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Hartmut Bobzin

DER KORAN

Eine Einführung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Der Koran erschließt sich einem Leser nicht leicht – ganz unabhängig davon, ob dieser Leser Muslim ist oder nicht. Gleichzeitig ist der Koran, die heilige Schrift der Muslime, jedoch ein Buch, das wie kaum ein anderes den Gang der Geschichte bestimmt hat und für die weltumspannende Kultur des Islams auch heute noch von prägender Bedeutung ist. Hartmut Bobzin erläutert die Entwicklung, den Aufbau sowie die sprachliche und literarische Form des Korans, behandelt seine theologischen Grundlehren und erklärt seine Funktion als Gesetzbuch. Schließlich widmet er sich der Frage der Übersetzbarkeit des Korans, eines sprachlichen Kunstwerks besonderer Art.

Über den Autor

Hartmut Bobzin ist Professor em. für Islamwissenschaft und Semitische Philologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Koranforschung zählt zu seinen Hauptarbeitsgebieten. Bei C.H.Beck erschienen von ihm außerdem «Mohammed» (5. Auflage 2016), das Lesebuch «Der Koran. Die wichtigsten Texte» (2. Auflage 2017) sowie seine von der Kritik einhellig gerühmte Neuübersetzung des Korans (2. Auflage 2017, C.H.Beck Paperback 2015).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt

Hinweise zur Aussprache arabischer Laute

Vorwort zur 10. Auflage

 

  1. Das missverstandene Buch: Der Koran im Abendland

  2. Was heißt eigentlich «Koran»? Einige Grundbegriffe

  3. Mohammed und seine Sendung: Der Beginn des Korans

  4. Hauptthemen der frühen koranischen Botschaft

  5. Die Entwicklung der koranischen Verkündigung

  6. Theologische Grundlehren

  7. «Rechtleitung für die Menschen»: Der Koran als Gesetzbuch

  8. Die sprachliche und literarische Form

  9. Sammlung, Redaktion und Textgeschichte

10. Korankommentare und muslimische Koranphilologie

11. Koranübersetzungen und das Problem der «Übersetzbarkeit» des Korans

 

Mekkanische und medinensische Suren

Deutsche Koranübersetzungen

Weiterführende Literatur

Personen- und Sachregister

Verzeichnis der zitierten Koranstellen

Hinweise zur Aussprache arabischer Laute

ā  langes «a» wie in «lahm»

a  kurzes «a» wie in «Lamm»

ī  langes «i» wie in «schief»

i  kurzes «i» wie in «Schiff»

ū  langes «u» wie in «Ruhm»

u  kurzes «u» wie in «Rum»

ʾ   fester Stimmabsatz («glottal stop») wie in «beʾehren»

ʿ   kehliger Stimmabsatz (arab. kaʿba «Kaaba»)

ḏ  stimmhaftes engl. «th» wie in «mother»

ḍ  verdumpftes «d» (arab. ramaḍān «Ramadan»)

ğ  stimmhaftes «dsch» wie in «Jeans»

ġ  Gaumen-r (nicht gerollt!) wie in frz. «merci»

h  dt. «h», jedoch stets hörbar

ḥ  stark behauchtes «h» (arab. Muḥammad «Mohammed»)

ḫ  dt. «ch» wie in «Bach» (nie wie in «ich»!)

q  kehlig gesprochenes «k» (arab. qurʾān «Koran»)

r  Zungen-r (gerollt) wie in ital. «pronto»

s  stimmloses «s» wie in «reißen»

ṣ  verdumpftes stimmloses «s» (arab. ṣalāt «Gebet»)

š  dt. «sch» wie in «Schiff»

ṯ  stimmloses engl. «th» wie in «three»

ṭ  verdumpftes «t» (arab. sulṭān «Vollmacht»)

w  engl. «w» wie in «we» (nicht wie in dt. «wie»!)

y  dt. «j» wie in «jagen»

z  stimmhaftes «s» wie in «reisen»

ẓ  verdumpftes stimmhaftes «s» (arab. niẓām «System»)

Vorwort zur 10. Auflage

Diese Einführung soll Verständnis wecken für ein Buch, das wie kaum ein anderes den Gang der Geschichte bestimmt hat und noch bestimmt, ja, das für die weltumspannende Kultur des Islams von prägender Bedeutung geworden ist und nichts von seiner Dynamik verloren hat. Es mag vermessen erscheinen, in einem schmalen Band wie dem vorliegenden ein so komplexes Buch wie den Koran vorstellen zu wollen. Beschränkung auf das Wichtigste war daher geboten; wer mehr erfahren will, findet im Anhang weiterführende Literatur.

Um diese Einführung so anschaulich wie möglich zu machen, habe ich häufig aus dem Koran zitiert. Die meisten Koranzitate folgen der 2. Auflage (2017) meiner 2010 erschienenen Neuübersetzung; nur gelegentlich finden sich Zitate aus der unvergleichlichen Übersetzung von Friedrich Rückert (1788–1866), dem es neben philologischer Genauigkeit vor allem darum ging, den Geist des Korans lebendig zu machen.

Die Anregung, dieses Buch zu schreiben, geht auf meinen hochverehrten altgermanistischen Kollegen Karl Bertau († 2015) zurück. Ernst-Peter Wieckenberg danke ich für seine große Geduld, Marla Stukenberg für das sorgfältige Lektorat. Für die Betreuung der vorliegenden überarbeiteten Neuauflage danke ich sehr herzlich meinem langjährigen Lektor Ulrich Nolte und seiner Mitarbeiterin Angelika von der Lahr. Ganz besonderer Dank aber gilt meiner Frau Katharina für ihr geduldiges und kritisches Lesen und für die Ermutigung, die sie mir über die Jahre stets gab. Ihr ist und bleibt dieses Buch deshalb gewidmet.

Erlangen, im Juni 2018

Hartmut Bobzin

1. Das missverstandene Buch:
Der Koran im Abendland

Der Koran gehört nicht zu den Büchern, die sich einem Leser leicht erschließen. Das gilt ganz unabhängig davon, ob dieser Leser Muslim ist oder nicht. Ein muslimischer Leser hat immerhin den Vorteil, dass ihm der wesentliche Inhalt des Korans nicht nur vom Lesen, sondern vor allem vom Hören her vertraut ist. Diese Vertrautheit mit dem Wortlaut ist jedoch nicht von vornherein gleichzusetzen mit seinem Verständnis. Nichtmuslime aber stehen vor noch größeren Schwierigkeiten, wenn sie den Koran lesen und verstehen wollen. Goethe, der dem Islam große Sympathien entgegenbrachte, hat das Problem für sich persönlich in eindrucksvoller Weise geschildert. Der Koran sei ein Buch, so schreibt er 1819 in den «Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans» im Kapitel «Mahomet»,

das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt.

Man erkennt an dieser Formulierung, wie schwer Goethe die Annäherung an ein Buch fiel, das im christlichen Abendland lange Zeit nur als Verfälschung der Bibel galt.

Ricoldo da Monte Croce, ein Dominikanermönch aus der Nähe von Florenz, der gegen Ende des 13. Jahrhunderts als arabischkundiger Missionar längere Zeit im Vorderen Orient lebte und dort auch mit muslimischen Korangelehrten disputierte, stellte in seiner lateinisch verfassten Streitschrift «Gegen das Gesetz der Sarazenen» eine Art «Sündenregister» auf, in dem er all das behandelt, was den Koran seiner Meinung nach «ungenießbar» macht. So sei der Koran ohne jede einsehbare Ordnung, ganz im Gegensatz zur Bibel. Das 1. Buch Mose, so heißt es bei Ricoldo, beginne, wie es die Ordnung verlangt, mit der Weltschöpfung und fahre danach so fort, wie es der Ablauf der Geschichte gebiete. Genauso verhalte es sich mit dem Evangelium, also der Geschichte Jesu. Und wie ist es im Koran? Hier sei gar keine chronologische Ordnung feststellbar. Vielmehr folge auf das erste Kapitel, genannt «Die Eröffnung», das Kapitel «Die Kuh», so benannt nach einem Ereignis, welches sich in der Bibel in 4. Mose 19 finde, nämlich das Sühneopfer der roten Kuh (vgl. Sure 2:67ff.). Im dann folgenden 3. Kapitel stehe der Bericht über die Geburt Jesu (vgl. Sure 3:45ff.). Ähnliche Ungereimtheiten gebe es im Koran zuhauf.

Neben mangelnder Ordnung und Zusammenhanglosigkeit kritisiert Ricoldo zahlreiche innere Widersprüche, die sich im Koran finden. So gebiete der Koran einerseits, mit Menschen anderen Glaubens freundlich zu reden (16:125; vgl. 29:46):

125 Rufe auf zum Wege deines Herrn mit Weisheit und mit schöner Predigt,

und streite mit ihnen auf gute Weise!

Andererseits aber findet sich auch die Aufforderung, die Ungläubigen zu bekämpfen, ja sogar zu töten (9:29):

29 Kämpft gegen die, die nicht an Gott glauben

und auch nicht an den Jüngsten Tag,

die das, was Gott und sein Gesandter verboten haben, nicht verbieten

und die nicht der Religion der Wahrheit angehören

– unter den Buchbesitzern –,

bis sie erniedrigt den Tribut aus der Hand entrichten.

Damit vergleiche man Sure 2:190f.:

190 Kämpft auf dem Wege Gottes gegen die, die euch bekämpfen!

Doch begeht dabei keine Übertretungen!

Siehe, Gott liebt die nicht, die Übertretungen begehen.

191 Tötet sie, wo immer ihr sie antrefft!

Fast noch befremdlicher sind für Ricoldo so phantastische Geschichten wie die von Salomo und den Ameisen (27:17–19):

17 Die Heerscharen Salomos, aus Dschinnen, Vögeln, Menschen,

wurden versammelt und aufgestellt in Reih und Glied,

18 bis sie in das Tal der Ameisen kamen.

Da sprach eine Ameise: «Ameisen! Geht hinein in eure Wohnungen,

auf dass euch Salomo und seine Heerscharen nicht zertreten,

ohne es zu bemerken!»

19 Da lächelte er heiter über ihre Worte …

Einer anderen, ähnlich gearteten Geschichte widmet Ricoldo sogar ein ganzes Kapitel. Es ist Mohammeds berühmte Nachtreise von Mekka nach Jerusalem und der sich daran anschließende Aufstieg in den Himmel. Der koranische Anknüpfungspunkt dafür ist Sure 17:1:

1 Gepriesen sei, der seinen Knecht nachts reisen ließ

von der heiligen Anbetungsstatt zur fernsten,

um die herum wir Segen spendeten.

Ricoldo stellt bei der ausführlichen Darstellung dieser Geschichte u.a. die Frage, warum Mohammed eigentlich für die Reise nach Jerusalem ein Reittier – nämlich den in der islamischen Überlieferung so berühmten Burāq – benötigte, für den Aufstieg in den höchsten Himmel jedoch keines.

Dass Ricoldo gerade solche Geschichten in aller Breite schildert, dient sicherlich dazu, den Koran herabzusetzen. Schon der im 8. Jahrhundert unter islamischer Herrschaft lebende orthodoxe Theologe Johannes von Damaskus (gest. um 750) bezeichnete den Koran als «lächerliches» Buch – und genau das sollte jahrhundertelang christlicherseits immer wieder bewiesen werden.

Ricoldos in vieler Hinsicht repräsentatives Werk fand eine außerordentliche Verbreitung. Es wurde seit 1500 häufig gedruckt und aus dem Lateinischen in weitere Sprachen übersetzt – ins Deutsche übrigens von Martin Luther im Jahre 1542 («Verlegung des Alcoran»). Er legte die Lektüre dieses Buches besonders den Predigern nahe, diese sollten von der Kanzel herab das Volk vor der Versuchung des Islams warnen – gewiss verständlich zu einer Zeit, da türkische Heere Mitteleuropa bedrohten: 1529 stand Sultan Süleiman vor Wien!

Viele Argumente Ricoldos gegen den Koran wirkten lange nach. Wichtig war dabei vor allem, dass der Koran ausdrücklich mit der Bibel verglichen wurde – und zwar formal wie inhaltlich. Nicht nur Ricoldo, sondern viele andere, die gegen den Islam schrieben, wollten vor allem die Widersprüche zwischen Bibel und Koran aufdecken, um den Koran als wertloses, aus einzelnen biblischen Elementen zusammengeflicktes «Lügenbuch» zu entlarven.

Die auffälligsten Widersprüche betrafen die zentralen christlichen Lehrsätze von der Gottessohnschaft Jesu und der Trinität. Denn im Koran heißt es ja in Sure 4:171 kurz und klar:

171 So glaubt an Gott und seine Gesandten

und sagt nicht: «Drei!»

Und in Sure 5:73:

73 Ungläubig sind, die sagen:

«Siehe, Gott ist der Dritte von dreien.»

Jesus ist dementsprechend nur ein Gesandter (rasūl) und ein Prophet (nabīy), ein «Knecht» Gottes (Sure 43:59) – aber nicht mehr. Das war für manchen christlichen Theologen schwer zu begreifen, da in der eben zitierten Sure 4:171 scheinbar doch von der Trinität die Rede ist. Denn dort werden ja die Schriftbzw. Buchbesitzer (ahl al-kitāb), also Christen und Juden, wie folgt angeredet (in der deutschen Übersetzung Luthers von Ricoldos «Widerlegung»):

Sagt nichts von Gott als die Wahrheit, dass Christus Jesus, Marias Sohn, ein Apostel Gottes ist, und Gottes Wort, welches er [Gott] in sie [Maria] gelegt hat durch den Heiligen Geist.

Luther stellt ganz richtig fest, dass die drei Elemente der Trinität – Gott, Wort (= Jesus), Heiliger Geist – hier zwar genannt sind, aber dass der Koran dann, um jedes Verständnis der Trinität als Verhältnis dreier Gottheiten auszuschließen, fortfahre (Übersetzung Martin Luther):

Ihr sollt nicht sagen, dass drei Götter sind, denn Gott ist ein einiger Gott!

Man konnte diesen grundsätzlichen Widerspruch zur christlichen Lehre verschieden erklären. Entweder unterstellte man Mohammed – den man selbstverständlich als den Verfasser (!) des Korans ansah – absichtliche Verfälschung der christlichen Lehre und rückte ihn in die Nähe wohlbekannter altkirchlicher Ketzer, wie z.B. Arius (gest. 336) oder Nestorius (gest. um 451), die beide die wahre Gottheit Christi bestritten hatten. Dann konnte man die «Falschheit» des Korans mit Hilfe bewährter Argumente aus dem Streit mit Arianern und Nestorianern beweisen und bekämpfen. Oder man nahm an, dass Mohammed aufgrund mangelnder Bildung vieles missverstanden bzw. nur unzuverlässige Quellen zur Verfügung gehabt habe und man den Koran dementsprechend «korrigieren» müsse. Welcher der beiden Auffassungen man auch folgte, der Koran konnte in keinem Fall ein echtes Offenbarungsbuch sein.

Wann und wie lernte man im Abendland den Koran kennen? Den unter islamischer Herrschaft lebenden Christen war es verboten, ihre Kinder den Koran zu lehren; so jedenfalls stand es in dem Unterwerfungsvertrag, den der Kalif ʿUmar (reg. 634–644) mit mehreren Städten Syriens geschlossen hatte und der lange Zeit als maßgeblich galt. Von orientalischen Christen war also kaum eine nähere Korankenntnis und mithin auch keine Übersetzung des Korans zu erwarten.

Im Byzantinischen Reich, dem unmittelbaren Nachbarn des islamischen Staatswesens, hielt man den Islam lange Zeit für eine abtrünnige christliche Sekte und interessierte sich nicht sonderlich für den Koran. Erst einem Theologen des 9. Jahrhunderts, Niketas von Byzanz, stand eine Übersetzung des Korans in die damalige griechische Umgangssprache zur Verfügung. Von ihr machte er in seiner Streitschrift «Widerlegung des von dem Araber Mohammed gefälschten Buches», die er im Auftrag von Kaiser Michael III. (reg. 842–867) verfasste, reichlichen Gebrauch. Diese Koranübersetzung ist heute als Ganze verloren, bekannt ist sie nur noch durch die Zitate, die Niketas in seiner «Widerlegung» anführt.

Im Westen Europas wurde der Koran erst durch die lateinische Übersetzung bekannt, die der Abt von Cluny, Petrus Venerabilis (1092–1156), 1142/43 in Spanien anfertigen ließ. Die Entstehung dieser Übersetzung hängt auf das engste mit dem Ausgang des 1. Kreuzzugs (1096–99) zusammen. Petrus hatte die Überzeugung gewonnen, dass der Islam nicht mit Waffengewalt, sondern nur mit der Macht des Wortes zu besiegen sei. Voraussetzung dafür war die Kenntnis der Grundlehren des Islams, wie sie im Koran zu finden sind. Während einer Visitationsreise in den christlichen Teil Spaniens im Jahr 1142 konnte Petrus den Engländer Robert von Ketton (bzw. von Chester), der damals an der Übersetzung mathematisch-astronomischer Werke aus dem Arabischen arbeitete, dafür gewinnen, den Koran ins Lateinische zu übersetzen. Obwohl Roberts Koranübersetzung, die er mit Hilfe eines arabischen Muttersprachlers anfertigte, einige Mängel aufweist, hatte sie einen erstaunlichen Erfolg, denn länger als ein halbes Jahrtausend war sie die wichtigste Quelle für die Korankenntnis in der westlichen Christenheit und Ausgangspunkt für weitere volkssprachliche Übersetzungen ins Italienische (1547), Deutsche (1616) und Holländische (1641). Das hatte sie vor allem der Tatsache zu verdanken, dass sie 1543, also genau 400 Jahre nach ihrer Entstehung, in Basel gedruckt wurde. Erscheinen konnte sie allerdings erst nach einem erbittert geführten Streit darüber, ob man in einer christlichen Stadt wie Basel ein so ketzerisches Buch wie den Koran überhaupt drucken solle. Die Befürworter, unter ihnen der Zürcher Theologe Theodor Bibliander (1505–1564) als Herausgeber, betonten das berechtigte Bedürfnis weiter Kreise nach gründlicher Information über den Glaubensgegner. Demgegenüber warnten die Gegner vor der Gefahr, die bei ungeübten Lesern von einem Buch wie dem Koran ausgehen könne. Das muss man vor dem Hintergrund verstehen, dass es zu dieser Zeit eine starke antitrinitarische Strömung gab, die zusätzliche Argumente gegen die christliche Trinitätslehre aus dem Koran beziehen konnte. Erst Luthers Intervention zugunsten der Befürworter vermochte den Rat der Stadt dazu zu bewegen, die Veröffentlichung der Koranausgabe zu erlauben. Die Nachfrage nach dem stattlichen Band war so groß, dass schon sieben Jahre später eine zweite Auflage notwendig wurde.

1647 erschien in Paris die erste direkte Übersetzung des Korans aus dem Arabischen in eine europäische Volkssprache, das Französische. Der Übersetzer, André du Ryer (gest. 1672), hatte lange Zeit als französischer Konsul in der Levante gelebt. Er zog für seine Übersetzung auch islamische Korankommentare heran (z.B. al-Baiḍāwī) und gelangte dadurch zu einem authentischeren Verständnis als Robert von Ketton; dennoch zeigt gleich der erste Satz des Vorworts, dass sich dadurch an der überkommenen negativen Einstellung dem Koran gegenüber kaum etwas geändert hatte:

Dieses Buch ist ein langer Vortrag Gottes, der Engel, und Mohammeds, den dieser falsche Prophet auf allzu plumpe Weise erfunden hat …

Du Ryers oft nachgedruckte Koranübersetzung gewann im Zeitalter von Barock und Aufklärung, als Französisch zur ersten Sprache Europas aufstieg, eine sehr große Verbreitung. Voltaire z.B. las sie – und fand kein gutes Wort über den Koran; er sei, so schrieb er 1740 an den preußischen König Friedrich II.,

ein unverständliches Buch, das auf jeder Seite den gesunden Menschenverstand erschauern lässt.

Allerdings revidierte Voltaire sein Urteil später. In seinem erstmals 1753 erschienenen «Versuch über die Sitten und den Geist der Nationen» (Essai sur les mœurs et l’esprit des nations) lässt er dem Koran größere Gerechtigkeit angedeihen, ohne ihm jedoch wirkliche Sympathie entgegenzubringen:

Der Koran ist nicht ein historisches Buch, mit dem man die Bücher der Hebräer oder unsere Evangelien hätte nachahmen wollen. Er ist auch nicht nur ein reines Gesetzbuch, wie das 3. und 4. Buch Mose, noch eine Sammlung von Psalmen oder Liedern, noch eine prophetische oder allegorische Vision im Stil der Apokalypse; er ist vielmehr eine Mischung all dieser unterschiedlichen Gattungen, eine Ansammlung von Predigten, in denen man einige Tatsachen findet, einige Visionen, sowie Offenbarungen, religiöse und säkulare Rechtsvorschriften.

Auch bei dieser Charakterisierung, in der Voltaire übrigens in ganz moderner Weise verschiedene Gattungen koranischer Texte unterscheidet, blieb weiterhin die Bibel der Vergleichsmaßstab.

Der Koran als die schlechtere Bibel – das war dann «Die türkische Bibel». Der Übersetzer der ersten direkt aus dem Arabischen übersetzten deutschen Koranausgabe, David Friederich Megerlin (1699–1778), scheute sich nicht, diese Bezeichnung als Untertitel seiner 1772 erschienenen Arbeit zu verwenden. Auf der dem Titelblatt gegenüberliegenden Seite prangt als Kupferstich «Mahumed, der Falsche Prophet» (Abb. 1). «Eine elende Produktion», befand Goethe in einer Rezension ganz zu Recht, zumal Megerlin bei aller berechtigten Kritik an früheren Übersetzungen doch an der alten Grundüberzeugung eines «Lügen- und Fabelbuchs» festhält. Aber wenn man Megerlins langatmige Vorrede bis zum Ende durchliest, stößt man auf die ganz unerwartete, geradezu erstaunliche Bemerkung:

Man kann hie und dorten auch gute und unärgerliche Stellen finden: die jedermann lesen darf, und zur Erbauung anwenden kann.

Es blieb dem bedeutenden katholischen Theologen Johann Adam Möhler (1796–1838) vorbehalten, die Eigenständigkeit des Korans als religiöser Urkunde und die ihm eigene Spiritualität zu erkennen und zu würdigen. Möhler wandte sich in einem Aufsatz, in dem er das Verhältnis von Jesus zu Mohammed nach der koranischen Lehre behandelt, gegen die weitverbreitete Auffassung, dass Mohammed nichts als ein Betrüger und ein «falscher Prophet» sei. Bei einer solchen Annahme, schreibt Möhler, werde

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Abb. 1: Koranübersetzung von Megerlin, 1772

am unerklärlichsten … die Entstehung des Koran sein, in welchem uns häufig eine ganz originelle Pietät, eine rührende Andacht und eine ganz eigentümliche religiöse Poesie entgegentritt. Dies kann unmöglich etwas Erkünsteltes und Erzwungenes sein, was doch müsste angenommen werden, wenn wir in Mohammed einen bloßen Betrüger finden wollten … Viele Millionen Menschen nähren und pflegen aus dem Koran ein achtungswertes religiös sittliches Leben und man glaube nicht, dass sie aus einer leeren Quelle schöpfen.

Obwohl Möhler diese Gedanken schon 1830 veröffentlichte, blieben sie trotz einer 1847 in Calcutta erschienenen englischen Übersetzung weit über hundert Jahre nahezu unbeachtet. Erst das II. Vatikanische Konzil bahnte mit seiner Deklaration «Über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen» (Nostra aetate) den Weg für ein besseres Verstehen der Muslime. Zwar blieben Mohammed und der Koran im Text unerwähnt, aber die ausdrücklich genannte Aufforderung, «sich aufrichtig um gegenseitiges Verstehen zu bemühen», kann nichts anderes bedeuten, als gerade auch den Koran in dieses Bemühen einzuschließen. Denn dieses Buch ist nicht nur so etwas wie die Gründungsurkunde des Islams, es ist zugleich das bis heute unumstrittene Zentrum des Islams als Religion in all seiner Vielfalt und vor allem die nie versiegende Quelle der dem Islam eigenen Spiritualität. Und der Koran ist ein unverzichtbarer Bestandteil nicht nur der arabischen Literatur, an deren Anfang er steht und deren Sprache er zutiefst beeinflusst hat, sondern auch der Weltliteratur. Muslime sprechen von der «Unvergleichbarkeit», ja der «Unnachahmlichkeit» des Korans, und es gibt keinen vernünftigen Grund, diese Überzeugung nicht ernst zu nehmen. Daher kommt man dem Koran nicht näher, man verbaut sich sogar jeden Zugang, wenn man ihn mit fremdem Maße misst: Der Koran ist nicht die «Bibel» der Muslime, sondern etwas ganz Eigenes, Unverwechselbares. Deshalb muss jetzt etwas darüber gesagt werden, was «Koran» eigentlich genau bedeutet.

2. Was heißt eigentlich «Koran»? Einige Grundbegriffe

Der Koran als Vortragstext

Mit dem Wort «Koran» (betont wird die letzte Silbe) ist gewöhnlich das gesamte heilige Buch des Islams gemeint, das heißt die Sammlung der von Mohammed empfangenen und öffentlich verkündigten Offenbarungen Gottes. In diesem Sinne wird arabisch qurʾān von Muslimen auch ganz überwiegend verwendet und dann meistens mit einem ehrenden Beiwort versehen, und zwar entweder mit karīm «edel, wert, geehrt» (vgl. 56:77), oder mit mağīd «ruhmreich, preiswürdig» (vgl. 50:1; 85:21).

Übrigens verwenden die Muslime noch eine Reihe anderer Bezeichnungen für den Koran. Man nennt ihn oft einfach kitāb, «das Buch» oder «die Schrift». Oder er heißt «das Buch Gottes» (kitāb Allāh) oder auch «das weise Buch» (al-kitāb al-ḥakīm, vgl. 10:1 und 31:1). Andere Bezeichnungen beziehen sich entweder mehr auf die äußere Form, wie muṣḥaf«Buch, Kodex», oder aber auf die Funktion des Korans. Letzteres ist z.B. der Fall, wenn man ihn als «die weise mahnende Erinnerung» (al-ḏikr al-ḥakīm) bezeichnet, z.B. in dem folgenden, sehr aufschlussreichen Vers aus Sure 3, der uns gut in die Nähe der ursprünglichen Bedeutung des Wortes qurʾān führen kann. Nachdem nämlich in dieser Sure ab Vers 45 ausführlich über Geburt und Wirken Jesu berichtet wird, heißt es in Vers 58, in dem Gott sich an Mohammed wendet:

58 Das ist es, was wir dir vortragen von den Zeichen und der weisen Mahnung.

Mit dem Begriff der «Mahnung» (ḏikrqurʾān