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Band 203

 

Tekener

 

Oliver Plaschka

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Jessica Tekener

2. Ronald Tekener

3. Jessica Tekener

4. Ronald Tekener

5. Jessica Tekener

6. Ronald Tekener

7.

8. Ronald Tekener

9. Jessica Tekener

10. Ronald Tekener

11.

12. Ronald Tekener

13. Jessica Tekener

14. Ronald Tekener

15. Jessica Tekener

16. Ronald Tekener

17. Jessica Tekener

18.

19. Ronald Tekener

20. Jessica Tekener

21. Ronald Tekener

22. Jessica Tekener

23. Ronald Tekener

24. Jessica Tekener

25.

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.

Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Doch manchmal müssen die terranischen Pioniere einen hohen Preis für ihren Wagemut bezahlen. Ende des Jahres 2088 wird eine chinesische Kolonie sogar vollständig ausgelöscht.

Verantwortlich hierfür ist offenbar Iratio Hondro, der ehemalige Obmann von Plophos, der über unheimliche Gaben verfügt. Perry Rhodans Söhne Tom und Farouq bleiben ihm dicht auf den Fersen – sie finden ihn auf Plophos wieder.

Um seine kriminellen Pläne zu verwirklichen, ist Hondro offenbar jedes Mittel recht. Er spielt sogar Geschwister gegeneinander aus – und setzt hierzu ganz auf Ronald TEKENER ...

1.

Jessica Tekener

Castorsystem, Olymp, Trade City

 

Eine Feuerlohe schleudert sie aus der explodierenden Halle ins Freie. Die ganze Welt versinkt in einer Kaskade von Rottönen, der Himmel flackert wie bei einem Luftschlag, und ein heulender Sturm fegt über den Vorplatz. Donnergrollen erschüttert den Boden. Das flackernde Entstofflichungsfeld des Frachttransmitters irrlichtert von Blitzen gesäumt durch die Depotstadt, verwandelt Materie in Energie und wieder zurück. Die Wirklichkeit zerbirst und erfindet sich neu, all dies mit der rasenden Geschwindigkeit des Stroboskopeffekts bei einem alten Film.

Ein Wirbelwind halbstofflicher Frachtcontainer, die einander durchdringen, eine Kakofonie gequälter Materie, als Trümmer um denselben Platz in der Raum-Zeit ringen und wie Splittergranaten zerplatzen. Heiße Sternschnuppen, die ihre Spuren über ihre Haut ziehen, als sie die Arme ausstreckt, nach Rettung sucht und schließlich einen Halt findet und zupackt. Wie Ahab auf den Rücken des Weißen Wals gefesselt, gibt sie sich der Höllenfahrt hin, wartet auf ihre Wiedergeburt ...

 

»Passen Sie doch auf!«, zischte Jessica Tekener schärfer als beabsichtigt, als die Feuerzunge so dicht an ihr vorbeischoss, dass sie die Wärme auf der Haut zu spüren glaubte.

Der Inhaber des Tausend Dünen hob die schweren Brauen. »Es ist nur ein Holo«, verteidigte er sich. Der Hotelchef desaktivierte die täuschend echte Feuerschale, die urplötzlich aufgelodert war, nachdem sie die phantasievoll eingerichtete Zimmerflucht betreten hatten.

Jessica brummte eine Erwiderung und zwängte sich an dem Mann vorbei. Noch allzu lebhaft waren die Erinnerungen an die Flammenhölle, der sie alle nur mit knapper Not entkommen waren. Sie würde wahrscheinlich noch eine ganze Weile schreckhaft auf offenes Feuer reagieren.

»Und hier hat er gewohnt?«, fragte sie zweifelnd, während sie sich in dem vollgestellten Zimmer umsah.

»Hübsch«, kommentierte Thomas Rhodan, der hinter ihr eintrat, und drehte sich zu seinem Bruder um. »Findest du nicht?«

Angewidert verzog Farouq das Gesicht. »Was bitte soll das eigentlich sein?«

»Unsere beste Suite«, behauptete der Hotelinhaber trotzig und glättete seinen Kaftan. »Genau, wie ich gesagt habe.«

Jessica schüttelte stumm den Kopf. Das Einzige, was diesen Unterschlupf für ihren Bruder attraktiv gemacht hatte, dürften die Glücksspielsimulatoren im Untergeschoss gewesen sein. Für einen pathologischen Spieler wie Ronald war eine solche Bleibe ähnlich ungesund und verlockend wie ein Zimmer über einer Bar für einen Alkoholiker. Ein beständiges Klingen, Läuten und Rasseln lag in der Luft, die hochkomplexe Illusion primitiver Maschinen.

Die Einrichtung allerdings war mit dem Sinn für Ästhetik des Ronald Tekener, den sie kannte, so unvereinbar wie nur irgend erdenklich. Alles war mit Teppichen und Kissen ausgelegt; es gab nicht mal ein richtiges Bett, nur ein ausuferndes Matratzenlager unter schimmernden Samtbezügen. Eine große, geschwungene Wasserpfeife stand in einer Ecke, von der Decke pendelte eine aufwendig verzierte Laterne. Es roch nach Räucherwerk und einer Spur von Parfüm. Die Gerüche steckten in den Teppichen, den Vorhängen, den dunkelroten Wandbehängen, die mit phantasievollen außerirdischen Symbolen bestickt waren. Ein von arabesken Mustern gerahmtes Hologramm zeigte wechselnde Wüstenansichten.

»Ein bisschen Marokko, ein bisschen Rumal und eine Prise Mars obendrauf«, spottete Farouq. »Weil ja alles irgendwie mit Sand zusammenhängt, nicht wahr?«

»Es läge mir fern, der Kultur meiner Gäste zu nahe zu treten«, beteuerte der Inhaber. »Sie bekommen bei uns genau das, wofür Sie bezahlen.«

»So wie der da?«, erkundigte sich Tom von der anderen Seite des Raums.

Jessica folgte seiner Stimme um eine große, reich verzierte Mittelsäule und fand einen weiteren Ursprung des Rasselns, der zunächst in der allgemeinen Geräuschkulisse des Etablissements untergegangen war, die von den anderen Etagen und Räumlichkeiten hereindrang: ein dicker Bauch in einem Kissenberg, der sich gemächlich hob und senkte. Daneben ragten zwei schlanke, blaue Füße unter ein paar Fellen hervor.

»Ich habe Ihnen gesagt, die Suite ist bereits wieder vermietet«, rechtfertigte sich der Inhaber.

»Und wir haben Ihnen gesagt, dass sie die nächste Stunde uns gehört, weil sich sonst jemand sehr genau Ihre Lizenzen ansieht«, erinnerte ihn Tom.

Vermutlich war es nicht mal ein Bluff – die beiden Rhodans verfügten über gute Beziehungen zu den örtlichen Behörden und konnten problemlos eine derartige Prüfung veranlassen. Das war vielleicht ein Vorteil des bekannten Familiennamens, sofern sie ihn eingestanden.

Ungeduldig trat Jessica an Toms Seite und half ihm, den Rest der verschlafenen Gäste freizulegen.

Die blauen Füße gehörten erwartungsgemäß einer Ferronin, die aufgeschreckt von der Störung die Felle ans Kinn zog und entsetzt die Augen aufriss. Jessica fand ihre Kleider und warf sie ihr hin, während Tom und Farouq den Besitzer des Bauchs auf die Beine stellten.

Der setzte sich unbeholfen zur Wehr und versuchte zugleich, seine Blöße mit einem Fell zu bedecken. »Was fällt Ihnen ein ...?«

»Tut mir sehr leid, aber ich muss Sie bitten, die Suite zu räumen.«

»Ich habe bis Mittag gezahlt ...«

»Der Inhaber wird Sie entschädigen.«

Der Inhaber streckte die Brust heraus. »Wie bitte? Ich werde nichts dergleichen ...«

Mehrere Dinge geschahen gleichzeitig. Farouq, dem der Geduldsfaden riss, packte den Hotelchef am Ausschnitt seines Kaftans und drückte ihn gegen die Wand. Der beleibte Kunde machte einen Schritt zum Bett, griff unter die Kissen und hatte im nächsten Moment eine Energiewaffe in der Hand. Jessica, die etwas in der Art hatte kommen sehen, trat ihm den Strahler mit einem schnellen Drehkick aus der Faust, Tom sprang vor und warf den Nackten gegen die Säule. Die Ferronin raffte ihre restlichen Kleider zusammen und stürmte aus dem Zimmer.

»Ich will Ihnen jetzt einmal etwas erklären«, sagte Tom laut, an den Nackten wie an den Inhaber des Etablissements gerichtet. »Mir ist für den Moment ganz egal, was Sie hier treiben – Glücksspiel, Zuhälterei, diese Strahlenwaffe?« Er packte die Wangen des Dicken mit der Hand, hielt sein Gesicht fest und warf einen prüfenden Blick auf seine Pupillen. »Ich sehe auch nicht nach, was Sie da drüben in der Wasserpfeife geraucht haben. Wenn Sie einfach verschwinden, werden wir kein weiteres Wort über diese Dinge verlieren. Aber eine einzige Bemerkung noch, eine weitere Dummheit – und wir werden ein sehr langes Gespräch auf der Wache der Sektionspolizei führen.«

»Glauben Sie mir, das wollen Sie nicht«, bekräftigte Jessica. Sollten die beiden Kerle sie ruhig für verdeckte Ermittler halten. »Wenn er in dieser Laune ist, ist er unausstehlich.« Sie bückte sich nach dem Strahler und begutachtete ihn. »Arkonidisch. Funktioniert die Paralyseeinstellung?« Sie schlug gegen den Schalter, als würde er klemmen, dann presste sie ihn dem erbleichenden Kunden unters Kinn. »Ich glaube fast, er ist kaputt ...«

Tom warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie hatte nie verstanden, was der Reiz an »guter Bulle, böser Bulle« war. Wenn man schnelle Ergebnisse wollte, wirkte »böser und noch böserer Bulle« meistens besser.

»Machen Sie, was Sie wollen.« Der Dicke keuchte auf. »Aber lassen Sie mich in Frieden!«

Mit einem unverbindlichen Grunzen ließ Jessica ihren Strahler sinken. Der Kunde schnappte sich seine Hose und ein paar Sachen. Entrüstet stolperte er aus dem Zimmer, gefolgt vom Inhaber des Etablissements, der sich wortreich bei seinem Gast entschuldigte. Die Flammensäule im Eingang loderte auf und erstarb wieder.

Dann waren sie endlich unter sich. Nur das große Holo wechselte weiter durch seine Auswahl kitschiger Landschaftsaufnahmen wie ein unermüdlicher Geschichtenerzähler.

»Übertreib nicht«, mahnte Tom sie noch einmal. »Wir drohen Leuten nicht einfach so damit, sie zu erschießen.«

»Aber wir geben uns als Polizisten aus und überschreiten unsere Befugnisse, solange es niemand mitkriegt?«, vergewisserte sich Jessica. Natürlich waren die Geschichtsbücher voller guter Gründe, weshalb Mitarbeiter des Geheimdienstes der Terranischen Union nicht einfach Leute verhaften durften. Aber manchmal kam es ihr vor, als wären die beiden Agenten etwas allzu übermäßig darauf bedacht, bloß nicht gegen irgendwelche Regeln zu verstoßen.

Wahrscheinlich hatte das ebenfalls mit ihrem Nachnamen zu tun. Ihr Vater, der Protektor der Terranischen Union, hatte fraglos tagtäglich schon genug Schwierigkeiten. Da konnte er gut darauf verzichten, dass seine Söhne mit dem Gesetz in Konflikt kamen – selbst wenn sie das unter falscher Identität taten.

Jessica Tekener kannte weder die Vor- noch die Nachteile eines mächtigen Namens. Sie war Privatermittlerin und in erster Linie ihrem Klienten verpflichtet. Und das war, seit sie ihren Auftrag für den Chinesischen Block abgeschlossen hatte, vor allem sie selbst.

»Machen wir uns an die Arbeit.« Sie packte ihren kleinen Biomaterialspürer aus, mit dem sich selbst flüchtige DNS-Spuren nachweisen ließen, und begann mit einer Untersuchung des Matratzenlagers sowie der umliegenden Möbelstücke und Teppiche.

Tom und Farouq tauschten kurz Blicke und teilten sich dann auf, um Schränke und Schubläden zu durchforsten. Immerhin keine weiteren Diskussionen – manchmal war die Zusammenarbeit mit den beiden recht fruchtbar.

Sie hatte Thomas und Farouq Rhodan da Zoltral auf der entvölkerten Denebkolonie Tiān jīn sì kennengelernt, wo sie im Auftrag des Chinesischen Blocks dem Schicksal der Siedler nachgespürt hatte. Diese hatten allesamt unter schwerwiegenden genetischen Anpassungsstörungen gelitten. Den Todesstoß indes hatte der Kolonie etwas ganz anderes versetzt: eine unbekannte Infektion, die irgendwie mit einem reichen Fund von Geminga-Drusen in der Kolonie zusammenhing.

Die wertvollen Hyperkristalle wiederum hatten eine Kriminellenorganisation auf den Plan gerufen, die überall in den Kolonien aktiv war und sich auf den Schmuggel dieser Drusen spezialisiert hatte. Dieses Geminga-Kartell hatte Iratio Hondro geschickt, den ehemaligen, vor sechs Jahren in Ungnade gefallenen Obmann von Plophos. Jessica hatte zeitweilig sogar vermutet, dass sich auch ihr Bruder Ronald, der in den zurückliegenden Jahren gleichfalls auf die schiefe Bahn geraten war, auf Tiān jīn sì aufgehalten hatte.

Dieses erste Aufeinandertreffen mit Hondro hätte Jessica beinahe nicht überlebt. Thomas und Farouq hatten sie gerettet, als Hondro sie mit seinen unheimlichen Kräften beinahe zum Selbstmord gezwungen hätte. Es war ein schreckliches Erlebnis gewesen; und für ihre Rettung stand Jessica wohl für immer in der Schuld der zwei Agenten.

Die Kooperation mit den beiden war aber nicht immer einfach gewesen. Tom und Farouq wollten in erster Linie dem Kartell das Handwerk legen und Iratio Hondro zur Strecke bringen. Seit seiner Verhaftung und insbesondere der spektakulären Flucht von Mimas nach Olymp, die ihm nur wenig später gelang, war Hondro zu einem der gefährlichsten Feinde der Solaren Union geworden.

»Weißt du«, überlegte Tom. »Wenn ich die Gabe hätte, so wie Hondro anderen Menschen meinen Willen aufzuzwingen, würde ich mir doch wirklich etwas Netteres suchen als das Tausend Dünen.«

»Vielleicht traut er seinen Fähigkeiten selbst noch nicht richtig und wollte sich lieber bedeckt halten«, mutmaßte Farouq.

»Oder er hat einfach einen miesen Geschmack«, murmelte Jessica, der Hondros Motive und Marotten ziemlich egal waren.

Sie wollte einfach nur ihren Bruder wiederfinden. Ergründen, wie tief genau Ronald in Hondros schmutzige Machenschaften verwickelt war; ihm wenn nötig ein wenig gesunden Menschenverstand einbläuen und mit ihm verschwinden. Sie wollte retten, was noch zu retten war, ehe Ronald den Rest seines Lebens im Gefängnis zubrachte und Jessica sich eingestehen musste, dass sie die vielleicht wichtigste Mission ihres Leben gründlich vermasselt hatte: Ronald vor sich selbst zu beschützen.

Angewidert ließ Jessica den Biomaterialspürer über die Kissen und Felle wandern. Der kleine Holobildschirm des Geräts zeigte erste Analyseresultate an: ferronischer und menschlicher Schweiß, ein paar Spermaflecken, einer davon mindestens eine Woche alt. Aber auch ein paar plophosische Hautschuppen und Spuren menschlicher DNS, die Jessicas eigener sehr ähnlich war.

»Sie waren definitiv hier«, verkündete sie und versuchte, nicht weiter über die hygienischen Bedingungen der Suite nachzudenken. Dafür bist du mir etwas schuldig, Ron.

Ihr Bruder und Hondro waren ihnen nur um Haaresbreite entwischt, nachdem der Plophoser das sogenannte Ganglion, einen lokalen Situationstransmitterzugang, über Trade City sowie weite Teile der umliegenden Depotstadt in ein Flammenmeer verwandelt hatte. Jessica war gerade noch mit heiler Haut davongekommen, indem sie sich an einen panischen Roboter geklammert hatte, der sich erst zwei Kilometer weiter in seiner Ladestation wieder beruhigt hatte. Thomas und Farouq hatten sich von ihrem Vater retten lassen müssen. Jessica war sich nicht sicher, für wen von ihnen das Entkommen entwürdigender gewesen war.

Kurz darauf hatten sie Nachricht erhalten, dass Hondro ein Raumfahrzeug gestohlen hatte, dessen Spur sich nach der ersten Transition verloren hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich alle noch ihre Verbrennungen behandeln lassen, und der flüchtige Grunner Groom, der sie bei ihrem Einsatz unterstützt hatte, saß mittlerweile wie versprochen in einem Raumschiff nach Mimas. Die Spur der Flüchtigen war erkaltet – bis sie mittels verschiedener Kontakte, Überwachungssysteme und Finanztransaktionen auf die Spur dieses zwielichtigen Etablissements gestoßen waren.

»Irgendeine Idee, wohin sie geflohen sein könnten?«, fragte Tom. Er beendete seine Durchsuchung mehrerer Truhen, in denen bloß weitere Kissen und Decken lagerten. »Was würdest du an Ronalds Stelle tun?«

»Findest du nicht, dass die Frage ein bisschen unfair ist?«, gab sie zurück. Sie ging weiter zu einer Anrichte, auf der ein Teeservice und kleine Kerzen standen. »Hondro zwingt meinen Bruder offensichtlich unter seinen Willen. Was Ronald da will oder tun würde, ist ziemlich egal. Ihr habt doch selbst gespürt, wie sich das anfühlt.«

Tatsächlich gehörten Tom und Farouq zu den wenigen Leuten, die es bislang geschafft hatten, sich Hondro zu widersetzen – dank ihrer besonderen Emotionauten-Ausbildung, über die Normalsterbliche wie Jessica oder Ronald nicht verfügten.

»Bist du dir da wirklich so sicher?«, gab Tom zu bedenken. »Ronald ist nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt ...«

Jessica schnaubte wütend. Sie mochte Tom, und ein attraktiver Mann war der Halbarkonide ohnehin. Aber seine Moralisiererei ging ihr manchmal gegen den Strich. »Was willst du bitte schön andeuten? Dass mein Bruder uns aus freien Stücken fast umgebracht hätte? Klar, einen kranken Mann zu jagen, ist immer leichter, als einen Schwerverbrecher mit übermenschlichen Fähigkeiten aufzustöbern. Wieso schiebst du Ronald nicht gleich die Schuld für das, was auf Mimas oder Deneb passiert ist, in die Schuhe?«

»Beruhige dich«, sprang Farouq seinem Bruder bei. »Niemand klagt Ronald dieser Dinge wegen an. Wie groß seine Mitschuld an den Vorfällen hier auf Olymp ist, wissen wir auch noch nicht. Trotzdem ist keinem gedient, wenn wir so tun, als wäre dein Bruder noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«

Es wäre lachhaft gewesen, wenn es nicht so traurig wäre. Selbstverständlich hielten die beiden Rhodans zueinander. Die Einzige, die nicht ihren Bruder verteidigen durfte, obwohl sie ihn sicher besser verstand als irgendwer sonst, war sie selbst.

»Stimmt, denn wer kennt Rons Lebensgeschichte besser als ihr?«, höhnte sie.

Tom hob beschwichtigend die Hand. »Klar, wir wissen nur, was in seiner Akte steht ... Aber das ist bei ihm durchaus die Lektüre wert. Er hat sich bis jetzt nie eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, ist aber in den letzten Jahren immer wieder angeklagt oder festgenommen worden: wegen Diebstahl oder weil er beim Spielen betrog ...«

»Ronald ist krank«, wiederholte Jessica.

»Spielsucht heißt nicht Unzurechnungsfähigkeit«, beharrte Farouq.

»Er hat ernst zu nehmende Probleme ...«

»Die Gedächtnislücke nach seinem Unfall?«, fragte Tom unvermittelt. »Während seiner Arbeit für PUMA? Spielst du darauf an?«

Ehe sie wusste, was sie tat, hatte sie sich eine Teedose von der Anrichte gegriffen und nach ihm geworfen. Tom fing die Dose mit Reflexen, auf die jeder Baseballspieler neidisch gewesen wäre, und warf sie stattdessen in den Kissenberg.

»Ich werde nicht weiter mit euch diskutieren, was vor dreißig Jahren war oder nicht war. Und es geht euch auch verdammt noch mal nichts an!« Die Erinnerung an diese schwere Zeit wirkte noch immer nach: Ronalds Unfall. Seine Krankheit. Die Albträume fast jede Nacht. Ronalds Verzweiflung, sein schwindender Lebenswille. Sie wollte verdammt sein, wenn sie ihre privatesten Familiengeschichten in diesem besseren Bordell ausbreitete, bloß weil diese beiden Überflieger von Agenten es geschafft hatten, an Rons alte Krankenakte zu kommen. Erwarteten sie für diese Meisterleistung noch Applaus?

Kopfschüttelnd steckte sie den Biomaterialspürer ein und zückte stattdessen ihren Pod. »Was zur Hölle ...«

»Hast du etwas gefunden?« Auch Tom begrub das Kriegsbeil und kam zu ihr herüber.

»Das hätte mir wirklich früher auffallen können.«

»Was meinst du?«

»Die Kennung des lokalen Netzwerks.« Sie präsentierte ihm den Pod. »Sie lautet ›Jessica‹.«

Tom tauchte Blicke mit seinem marsianischen Adoptivbruder. »Nun ... das beweist immerhin, dass er an dich denkt.«

Sie sah die beiden skeptisch an. Sie waren doch sonst nicht so auf den Kopf gefallen. »Ronald ist kein Romantiker, der meinen Namen an die Häuserwände schreibt, weil unsere Familie so schwere Zeiten durchlebt. Das ist ein Hinweis.«

»Klingt logisch«, gab Farouq widerwillig zu. »Aber auf was?«

»Welche Geräte sind denn mit dem Netzwerk verbunden?«, fragte Tom.

Jessica startete eine schnelle Suche.

»Die Steuerung der Jalousien, die Beleuchtung, die Tür ... Das hier müsste die Klimaanlage sein und das da der Holowechsler.«

Farouq ging zum nächsten Fenster und zupfte nachdenklich an der Jalousie. Dann sah er sich im Raum nach den Auslässen der Klimaanlage um. »Sollen wir das Zimmer komplett auseinandernehmen?«

»Ich habe vielleicht eine bessere Idee.« Einer Eingebung folgend, durchquerte Jessica die Suite und rief die Bedienoberfläche des Holowechslers auf. Ronald war nicht der Typ, der Hinweise in Lüftungsschächten versteckte. Dazu war er zu gerissen und auch zu bequem. Für Ronald war selbst eine Nachricht an seine Schwester ein Spiel ... ein Spiel, dass er direkt unter den Augen seines Entführers spielte.

»Da.« Das Holo zerfiel in eine Vielzahl von Miniaturansichten, die fast alle Aufnahmen von majestätischen Dünen, palmenbestandenen Oasen und Karawanen im Sonnenuntergang zeigten. »Finde den Fehler.«

Tom trat näher und runzelte die Stirn. »Dieses eine Holo da ... Das passt nicht dazu.«

Jessica vergrößerte die fragliche Aufnahme. Tatsächlich war sie die einzige, die keine orientalisch verklärte Landschaft, sondern eine moderne Stadtansicht zeigte, mit Türmen, Hochhäusern und einem Raumhafen. Die Anzeigedauer war jedoch auf Millisekunden reduziert, sodass das Motiv einem Betrachter im normalen Betrieb niemals aufgefallen wäre.

»Das muss es sein.« Jessicas Herz klopfte vor Aufregung. »Das ist der Hinweis. Versteht ihr? Ronald hat mir eine Spur hinterlassen, wie ich ihn finden kann. Das beweist, dass er nicht freiwillig für Hondro arbeitet!«

»Das wird sich noch zeigen«, dämpfte Tom ihre Begeisterung.

»Ich habe mich nicht in ihm getäuscht«, verteidigte sie ihren Bruder. »Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was das für eine Stadt ist. Ich könnte eine Bildersuche ...«

»Nicht nötig«, unterbrach Farouq. »Wir kennen sie. Das ist New Taylor – die Hauptstadt von Plophos.«

Jessica lächelte gewinnend. »Prima. Wann brechen wir nach Capella auf?«

»Moment«, erstickte Tom ihren Eifer. Er warf Farouq einen ernsten Blick zu. »Und wenn es eine Falle ist? Wir müssen erst Rücksprache mit Quinto halten.«

»Natürlich!« Jessica rollte die Augen. Das war genau, was sie an den beiden zur Weißglut trieb. Immerzu mussten sie sich erst bei ihrem Chef rückversichern. »Lasst euch nur Zeit.«

»Die beiden haben ohnehin schon einen Tag Vorsprung vor uns«, erinnerte Tom sie. »Und wenn dein Bruder wirklich gefunden werden will, wie du annimmst, kommt es auf eine weitere Stunde auch nicht an. Wir können unseren Auftrag nicht einfach immer weiter ausdehnen, ohne uns das Okay zu holen. Vertrau mir, es wird schon schiefgehen.« Er schaute zur Decke, ein typischer Blick, den Menschen aufsetzten, wenn sie eine Komverbindung aufbauten. »Dazzle, hörst du mich?«

»Nein, Schlauberger, tu ich nicht«, scherzte die Künstliche Intelligenz der NATHALIE, der die Brüder die exaltierte Persönlichkeit einer Teenagerin zugewiesen hatten. »Wer spricht da? Ach, du bist's, Tom. Warte, ich stell eben die Musik leiser.«

»Dazz, lass den Quatsch. Ich bräuchte eine sichere Verbindung zu Nike Quinto. Kriegst du das hin?«

»Doch nicht auf dieser Frequenz«, beschwerte sich die KI. »Muss man euch echt alles erklären? Warte, ich ruf euch zurück. Kurzen Moment.« Tom lächelte Jessica entschuldigend zu. Dann meldete sich Dazzle wieder. »Tada! Nike, Thomas. Thomas, Nike. Spielt schön, ich geh mal eben ein paar Hyperfunkrelais aufhübschen.«

»Mister Rhodan«, quengelte die hohe Stimme des Geheimdienstchefs aus einem Akustikfeld. »Wann bringen Sie Ihrer Kreation endlich Manieren bei?«

»Ähem«, rief sich Dazzle im Hintergrund in Erinnerung.

»Oberst, wir haben eine Spur.« Tom unterrichtete seinen Vorgesetzten eilig über die jüngsten Entwicklungen. »Mit Ihrer Erlaubnis setzen wir die Suche auf Plophos fort. Mit aller gebotenen Vorsicht, selbstverständlich.«

»Ehrlich gesagt, erscheint es mir weiser, den Auftrag vorerst auszusetzen«, erwiderte Quinto. »Das ist nicht mehr Sache unserer Abteilung. Sollen sich die plophosischen Behörden darum kümmern.«

»Bei allem Respekt!«, protestierte Jessica laut. »Wenn die plophosischen Behörden vor sechs Jahren ihre Arbeit gemacht hätten, als sie Hondro entmachteten, wären wir heute nicht hier! Ich werde nach Plophos gehen und meinem Bruder helfen – ob mit oder ohne Unterstützung Ihrer beider Hilfssheriffs!«

»Miss Tekener ...!«, hob Quinto an, die Stimme so schrill wie kurz vor einem Tobsuchtsanfall.

»Sir!«, riss Tom das Gespräch wieder an sich. »Wir haben erlebt, zu was Hondro fähig ist, und seine Kräfte scheinen immer stärker zu werden. Er könnte sehr bald zur Bedrohung aller Kolonien sowie sogar der Erde werden. Die örtlichen Behörden werden Unterstützung brauchen, um dieser Gefahr rechtzeitig Einhalt zu gebieten.«

»Außerdem wissen wir noch immer nicht, in welchem Zusammenhang das Geminga-Kartell und die Infektion stehen, die wir bei den Siedlern auf der Denebkolonie beobachtet haben«, sprang Farouq Rhodan ihm bei. »Wenn diese Krankheit irgendwie von den geschmuggelten Drusen verbreitet wird, stellt das ebenfalls eine Gefahr dar, die wir nicht unterschätzen dürfen ...«

Quinto seufzte unglücklich. »Sie haben ja recht. Solange die Vorfälle im Denebsystem nicht abschließend geklärt sind, können wir das Schicksal der Kolonien wohl nicht bei den Hilfssheriffs von Plophos abladen.«

Jessica Tekener setzte gerade an, etwas auf die Spitze zu erwidern.

Tom Rhodan kam ihr zuvor. »Sehr gut, Sir. Dann schicken Sie also die Kavallerie?«

»Bis auf Weiteres sind Sie die Kavallerie, Rhodan«, stichelte Nike Quinto. »Zumindest solange Sie mir keine neuen Fakten präsentieren, die einen diplomatischen Zwischenfall rechtfertigen. Also satteln Sie die Pferde und reiten Sie – aber schön unauffällig, wenn's geht!«

2.

Ronald Tekener

Capellasystem, Plophos, New Taylor

 

Der erste Eindruck von New Taylor war enttäuschend. Der Raumhafen war an zwei Ecken noch gar nicht richtig fertig und an den anderen beiden schon wieder renovierungsbedürftig. Der Ring mit Läden, Bars, Transportdienstleistern und anderem Gewerbe ringsum erinnerte fast an Favelas. Die Werkstoffe, aus denen man diese Gebäude zusammengeschustert hatte, mochten zwar hochwertige Metalle und Verbundstoffe sein – dennoch waren es Abfälle, Reste des Raumhafens sowie ausgeschlachteter Raumfahrzeuge, und man sah es ihnen an.

Iratio Hondro hatte keine Schwierigkeiten gehabt, einen Landeplatz für ihren alten Frachter zu bekommen. Die zuständige Lotsin der Hafenbehörde hatte ihnen anstandslos Priorität vor allen anderen Schiffen eingeräumt und sie auf ein abgeschiedenes Areal am Rand des Raumhafens niedergehen lassen. Vermutlich würde sie inzwischen wieder verdattert zu Sinnen kommen und ihre Entscheidungen mit irgendwelchen kreativen Schutzbehauptungen rechtfertigen – genau wie die vorwiegend aus Mehandor bestehende Kernbesatzung des Frachters, die den kurzen Transitionsflug von Olymp nach Plophos gehorsam im Maschinenraum zugebracht hatte.

Sie konnten sich glücklich schätzen, dass sie Hondro keine größeren Hindernisse in den Weg gelegt hatten. Sie waren bloß Spielsteine, Bauern für einen beiläufigen Schachzug, an denen der ehemalige Obmann rasch das Interesse verlor. Gut für sie – denn je eingehender sich Hondro mit seinen Figuren befasste, desto unerfreulicher endete es in der Regel für seine Marionetten.

Ronald Tekener fragte sich, während sie den Raumhafen verließen und sich nach einem Transportmittel ins Stadtzentrum umsahen, was das wohl für ihn bedeutete. Niemand verbrachte so viel Zeit mit Hondro wie er selbst. Er begleitete seinen Boss auf Schritt und Tritt, war sein ... ja, was eigentlich? Handlanger? Kompagnon? Lieblingsspielzeug? Wahrscheinlich von allem ein bisschen. Tekener machte sich nichts vor: Er hatte den unheimlichen Fähigkeiten des Plophosers genauso wenig entgegenzusetzen wie der alte Gleiterpilot, der soeben die Flügeltür für seine zwei Passagiere hochklappte. Der Trick – wenn man es so nennen konnte –, der Tekener in letzter Zeit mehr als einmal vor Schwierigkeiten bewahrt hatte, bestand darin, es gar nicht erst zu versuchen.

Tekener ließ sich auf die Rückbank sinken, während Hondro wie selbstverständlich im Sitz vorn neben dem Piloten Platz nahm. Man mochte dies als Sinnbild ihrer Hierarchie auffassen, aber Tekener war das gleich. Er begleitete Hondro genauso freiwillig, wie er freiwillig die Erde verlassen oder eine Karriere als Spieler eingeschlagen hatte. Er schämte sich für nichts. Das war etwas, was Menschen wie Jessica nie verstehen würden: Jedes Mal, wenn er den Fuß in ein Casino setzte, geschah dies ebenso freiwillig wie der Flug einer Motte zum Licht. Er wollte zum Licht. Wohin sonst sollte er fliehen? Weiter ins Dunkel? Im Dunkel lauerten nur die Schatten, die Schmerzen, die Albträume. Lashat.