3Ursula Wolf

Handlung, Glück, Moral

Philosophische Aufsätze

Suhrkamp

7Vorwort

Der vorliegende Band macht (neben zwei Originalbeiträgen) verstreute Aufsätze aus drei Jahrzehnten neu zugänglich. Sie gliedern sich nach drei Themenbereichen, die in meinen philosophischen Überlegungen eng verknüpft sind: Handlungstheorie, Theorie des guten Lebens (Glücks) und Moraltheorie.

Mein 1984 erschienenes Buch Das Problem des moralischen Sollens endet mit der Überzeugung, dass die moralischen Phänomene nicht für sich, sondern nur eingebettet in den weiteren Kontext der Frage nach dem guten Leben zureichend bearbeitet werden können. Das erklärt meine Beschäftigung mit der antiken Ethik, die von vornherein diesen weiteren Ansatz verfolgt. Dabei interessieren mich weniger die inhaltlichen Vorschläge, die teilweise zeit- und kulturabhängig und für uns nicht immer brauchbar sind, als vielmehr die Entwicklung handlungstheoretischer Grundbegriffe und Grundstrukturen des Lebens und Handelns. Deren Ausarbeitung geht mit der Verengung der praktischen Philosophie auf Moraltheorie in der Neuzeit weitgehend verloren und wird erst nach dem linguistic turn von der analytischen Handlungstheorie wiederaufgenommen. Da diese jedoch das Handeln losgelöst und nicht wie in der Antike strukturiert durch die Suche nach dem Guten thematisiert, verlieren sich die heutigen handlungstheoretischen Debatten oft ohne nachvollziehbare Problemstellung in immer neue Spitzfindigkeiten. Hiergegen verfolge ich in den Beiträgen zur Handlungstheorie die Absicht, diese wieder in die ethische Frage zurückzuholen. Gleichzeitig steht dahinter eine theoretische Frage, die Frage, was die Aufgabe der Philosophie ist, ob sich die strukturelle Ordnung des Handelns auf den Begriff des Guten in der Philosophie direkt auswirkt oder eher im Hintergrund die Entscheidung über Methode und Inhalte steuert. (Dieser Frage ist mein skizzenhafter historisch-systematischer Versuch Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben (1999) gewidmet.)

Während die Entwicklung meiner Überlegungen mit der Moraltheorie begann, ist die Ordnung in diesem Band systematisch: Handlungstheoretische Fragen bilden den Anfang; es folgen Überlegungen zur Ethik im weiten Sinn bzw. zur Theorie des guten 8Lebens; schließlich werden moralphilosophische Probleme behandelt. Innerhalb der drei Teile sind die Aufsätze chronologisch angeordnet. Dabei sind der erste und der zweite Teil, die sich beide stark an der antiken Philosophie orientieren, nicht scharf trennbar. Der dritte Teil thematisiert sowohl moraltheoretische Fragen wie Probleme der angewandten Ethik, wobei ich die Tierethik bewusst auslasse, da meine Position hierzu in der Monographie Ethik der Mensch-Tier-Beziehung (2012) leicht nachzulesen ist.

Danken möchte ich Eva Gilmer und Jan-Erik Strasser für die verständnisvolle und freundliche Betreuung des Bandes; Carola Hesch für Korrekturen und die Einrichtung der bibliographischen Angaben; Ursula Baumann für hilfreiche Beratung bei der Auswahl der Texte.

Bad Dürkheim, Juni 2019

Ursula Wolf

9I. Handlung

11Zum Problem der Willensschwäche

Das Wort »Willensschwäche« ist zum einen ein Ausdruck unserer Umgangssprache, zum anderen fungiert es in der Philosophie als Übersetzung des griechischen Wortes »akrasia«. »Akrasia« kann man ungefähr mit »Unbeherrschtheit« übersetzen, und die Wörter »Willensschwäche« und »Unbeherrschtheit« sind sicher nicht völlig gleichbedeutend. Nun wurde auch in der griechischen Philosophie »akrasia« nicht genau im Sinn der damaligen Umgangssprache verwendet, sondern in einem terminologischen Sinn. Aristoteles hat dieses Wort als Terminus eingeführt für das Phänomen, daß jemand nicht tut, was er für das Beste hält, obwohl er es tun könnte. Sokrates hatte bestritten, daß es dieses Phänomen gibt, und er hat mit dieser zunächst wohl erstaunlichen und provokanten These eine Diskussion angefacht, die noch heute im Gang ist. Da es diese Diskussion ist, an der ich mich beteiligen möchte, ist das Wort »Willensschwäche« in meinem Titel so zu verstehen, daß es zunächst einfach eine Abkürzung für die genannte ausführlichere Phänomenbeschreibung ist.

Daß wir nicht tun, was wir für besser halten, auch wo wir es könnten, scheint ein so häufiges Phänomen zu sein, daß man sich fragen wird, wie Philosophen überhaupt dazu kommen konnten, sich ausgerechnet über seine Existenz zu streiten. Warum sie das tun und worüber sie dabei genauer streiten, kann uns vielleicht immer noch am besten Aristoteles erläutern, der sich ausführlich und differenziert mit der These des Sokrates auseinandersetzt.

Aristoteles wirft Sokrates zunächst vor, daß seine Behauptung den Phänomenen widerspricht (1145b27 f.), entwickelt dann jedoch eine Position, die zwischen schwächeren und stärkeren Versionen von Willensschwäche unterscheidet und die Sokratische These für die starke Version bestätigt. Ich beginne unmittelbar mit dem Beispiel, das Aristoteles in dem zentralen Text EN VII 5 erörtert.

Jemandem wird eine Süßigkeit angeboten. Er hat den Wunsch, seine Gesundheit zu erhalten, und die Meinung, daß Süßigkeiten schädlich sind, und daher kommt er in einer praktischen Überlegung, in der er fragt, was er in der Situation am besten tun sollte, zu dem Ergebnis, daß er die Süßigkeit ablehnen sollte. Damit wird 12sein konkretes Wollen in der Situation mit der Erforderlichkeit dieser Handlung des Ablehnens konfrontiert, d. h., diese Handlung müßte jetzt zu einer in der Situation gewollten werden. Nun kann es sein, daß unsere unmittelbaren oder sinnlichen Wünsche zufällig in Einklang mit dem sind, was aufgrund von Überlegung das Beste zur Erreichung bestimmter höherstufiger oder langfristiger Ziele ist. Es kann sein, daß der Handelnde kein großes Bedürfnis nach Süßigkeiten oder sogar eine Abneigung dagegen hat. Es kann aber ebensogut sein, daß überlegtes Wollen und unmittelbares Wollen sich widerstreiten. Es kann sein, daß dem Betreffenden einerseits viel an seiner Gesundheit liegt, daß er aber andererseits in der vorliegenden Situation große Lust auf die Süßigkeit hat. In solchen Situationen, in denen das Tun des Besseren sozusagen gegen innere Widerstände erfolgen müßte, erweist sich Willensstärke oder Willensschwäche: Der Willensstarke tut gegen seine unmittelbaren Antriebe das, was ihm die Überlegung als das Beste erweist, der Willensschwache folgt gegen die Überlegung seinem unmittelbaren Antrieb.

Nun ist diese Überlegung nicht irgendeine Überlegung, sondern sie ist eine Überlegung darüber, was für mich in dieser Situation zu tun das Beste ist. Nach Aristoteles sind für eine solche praktische Überlegung u. a. zwei Dinge charakteristisch: Erstens muß ich berücksichtigen, was ich in der Situation tun kann, was überhaupt in meiner Macht steht (sowohl was die äußeren Situationsbedingungen als auch was meine – physischen, technischen, intellektuellen usw. – Fähigkeiten angeht). Zweitens gehören in die praktische Überlegung nur diejenigen meiner Wünsche, die nicht bloße Wunschvorstellungen, sondern handlungsbezogene Wünsche sind, d. h. deren Realisierung ich wirklich anstrebe. Der Handelnde in dem Beispiel überlegt also nicht einfach abstrakt, was das Beste zur Erhaltung seiner Gesundheit wäre, um sich dann vielleicht zu sagen, daß es schön wäre, wenn er ein anderer Mensch wäre, der wirklich so handeln wollte oder könnte; sondern seine Überlegung geht aus von dem handlungsbezogenen Willen zur Erhaltung der Gesundheit, und d. h. von einer praktischen Einstellung, die sich in jeweiligen Situationen in geeigneten Handlungsvorsätzen manifestiert. Die praktische Überlegung fragt nach der hier und jetzt und für mich besten Handlung, gegeben meine verschiedenen handlungsbezogenen Wünsche, meine Fähigkeiten sowie die Situationsumstände, und ihr Ergebnis hat daher unmittelbar die Form eines Handlungsvorsatzes.

13Ein konkreter Handlungsvorsatz hinsichtlich einer jetzt anstehenden Handlungssituation ist aber dadurch definiert, daß er zur Ausführung kommt, wenn kein äußeres Hindernis vorliegt und der Handelnde ihn ausführen kann (1147a30 f.). Wenn daher jemand den Vorsatz, die nach seiner Überlegung beste Handlung zu tun, nicht ausführt, obwohl kein äußeres Hindernis vorliegt und obwohl er die Fähigkeit im gewöhnlichen Sinn der physischen usw. Fähigkeit besitzt, dann folgt analytisch, daß er entweder den Vorsatz nicht wirklich hat oder ihn aufgrund bestimmter innerer Bedingungen nicht ausführen kann. Wir können jetzt sehen, was das Problematische an der Beschreibung ist, daß jemand das seiner Meinung nach Beste nicht tut, obwohl er es tun könnte. Wenn die Meinung über das Beste Vorsatzcharakter hat, dann verwickeln wir uns in einen Widerspruch, wenn wir sagen, daß jemand das, was er für das in der Situation Beste hält, in dieser Situation tun könnte, es aber doch nicht tut. Ich stimme daher Sokrates und Aristoteles zu, daß es dieses Phänomen in der Tat nicht geben kann. Andererseits hatten wir, als uns die These des Sokrates auf den ersten Blick unplausibel vorkam, doch offenbar ein Phänomen im Auge, und es bleibt daher die Frage, wie dieses gesuchte Phänomen angemessen zu beschreiben wäre.

Aristoteles selbst macht dazu folgenden Vorschlag. Derjenige, der es für das in der Situation Beste hält, die Süßigkeit abzulehnen, wird in dem Augenblick, in dem er den Vorsatz faßt, von einem Verlangen nach der Süßigkeit überwältigt, das einfach hinter dem Rücken des Vorsatzes oder an dem Vorsatz vorbei Einfluß auf sein Handeln gewinnt (1147a34). Seine Handlung ist dann nur noch freiwillig in dem Sinn, daß sie nicht unter äußerem Zwang geschieht, aber sie ist nicht mehr freiwillig in dem Sinn, daß er zu diesem Zeitpunkt auch hätte anders handeln können. Dieser Verlust an Freiwilligkeit ist für Aristoteles letztlich immer ein Verlust an Wissen: in dem Moment, in dem die Begierde wirksam wird, macht sie den Handelnden sozusagen vorübergehend blind, so daß er, selbst wenn er seine Meinung über das Beste ausspricht, das nur wie ein Betrunkener oder Träumender tut, und d. h. ohne sich in diesem Moment über die Bedeutung und Handlungsrelevanz der Aussage im klaren zu sein (1147b9 ff.).[1] 

14Neben diesem wohl eher seltenen, wenn auch denkbaren Fall, daß jemand, der eine Überlegung bis zum Ende durchgeführt hat, dann doch noch von einer Begierde oder einem Affekt überwältigt wird, bezeichnet Aristoteles als Willensschwäche auch das sicher häufigere Phänomen, daß jemand in der konkreten Situation unter dem Einfluß einer Begierde überhaupt nicht überlegt, sondern einfach unmittelbar handelt (1150b19 ff.).[2]  Hier ist sein höherstufiger Wunsch bzw. sein allgemeines Handlungsprinzip, z. B. das Vermeiden von Dingen, die der Gesundheit schaden, in der Handlungssituation nur potentiell vorhanden, ohne in einer Überlegung aktualisiert und auf die Situation angewandt zu werden (1146b31 ff.).

Erfaßt Aristoteles auf diese Weise dasjenige Phänomen, das wir neu zu beschreiben versuchen, nachdem sich die Beschreibung, daß jemand freiwillig gegen das seiner Meinung nach Beste handelt, als widersprüchlich erwiesen hat? Solange wir noch nicht über eine neue Beschreibung verfügen, kann ich selbst dieses Phänomen vorläufig nur vage benennen. Aber es wäre jedenfalls dort zu suchen, wo jemand sich in der konkreten Situation in einem bewußten Konflikt zwischen überlegter Meinung und unmittelbarem Wollen befindet und dann dem unmittelbaren Wollen folgt. Dieses Phänomen aber kommt bei Aristoteles – wenn ich ihn richtig interpretiere – nicht vor. Es liegt ohnehin nicht vor, wo der Handelnde unter dem Einfluß der Begierde überhaupt nicht überlegt; aber es kommt bei Aristoteles auch dann nicht vor, wenn er überlegt hat, weil die Begierde, sobald sie eingreift, die Meinung über das Beste für den Moment in einen Status der Potentialität zurückversetzt, so daß ein Konflikt nicht vorhanden ist. Wie läßt sich das gesuchte Phänomen aber dann beschreiben?

Moderne Anhänger der sokratisch-aristotelischen Position versuchen es dadurch zu fassen, daß sie den von Aristoteles angenommenen Zusammenhang zwischen Wissen und Handlungsfreiheit 15auflösen. So beschreibt z. B. Hare den Willensschwachen als jemanden, der eine klare Meinung über das Bessere hat, jedoch in der Situation aufgrund einer psychischen Unfähigkeit nicht entsprechend handelt;[3]  andere reden statt von psychischer Unfähigkeit von zwangsneurotischem Verhalten.[4]  Was diese Begriffe bedeuten und ob man die Rede von Unfähigkeit oder Zwang hier wörtlich nehmen darf, müßte genauer geklärt werden. Zwar können wir bei Freud den Satz lesen: »[Der Zwangsneurotiker] ist vollkommen klar, teilt Ihr Urteil über seine Zwangssymptome […]. Er kann nur nicht anders«,[5]  aber das ist durchaus auch in der Psychologie nicht die einhellige Meinung.[6]  Man könnte es plausibler finden zu sagen, daß es für den Zwangsneurotiker nicht unmöglich, sondern nur besonders schwierig ist, anders zu handeln, d. h., man könnte an dem Zusammenhang zwischen Wissen und Handlungsfreiheit festhalten, den Aristoteles annimmt und den später mit allen Details Spinoza aufzuzeigen versucht hat. Obwohl ich selbst diese letztere Auffassung für überzeugender halte, kann ich diesen Punkt offenlassen; denn gerade dann, wenn es dem Zwangsneurotiker in einem wörtlichen Sinn unmöglich ist, anders zu handeln, kommen wir nicht zu dem gesuchten Phänomen. Die praktische Überlegung fragt nach der besten der mir möglichen Handlungen, und daher kann, wenn ich mich selbst so sehe, daß ich unter innerem Zwang stehe und nicht anders handeln kann, die betreffende Handlung nicht Inhalt meiner Meinung über das Beste sein.[7] 

Das gesuchte Phänomen, daß jemand sich in einer Situation, in der er so oder anders handeln könnte, in einem bewußten Konflikt zwischen unmittelbarem Wunsch und überlegter Meinung befin16det und dann dem unmittelbaren Wunsch folgt, wird also sowohl von Aristoteles als auch von seinen modernen Anhängern übersprungen, wenn auch auf verschiedene Weise. Bei den modernen Autoren dadurch, daß sie sich auf den Spezialfall des zwangsneurotischen Handelns konzentrieren. Aber schließlich haben wir es nicht immer, wenn wir einem unmittelbaren Wunsch nachgeben, mit einer neurotischen Handlung zu tun, d. h. mit einer Manifestation von fest verankerten wiederkehrenden Verhaltensstrukturen. Wenn jemand z. B. am Abend ins Kino geht, obwohl er eigentlich noch arbeiten wollte, braucht das kein Fall von zwanghafter Arbeitsflucht zu sein, sondern kann einfach heißen, daß er gegen seinen höherstufigen Wunsch seiner Unlust nachgibt. Aristoteles andererseits verfehlt das Phänomen dadurch, daß er sich auf den Spezialfall des blinden Verlangens beschränkt, welches die Seite der Überlegung ausschaltet. Aber nicht in jedem Fall, in dem jemand einem unmittelbaren Wunsch folgt, braucht dieser ihn in dem Maß überwältigt zu haben, daß er nicht mehr weiß, was er tut.[8] 

Das Phänomen, das wir suchen, muß also irgendwo zwischen dieser unteren Ebene des entweder zwanghaften oder blinden Handelns, welches kein Anders-handeln-Können impliziert, und der Ebene des Handelns nach den besten Gründen liegen. Daß jemand einem unmittelbaren Wunsch nachgibt, wo er sich in einem echten Konflikt zwischen diesem Wunsch und einer Meinung über das Beste befindet, läßt sich erst dort sinnvoll sagen, wo der Betreffende in der Situation überlegen und so oder anders handeln kann. Das aber heißt, daß die Konfliktsituation eine Wahlsituation ist, in der der Handelnde sich zwischen seinem unmittelbaren Wunsch und seinem höherstufigen Wunsch entscheidet. Wir könnten die Situation des Willensschwachen jetzt so beschreiben, daß er überlegt hat und d. h. eine Entscheidung gefunden hat, daß aber der unmittelbare Wunsch in der Situation dann doch so stark bleibt, daß er das Ergebnis der Überlegung sofort wieder in Frage stellt. Nehmen wir an, jemand hat aus seinem langfristigen Wunsch nach Erhaltung seiner Gesundheit zusammen mit bestimmten Kausalgesetzen und Tatsachen geschlossen, daß er nicht mehr rauchen sollte. Und er hat nach diesem Überlegungsschritt, der fragt, wie sich sein langfristiger Wunsch am besten realisieren läßt, in einem 17zweiten Schritt zwischen seinen verschiedenen Wünschen abgewogen und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß ihm die Erhaltung der Gesundheit wichtiger ist als das Rauchen. Wenn jetzt in der konkreten Situation sein Bedürfnis nach Zigaretten sehr stark ist, könnte er zunächst die abwägende Überlegung wiederholen. Da der Willensschwache jemand sein soll, der gegen seine überlegte Meinung handelt, müssen wir jedoch den Fall so konstruieren, daß er auch in dieser Überlegung, in der die Stärke des Verlangens als ein Faktor berücksichtigt wird, zu dem Ergebnis kommt, daß er keine Zigarette anzünden sollte, und daß er doch anders handelt. Er handelt dann freiwillig und aus einem Grund, nämlich weil er das Verlangen hat. Aber er entscheidet sich dadurch zugleich zum Handeln gegen seine besten Gründe, und diese Entscheidung kann jetzt nur noch eine bloße Entscheidung sein, weil weitere Gründe nicht mehr zur Verfügung stehen.

Auf diese Weise wird die Willensschwäche von Philosophen wie Davidson und Thalberg beschrieben,[9]  die gegen Sokrates Partei ergreifen. Der Willensschwache entscheidet sich gegen das, was er für das in der Situation Beste hält, und wenn wir ihn fragen würden, warum er das tut, könnte er keine Antwort mehr geben. Er handelt frei, aber er kann seine Handlung prinzipiell nicht rechtfertigen. Nun haben wir aber schon vorhin gesehen, daß es Willensschwäche in diesem Sinn nicht geben kann, weil diese Beschreibung in einen Widerspruch führt. In der praktischen Überlegung geht es nicht um irgendein Bestes, sondern um die Frage, was hier und jetzt für mich zu tun das Beste ist, und daher hat die Antwort die Form eines Handlungsvorsatzes.[10]  Da wir jetzt davon ausgehen, daß der 18Handelnde in der Situation so oder anders handeln kann, folgt aus dem Vorliegen eines Vorsatzes analytisch die Ausführung. D. h. umgekehrt: Handelt der Betreffende freiwillig gegen das, was er für besser zu halten behauptet, dann folgt analytisch, daß er es nicht wirklich für besser hält.

Oder ist das vielleicht doch nicht zwingend? Kenny meint, daß es dann nicht folgt und daß sich daher die antisokratische Position dann verteidigen läßt, wenn wir beachten, daß unsere individuellen Wünsche auf allgemeinen Wunschdispositionen beruhen.[11]  Nach Kenny meinen wir mit Willensschwäche nicht, daß jemand gegen das handelt, was er in der konkreten Situation für das Beste hält, sondern nur, daß er gegen das Bessere im Sinne eines höherstufigen oder langfristigen Wunsches handelt, den er grundsätzlich höher bewertet. Daß jemand einen solchen höherstufigen Wunsch in einem handlungsrelevanten Sinn hat, impliziert nur, daß er ihn meistens in relevanten Situationen realisiert; aber wir sprechen ihm einen solchen Wunsch nicht schon dann ab, wenn er ihn in seltenen Fällen nicht realisiert. Also geraten wir hier nicht in den Widerspruch, der sich aus der Orientierung am konkreten Handlungsvorsatz ergibt.

Aber auf diese Weise kommen wir nicht zu einer Beschreibung des gesuchten Phänomens, bei dem ein Konflikt in der konkreten Situation vorliegen sollte. Denn nach dieser Beschreibung handelt der Betreffende in der konkreten Situation nicht gegen das, was er für das in der Situation Beste hält, sondern er hält es eben in dieser Situation für besser, seinem unmittelbaren Wunsch zu folgen. Daß wir seinem höherstufigen Wunsch nicht einfach die Handlungsrelevanz absprechen, wenn er das in seltenen Fällen tut, ist richtig. Aber wir würden doch in jedem solchen Fall von seinem höherstufigen Wunsch ein kleines Stück an Gewicht oder Handlungs19relevanz abziehen. Anders gesagt: er handelt dann nicht gegen den Wunsch, in allen Situationen der und der Art so und so zu handeln, sondern er hat dann eben vielmehr nur den Wunsch, in den meisten derartigen Situationen so zu handeln. Würden wir ihm einen handlungsrelevanten Wunsch für alle derartigen Situationen zuschreiben, würden wir bereits dann, wenn er in einer solchen Situation anders handelt, ebenso in einen Widerspruch geraten wie dort, wo wir sagen, daß jemand gegen einen konkreten Vorsatz handelt.

Wenn jemand sagt, daß er etwas für das Beste hält, aber doch anders handelt, können wir also in der Tat nur noch die vorhin schon erwähnte Konsequenz ziehen, daß er es nicht wirklich für das Beste hält bzw. nicht wirklich im handlungsrelevanten Sinn will. So erweist sich als die einzig mögliche Beschreibung des gesuchten Phänomens, welche nicht in Paradoxien führt und doch zugleich das Vorliegen eines echten Konflikts in der konkreten Situation erfassen kann, diejenige, die sich bei Thomas von Aquin findet: Daß jemand, der sich in einem echten Konflikt zwischen einem unmittelbaren Wollen und einer Meinung über das Beste befindet, dem unmittelbaren Wollen folgt, kann nicht heißen, daß er gegen seine überlegte Meinung bzw. seinen Vorsatz handelt, sondern es kann nur heißen, daß er diese Meinung bzw. diesen Vorsatz zunächst erwägt, aber sofort wieder aufgibt. Und bezogen auf den höherstufigen Wunsch, der in dieser Meinung enthalten ist, kann es nur heißen, daß er seine Realisierung nicht sehr fest, sondern nur auf schwächere Weise bzw. nicht für alle, sondern nur für manche Fälle intendiert.[12]  Thomas bezeichnet das Phänomen auch unter dieser Beschreibung als Willensschwäche (incontinentia), aber es scheint angemessener, hier einfach von der Änderung eines Vorsatzes hinsichtlich der konkreten Situation bzw. der Änderung des Status der höherstufigen Wünsche zu reden.

Wer gegen seine Meinung über das Beste seinem unmittelbaren Wollen folgt, müßte also sehen, daß er damit in Wirklichkeit seine Meinung geändert hat und damit seine Überlegungen revidieren müßte. Für eine solche Revision bestehen zwei Möglichkeiten. Nehmen wir z. B. an, jemand habe seiner eigenen Aussage zufolge den höherstufigen Wunsch, schlank zu werden, und er halte es daher für das Beste, keine Süßigkeiten zu essen; er handelt jedoch 20nicht entsprechend. Dann wäre die erste Möglichkeit die, daß er zugibt, daß er seinem höherstufigen Wunsch keinen handlungsrelevanten Status gibt, sondern den eines bloßen Wunsches; er fände es zwar schön, schlank zu sein, aber er will die erforderlichen Verzichte doch nicht auf sich nehmen. Bloße Wünsche aber sind nicht Gegenstand der praktischen Überlegung, so daß er diesen Wunsch aus der Überlegung streichen müßte. Es braucht jedoch, zweitens, nicht der Fall zu sein, daß der höherstufige Wunsch überhaupt keinen Handlungsbezug hat. Es könnte z. B. sein, daß der Betreffende nur manchmal der Versuchung durch Süßigkeiten nachgibt, oder es könnte sein, daß er in anderen Handlungsbereichen Dinge tut, die der Realisierung seines Wunsches förderlich sind, daß er sich z. B. viel bewegt und Sport treibt. Dann muß er denjenigen Schritt in seiner Überlegung revidieren, in dem er seine verschiedenen Wünsche gegeneinander abgewogen hat. Er müßte dem Genuß von Süßigkeiten ein größeres Gewicht einräumen, als er das in seiner ursprünglichen Äußerung, die zu seinem Handeln in Widerspruch steht, getan hat.

Würde der Handelnde seine Überlegung auf eine dieser Weisen revidieren, dann käme er zu derjenigen Meinung über das in der Situation Beste, die mit seinem Handeln übereinstimmt, d. h. die die Befriedigung des unmittelbaren Wollens als das in der Situation Beste erweist. Wir können daher die thomasische Beschreibung des gesuchten Phänomens jetzt auf folgende Weise präzisieren: Es liegt dort vor, wo jemand, wenn ein unmittelbarer Wunsch das Ergebnis seiner Überlegung immer noch in Zweifel zieht, durch sein tatsächliches Verhalten seinen konkreten Vorsatz ändert bzw. den Status eines höherstufigen Wunsches abschwächt, ohne sich mit der Erforderlichkeit eines erneuten Überlegungsschritts, in dem er die Gewichtung oder den Status seiner Wünsche revidiert, zu konfrontieren.

Man könnte daher sagen, daß wir es hier letztlich mit einem kognitiven Fehler zu tun haben, wenn auch von besonderer Art, nämlich einem Fehler im Selbstverständnis. Dieser Fehler ist ein interessierter Fehler. Wir machen ihn deswegen, weil wir einerseits vor uns selbst und vor anderen jemand sein möchten, der bestimmte höherstufige Wünsche als wirkliche Handlungsabsichten hat, weil wir aber andererseits im Konfliktfall ungern auf die Befriedigung unmittelbarer Wünsche verzichten. Da wir gern beides 21zugleich hätten, reden wir so, als wäre das möglich, und versuchen zu übersehen, daß wir uns damit in einen Widerspruch verwickeln. Aber diesem Widerspruch können wir nicht entgehen. Er ergibt sich nicht aus zufälligen begrifflichen Abgrenzungen, die wir auch ändern könnten, sondern daraus, daß es an uns selbst liegt, ob wir so oder anders handeln, d. h. daraus, daß wir Handlungsfreiheit besitzen. Der Begriff der Handlungsfreiheit impliziert den Begriff des Wollens, und zwar nicht in irgendeinem Sinn von »wollen«, sondern im Sinn des handlungsrelevanten Wollens: wenn ich etwas hier und jetzt tun kann oder auch nicht und es nicht tue, dann folgt analytisch, daß ich es nicht im handlungsrelevanten Sinn will, d. h. nicht wirklich für das in dieser Situation Beste halte. Da wir selbst es sind, auf die diese Begriffe angewandt werden, sind wir mit den analytischen Notwendigkeiten, die sie implizieren, praktisch oder von innen konfrontiert. Behaupten wir, eines für das Beste zu halten, und tun gleichwohl ein anderes, dann verwickeln wir uns in einen Widerspruch, der sich nur dadurch auflösen läßt, daß wir zugeben, daß wir in Wirklichkeit nicht ganz die Menschen sind, als die wir uns gerne verstehen würden.

Glücklicherweise jedoch besitzen wir mit der Handlungsfreiheit zugleich auch eine Fähigkeit, die es uns ermöglicht, diese unerfreuliche Konsequenz zumindest in manchen Fällen zu umgehen, die Fähigkeit zur Selbsttäuschung. Mit Hilfe dieser Fähigkeit gelingt es uns, die Diskrepanz zwischen unserem wirklich handlungsrelevanten Wollen und denjenigen Wünschen, die wir uns gern als handlungsrelevante zuschreiben würden, ein Stück weit zu überbrücken bzw. die vorhin erläuterten Revisionen der Überlegung, nämlich entweder die Abschwächung des Gewichts eines höherstufigen Wunsches oder die Änderung seines Status vom handlungsrelevanten zum bloßen Wunsch, zu umgehen.

Daß wir diese Möglichkeit haben und benutzen, bestätigt meine Auffassung von Willensschwäche als widersprüchlichem Verhalten: Wenn wir nicht selbst unser Verhalten als widersprüchlich empfinden würden, bestünde kein Grund, von einer Verdeckung durch Selbsttäuschung Gebrauch zu machen. Die Untersuchung des Begriffs der Willensschwäche müßte also jetzt in eine Untersuchung des Begriffs der Selbsttäuschung übergehen. Ich kann eine solche Untersuchung hier nicht mehr wirklich durchführen, möchte aber wenigstens noch damit beginnen, indem ich die zwei wichtigsten 22Verfahren erläutere, deren sich Selbsttäuschung bedienen kann, nämlich Rationalisierung und Ausnutzung von Zeitdifferenzen.

Das Problem des sog. Willensschwachen war, daß er einerseits ein bestimmtes ideales Selbstverständnis aufrechterhalten will und andererseits nicht auf die Befriedigung unmittelbarer Wünsche verzichten will, daß aber beides zusammen oft nicht möglich ist. Die unmittelbaren Wünsche können uns jedoch zu einer Weise des Überlegens veranlassen, durch die es etwas öfter möglich wird. Unsere höherstufigen Wünsche erfordern in relevanten Situationen Handlungen, die Prinzipien oder Kausalgesetze befolgen. Wer z. B. ein guter Mensch sein will, muß nach bestimmten Moralprinzipien handeln; wer seine Gesundheit erhalten will, muß sein Handeln an den entsprechenden Kausalgesetzen orientieren. Wenn die praktische Überlegung fragt, welche Handlung in einer konkreten Situation zur Realisierung eines solchen Wunsches erforderlich ist, bewegt sie sich daher in einem gewissen Spielraum der Unbestimmtheit: Handlungsprinzipien sind Prima-facie-Prinzipien, d. h., sie sehen Ausnahmen in begründeten Fällen vor, ohne daß diese im voraus festgelegt wären. Kausalgesetze andererseits haben häufig Wahrscheinlichkeitscharakter; z. B. sind nicht für alle Menschen dieselben Dinge schädlich, und der Schwellenwert, an dem die Schädlichkeit beginnt, sowie der Zeitpunkt, zu dem der Schaden eintreten wird, lassen sich selten exakt angeben. Außerdem erfordert die Anwendung eines Prinzips oder Kausalgesetzes eine Interpretation der konkreten Handlungssituation, und Situationsinterpretationen sind nie in dem Sinn definitiv, daß wir hier nicht ebenfalls Spielräume hätten.

Durch Ausnutzung dieser Unbestimmtheitsspielräume können wir oft auch dort, wo wir in einem Konflikt zwischen einem unmittelbaren und einem höherstufigen Wollen einfach dem unmittelbaren Wunsch nachgeben, das Eingeständnis umgehen, daß wir damit das Gewicht des höherstufigen Wunsches in der Überlegung abschwächen müßten. Denn wir können, indem wir z. B. unliebsame Situationsfaktoren für irrelevant erklären oder falsch interpretieren, indem wir Wahrscheinlichkeitsgesetze für zu unsicher halten usw., die Überlegung so wenden, daß wir zu dem Ergebnis kommen, daß wir in dieser Situation eine wohlbegründete Ausnahme von der Befolgung des Prinzips oder Gesetzes machen können. Wohlbegründete Ausnahmen aber sind in den Prinzipien selbst 23

Es gibt noch eine zweite Weise der Rationalisierung, die es uns anders als die erste ermöglicht, offen unseren unmittelbaren Wünschen zu folgen, indem wir gerade eine solche Verhaltensweise zu einem bestimmten Selbstverständnis hochstilisieren. Wenn wir uns von unmittelbaren Wünschen bestimmen lassen, ohne die weiteren Folgen zu bedenken, reden wir häufig so, daß wir sagen, daß es schließlich nicht so wichtig ist, was wir tun und wie wir sind, daß im Grunde nichts daran liegt oder daß es egal ist, was man tut. Auf diese Weise brauchen wir nicht zu sagen, daß uns die unmittelbaren Wünsche als solche das Wichtigste sind, sondern können unser Verhalten als Ausdruck eines distanzierten Verhältnisses zu uns selbst und zur Welt hinstellen.

Damit möchte ich nicht sagen, daß jemand ein solches Selbstverständnis nicht aufrichtig und ohne Rationalisierungsabsichten haben kann. Das ist vielmehr ohne weiteres möglich. Daß die Selbstdistanzierung häufig nur Rationalisierungsfunktion hat, zeigt sich jedoch daran, daß viele Leute sie gerade nur in den Situationen vertreten, in denen sie sie gebrauchen können, um ihre höherstufigen Wünsche in den Status bloßer Wünsche zu verweisen, während sie sich in anderen Situationen, in denen sie unter negativen Folgen ihrer Handlungen zu leiden haben, eher ernst nehmen und bereuen, daß sie diese Folgen nicht verhindert haben.

Der Kunstgriff der Rationalisierung ist also, was ebenfalls für die zuvor genannte Form gilt, nur in Grenzen wirksam. Wir können uns seiner in der konkreten Situation bedienen, in der unmittelbares und höherstufiges Wollen konfligieren, und wir können ihn dort so verwenden, daß wir uns die Tatsache, daß wir rationalisie24ren, nicht bewußt machen. Aber wenn wir nachträglich und außerhalb dieser Situation die Folgen unseres Verhaltens nicht einfach in Kauf nehmen, sondern unsere Handlungsweise bereuen, wird uns bewußt, daß wir nicht richtig überlegt, sondern rationalisiert haben und uns in Wirklichkeit einfach von einem unmittelbaren Wunsch bestimmen ließen. Wir fassen dann häufig zu solchen späteren Zeitpunkten den Vorsatz, künftig unseren höherstufigen Wünschen nicht nur scheinbar, sondern wirklich mehr Gewicht zu verleihen bzw. sie nicht als bloße Wünsche, sondern als zu realisierende Wünsche zu behandeln. Da dieser Vorsatz außerhalb der Handlungssituation gefaßt wird und sich auf unbestimmte künftige Zeitpunkte bezieht, bietet sich uns hier eine weitere Möglichkeit der kostenlosen Identifikation mit unserem idealen Selbstverständnis. Wir können jeweils in den Zeitintervallen zwischen relevanten Konfliktsituationen unseren höherstufigen Wunsch als handlungsrelevanten ausgeben und ihn selbst für handlungsrelevant halten, auch wenn sich schon in der nächsten Konfliktsituation zeigen wird, daß wir ihm nicht wirklich einen handlungsrelevanten Status geben.

Die Rationalisierung durch Ausnutzung von Überlegungsspielräumen sowie durch Überhöhung unmittelbarer Wünsche und die Ausnutzung von Zeitdifferenzen zwischen Vorsatz und Handlung ermöglichen es uns also in manchen Fällen, daß wir uns in der Handlungssituation oder für eine gewisse Zeitspanne mit einem höherstufigen Wunsch identifizieren können, ohne entsprechend zu handeln. Aber die Rationalisierung verliert ihre Wirkung, wo wir nachträglich mit negativen Handlungsfolgen konfrontiert sind, und die Benutzung von Zeitdifferenzen verliert ihre Wirkung, sobald die nächste relevante Situation auftritt, in der sich der Vorsatz zeigen müßte. Nun ist das natürlich etwas, was wir wissen. Wir wissen, daß wir uns gerne dieser Kunstgriffe bedienen, und wir wissen auch, daß sie sich nachträglich immer wieder als wirkungslos erweisen. Da wir es wissen, sind diese Kunstgriffe nur im Modus von Selbsttäuschung sinnvoll. Denn dieses Wissen ist ja ein zusätzlicher Faktor, den wir in der praktischen Überlegung in Rechnung stellen müßten, womit aber die Kunstgriffe von vornherein als solche entlarvt und damit wirkungslos wären. Damit sie wenigstens partiell und zeitweise wirksam sein können, müssen sie mit Selbsttäuschung verbunden sein. D. h., ihre Wirksamkeit setzt voraus, daß 25wir dieses zusätzliche Wissen über unsere Neigung zu Überlegungsmanipulationen und über deren nur partielle und vorübergehende Wirksamkeit beiseite schieben oder vergessen können.

Ich möchte an diesem Punkt, an dem die Aufklärung des Phänomens der Selbsttäuschung erst richtig beginnen müßte, enden. Aber wir können immerhin sehen, welches die Funktion dieses Phänomens ist. Es kommt gerade dadurch zustande, daß es Willensschwäche in dem Sinn, daß jemand etwas für das Beste hält und es nicht tut, nicht geben kann, weil diese Beschreibung widersprüchlich ist. Dieser Widerspruch, in den uns unsere Handlungsfreiheit verwickelt, ist in der Selbsttäuschung in versteckter Form vorhanden, die uns ermöglicht, uns mit höherstufigen Wünschen zu identifizieren und im Konfliktfall doch möglichst oft nach unmittelbaren Wünschen zu handeln. Aber auch in der Selbsttäuschung können wir den Widerspruch nur verschieben und nicht beseitigen. Er kommt immer wieder zum Vorschein, weil die Kunstgriffe, mit denen wir ihn verdecken, nur partiell und zeitweise wirksam sind.