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Der Autor

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Dr. Hannes Weber ist Sozialwissenschaftler und hat an der Universität Stuttgart mit einer Arbeit über Migration in Westeuropa promoviert. Gegenwärtig arbeitet er am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) und forscht vor allem zu den Themen Migration und demographischer Wandel.

Hannes Weber

Demographischer Wandel

Mythos – Illusion – Realität

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033144-0

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033145-7

epub:  ISBN 978-3-17-033146-4

mobi:  ISBN 978-3-17-033147-1

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

1     Einleitung: Aussterben vertagt

2     Überblick über gegenwärtige demographische Entwicklungen

2.1   Was ist der »demographische Wandel«?

   Was sagt eigentlich die »Geburtenrate« aus?

   Gründe für den Babyboom der letzten Jahre

   Was sagt die Lebenserwartung aus?

   Geburtenraten weltweit

   Warum sinken die Geburtenzahlen?

   Ablauf des demographischen Wandels

2.2   Die zukünftige Bevölkerungsentwicklung in Deutschland

   Zukünftige Entwicklung der Gesamtbevölkerungszahl Deutschlands

   Entwicklung des Altenkoeffizienten

   Entwicklung des Abhängigkeitskoeffizienten

2.3   Der Einfluss der Migration

   Wie hoch wird die Zuwanderung in Zukunft ausfallen?

   Welchen Einfluss hat Migration auf die zukünftige Bevölkerung?

2.4   Regionale Unterschiede bei der Bevölkerungsentwicklung

3     Die gesellschaftlichen Folgen der Demographie

3.1   Die Auswirkungen der Demographie auf das Rentensystem

3.2   Droht ein Fachkräftemangel durch den demographischen Wandel?

   Welche Gründe hat der tatsächlich drohende Fachkräftemangel?

   Sind die Folgen des demographischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt für alle schlecht?

3.3   Gefährdet der Geburtenrückgang unseren Wohlstand?

   Welches Bevölkerungswachstum begünstigt eine Wohlstandsmehrung?

   Ist Schrumpfen und Altern gefährlich für den Wohlstand?

3.4   Die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Umwelt

   Wie wirkt sich der demographische Wandel in Deutschland auf die Umwelt aus?

3.5   Weitere gesellschaftliche Folgen der Demographie

   Folgen der Demographie für die öffentliche Sicherheit

4     Handlungsoptionen

   Steigerungen der Geburtenrate

   Steuerung der Zuwanderung

   Maßnahmen zur Stabilisierung oder Steigerung der Bevölkerungsgröße

   Welche politischen Gruppierungen bevorzugen eine wachsende oder schrumpfende Bevölkerung?

   Andere Handlungsoptionen in der Rentenpolitik

5     Fazit

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Index

 

 

1          Einleitung: Aussterben vertagt

 

 

 

Überraschung: Deutschland schrumpft nicht. Lange galt es als unabwendbares Schicksal, dass die Bevölkerung in Deutschland im Laufe des 21. Jahrhunderts drastisch abnehmen werde. So sagten es seit mehreren Jahrzehnten die demographischen Prognosen des Statistischen Bundesamts und anderer Experten voraus. Noch 2009 prognostizierte das Statistische Bundesamt einen starken Rückgang der Bevölkerungszahl bis 2060 von 82 auf 65 bis 70 Millionen Einwohner – ein Verlust von zwölf bis 17 Millionen Menschen innerhalb nur eines halben Jahrhunderts.1 Unzählige Male wurde im apokalyptischen Duktus das »Aussterben« der Deutschen, der »demographische Untergang« oder die »Entvölkerung« und »Verödung« weiter Teile des Landes vorhergesagt.

Im Frühjahr 2017 korrigierte das Statistische Bundesamt die Prognosen drastisch nach oben: Bis Mitte des Jahrhunderts werde die Bevölkerung in Deutschland demnach überhaupt nicht zurückgehen, sondern wahrscheinlich weiterhin bei rund 80 Millionen liegen. Grund ist die nach 2011 stark gestiegene Zuwanderung, die die meisten Experten nicht vorhergesehen hatten. Die offiziellen Prognosen des Statistischen Bundesamts seit dem Jahr 2006 hatten bis 2050 mit jährlich lediglich 100 000 oder, in der »hohen« Zuwanderungsvariante, mit 200 000 Migranten pro Jahr gerechnet. Stattdessen kamen 2012 bis 2016 innerhalb von fünf Jahren netto mehr als drei Millionen Menschen ins Land, das sind im Schnitt 600 000 pro Jahr. Infolgedessen stieg auch die zusammengefasste Geburtenziffer 2016 auf den höchsten Wert seit mehr als 40 Jahren, Deutschland erlebt einen Mini-Babyboom.

Naturgemäß sind längerfristige Bevölkerungsprognosen mit großer Unsicherheit behaftet. Das liegt vor allem an den schwer vorherzusagenden zukünftigen Wanderungsbewegungen, weil diese von vielen Faktoren wie etwa der prinzipiell wandelbaren Migrationspolitik abhängen. Doch selbst wenn man von einer Halbierung des jährlichen Nettozuzugs auf langfristig 300 000 Migranten ausgeht und darüber hinaus auch noch annimmt, dass sich deren Geburtenrate sofort derjenigen der Einheimischen angleicht, wird damit der natürliche Bevölkerungsrückgang bis mindestens 2050 ausgeglichen.2

Das »Aussterben« ist also bis auf weiteres vertagt. Wenn keine unvorhersehbaren Ereignisse eintreten, werden auch in den kommenden Jahrzehnten zwischen Rhein und Oder wahrscheinlich noch in etwa so viele Menschen leben wie heute. Die öffentliche Diskussion hat sich dem recht schnell angepasst – vom Aussterben oder Entvölkern spricht heute kaum jemand mehr, stattdessen eher von Wohnungsnot, Staus, fehlenden KiTa-Plätzen und verfehlten Klimazielen. Dass diese Probleme mit dem Bevölkerungswachstum zusammenhängen, das zur Verhinderung von Herausforderungen des demographischen Wandels gewünscht wurde, die durch die reine Erhöhung von Geburtenrate oder Bevölkerungszahl überhaupt nicht bewältigt werden können und teilweise ganz andere als »demographische« Gründe haben, offenbart die offenkundige Planlosigkeit der deutschen Demographiepolitik.

Muss man jetzt, da die Bevölkerungsimplosion wohl nicht kommt, überhaupt noch über Demographie reden? Die Antwort lautet: Mehr denn je! Nach einer weltweit einmaligen, über vierzig Jahre andauernden Phase konstant niedriger Geburtenzahlen, welche seit 1972 Jahr für Jahr von der Zahl der Verstorbenen übertroffen werden, steht die Bundesrepublik nämlich in der Tat kurz vor einem tiefgreifenden demographischen Umbruch. Ab etwa 2025 erreichen die in den 1960er Jahren geborenen »Babyboomer«-Kohorten das Rentenalter, und es rücken Jahr für Jahr nur gut halb so starke Geburtsjahrgänge ins erwerbsfähige Alter nach. Dann wird sich das Verhältnis zwischen den Erwerbsfähigen im Alter von 20 bis 65 und den Über-65-Jährigen schlagartig verringern.

Diese Entwicklung kann aber durch eine heutige Erhöhung der Geburtenrate kaum und auch durch starke Zuwanderung nur geringfügig abgemildert werden. Schon im Jahr 2000 hatten die Vereinten Nationen berechnet, dass eine absurd hohe Zahl von 183 Millionen Zuwanderern bis 2050 von Nöten wäre, um den Quotienten aus Erwerbsfähigen und Rentnern in Deutschland konstant zu halten. Kurzfristig senken die meist jungen Migranten zwar den Altersschnitt, kommen aber häufig auch als Nichterwerbspersonen (z. B. als Familiennachzug) oder benötigen einige Zeit für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Langfristig werden aus zusätzlichen Menschen natürlich auch zusätzliche Rentner, und die steigende Lebenserwartung, die dafür sorgt, dass ein heute 65-Jähriger im Schnitt noch 21 Lebensjahre vor sich hat – sieben mehr als noch 1970 – gilt natürlich auch für zukünftige Neubürger und sorgt für einen beständigen Anstieg der Älteren.

Und wenn heute mehr Kinder geboren werden, treten zwar in 20 Jahren mehr Berufsanfänger in den Arbeitsmarkt ein und die Lücke zur Zahl der in den Ruhestand Ausscheidenden wird kleiner. Aber an der durch die steigende Lebenserwartung immer größer werdenden Zahl der Über-65-Jährigen ändert auch das nichts, und um deren relativen Anstieg bei der gegebenen heutigen Altersstruktur (Dominanz der 40- bis 60-Jährigen, nur halb so große jüngere Kohorten) zu verhindern, würden ab heute absurd hohe Kinderzahlen von mehr als vier Kindern im Schnitt pro Frau benötigt. Eine Erhöhung der Geburtenrate von 1,4 auf 1,6 Kinder pro Frau, wie sie zwischen 2013 und 2016 geschehen ist, ändert an dem langfristigen Anstieg des Altenquotienten so gut wie gar nichts, zieht aber stattdessen kurzfristig massive Engpässe bei Schulen, Kindergärten, Kinderärzten und bezahlbarem Wohnraum nach sich. Ob die zusätzlichen Kinder in 20 Jahren einen ohne sie existierenden, akuten Arbeitskräftemangel lindern werden, oder ob bis dahin die Nachfrage nach Arbeitskräften durch Globalisierung und Digitalisierung gravierend sinkt, ist heute noch unbekannt. Das heißt nicht, dass man keine intrinsischen oder anderen Gründe für eine höhere Geburtenrate oder für mehr Zuwanderung haben kann. Aber heute mehr Bevölkerungswachstum »wegen des demographischen Wandels« zu fordern, entbehrt jeder logischen Grundlage, da die Alterung der Gesellschaft dadurch fast völlig unberührt bleibt und Vorhersagen über zukünftig »fehlende« Arbeitskräfte reine Spekulation sind.

Die unvermeidlichen demographischen Veränderungen der kommenden Jahre stellen das umlagefinanzierte Rentensystem offenkundig vor Probleme. Insbesondere für die Pflege der immer zahlreicheren Hochbetagten bedarf es neuer Konzepte und Reformen. Diese Herausforderungen sind unbestritten. Vermeintlich einfache Lösungen wie pronatalistische und bevölkerungsexpansive Maßnahmen um jeden Preis helfen hier aber nicht. Diese haben stattdessen häufig sogar negative, möglicherweise ungewollte Konsequenzen für Wirtschaft, öffentliche Haushalte und Umwelt. Um hier Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen zu können, müssen die Mechanismen, wie sich verschiedene demographische Entwicklungen auf Wirtschaft und Gesellschaft auswirken, bekannt sein.

In den folgenden Kapiteln werden daher zunächst die grundlegenden demographischen Trends in Deutschland beschrieben. Es wird dargelegt, wie sich Änderungen bei Geburten oder Zuwanderung auf die zukünftige Bevölkerungszahl und die Alterung auswirken würden. Anschließend werden die Folgen der demographischen Entwicklung für verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens nach gegenwärtigem Kenntnisstand dargelegt. Wichtig ist dabei auch, zu erörtern, wofür der demographische Wandel nicht verantwortlich ist. Einige gesellschaftliche Probleme werden in der öffentlichen Debatte gerne »demographisiert«, um sich eine genauere Analyse der womöglich komplexeren Ursachen zu sparen oder um Maßnahmen dagegen als alternativlos darzustellen. Das betrifft etwa den Fachkräftemangel oder den Bevölkerungsrückgang in manchen ländlichen Regionen.

Für die öffentliche Diskussion und auch die Politik wäre es daher wünschenswert, anstelle längst widerlegter Scheinzusammenhänge und leerer Floskeln die von der Forschung seit Längerem zusammengetragene Evidenz als Grundlage für konstruktive Debatten und politische Entscheidungen zur Kenntnis zu nehmen. Zwar existiert hinsichtlich mancher Problemstellungen durchaus Dissens unter Wissenschaftlern, aber in manchen Bereichen gibt es eben auch belastbare Erkenntnisse, die sich über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder empirisch bestätigt haben, etwa hinsichtlich des Einflusses der Migration auf den langfristigen Altenquotienten. Diese Erkenntnisse dringen aber augenscheinlich entweder nicht oder nur zeitweise zu den politischen Entscheidungsträgern durch, weshalb alle paar Jahre von Neuem über den demographischen Wandel debattiert wird. Die im Raum stehenden Vorschläge klingen dabei vielfach, als hätte es nie Forschung und Debatten zu dem Thema gegeben. Eine evidenzbasierte Diskussion und Politik würde auch die Verwunderung darüber ersparen, dass sich verschiedene Maßnahmen der deutschen Demographiepolitik seit Längerem als wirkungslos erwiesen und stattdessen häufig ungewollte Konsequenzen in anderen gesellschaftlichen Bereichen nach sich gezogen haben.

Letztendlich kann die Forschung gleichwohl über Ursachen und Wirkungen demographischer Prozesse informieren, aber die Antwort auf die normative Frage, was sein soll und welcher Zielzustand wünschenswert ist, kann sie der Gesellschaft nicht abnehmen. Soll es oberstes Ziel der Politik sein, dass die Bevölkerung wächst oder mindestens konstant bleibt, etwa um das politische und wirtschaftliche Gewicht Deutschlands innerhalb der Europäischen Union (EU) nicht einzubüßen oder damit die Inlandsnachfrage nach Konsumgütern nicht zurückgeht? Oder wäre angesichts der Tatsache, dass die Bundesrepublik mit 230 Einwohnern pro km² rund doppelt so dicht besiedelt ist wie die übrigen EU-Staaten im Schnitt (116 pro km²), auch ein leichter Rückgang der gesamten Bevölkerungszahl denkbar, was eher mit dem scheinbar vorrangigen Ziel der Nachhaltigkeit in Bezug auf Ressourcenverbrauch und Klimaschutz im Einklang wäre? Soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter erhöht werden, um dadurch den Anstieg der Rentnerzahlen abzumildern und einem Fachkräftemangel vorzubeugen, oder soll sich die Politik vorrangig zum Ziel machen, die vorhandene »Reserve« abzubauen, d. h. Arbeitslose, Minijobber und andere nicht- oder unterbeschäftigte Menschen besser in den Arbeitsmarkt einzubinden? Je nach Priorisierung sind ganz unterschiedliche demographiepolitische Maßnahmen zielführend, wobei jeweils mit Nebenwirkungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen zu rechnen ist.

Dass es häufig nicht einfach gelingt, miteinander in einem Zielkonflikt stehende Wünsche gleichzeitig zu realisieren, zeigt etwa die aktuelle Debatte um den Wohnungsmangel in Ballungszentren. Einer der Hauptgründe für diesen ist der starke Bevölkerungszuwachs der vergangenen Jahre: Zwar starben zwischen 2012 und 2016 rund eine Million mehr Menschen in Deutschland, als im selben Zeitraum geboren wurden, wodurch viel Wohnraum frei wurde, aber gleichzeitig zog eine Zahl in der Größenordnung der Einwohnerzahl Berlins neu zu, und diese unterzubringen reichte der vorhandene Wohnraum bei Weitem nicht aus. Innerhalb Deutschlands ziehen derweil mehr Menschen aus den sieben größten Städten fort als zu – eine bemerkenswerte Trendwende seit etwa 2013: Zuvor hatten jahrelang die Umzüge vom Land in die Stadt dominiert, aber in den letzten Jahren zieht es unter dem Strich mehr Deutsche aus den Metropolen fort, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt, sodass die Bevölkerungszahl dieser Ballungszentren ohne die Zuwanderung von außen gesunken wäre.3

Die steigende Einwohnerzahl zieht stattdessen die Notwendigkeit nach sich, deutlich mehr Wohnungen zu bauen. Demgegenüber steht das umweltpolitische Ziel einer Reduktion des Flächenverbrauchs: Täglich wird in Deutschland eine Fläche in der Größenordnung von etwa 100 Fußballfeldern, zumeist Wiesen und Felder, neu versiegelt und bebaut. Da sich dies nachteilig auf Energieverbrauch, Klimaschutz und Artenvielfalt in der Tier- und Pflanzenwelt auswirkt, hatte sich die Bundesregierung zum Ziel gemacht, das Wachstum des Flächenverbrauchs auf mehr als die Hälfte zu reduzieren. Schließlich ist Deutschland schon heute eines der am dichtest bebauten Länder der EU. Großflächig unzerschnittene, naturnahe Landschaften gibt es praktisch nicht mehr. Nun zeichnet sich freilich ab, dass ohne neuen Flächenverbrauch und allein mit ›Nachverdichtungen‹, also etwa durch den Bau von Hochhäusern in Baulücken im Stadtgebiet, kaum Linderung der Wohnungsnot in den Ballungsgebieten zu erreichen ist. Von umweltverträglicher Stadtentwicklung, Nachhaltigkeit und geringerer Landschaftszersiedelung ist seitdem unter Stadtplanern und Lokalpolitikern weniger zu hören als davon, »freie Flächen« wie »Ackerland und Wälder« möglichst schnell mit möglichst vielstöckigen Wohngebäuden zu bebauen.4

Es ist legitim, Bevölkerungswachstum grundsätzlich als wünschenswert zu betrachten, dessen als positiv empfundene Folgen stärker zu gewichten und Aspekte wie Umweltschutz dagegen hintanzustellen, wie dies vor allem manche Ökonomen tun.5 Allerdings sollte man nicht suggerieren, man könne ohne Weiteres alle Ziele gleichzeitig erreichen: die Bevölkerungszahl deutlich zu erhöhen, diese in bezahlbarem, qualitativ hochwertigem und ästhetisch ansprechendem Wohnraum unterzubringen und zudem auch noch den Umwelt-, Klima- und Artenschutz voran zu bringen, indem weniger Ressourcen und Freiflächen verbraucht werden. Eine solche Entwicklung ist zwar nicht ausgeschlossen, aber praktisch kaum realisierbar, und empirisch stellt es sich in der Regel auch eher so dar, dass das eine zulasten des anderen geht.

Ähnliches gilt für Zielkonflikte zwischen einer expansiven Demographiepolitik und anderen gemeinhin vorherrschenden politischen Zielen in Bereichen wie etwa Arbeitsmarkt oder Verkehr. Daher ist zum einen eine klare Benennung und Kommunikation von Zielen notwendig, die von der Bevölkerungspolitik verfolgt werden. Wo diese in Konflikt mit anderen Zielen stehen, muss zum anderen eine Hierarchisierung erfolgen und die Maßnahmen zur Erreichung der einen auf die »Nebenwirkungen« auf die anderen Ziele untersucht werden.

Es geht hier – wie bemerkt – nicht um eine ideologische Bevorzugung der einen oder anderen Bevölkerungs- oder Migrationspolitik, sondern zunächst darum, die Unsinnigkeit einer Politik aufzuzeigen, bei der es mithin ausgeschlossen ist, dass die kommunizierten Ziele mit den faktisch eingesetzten Mitteln erreicht werden können. Diese Ziele können auch je nach ideologischer Prämissen oder Interessenkonstellation unterschiedlich ausfallen. In der Tat wird dies zuweilen vergessen und so getan, als müsste im Prinzip allgemeine Einigkeit herrschen, welche Ziele in Sachen Demographie wünschenswert sind. Im Schlusskapitel wird diskutiert, welche Ziele aus verschiedenen politischen – etwa sozialdemokratischer oder wirtschaftsliberaler – Perspektiven sinnvoll erscheinen und welche Mittel hierfür zielführend sein könnten.

 

 

2          Überblick über gegenwärtige demographische Entwicklungen

 

 

 

2.1       Was ist der »demographische Wandel«?

Drei Faktoren beeinflussen Bevölkerungszahl und Altersstruktur eines Landes: Geburten, Sterbefälle und Migration. Der »demographische Wandel« lässt sich im Kern so zusammenfassen: Früher waren die Geburtenzahlen je Frau hoch, aber auch die Sterblichkeit, vor allem in den ersten Lebensjahren. Heute werden dagegen weniger Kinder geboren, die aber eine höhere Lebenserwartung ab Geburt aufweisen. In der vorindustriellen Zeit brachte eine Frau in Europa im Laufe ihres Lebens im Schnitt etwa sechs Kinder zur Welt, von denen aber zwei bis drei nicht das Erwachsenenalter erreichten. Heute liegt die Geburtenrate in den meisten europäischen Ländern sowie in vielen anderen Weltregionen bei zwei oder weniger Kindern pro Frau. Im Gegensatz zu früher dürfen allerdings fast 99 % aller neugeborenen Mädchen mindestens bis zum 40. Lebensjahr überleben und so ihrerseits die reproduktive Phase durchleben. Um den Bestand einer Bevölkerung langfristig konstant zu halten, reichen daher heute etwa 2,1 zur Welt gebrachte Kinder im Leben einer durchschnittlichen Frau.

Was sagt eigentlich die »Geburtenrate« aus?

In der öffentlichen Diskussion werden demographische Kennzahlen wie Geburtenzahlen oder -raten häufig missverstanden. Daraus resultieren Fehlschlüsse wie beispielsweise:

•  Die steigenden Geburtenzahlen in Deutschland zeigen, dass die Frauen im Laufe ihres Lebens wieder mehr Kinder bekommen.

•  Ein Rückgang der Geburtenrate lässt darauf schließen, dass Frauen im Laufe ihres Lebens weniger Kinder bekommen.

•  Wenn die Geburtenzahl oder -rate steigt, bedeutet dies, dass die Familienpolitik erfolgreich war.

All diese Schlüsse sind falsch. Um aufzuzeigen warum dies so ist, sollen im Folgenden kurz einige der wichtigsten demographischen Konzepte und deren häufige Fehlinterpretationen erläutert werden.