3Hans-Peter Müller

Krise und Kritik

Klassiker der soziologischen Zeitdiagnose

Suhrkamp

Widmung

4Für Katrin

9Vorwort

Die klassischen soziologischen Theorien befassen sich mit drei grundlegenden Themenkomplexen: 1. Ihr zentrales Problem ist die »Große Transformation« agrarisch-feudaler Ständegesellschaften in industriell-kapitalistische Klassengesellschaften. Kurz gesagt: Es geht um das Verhältnis von Tradition und Moderne. 2. Um dieses Problem wissenschaftlich untersuchen zu können, werden Gegenstand (das »Soziale«), Begriffe (wie »Gesellschaft«), Theorien (Handlungs-, Organisations- und Ordnungstheorie) und Methoden (»Verstehen« und »Erklären«) entwickelt. So entsteht eine neue Wissenschaft: die Soziologie. Kurz gewendet: Es geht um das Verhältnis von Soziologie und Moderne. 3. Auf dieser Grundlage – zentrale Problemstellung und neue Wissenschaft – erfolgen Analysen der Großen Transformation, die in eine kritische Gesellschafts-, Kultur- und Zeitdiagnose einmünden und häufig mit Appellen zu »Revolution« oder »Reform« verbunden sind. Kurz gefasst: Es geht um das Verhältnis von Soziologie und kritischer Zeitdiagnose.

Dieses Programm der klassischen soziologischen Theorien wird im Folgenden an den Arbeiten von Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel und Max Weber illustriert. Diese fünf sozialwissenschaftlichen Klassiker haben in besonderem Maße zu unserem Grundverständnis der modernen Gesellschaft beigetragen. Im Vordergrund stehen Transformationsprobleme und -analysen, erst in zweiter Linie geht es um Begriffs- und Theoriebildung. In dieser Verknüpfung von Ideen- und Theoriegeschichte mit den jeweiligen Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsanalysen und Gesellschaftskritiken wird die Aktualität der Klassiker besonders sichtbar. Denn sie untersuchen meist das Verhältnis von Wirtschaft, Politik und Kultur und reagieren auf die drei Revolutionen der Moderne: 1. die ökonomische Revolution und die Entstehung des Kapitalismus; 2. die politische Revolution und die Heraufkunft der Demokratie; 3. die kulturelle Revolution und die Genese des Individualismus. Kapitalismus, Demokratie und Individualismus umschreiben die Werte- und Institutionenkonstellation, die auch heute noch westliche Gesellschaftsformationen (und mittlerweile natürlich nicht nur diese) auszeichnet. Wer sich mit der Geschichte 10der soziologischen Klassik intensiv auseinandersetzt, wird deshalb viel über unsere heutige Gesellschaft verstehen lernen. Mein großer Dank gilt Florian Eyert, Cosima Langer, Steven Sello, Jakob Schultz und Laurin Schwartz für ihre Hilfe bei der Endredaktion des Bandes, der ursprünglich als Lehrbrief für die Fernuniversität Hagen (2017) verfasst und für die vorliegende Publikation gründlich überarbeitet worden ist. Eva Gilmer, Philipp Hölzing und Jan-Erik Strasser vom Team Suhrkamp Wissenschaft haben mit ihrer Expertise dem Band den letzten Schliff verpasst.

Hans-Peter Müller, im Oktober 2020