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Die Herausgeberin

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Eva Pattis Zoja studierte an der Universität Innsbruck Psychologie und bildete sich am Jung Institut in Zürich zur Kinder-und Jugendlichenanalytikerin sowie im Kreise von Dora Kalff in Zollikon und mit Francesco Montecchi in Rom zur Sandspieltherapeutin aus. Sie lebt und arbeitet in Mailand in freier Praxis. Im Rahmen der Internationalen Gesellschaft für Analytische Psychologie (IAAP) lehrt und supervisioniert sie während regelmäßiger Auslandsaufenthalte Psychotherapeuten aus Lateinamerika und Asien. Gemeinsam mit einem Team von jungianischen Analytikern aus Kolumbien, China und Südafrika entwickelte sie seit dem Jahre 2000 die Methode der Expressiven Sandarbeit, die es auch ehrenamtlichen Laienhelfern ermöglicht Kindern in Notsituationen ein geschütztes Gruppensetting anzubieten, in welchem Sandspiel stattfinden kann. Sie gründete 2010 die Internationale Gesellschaft für Expressive Sandarbeit I.A.E.S. (www.sandwork.org), welche diese Methode schützt und weiter verbreitet.

Eva Pattis Zoja (Hrsg.)

Expressive Sandarbeit in der psychodynamischen Therapie von Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030635-6

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-030636-3

epub:  ISBN 978-3-17-030637-0

mobi:  ISBN 978-3-17-030638-7

Autorenverzeichnis

 

 

 

Dr. Eduardo Carvallo ist Psychiater und Analytiker nach C.G. Jung in freier Praxis in Bogotà, Kolumbien.

Ana Deligiannis ist Diplompsychologin und Analytikerin nach C.G. Jung in freier Praxis in Buenos Aires, Argentinien.

Elke Garbe ist Diplompsychologin, psychologische Psychotherpeutin, Traumatherapeutin und lehrt im Institut für Fort- und Weiterbildung in integrativer Traumatherapie nach früher Entwicklungstraumatiesierung.

Dr. John Gosling ist Psychiater und Analytiker nach C.G. Jung in freier Praxis in Kapstadt, Südafrika.

Gao Lan ist klinische Psychologin, Analytikerin nach C.G. Jung, Sandspieltherapeutin in freier Praxis und Dozentin an der Normal University in Guang Zhao, China.

Dr. Stefano Marinucci ist Kinderpsychiater und Analytiker nach C.G. Jung und Sandspieltherapeut in freier Praxis in Rom.

María Camila Mora González ist Dilompsychologin und Analytikerin nach C.G. Jung in freier Praxis in Bogotà, Kolumbien.

Ursula Mukarker ist Diplompsychologin und Leiterin der psychotherapeutischen Beratungsstelle Wings of Hope For Trauma in Bethlehem, Palästina.

María Claudia Munévar ist Diplompsychologin und Analytikerin nach C.G. Jung in freier Praxis in Bogotà, Kolumbien.

Monica Pinilla Pineda ist Diplompsychologin und Analytikerin nach C.G. Jung in freier Praxis in Bogotà, Kolumbien.

Dr. Jörg Rasche ist Psychiater, Analytiker nach C.G. Jung und Sandspieltherapeut in freier Praxis in Berlin.

Prof. Dr. Alexander von Gontard ist Kinderpsychiater und Sandspieltherapeut in der Klinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinkums des Saarlandes.

Inhalt

 

 

 

  1. Autorenverzeichnis
  2. Vorwort
  3. Teil I: Sandspieltherapie
  4. 1 Sandspieltherapie als präverbale Sprache und Ausdruck des Körpers
  5. Ana Deligiannis, aus dem Spanischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  6. 2 Psychische Aspekte bei Kindern und Jugendlichen der zweiten Generation nach Migration
  7. Alexander von Gontard
  8. 2.1 Psychische Störungen und Migration
  9. 2.2 Psychotherapie bei Kindern aus anderen Kulturen
  10. 2.3 Zusammenfassung und Ausblick
  11. 3 Überforderung als eine verborgene Form von Gewalt
  12. Stefano Marinucci, aus dem Italienischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  13. 3.1 Formen von Missbrauch
  14. 3.2 Fallbeispiel
  15. 4 Sozialer Rückzug und Ankommen im Sandspiel: ein therapeutischer Prozess
  16. Gao Lan, aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  17. 4.1 Chaotische Form und innere Ordnung
  18. 4.2 Beziehung und Behältnis
  19. 4.3 Verkörperung
  20. 4.4 Ein spiralförmiger Wachstumsprozess
  21. 5 Selbstregulation der Psyche in der Sandspieltherapie
  22. Eva Pattis Zoja
  23. 6 Entwicklungstraumatisierungen verstehen – die Methode der Integration traumaassoziierter Selbstanteile (ItS)
  24. Elke Garbe
  25. 6.1 Was sind frühe Entwicklungstraumatisierungen und welche Folgen haben sie?
  26. 6.2 Die Fragmentierung des Selbst nach Kohut und das Konzept der Dissoziation
  27. 6.3 Konsequenzen für die Psychotherapie
  28. 6.4 Wichtige Überzeugungen der Methode ItS
  29. 6.5 Überlebensstrategien und Unterwerfungsreaktionen
  30. 6.6 Die belastbare therapeutische Beziehung
  31. 6.7 Beachtung von Abwehrformen
  32. 6.8 Beachtung von Übertragung und Gegenübertragung
  33. 6.9 »Hier und jetzt« und »Dort und Damals«
  34. 6.10 »Innen« und »Außen«
  35. 6.11 Arbeiten im Affekttoleranzfenster
  36. 6.12 Das BASK-Modell (Braun, 1988)
  37. 6.13 Die Metaebene und das Anwenden von kreativem Material
  38. 6.14 Die einzelnen Schritte der Methode der »Integration traumaassoziierter Selbstanteile« (ItS)
  39. 7 Zeugenschaft und das Wissen der Hände
  40. Jörg Rasche
  41. Teil II: Expressive Sandarbeit
  42. 8 Expressive Sandarbeit
  43. Eduardo Carvallo und Eva Pattis Zoja
  44. 8.1 Was ist Expressive Sandarbeit?
  45. 8.2 Der Aufbau des »Systems« Expressiver Sandarbeit
  46. 8.2.1 Die Kinder
  47. 8.2.2 Die Freiwilligen Mitarbeiter
  48. 8.2.3 Die Eltern
  49. 9 Migration, Ausgrenzung und Gemeinschaft – eine soziale und therapeutische Erfahrung in Kolumbien
  50. Monica Pinilla Pineda und María Camila Mora González, aus dem Spanischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  51. 9.1 Migranten werden ausgegrenzt
  52. 9.1.1 Die kollektive Wunde eines Gemeinschaftsprozesses
  53. 9.2 Expressive Sandarbeit gelangt nach Cerro Norte
  54. 9.3 Gemeinsamer Brückenbau
  55. 10 Expressive Sandarbeit in Südafrika
  56. John Gosling, aus dem Englischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  57. 11 Der Archetyp der Fürsorge
  58. María Claudia Munévar, aus dem Spanischen übersetzt von Elisabeth Zoja
  59. 11.1 Der Archetyp der Fürsorge
  60. 11.2 Erste Fallvignette
  61. 11.3 Zweite Fallvignette
  62. 11.4 Der Entwicklungsprozess des ehrenamtlichen Begleiters
  63. 12 Individuelles und kollektives Trauma in Palästina
  64. Ursula Mukarker
  65. 12.1 Individuelles Trauma
  66. 12.2 »Expressive Sandarbeit« fand den Weg nach Bethlehem
  67. 12.3 Ein Beispiel
  68. 12.4 Die Betreuer/innen
  69. 12.5 Sandarbeit schlägt Wurzeln in Bethlehem
  70. 13 Die Gruppe als alchemisches Gefäß der Wandlung: Expressive Sandarbeit mit Flüchtlingen in Deutschland
  71. Eva Pattis Zoja
  72. 13.1 Eine Gruppenbetreuerin aus München beschreibt ihre Erfahrung
  73. 13.2 Sandarbeit mit jesidischen Kindern
  74. Literaturverzeichnis
  75. Stichwortverzeichnis
  76. Teil III: Anhang

Vorwort

 

 

 

Migration bedeutet für Kinder oft, dass sie in Situationen »dazwischen« leben: zwischen den Familien, zwischen den Religionen und zwischen zwei oder mehreren Ländern. Dies kann einerseits bereichernd sein, denn wir wissen, welchen Vorteil es für die Neuroplastizität des Gehirns bedeutet, zweisprachig aufzuwachsen, andererseits kann es zu innerer Unsicherheit führen und zu dem Gefühl, nirgendwo zu Hause zu sein. Wo ist heute Heimat? Wo ist Fremde? Worte wie daheim, einheimisch, heimelig beziehen sich nicht nur auf die Außenwelt, auf nationale Territorien, sondern sind psychologisch gesehen immer auch Abstufungen subjektiven Erlebens. Der Ort, der daheim beschreibt, ist eine Erfahrung, in der subjektives und objektives Erleben zusammenwirken. Adalbert Stifters früheste Kindheitserinnerungen weisen darauf hin: »Es waren dunkle Flecken in mir. Die Erinnerung sagte mir später, dass es Wälder gewesen sind, die ausserhalb mir waren« (Stifter, 1867). Heimat könnte also in erster Linie dort sein, wo innen und außen noch nicht getrennt sind, ein symbolischer Ort, an dem man »früher« gewesen ist und wo – daran scheint eine tiefe Überzeugung festzuhalten – alles noch gut war. An diese grundlegende Erfahrung von daheim scheinen im Erwachsenenleben nur noch Anäherungen möglich. Für viele Schriftsteller stellt im Erwachsenenleben die Sprache ein wahres Zuhause dar sowie das Netz von Beziehungen, die das Gefühl vermitteln, von anderen in der eigenen Wesensart anerkannt zu sein. Daheim könnte dort sein, wo wir sein dürfen und nichts beweisen müssen. W. G. Sebald gibt zu bedenken, dass der Begriff Heimat in reziprokem Verhältnis zu dem stehe, worauf er sich beziehe. Je mehr von der Heimat die Rede sei, desto weniger gäbe es sie. Und wie steht es mit dem Begriff der Fremde? Seit dem letzten Jahrhundert haben sich Bezeichnungen wie Verfremdung, Entfremdung, Überfremdung in der bildenden Kunst, Literatur, Sozialwissenschaften, Philosophie, Anthropologie eingebürgert; über den Begriff des »Anderen«, des »Fremden« und des »Fremden in uns« wurde viel geschrieben. Wenn es also zutrifft, dass ein Phänomen im Verschwinden begriffen ist, je mehr darüber gesprochen wird, dann ist die Frage berechtigt, welche Bedeutung dieser Begriff heute eigentlich noch haben kann. Aus der konkreten, geografisch bestimmten Fremde, in die man noch gehen konnte, ist Entfremdung geworden, von der das Individuum – gewollt oder ungewollt – eingeholt wird. Das Fremde ist in der Moderne vorwiegend innen. Dies entspricht der epochalen Wende des 20. Jahrhunderts, das als das Jahrhundert der Psychoanalyse bezeichnet worden ist: die Aufmerksamkeit hat sich von den äußeren Geschehnissen in die Innenwelt verlegt. Das Unbewußte wurde entdeckt, das zu ähnlichen Konsequenzen wie die Entdeckung Amerikas 500 Jahre zuvor führte. Eine im Inneren des Menschen lokalisierte Welt tat sich auf, in denen sich die Polaritäten von heim und fremd neu repräsentieren konnten. Zugleich hat sich auch die äußere, physische Welt grundlegend geändert. Die geografischen Entfernungen haben sich durch die billigeren Kommunikations- und Transportmittel verkürzt. Dadurch ist das vorherige Fremde näher gerückt, es erscheint zugänglich, erreichbar, begreifbar und ist vor allem konsumierbar geworden. Es hat oft seine Eigenheit als Fremdes verloren und bewahrt fast nur noch eine äußere, käufliche Form.

Entwurzelung und Entfremdung entstehen heute auch durch die Kluft, die sich nach erfolgter Migration zwischen den Generationen aufmacht: während die älteren Mitglieder eines Sozialverbandes an der Tradition festhalten, bricht die junge Generation mit den Gewohnheiten. Dies bringt enorme psychische Herausforderungen für Heranwachsende mit sich: wo ein stabiler soziokultureller Rahmen vorhanden ist, entstehen Subkulturen als Kompensation: sie sind eine kreative Antwort auf etwas bereits Bestehendes, das der Veränderung bedurfte. Wenn Jugendliche hingegen in einer sozialen und kulturellen Leere aufwachsen, dann entsehen unter Umständen regressiv orientierte Subkulturen, welche das Ziel haben, eine brüchige Identität zu ersetzen und die sich oft – wie im Bandenwesen – nur an der Macht des physisch Stärkeren orientieren. Wenn eine Psychotherapie für Jugendliche notwendig wird, dann ist es meistens schon sehr spät: seit Jahren war dabei nicht nur eine Familie überfordert, sondern ein gesamtes soziales Umfeld war außerstande, lebensnotwenige Bedürfnisse eines Kindes wahrzunehmen und in konstruktive Bahnen zu lenken.

Was ist nun das Spezifische an der Methode der Sandspieltherapie für Migranten? Als vorwiegend nicht verbale und nicht direktive Methode kann das Sandspiel auch dann angewendet werden, wenn Therapeut und Patient nicht diesselbe Sprache sprechen. Der Interkulturalität und den individuellen Bedürfnissen des Spielenden wird also größtmöglicher Raum gewährt. Außerdem kann das Spielmaterial so ausgewählt werden, dass der jeweilige kulturelle, soziale, religöse und auch politische Hintergrund unmittelbaren Ausdruck finden kann, ohne dass sich der Therapeut im Tiefen mit dem jeweiligen kulturellen Kontext auseinandergesetzt haben muss. Das ist in vielen Situationen, in denen sich Therapeuten heute befinden, gar nicht möglich und nicht einmal unbedingt notwendig, denn im Sandspiel gilt die in den 1930er Jahren von der britischen Kinderärztin und Psychotherapeutin Margarete Lowenfeld geprägte Aussage, dass das Kind im Sandspiel seine innere Welt zu seiner eigenen Reflektion vor sich ausbreite. (Lowenfeld, 1979)

In diesem Band kommen Beiträge von Sandspieltherapeuten aus neun Ländern zur Sprache. Eine ebenso breite Palette stellen die Lebenssituationen der behandelten Kinder und Jugendlichen dar: Behelfssiedlungen am Rande der Großtädte Lateinamerikas oder Südafrikas, in denen sich die vom Krieg Vertriebenen sammeln, Adoptivfamilien aus Mitteleuropa, Ein-Kind-Familien in China sowie Großfamilien in Palästina. Welche Form von Leid teilen diese Kinder trotz unterschiedlichen geografischen, religiösen und sozialen Kontexten? Den meisten fehlen Erwachsene, die sich in ihr Leben einfühlen könnten. Oft fehlt ihnen aber einfach die Möglichkeit, frei und der eigenen Phantsie gemäß zu spielen: damit regulieren sich Kinder spontan, durch das Spiel verarbeiten sie problematische Erfahrungen, mentalisieren, entwickeln Resilienz und reifen nach. In unserer Gesellschaft ist der Lebensraum vorgegeben, architektonisch bis in den letzten Winkel ausgebaut, dazu ist immer weniger unstrukturierte Zeit vorhanden: die Kinder müssen sich dem allgemein beschleunigtem Tempo anpassen. Oft fallen sie bereits im Mittelschulalter aus den Schulsystemen heraus. In jedem Fall reagieren sie, so gut sie können: wie z. B. mit stummem Rückzug wie das chinesische Mädchen, das trotz brillanter Leistungen die Schule verweigert. Dabei werden Kinder gar nicht leicht psychisch krank. Kinder haben ein unerschöpfliches Potential zu psychischer Selbstregulierung. Damit sich neurotische Symptome entwickeln können, muss ein Kind tagtäglich, über Jahre hinweg und konsequent von der Mehrzahl signifikanter, in seinem Lebensraum vorhandener Erwachsener falsch behandelt werden. Auch wenn beide Eltern versagen, suchen Kinder mit sicherem Instinkt nach einem anderen, psychisch gesunden Erwachsenen in ihrer Umgebung und zwar so lange, bis sie ihn gefunden haben. Nur wenn sie schon in frühester Kindheit missbraucht und misshandelt worden sind, ist dieser Instinkt beinträchtigt und bringt die Kinder dazu, sich an pathologische Erwachsene zu klammern und sie enden in einem Teufelskreis von seelischer Bedürftigkeit und Missbrauch. Kinder, die in den ersten Lebensjahren eine sichere Bindungsbeziehung aufbauen konnten, sind hingegen psychisch stabil, haben große Resilienzbereitschaft, können multiple Traumata überstehen und sogar an ihnen wachsen. Dass es heute so viele Kinder gibt, die Hilfe brauchen, hängt wohl damit zusammen, dass diesen Kindern schon sehr früh ihr eigenes, natürliches Selbstsein verweigert worden ist. Die Kindertherapeuten und unter ihnen vor allem die Ausdruckstherapeuten leisten nicht nur wichtige klinische Arbeit und helfen Kindern ihre neurotischen Verhaltensweisen zu überwinden, sie nehmen auch eine kollektive Aufgabe wahr und von ihnen geht eine Wirkung aus, weil sie Modelle schaffen, in denen die Kreativität selbst zum Vehikel wird. Dass heute ein so großer Bedarf an Kindertherapeuten besteht, ist eigentlich ein Armutsszeugnis für das Schul-und Erziehungssystem. Es wäre so unermesslich kostengünstiger, wenn kreatives Gestalten im öffentlichen Bildungssystem als etwas Zentrales eingebaut wäre wie z. B. im Schulsystem in Finnland – in dem Musik, Kunst, Tanz und Drama diesselbe Wichtigkeit haben wie Mathematik, Geschichte und Grammatik. Dadurch würden sich viele therapeutische Eingriffe erübrigen, weil die besagten Aktivitäten an sich schon ein großes therapeutisches Potential in sich bergen. Spieldeprivation (gemeint ist freies Fantasiespiel) ist heute gerade in den reichen Ländern weit verbreitet und korrelliert positiv mit diagnostizierten Depressionen und Hyperaktivität im Kindesalter.

Die Autoren, die in diesem Buch symbolisches Spiel im jeweiligen kulturspezifischen Kontext beschreiben, erschaffen anschauliche Illustrationen folgender Konzepte Carl Gustav Jungs: die Tendenz zur Selbstregulation der Psyche, die Autonomie des Unbewussten sowie archetypische Konstellationen und deren therapeutisches Potential.

 

 

 

 

 

Teil I:   Sandspieltherapie

1          Sandspieltherapie als präverbale Sprache und Ausdruck des Körpers

Ana Deligiannis, aus dem Spanischen übersetzt von Elisabeth Zoja

 

Dieses Kapitel der argentinischen Analytikerin Ana Deligiannis bildet den theoretischen Rahmen, der es uns ermöglicht, Sandspieltherapie und Expressive Sandarbeit einzuorden. Das Hauptaugenmerk liegt auf präverbalen Ausdrucksformen und Prozessen. Und gerade weil letztere noch in keiner sprachlichen Struktur eingebettet sind (sprechen bedeutet ja bereits denken), ist es wesentlich, dass einerseits die vom Therapeuten beobachteten Phänomene nicht unreflektiert und unartikuliert ›in der Luft hängen‹ und andererseits auch nicht in starre Interpretationsschemen gepresst werden. Welche wesentliche Rolle der Körper und das reziproke Körperbewusstsein von Therapeut und Klient dabei spielt, wird hier angedeutet und in den folgenden Kapiteln vertieft.

Die Sandspieltherapie ist eine psychotherapeutische Methode, die mit tiefen, präverbalen Ebenen der Psyche arbeitet. Die theoretische Grundlage dafür bietet die Psychologie Carl Gustav Jungs: Sandspieltherapie kann im weitesten Sinne als eine Form von Aktiver Imagination betrachtet werden. Sie stellt einen unbewussten Prozess dar, der direkt in Kontakt mit der Innenwelt steht und als Brücke zur Außenwelt fungiert, das Hervortreten einer symbolischen Haltung fördert und die Möglichkeit bietet, vergangene Situationen und sich wiederholende Muster neu zu gestalten.

Die heilende Wirkung liegt dabei nicht in der Interpretation der Gestaltung, sondern vor allem im Erleben des Prozesses, wobei dasselbe selbstverständlich verschiedene Bewusstseinsgrade hat. Im Unterschied zu rein verbalen Therapien (bei denen Erkenntnisse auf kognitiver Ebene bleiben könnten), wird hier über den taktilen Kontakt der Hände mit dem Sand und der benutzten Objekte der Körper miteinbezogen, also eine »Verköperung« der Prozesse angestrebt. Der Körper registriert neue Erlebnisse, die als verkörperte Erkenntnisse aufbewahrt werden, sodass sie später in Form von spontanen Bildern wieder auftauchen können. Sandspieltherapie aktiviert die präverbale Kommunikation: deshalb ermöglicht sie uns, zu Erinnerungen aus dem Unbewussten und in das implizite Gedächtnis vorzudringen, Abwehrmechanismen zu umgehen und verborgenen Bedürfnissen, seelischen Verletzungen oder unausgedrückten Talenten auf die Spur zu kommen. Die Erfahrung von Primärgefühlen – Angst, Wut, Trauer, Freude, Ekel und Überraschung – die vor dem Eintreten der Sprachfähigkeiten stattfand, ist in frühen Bewegungsmustern abgespeichert und leben in unserer Gestik und Körperhaltung weiter: Der Körper kann sich entweder über psychosomatische Symptome an eine traumatische Erfahrung erinnern oder sie völlig ausschalten, in dem er die bewusste Erinnerung blockiert bzw. betäubt. Diese im Körper abgespeicherten Emotionen – »verkörperte Erinnerungen« – sind in einem Großteil der Fälle wiederum nur über den Körper, über die Bewegung oder auch über das Gestalten im Sand zugänglich. Doch selbst emotional intensive Erfahrungen aus späteren Lebensjahren können oft nicht verbalisiert werden, während ihnen eine Inszenierung im Sandspiel Ausdruck verleihen kann. Traumatische Erlebnisse aus der frühen Kindheit sind meist dissoziiert, d. h. aus dem Bewusstsein ausgeblendet und in Form von Komplexen im Unbewussten, im impliziten Gedächtnis aufbewahrt (Wilkinson, 2007). Solche Erfahrungen erhöhen die Tätigkeit der Amygdala und verursachen eine Aktivitätssteigerung des impliziten emotionalen Gedächtnisses: Damit wird die Einspeicherung neuer Inhalte im expliziten oder deklarativen Gedächtnis gehemmt, was natürlich den Erinnerungsprozess erschwert. Jene emotional geladenen Fragmente, die in Form von Komplexen im Unbewussten aufbewahrt werden, werden auch im Körper gespeichert und treten oft in Form somatischer Symptome auf. Solche zurückgehaltenen oder eingefangenen Affekte können durch imaginative Tätigkeiten ihren Ausdruck finden und dazu beitragen, eine Beziehung zwischen implizitem und explizitem Gedächtnis herzustellen. Das Imaginieren mit Hilfe der Hände begünstigt sowohl den dramaturgischen Ausdruck psychischer Inhalte als auch die meist überraschende Begegnung mit einer neuen, kräftigenden Instanz, der transzendenten Funktion. Laut Chodorow (1994) ist Imagination nicht nur ein symbolischer Prozess, sondern führt zum emotionalen Kern der Komplexe. Die Imagination hat neben der reproduktiven auch eine produktive Funktion, dank der sie Bilder erschafft. Seit dem Beginn neurowissenschaftlicher Forschung hat Johnson (1992) die These aufgestellt, dass Imagination die körperlichen Strukturen und das kognitive Denken miteinander verbindet und deshalb bei Prozessen wie Verständnis, methodischem Gedankengang und Kommunikation eine wichtige Rolle spielt. Johnson argumentiert, dass es keine unüberwindbare Kluft zwischen Vernunft und Imagination und damit keine nackte Rationalität gibt: Es sei also unentbehrlich, unseren Erfahrungen mit Imagination zu begegnen, um ihren Sinn zu erkennen. Diese ermöglicht nämlich erst den Ablauf von Prozessen wie Schlussfolgern, Problemlösen, propositionelle Strukturen und Abstrahierung von Konzepten. Nach Johnson (1992) wirkt die Imagination als eine Art Brücke zwischen konkreter Erfahrung und abstrakter Konzeptualisierung. Aus philosophischer Perspektive hat Bachelard die Imagination als Vorläuferin wissenschaftlicher Entdeckungen betrachtet. Wenn man nun von dieser imaginierenden Fähigkeit der Seele (Jung, 1926) und von der Idee der Imagination als via regia zum Unbewussten ausgeht, kann man annehmen, dass Sandspiel die schöpferische Fantasie fördert: Es werden dabei Kanäle geöffnet, die der Psyche ermöglichen, sich auszudrücken und zu verwandeln. Die Arbeit mit dem Sandspiel ist ein Weg der Erkenntnis, der auf die präverbale Stufe zurückgreift: Er zielt weniger auf eine kathartische Entladung der Emotionen ab und versucht vielmehr, Bedeutungen zu enthüllen und seelische Verletzungen zu versorgen, in anderen Worten: es entstehen neue Sinnesinhalte. Dabei wird »[d]iese merkwürdige Verwandlungsfähigkeit der menschlichen Seele, die sich eben in der transzendentalen Funktion ausdrückt […]« (Jung GW 7, 1934, S. 241, §360) aktiviert: eine angeborene Fähigkeit, die im Rahmen der Selbstregulierung und Kompensation der Psyche wirkt, einen Bereich von Grenzüberschreitungen generiert und damit letztendlich eine neue symbolische Haltung erzeugt. Sie ermöglicht dem zurückgehaltenen oder eingefangenen Affekt einen Ausdruck über die Bilder, in einem Stadium, in dem die Wörter noch nicht in der Lage sind, ihn zu erfassen.

Heutzutage sind die Neuroplastizität und ihre Beziehung zur Kreativität bedeutende Bestandteile der Neurowissenschaften. Dieses Konzept könnte mit dem jungianischen der schöpferischen Kraft und ihren Implikationen für das therapeutische Arbeiten in Bezug gesetzt werden (Wilkinson, 2007). Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen organischer und psychischer Plastizität. Inzwischen ist bekannt, wie wichtig für Kinder in den ersten Lebensjahren die Beziehung zu ihren Bezugspersonen ist und wie gravierend andererseits die Auswirkungen emotionaler Deprivation sein können. Nichtsdestoweniger kann man sagen, dass Gehirnplastizität – auch im Falle negativer Erfahrungen oder einer beschränkten emotionalen Entwicklung – die Möglichkeit zur Veränderung bietet, vor allem im Rahmen offen-annehmender und stützender Beziehungen. Siegel (1999) schreibt: »Es sind die menschlichen Beziehungen, die den neuronalen Verbindungen, aus denen der Geist entsteht, Form geben«. Im Unterschied zum genetischen Determinismus eröffnet die Neuroplastizität die Möglichkeit der Andersartigkeit und Einzigartigkeit. Wenn das neuronale Netz die Möglichkeit seiner eigenen Veränderung impliziert (Anserment & Magistretti, 2010) und das Unbewusste nach Jung eine schöpferische und heilende Kraft besitzt, könnten sich selbst die seelischen Wunden frühester Kindheit tilgen, oder genauer, sich einen Weg bahnen, der anders ist als der bisher betretene. Im Kontext eines therapeutischen Prozesses könnten sowohl die Übertragungsbeziehung als auch Methoden zur Aktivierung der transzendenten Funktion neue Wege einleiten und somit die Entstehung einer neuen inneren Wirklichkeit ermöglichen. Aus neurologischer Sicht: Es könnten neue neuronale Verbindungen entstehen.

Eine Reihe von therapeutischen Prozessen könnten mit dem Konzept der Umgestaltung im Rahmen der Psychoanalyse in Beziehung gesetzt werden. Es ist bereits bekannt, dass der Wiederholungszwang den unbewussten Versuch darstellt, zur konflikthaften oder traumatischen Situation zurückzukehren, um sie ein für alle Mal zu berichtigen. Das Unangenehme oder Schmerzhafte zeigt sich demnach immer wieder in Form von Wiederholungen: sowohl im Leben, als auch im analytischen Übertragungsprozess. Im klinischen Bereich kann immer wieder diese Art von »Wiederholung« beobachtet werden, doch seit zwei Jahrzehnten spricht man im psychoanalytischen Kontext auch von Umgestaltung. Statt das Altbekannte zu wiederholen, wird es neu gestaltet. Dabei geht es darum, das bisher Unveränderte zu verarbeiten, das bereits Erlebte zu verändern statt zu wiederholen (Lerner, 2001). Es bezieht sich auf die Erscheinung dessen, was niemals erlebt wurde, sich jedoch im therapeutischen Rahmen zum ersten Mal ereignen kann. Wie kann man das bisher Unveränderte verändern? Wie das bisher niemals Dargestellte darstellen? Welche sind die Bedingungen, die für die Möglichkeit eines Umgestaltens im therapeutischen Rahmen notwendig sind? Die Möglichkeit Geschehnisse zu verarbeiten und umzugestalten existiert in einem potentiellen Raum. Es ist ein vertrauenswürdiger Rahmen mit folgenden Faktoren nötig: Empathie, Verständnis, Unterstützung bei der Symbolisierung (Lerner, 2008), bei der Reflexion sowie der Kohärenzerzeugung, der Bezeichnung und Unterscheidung von Emotionen (Nemirovsky, 2009). Eine Bindung solcher Art kann bei der Umgestaltung von Mustern behilflich sein und ermöglicht die Bewusstwerdung früher unbefriedigter Bedürfnisse und entsprechender Verarbeitungsmöglichkeiten.

Zusammenfassung

Sandspieltherapie aktiviert die präverbale Kommunikation: deshalb ermöglicht sie uns, zu Erinnerungen aus dem Unbewussten und in das implizite Gedächtnis vorzudringen, Abwehrmechanismen zu umgehen und verborgenen Bedürfnissen, seelischen Verletzungen oder unausgedrückten Talenten auf die Spur zu kommen. Davon ausgehend werden die Konzepte von Imagination, Körperbewusstsein, Neuroplastizität und psychische Umgestaltung erläutert.

Literatur zur vertiefenden Lektüre

 

Jung, C.G. (1971). GW Bd. 7. Olten: Walter Verlag.

Ammann, A. (1991). Aktive Imagination, Darstellung einer Methode. Olten: Walter Verlag.

Siegel, D. (2012). Mindsight, die neue Wissenschaft der persönlichen Transformation. München: Goldmann.

Hüther, G. (2006). Die Macht der inneren Bilder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Müller, L., Lutz, A. (2003). Wörterbuch der analytischen Psychologie. Düsseldorf: Patmos.

Weiterführende Fragen

•  Auf welche Weise stehen Immagination und kognitives Denken miteinander in Zusammenhang?

•  Über welche vorsprachlichen Kommunikationskanäle teilen sich unbewusste Inhalte in der Sandspieltherapie dem Therapeuten mit?

•  Wie stehen der von Jung geprägte Begriff der Komplexe und die von Jung beobachtete Tatsache, dass die Psyche Bilder erzeugt (Bild = Seele) zueinander?

2          Psychische Aspekte bei Kindern und Jugendlichen der zweiten Generation nach Migration1

Alexander von Gontard

 

Der Kinderpsychiater und Sandspieltherapeut Alexander von Gontard beschreibt hier anhand von zwei Therapiebeispielen von Kindern aus unterschiedlichen Kulturen das Thema der sogenannten »secundos«, nämlich Kinder aus der zweiten Generation der Migration.

Migration und Flucht haben in den letzten Jahren zugenommen und waren das bestimmende politische Thema in Deutschland seit 2015. Nach dem Lagebericht der Unicef (2016) reisten 2015 ca. eine Million Menschen nach Deutschland, wobei mehr als 40% aus Syrien stammten. Es wurden 440 000 Erst-Asylanträge gestellt, davon 137 000 von Minderjährigen. Von Januar bis Mai 2016 folgten weitere Asylanträge von Kindern und Jugendlichen, von denen 90 000 begleitet und 9 000 unbegleitet waren. Ende Februar befanden sich über 60 000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Obhut der Jugendämter.

Wegen der hohen Rate von psychischen Störungen bei Flüchtlingskinder sollte ein generelles Screening auf psychische Begleitprobleme erfolgen (Bühring, 2016), wobei Gadeberg und Norredam (2016) darauf hinweisen, dass kultursensible Erfassungsinstrumente fehlen. Die Europäische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Anagnostopoulos et al., 2016) plädiert dafür, dass körperliche und psychische Störungen gleichrangig erfasst und versorgt werden. Auch eine rasche schulische und kulturelle Integration sollte aktiv gefördert werden zur Prävention zukünftiger psychischer Störungen.

Bei den aktuellen Flüchtlingen handelt es sich um Migranten der ersten Generation, d. h. solche, die im Ausland geboren sind und eigene Migrationserlebnisse aufweisen; bei Migranten der zweiten Generation sind ein oder beide Eltern im Ausland, Kinder allerdings im Einwanderungsland geboren; schließlich wurden bei der dritten Generation die Großeltern im Ausland, aber sowohl Eltern als auch Kinder im Einwanderungsland geboren. Bei den derzeit dringenden Aufgaben zur Versorgung der Kinder der ersten Generation, sollten allerdings die besonderen Bedürfnisse der zweiten und dritten Generation nicht übersehen werden.

Eine einfache, international übliche Einteilung unterscheidet nur zwischen ›foreign born‹ (d. h. im Ausland geboren) und ›native born‹, d. h. Einheimische ohne Migrationserfahrung (Kouider und Petermann, 2015). In Deutschland ist die sehr viel weiter gefasste Bezeichnung von Personen mit und ohne »Migrationshintergrund« üblich. Zu diesen gehören alle, die entweder selbst oder deren Eltern beziehungsweise Großeltern nach Deutschland zugewandert sind. Nach den Angaben des Statistischen Bundesamts (2016) zählen hierzu alle, »die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland mit deutscher Staatsangehörigkeit Geborenen mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Der Migrationsstatus einer Person wird somit sowohl aus ihren persönlichen Merkmalen zu Zuzug, Einbürgerung und Staatsangehörigkeit als auch aus den entsprechenden Merkmalen der Eltern abgeleitet.«

In Deutschland lebten 2014 insgesamt 16,4 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, d. h. insgesamt 20,3% der Bevölkerung: 11,3% hatten die deutsche Staatsbürgerschaft und 9,0% waren Ausländer. Zwei Drittel der Personen mit Migrationshintergrund (10,9 Millionen oder 66,4%) waren selbst von der Migration betroffen (d. h. erste Generation), während 33,6% keine eigenen Migrationserfahrungen hatten (d. h. zweite oder dritte Generation, die nicht weiter unterschieden werden) (Statistisches Bundesamt, 2016).

Menschen mit Migrationshintergrund sind jünger als solche ohne (Altersmittelwert 35,4 gegenüber 46,8 Jahren). Viele Kinder und Jugendliche haben einen Migrationshintergrund: 1,18 Millionen in der Altersgruppe von < 5 Jahren, 1,22 Millionen im Alter von 5–10 Jahren, 1,16 Millionen von 10–15 und 1,11 Millionen von 15–20 Jahren. Nach einer systematischen Übersicht (Kouider et al., 2014) nimmt die Rate der Kinder mit Migrationshintergrund auch in vielen anderen europäischen Ländern zu: zur Zeit der Publikation hatten 39% der Kinder in der Schweiz, 26% in Deutschland und jeweils 17% in Großbritannien und Frankreich einen Migrationshintergrund.

Die wichtigsten Einwanderungsländer für Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland gehören immer noch zur Europäischen Union (5,66 Millionen), gefolgt von der Türkei (2,86 Millionen) und Asien (2,71 Millionen), davon speziell aus Süd- und Südostasien (0,81 Millionen). Trotz der hohen Zahl von ausländischen Kindern und Jugendlichen aus Asien, gibt es kaum Studien speziell zu dieser Minorität in Deutschland (Kouider et al., 2013). Allerdings konnte Kouider et al. (2015) in einer Studie zeigen, dass insbesondere Kinder aus Asien ein erhöhtes Risiko für internalisierende Störungen hatten.

Das Ziel der Arbeit ist es, einen kurzen Überblick über die Zusammenhänge zwischen psychischen Störungen und Migration bei Kindern und Jugendlichen und über die Besonderheiten der Psychotherapie mit dieser Gruppe zu vermitteln. An zwei Kasuistiken sollen die besonderen Bedingungen asiatischer Kulturen auf die Psychotherapie von Kindern dargestellt werden. Dabei hat sich die Sandspieltherapie nach Dora Kalff (1996) als nicht-verbales Verfahren besonders bewährt, das eine intensive Bearbeitung bewusster, wie auch unbewusster Inhalte ermöglicht.

2.1       Psychische Störungen und Migration

Migration verläuft in verschiedenen Phasen. Nach der Einteilung von Leyer (1991; zitiert von Kronsteiner, 2009, S. 87) können folgende Phasen unterschieden werden:

1.  die Vorbereitungsphase, in der das Für und Wider zur Migration abgewogen wird

2.  die Phase der Durchführung der Migration

3.  Phase der Überkompensation, der schnellen Anpassung an das Einwanderungsland, in der Familienkonflikte nicht wahrgenommen werden können und alte Muster der Bewältigung nicht ausreichen

4.  in der Phase der Dekompensation wird nach einem Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem gesucht, d. h. zwischen Anpassung und Festhalten; in dieser Phase kommt es zu Krisen und Konflikten, aber im günstigen Fall auch zu positiven Lösungen

5.  schließlich treten in der 5. Phase generationsüberschreitende Phänomene durch die Sozialisation der Kinder in der neuen Gesellschaft auf; es ist die Phase der Generationskonflikte, d. h. »alles was in der ersten Generation vermieden bzw. nicht gelöst wurde, zeigt sich in der zweiten Generation«.

Nach der systematischen Übersicht Kouiders et al. (2014), die 36 europäische Studien eingeschlossen hat, stellt Migration ein psychosozialer Stressor dar, der sich vor allem auf Migrantenkinder der ersten Generation auswirkt. Wie in der umfassenden Übersicht von Fazel et al. (2012) in der renommierten Zeitschrift »The Lancet« dargelegt wird, wirken weltweit vielfältige Risikofaktoren auf Kinder ein, die in reichere Länder immigrieren. Zu diesen gehören: Gewalterfahrungen (vor und nach Migration), weibliches Geschlecht (vor allem für emotionale Störungen), nichtbegleitete Migration, Diskriminierungserfahrungen, mehrere Umzüge im Einwanderungsland, elterliche Gewalterfahrungen, Armut, alleinerziehende Eltern und elterliche psychische Störungen. Als protektive Faktoren, die das Risiko für psychische Störungen vermindern, wurden in Studien identifiziert: elterliche Unterstützung, familiäre Kohäsion, Unterstützung durch Freunde und positive Schulerfahrungen.

In einer der wenigen Studien, verglichen Fink et al. (2012) in den Niederlanden das Risiko zwischen Migrantenkindern der ersten und zweiten Generation. 4 282 Vorschulkinder im Alter von drei Jahren wurden mit dem CBCL/1,5–5 Fragebogen untersucht. Dabei zeigte sich, dass der Gesamtwert von psychischen und Verhaltenssymptomen in der ersten Generation insgesamt 5,0-fach höher lag (Odds Ratio) – und immer noch 3,3-fach höher, wenn sozioökonomische Faktoren kontrolliert wurden. Das Risiko in der zweiten Generation war viel niedriger: das Odds Ratio war insgesamt 2,5-fach höher – und 1,8-fach unter Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren.