – auch wenn man im Leben das Höhere integriert – immer um den nächsten konkreten kleinen Schritt in die richtige Richtung. Große Sprünge können wir nur in unseren Gedanken machen. In Sekundenbruchteilen kann mein Geist ein großes Gebäude auf einen leeren Platz projizieren, aber die tatsächliche Realisierung würde viele Jahre, eine Unmenge an Arbeit und Geld erfordern. Der inzwischen verstorbene indische Yogalehrer Pattabhi Jois hat die schöne Formel kreiert: „1 Prozent Theorie, 99 Prozent Praxis“. Auch wenn man dies als gut und richtig akzeptiert, bleibt die Bewährungsprobe, dies im täglichen Leben mit all seinen Schönheiten und Widrigkeiten praktisch Schritt für Schritt umzusetzen, statt nur bei geistigen Höhenflügen ohne konkrete Auswirkungen zu bleiben.

Gefühle und Empfindungen – eine Landschaft ohne Sprache

Wenn wir uns verständigen wollen, müssen wir miteinander sprechen. Sprache operiert mit Symbolen. Symbole stehen für etwas, was sie selbst nicht sind. Die Speisekarte im Restaurant ist nicht das Essen und Trinken. Was mich aber interessiert, ist die Wirklichkeit, das, was tatsächlich Sache ist. Und da ist unsere Sprache oft im Weg, vor allem wenn wir mehr aus ihr machen, als sie eigentlich ist: ein Werkzeug für viele wichtige Aspekte im Leben, aber nichts Absolutes. Im Restaurant soll das richtig leckere und gesunde Essen in meinem Mund landen, egal, welches Etikett daran geheftet worden ist.

Das wirklich Wichtige in uns an Entwicklung und Veränderung geschieht in unserer Innenwelt mit ihren Gefühlen, Empfindungen, Körperwahrnehmungen, und das ist eine weite Landschaft ohne Sprache. Der Körper findet Wege, sich auszudrücken, aber er hat keine Wortsprache. Wir können das, was wir da wahrnehmen und was da geschieht, in Sprache übersetzen, aber das ist mit Vorsicht zu genießen. Keineswegs alles, was unser Verstand dabei erfindet und anheftet, muss wirklich wahr und passend sein.

Genau dasselbe gilt für Emotionen wie Freude, Trauer, Wut usw. Auch unsere Gefühle sind bestimmte Qualitäten, die wir in uns wahrnehmen können. Die Zuordnung von Worten hat jeder Mensch irgendwann von sich aus begonnen. Dies ist eine sehr subjektive Angelegenheit und beinhaltet eine gewisse Willkür. Niemand hat uns beigebracht, wie man das sinnvoll macht. Wir haben nicht in der Schule gelernt, dass dieses helle, energievolle, tanzende Etwas in unserem Brustkorb „Freude“ ist und der quälende Druck im Bauch „Ärger“. Wir haben nur irgendwann – meist wenig bewusst – beschlossen, es so zu nennen.

Die endgültige Wahrheit liegt jenseits von Worten. Doktrinen sind Wörter. Sie sind nicht der Weg.[Bodhidharma]

Qualitäten und Prozesse in uns beschreiben

Wenn wir in uns hineinschauen, finden wir zum einen eine Gedankenwelt im Kopf mit Vorstellungen, Erinnerungen, Zukunftsfantasien, Meinungen usw. Da geht es oft zu wie auf einem großen, lauten Jahrmarkt mit unzähligen Ständen und bunten Angeboten, einer unüberschaubaren Menge an Menschen, die hin und her laufen. Alles ist in Bewegung, es gibt nichts Statisches, nichts Feststehendes. Diese „Welt“ in uns wird im Deutschen mit Begriffen wie Verstand, Denken oder Geist bezeichnet, und intuitiv stellen wir uns unseren Kopf als Ort dieser Vorgänge vor. Hier spielt unsere Sprache eine führende Rolle.

Dann gibt es die – oft zu wenig beachtete – Welt des Fühlens in uns, ebenso bunt und vielgestaltig, die irgendwo in unserem Körper, vor allem im Bereich von Kehle, Brust und Bauch spürbar ist. Zum einen tauchen da Gefühle und Stimmungen wie Freude, Wut, Trauer in uns auf und lösen sich nach einer Weile wieder auf, zum anderen fühlen wir unseren Körper in seiner Gestalt, seinen Bewegungen, seinem Kontakt mit der Umwelt, seinen inneren Vorgängen, was man zur Unterscheidung von den Emotionen „Körperempfindungen“ nennen kann. Neben diesen Sinneseindrücken gibt es dann noch das Hören, Sehen, Riechen und Schmecken als grundlegende Quelle unserer Information über die Außenwelt um uns herum, und nicht zu vergessen: die leise Stimme unserer Intuition.

Allen diesen Vorgängen ist gemeinsam, dass sie eben nicht feststehende Dinge sind, sondern vorübergehende Prozesse mit sich ständig verändernden Qualitäten. Sie tauchen auf, zeigen sich und lösen sich wieder auf. Die Innenwelt hat keine feststehenden Räume mit Ecken und Kanten, keine Nägel, die eingeschlagen werden könnten, sondern ist ein höchst vielfältiger, bunter Fluss von allem Möglichen.

Die Holztruhe in unserem Wohnzimmer ist über 300 Jahre alt und hat sich vermutlich in diesem langen Zeitraum kaum verändert. In meinem Kopf kann ich mir vorstellen, wie sie im Jahre 1701 von einem Tischler angefertigt und dann vielleicht an einen wohlhabenden Bürger verkauft wurde. Sie wurde hin und her getragen, vererbt, vielleicht auch weiterverkauft, und könnte eine lange und interessante Geschichte über die Menschen um sie herum und die Veränderungen der Welt im Laufe der Zeit erzählen. Zweifellos ist sie ein feststehendes, über Jahrhunderte im Wesentlichen gleich gebliebenes Ding, das mit dem Substantiv „Holztruhe“ bezeichnet werden kann.

Da auch Lebewesen wie Pflanzen, Tiere und Menschen materielle Erscheinungen sind, einen Körper haben, kann man auch ihnen Substantive oder Namen zuordnen. Weil sie aber lebendig sind, verändern sie sich permanent, wenn auch oft nur unscheinbar und im Zeitlupentempo. Als Lebewesen sind wir eher wie ein Fluss. Es gibt zwar eine äußere, mehr oder weniger feste Form, die sich meist nur langsam verändert, doch wenn man genau hinschaut, sind die unzähligen Wassermoleküle, die einen Großteil des Ganzen ausmachen, immer wieder andere. Jedes von ihnen könnte eine lange Geschichte über die Reise erzählen, die es schon gemacht hat. Scheinbar banal – aber doch von entscheidender Bedeutung – ist festzuhalten, dass sich alles in uns, in unserem Körper und in unserer geistig-seelischen Innenwelt im Fluss befindet und nichts bleibt, wie es ist. Und weil das so ist, ist eine Sprache, die diese Vorgänge so behandelt als seien sie materielle Dinge, die immer gleichbleiben, nicht geeignet, um unsere innere Wirklichkeit zu beschreiben. Deshalb sollte man weniger Substantive und stattdessen eher Adjektive und Verben verwenden, um diese Welten von Qualitäten und Prozessen zu beschreiben.

Unglücklicherweise erkennen wir nicht die leere Natur der Worte und fixieren uns deshalb auf sie, als seien sie etwas Wirkliches. So kommt es, dass angenehme Worte uns gefallen, während unangenehme Worte uns gegen den Strich gehen und uns zornig machen. Diese Reaktionen sind ein Zeichen dafür, dass wir an die Wirklichkeit der Worte glauben.[Kalu Rinpoche]

Prinzipien des Heilsamen

In diesem Buch beschreibe ich die Ergebnisse meiner Bemühungen in den letzten Jahren, aus der ständig anwachsenden, völlig überwältigenden Fülle an verschiedenen, immer wieder neuen Ansätzen in Spiritualität und Psychotherapie das herauszudestillieren, was wirklich heilsam ist. Das war ein mühsamer Prozess beständigen Durcharbeitens und immer wieder neuer Beobachtung und Bewertung, und geschah vor dem Hintergrund meiner ganz persönlichen Entwicklung mit ihren Meilensteinen und Krisen. In dieser Zeit habe ich neue Erfahrungen in einer Schulung zum „spirituellen Coach“ gesammelt, meine psychotherapeutische Tätigkeit fortgesetzt und mich dabei immer wieder vorsichtig an neue, zusätzlich eingesetzte Tools herangetastet und sie eingesetzt. Schließlich kommt auch noch die kontinuierliche vergleichende Beobachtung meiner konkreten Erfahrungen und Erkenntnisse auf diesen verschiedenen Feldern dazu. Herausgekommen sind dabei Prinzipien, die ich im Weiteren ausführlich beschreiben werde. Naturgemäß sind Prinzipien abstrakt und beschreiben Gemeinsamkeiten aus jeweils unzähligen konkreten Situationen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, dass diese allgemeinen Grundsätze eben nicht zu allgemein und zu abstrakt daherkommen, denn dann würden sie im Praktischen wenig oder gar nichts nützen. Darum aber geht es mir ja gerade: um die Umsetzung im Alltag, im täglichen Leben, im „richtigen“ Leben, und eben nicht nur in Ausnahmesituationen wie der psychotherapeutischen Stunde oder der Meditation auf der grünen Wiese. Auf der anderen Seite verirrt man sich schnell im unübersichtlichen Dschungel von Details, wenn man zu konkret wird, verliert den Überblick und damit die klare Richtung.

Die Fülle des Materials in Spiritualität und Psychotherapie ist heute völlig unüberschaubar geworden. Es gibt unzählige gute Bücher, Blogs, Videos voller wertvoller Erkenntnisse und praktischer Übungsanleitungen. Dabei hat man es aber meist mit jeweils umfangreichen, komplexen „Methoden“ zu tun, die jeweils eine eingehende und intensive Beschäftigung über einen längeren Zeitraum erfordern, um sie wirklich zu verstehen und nachzuvollziehen.

Methoden sind immer aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, die kombiniert werden. Dabei werden je nach Verfahren mal mehr die einen, mal mehr die anderen Bausteine hervorgehoben und in den Vordergrund gestellt. Ich versuche, die entscheidenden Elemente, die tatsächlich wirksam und nachhaltig sind, einzeln zu beschreiben und darzustellen. Aufgrund begrenzter Zeit und Energie habe ich nicht alle Bücher gelesen, die mir interessant und bereichernd erschienen. Vielleicht komme ich in den nächsten Jahren noch dazu. Allerdings bin ich mir jetzt schon sicher genug, grundlegend wichtige Prinzipien zu beschreiben und damit Elemente bzw. Bausteine vorzustellen, die sofort angewandt und umgesetzt werden können.

Der Punkt ist, dass jeder Begründer einer psychotherapeutischen Richtung, jeder spirituelle Lehrer oder Guru, jeder Coach in unserer immer mehr durch Medien dominierten Welt so etwas wie seine eigene Marke begründen muss, die dann in unserer oberflächlichen, auf schnellen Erfolg und gutes Aussehen fixierten Zeit, gut genug an den Mann (oder, wohl häufiger, an die Frau) zu bringen ist. Wer das nicht macht, sich also nicht gut verkaufen kann, läuft Gefahr, nicht gehört und gesehen zu werden und damit wirkungslos (und vielleicht auch ohne Einkommen) zu bleiben.

Weil die Materie so komplex ist, die Mentalitäten so unterschiedlich, die sprachliche Ausdrucksweise so speziell, wird einem oft ganz ähnlicher Stoff in ganz verschiedenen Gewändern und Verkleidungen präsentiert. Wäre ich 20 Jahre jünger und vielleicht Dozent an einer Universitätsklinik, hätte ich vielleicht meine eigene neue psychotherapeutische Methode entwickelt und sie, wie es heute üblich ist, mit einem Akronym bezeichnet: die „SEPST“ (Soma-Emo-Psycho-Spirituelle-Therapie), besonders hilfreich für das „XYZ-Syndrom“.

Diese neue Methode bleibt der Menschheit jedoch erspart, und für eine vielleicht nicht mehr so ferne Zukunft stelle ich mir vor, dass Psychotherapie und Spiritualität fusionieren und es einfach nur darum geht, was Menschen in ihrer körperlich-geistig-seelisch-spirituellen Entwicklung weiterbringt und was nicht. Der Therapeut der Zukunft wird dann seinem Klienten/Patienten dabei helfen herauszufinden, was genau für seinen konkreten nächsten Schritt am hilfreichsten eingesetzt werden kann, welches Tool jetzt gerade das passende ist. Die Verantwortung für die gelingende Weiterentwicklung bleibt beim Klienten/Patienten, der damit das Steuer in der Hand behält.

Schwierigkeiten und „Probleme“

Was bringt Menschen zu einem Psychotherapeuten oder auf einen spirituellen Weg? Was bringt Menschen dazu, Bücher über Wege zu einem besseren Leben zu lesen, im Internet zu suchen, vielleicht immer und immer wieder aufs Neue, auf der Suche nach …? Meiner Erfahrung nach besteht immer ein Leidensdruck, aus dem heraus die Motivation für die Suche nach Linderung und der Befreiung von dem Leiden erwächst. Oder andersherum ausgedrückt: Es ist die Suche nach einem glücklichen Leben mit möglichst wenig Leid und Schmerz.

In jedem Leben gibt es vorübergehende Schwierigkeiten und Herausforderungen. Das ist unvermeidbar und gehört zujedem normalen Leben dazu. Solange Menschen mit den fordernden Situationen aus eigener Kraft zurechtkommen und damit fertigwerden, gibt es kein „Problem“. Die Erfahrung, Schwierigkeiten „mit Bordmitteln“ überwunden zu haben, macht sogar stärker und fähiger, auch in der Zukunft dem Leben gewachsen zu sein und vielleicht noch größere Herausforderungen zu meistern.

Demgegenüber können Menschen aber auch in Krisen geraten, die ihre Möglichkeiten übersteigen. Letztlich kann jeder Mensch, wie stark und widerstandsfähig er auch sein mag, durch eine Häufung und Zusammenballung von Belastungen in einen Überforderungszustand geraten. Typische Indikatoren dafür sind: das Gefühl, dass einem alles zu viel wird, über den Kopf wächst; der Körper signalisiert Stress; Gedanken an Entlastung, Urlaub, vielleicht sogar der Wunsch nach Kranksein als Ausweg kommen auf. Wenn die eigenen Bordmittel zur Bewältigung nicht mehr ausreichen, ist es sicher sinnvoll und klug, sich dann nach Beratung und Hilfe umzuschauen.

Der häufigste Grund, warum Menschen sich nach Hilfen in den Bereichen Psychotherapie oder Spiritualität umschauen, sind aber „Probleme“. Hiermit meine ich immer wiederkehrende Schwierigkeiten, die nach immer demselben Muster ablaufen. Ihnen scheint sozusagen ein verborgenes bzw. schwer erkennbares System zugrunde zu liegen, das sich einer endgültigen Lösung widersetzt. Immer wieder auftretende Schwierigkeiten, sinnvolle und stimmige Entscheidungen für sich selbst zu treffen, die Unfähigkeit, sich wirklich zu entspannen, wiederkehrende Auseinandersetzungen mit Partnern, Familienangehörigen, Freunden oder Arbeitskollegen, immer wieder zu einer falschen Partnerwahl zu kommen, sind typische Beispiele für „Probleme“.

Hierhin gehört auch das Phänomen des Wiederholungszwangs, womit gemeint ist, dass Menschen merkwürdigerweise immer wieder neu in gleiche oder ähnliche Situationen geraten, obwohl sie darunter leiden und längst beschlossen haben, dass ihnen das nie wieder passieren soll. Viele Menschen schlagen sich damit lange und erfolglos herum, ohne weiterzukommen, bis sie sich sinnvollerweise Hilfe von außen suchen. Auch „Symptome“, wie zum Beispiel unerklärliche, übermäßige Ängste, Niedergeschlagenheit, körperliche Beschwerden ohne organische Ursache, Essstörungen und vieles andere mehr lassen sich als „Problem“ verstehen, das durch „vernünftige“, verstandesmäßige Überlegungen nicht zu beseitigen ist.

Diese Art von Leiden ist auch der Kern dessen, was man früher als „Neurose“ bezeichnet hat, einer eigentlich ziemlich nichtssagenden Bezeichnung, die lediglich darauf hinweist, dass es irgendetwas im Nervensystem eines Menschen geben muss, das gestört ist. Sigmund Freud begann mit seinen Kollegen Ende des 19. Jahrhunderts zu erforschen, was dieses „Etwas“ wohl sein könnte, was zu den damals so häufigen, etwas unglücklich bezeichneten „hysterischen“ Störungen, meist bei Frauen, führte. Wie konnte man sich eine Lähmung des Arms oder eine Blindheit erklären, für die sich im Nervensystem und in den Organen keine Ursache finden ließ?

In der Psychoanalyse nach Freud werden zutreffenderweise innere, unbewusste Konflikte vermutet, die ein stringentes, stimmiges, harmonisches Erleben und Verhalten verhindern, weil im Inneren ein nie endender Kampf zwischen unvereinbaren Wünschen und Bestrebungen besteht. Man kann sich auch sehr passend innere Verknotungen, Verstrickungen vorstellen, die zu einem Feststecken, quasi zu permanenten Entscheidungsschwierigkeiten auf den verschiedenen Ebenen – im Kopf, in den Gefühlen, im Körper – führen.

Diese Sichtweise lässt sich auch auf hartnäckige Gewohnheiten übertragen, die man nicht loswird, auf leichtere Suchttendenzen (schwere Sucht hat eine andere Dynamik) und auch auf psychosomatische Beschwerden. Immer gibt es dabei im Inneren eine Blockade, die den natürlichen Fluss des Lebens behindert. Das ist zunächst nicht mehr als eine mögliche Weise, die Dinge zu sehen, eine Theorie, eine Hypothese. Aber viele Blockaden können im Körper-Geist-Seele-System direkt aufgespürt werden, auch wenn das oft nicht so einfach ist. Was noch nicht unmittelbar wahrzunehmen ist, bleibt (zunächst) hypothetisch, enthüllt sich aber oft im Weiteren, wenn man den Dingen auf der Spur bleibt, allein für sich oder im Dialog mit einem Therapeuten oder spirituellen Lehrer.

Hinzu kommt noch die Bedeutung von Folgen psychischer Traumatisierung, die in den letzten Jahrzehnten immer besser erforscht und erkannt wird. Die bereits erwähnten Patientinnen Freuds waren vermutlich zu einem erheblichen Teil Opfer sexueller Übergriffe, eine Wahrheit, die zum damaligen Zeitpunkt schlichtweg undenkbar erschien und bei allen Beteiligten verdrängt bleiben musste. Psychische Traumen entstehen entweder durch überwältigende, die Verarbeitungsmöglichkeiten der Psyche überfordernde Schocks (wie Vergewaltigung, Überfall, Unfälle, Katastrophen, Kriegseinwirkungen) oder durch weniger dramatische, aber immer wiederkehrende schädigende Einflüsse (z. B. körperliche Züchtigungen als Erziehungsmethode, Vernachlässigung, fehlende Wärme und Liebe der Eltern). Schockebenso wie Entwicklungstraumen brennen sich sozusagen in die Seele ein und führen zu lebenslangen Blockaden, wenn sie nicht durch angemessene Interventionen gelöst werden können.

Innen und außen, Selbst und Nicht-Selbst

Wenn man Schwierigkeiten und „Probleme“, wie ich sie hier definiert habe, untersucht, taucht die Frage auf, was davon innerlich, was äußerlich und was beides ist. Was im Inneren eines Menschen, für andere nicht sichtbar, stattfindet, gehört offenbar zu ihm, technisch ausgedrückt zu seinem „System“ oder mit einem psychologischen Begriff zu seinem „Selbst“, es sei denn, wir hätten wirklich einen Alien in uns, ein „Nicht-Selbst“. Spätestens in dem Moment, in dem der Mensch irgendeine Aktivität zeigt, und sei es auch nur eine minimale Veränderung in seiner Mimik oder Körperhaltung, entfaltet dies aber zwangsläufig eine Außenwirkung. Gibt es Beobachter, werden diese möglicherweise auf die gezeigte Aktivität re-agieren. Auf das „Agieren“, was man als „Handlung“ im weitesten Sinn verstehen kann, folgt also eine Antwort in Form eines (Re)-Agierens, einer Re-Aktion (lat. re = zurück).

Vergleichbar mit Ebbe und Flut strömt dabei das, was im Inneren war, sozusagen nach außen und hat hier zwangsläufig Auswirkungen, die wiederum im Weiteren nach innen strömen und hier wahrgenommen werden. Wer diese scheinbar banale Wahrheit nicht (an-)erkennt, unterliegt einem grundlegenden und möglicherweise folgenschweren Irrtum. Er ordnet Vorgängen und Ereignissen um ihn herum eine Verursachung von außen zu, als deren Opfer er sich dann fühlt, bei der er in Wirklichkeit aber selbst der „Täter“, nämlich der Auslöser von Reaktionen aus der Umwelt, ist.

In dem Buch „Anleitung zum Unglücksein“ von Paul Watzlawick kann man die amüsante Geschichte von einem Mann nachlesen, der sich bei einem Nachbar einen Hammer ausleihen will. Bevor er überhaupt zu seinem Nachbarn geht und ihn nach dem Hammer fragt, verstrickt er sich in seine eigenen Gedankengänge, in denen er fantasiert, der Nachbar würde ihm den Hammer böswilligerweise sowieso gar nicht leihen wollen. Schließlich klingelt er bei ihm und schreit nur: „Dann behalten Sie doch Ihren Scheiß-Hammer!“

Wer die Entstehung von „Problemen“ nicht (auch) bei sich, in seinem Inneren, lokalisiert, wird zwangsläufig Lösungen an der falschen Stelle, irgendwo im Äußeren oder bei anderen Menschen, suchen und vermeintlich auch finden. Dafür gibt es in der Psychologie den Begriff „Projektion“.

Es gibt nicht wenige Menschen, die meinen, ihnen kämen unzählige Geisterfahrer entgegen, und die nicht erkennen, dass es nur einen Geisterfahrer gibt, nämlich sie selbst. Sie leben in einer Welt, die scheinbar nur aus Idioten besteht; nur sie selbst machen alles richtig. Wer so denkt und fühlt, verkennt nicht nur andere und tut ihnen unrecht, er befindet sich auch in einer Sackgasse, in der seine Weiterentwicklung nachhaltig blockiert wird.

Die Beispiele des Nachbarn und Geisterfahrers sind vielleicht etwas überzogen, aber verdeutlichen, was gemeint ist. Die Unterscheidung von „innen“ und „außen“, von „Selbst“ und „Nicht-Selbst“, von realistischer Wahrnehmung und Projektion, ist im täglichen Leben, vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen und ganz besonders in Partnerschaften, nicht immer so einfach. Zu schnell gibt es da ein Hin und Her von Worten und Aktionen und bei Paaren, die im Streit verstrickt sind, verschwimmen dann leicht die Grenzen. Hinterher wissen die Beteiligten oft gar nicht mehr, worüber sie im Einzelnen gestritten haben. Es bleibt nur das diffuse Gefühl, dass man selbst irgendwie Recht und der andere Unrecht hat, man selbst irgendwie Opfer ist.

Das innere Nein!

Psychologische „Probleme“ lassen sich logischerweise immer darauf zurückführen, dass es im Körper-Geist einen Konflikt gibt, einen Kampf zwischen verschiedenen, sich widersprechenden Tendenzen. Jedes „Etwas“, das man in sich vorfindet, jedes körperliche Bedürfnis, jedes Gefühl, jede gedankliche Vorstellung, lässt sich auf einen Wunsch zurückführen; „Wunsch“ ist hier in seiner breitest möglichen Bedeutung gemeint. Dabei können die zugrunde liegenden Wünsche bewusst, nur wenig bewusst (in der Psychoanalyse „vorbewusst“ genannt) oder auch unbewusst sein.