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Band 204

 

Der Schaltmeister von Rumal

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Kollision

1. Unheil droht ...

2. Ein Tod und ein Mord

3. Ein MINSTREL auf Reisen

4. Sand zu Sand, Quarz zu Quarz

5. Spuren finden ... und lesen

6. Flucht

7. Opfer

8. Mit dem Kopf durch die Wand

9. Schnüffeln

10. Die neue Wassermeisterin

11. Es ist etwas faul

12. Im Untergrund

13. Fallen oder fallen

14. Beklemmung

15. Rumal in Gefahr

16. Phönix aus dem Sand

17. Blockade

18. Warten

19. Des Sängers Höflichkeit

20. Sie ist ich

21. In letzter Sekunde

22. Wir leben

23. Fluchtbewegung

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff entdeckt hat, ist eine neue Epoche der Menschheit angebrochen. Die Solare Union steuert den Aufbruch ins All.

Die Menschen haben Kolonien nicht nur auf dem Mond und Mars, sondern auch in fernen Sonnensystemen errichtet. Doch auf die terranischen Pioniere warten ungeahnte Herausforderungen und Gefahren. Ende 2088 wird eine Kolonie sogar vollständig ausgelöscht.

Verantwortlich ist offenbar Iratio Hondro, der über unheimliche Gaben verfügt. Es gelingt ihm, den Planeten Plophos in seine Gewalt zu bringen und sie von der Außenwelt zu isolieren.

Ein halbes Jahr später entwickelt sich auf Rumal ein weiterer Krisenherd. Sonderbare Störfälle und ein brutaler Mord verunsichern die Siedler im Algolsystem. NATHAN, die geheimnisvolle Mondintelligenz, entsendet ein Team, um das Geschehen aufzuklären – im Zentrum steht DER SCHALTMEISTER VON RUMAL ...

»Blut ist alles ... und es ist meins! Eine Fuge aus Blut. Rumal wird untergehen, ihr werdet es erleben.«

Stefané Crècy bei seiner Verhaftung auf Rumal, März 2086, zitiert nach Mesh-Messenger-Service

 

 

Prolog

Kollision

 

Algolsystem, Materiegürtel, 5. Mai 2089, Notfallaufzeichnung, Geoffry McGhee, Steuertechniker

Der Kollisionsalarm kreischt durch die Gänge von Plattform XXI. Das Geräusch ist grell genug, um ein Trommelfell zu zerfetzen – zumindest kommt mir das so vor.

»Steuertechniker McGhee hier!«, schreie ich ins Akustikfeld. »Was tut ihr da? Ich brauche Informationen. Was ist los, verdammt noch mal? Sprecht mit mir!«

Die Navigation meldet sich nicht, tut keinen Mucks. Angst sitzt mir im Nacken. Grund dazu gibt es genug. Ich versuche, Emery zu erreichen, und ein Bild baut sich auf. Das ist nicht die Navigationszentrale, das bin ich selbst. Das Chaos hat die interne Kommunikation erreicht. Ich starre mein eigenes, pausbäckiges Gesicht unter dem verdammten Seitenscheitel an. Sehe ich so aus, wenn ich drohe panisch zu werden?

Eine Warnmeldung zeigt unser wesentliches Problem: Die Triebwerke von Plattform XXI arbeiten nicht.

Unmöglich!, schießt es mir durch den Kopf. Das kann nicht sein. Wir haben die Sektionen erst vorgestern überprüft. Den ganzen Triebwerkskram. Die Korrekturtriebwerke waren in Ordnung.

Ich aktiviere die Außenbeobachtung. Die externen Kameras zeigen unterschiedliche Perspektiven. Der Mülltransmitter arbeitet. Der mit Traktorfeldern eingefangene Abraum zieht in einem gewaltigen Band auf das Glutfeld zu, das sich bei jeder Aktivierung vor dem Transmitterfeld bildet. Die Glut ist wie ein Kommentar zum Alarm, der uns allen durch Mark und Bein geht.

Das gibt eine Katastrophe, denke ich beinahe unbeteiligt, als stünde ich als Beobachter direkt neben mir.

Im Vordergrund kommt eine andere Plattform mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf uns zu. Plattform XXXV. Sie sieht aus wie alle Plattformen: ein eher flacher Asteroid, um den sich ein Kranz von technischen Anbauten zieht, die zum Teil weit in den Raum ragen.

Die Korrekturtriebwerke arbeiteten dort ebenfalls nicht. Der Ausweichkurs war die letzte Chance, und das hat sich mit dem Alarm erledigt. Unsere Meiler pumpen Energie, was das Zeug hält, aber bei den Verbrauchern kommt nichts an. Plattform XXXV behält ihren Kurs bei wie ein abstürzender Felsbrocken. Genau wie wir.

Genau das sind wir, denke ich. Und genau deshalb kracht's gleich ganz furchtbar.

Vor dem Transmitter-Glutnest ist die Silhouette von Plattform I zu sehen. Sie folgt einem ruhigen Kurs durch den Materiegürtel, in dem alles abgebaut wird: Tantal, Molybdän, Wolfram, Lanthanoiden oder Platinmetalle.

Ich starre auf die Plattform XXXV. Die kreisförmige Anordnung von Landeflächen, Kontaktröhren und Kopplungseinheiten am Außenrand bricht auseinander. Bei uns geschieht sicher exakt dasselbe. Wir sind am Arsch.

Ein Komholo leuchtet auf. Ich erkenne Jerome Gershwin von Plattform XXXV kaum wieder. Schmutz und Öl kleben in seinem Gesicht, verschmieren die aschblonden Haare, die ihm in die Stirn hängen. Er steht verkrampft da, verdreht beinahe, als habe ihm jemand die Schulter ausgekugelt.

Ist das Blut?, frage ich mich.

»Ausweichen!«, brüllt er wie von Sinnen. Todesangst flackert in seinem Blick. »Weicht doch aus, verdammt noch mal. Ich kann nichts tun! Wir sind flügellahm. Nichts geht. Macht, dass ihr aus dem Weg ...«

Das Bild bricht zusammen. Ich schaue zum Ortungsholo. Eisige Kälte durchfließt mich.

Sie sind da!, denke ich noch. Dann wirft mich ein gewaltiger Schlag zu Boden. Die Prallfelder versagen, gleich darauf die Antigravaggregate. Der Lärm übertönt sogar die Alarmpfeifen. Ein anderes Pfeifen gesellt sich dazu: Luft, die entweicht.

Hüllenbruch ...

Abriss der Liveübertragung. Status: ungeklärt.

Fehlermeldung.

1.

Unheil droht ...

Algolsystem, Rumalor, 5. Mai 2089

 

Ein Erinnerungsecho: Metall- und Gesteinstrümmer rasten durchs All. Einige davon trafen die Plattform I. Die meisten verglühten in den aktivierten Schutzschirmen – aber nicht alle. Die bei der Kollision ins All geschleuderte Masse war für einen Totalschaden ausreichend. Für die Plattformen XXI und XXXV galt das ohnehin.

Vega bint Ahmed Mansour fiel aus der Aufzeichnung zurück in die Realität. Sie holte tief Atem. Ihr Herz raste, sie spürte den Puls bis in den Hals hinauf. Dass sie derart rüde aus der Liveübertragung geschleudert worden war, versetzte ihr einen Schock. Wahrnehmungsfetzen jagten durch ihre Gedanken: Bilder, Geräusche, sogar Gerüche. Sie glaubte, glühendes Metall und verschmorenden Kunststoff zu riechen.

Die Kommunikation zum Materiegürtel war unterbrochen, aus welchen Gründen auch immer. Die Eindrücke blieben – zunächst.

Wäre ich abergläubisch, müsste ich das als Omen ansehen, dachte Mansour.

Was ist nur mit dieser Verbindung los?, fragte die Wassermeisterin sich sofort danach. Sie aktivierte eine Prüfroutine, mehr konnte sie von Rumal aus kaum tun. Ich hoffe, Lahaie bekommt das in den Griff. Ich brauche Informationen.

Das Fehlersignal machte sie unruhig. Der Plexus wimmelte von Schnittstellen aller Art, die sich an der Rückseite des ovalen Raums ballten. Zwischen blinkenden Lichtern waberten unzählige Holowolken. Die Menge der umgeschlagenen Daten war atemberaubend. Aber ausgerechnet die Informationen, die sie in diesem Moment brauchte, waren nicht verfügbar.

Mansour war eine große Frau, sie fiel so gut wie immer auf. Ihre Eltern stammten aus Schiras im irdischen Zagros-Gebirge. Sie hielt sich im Plexus des Grid auf, der Gesamtheit aller Netzpartitionierungen, die Rumal am Leben hielten. Die Kolonie war klein, aber im Gegensatz zu den meisten anderen hochtechnisiert. Träger der Besiedlung war die Whistler Corporation, unterstützt von NATHAN und häufig von den Posbis. Wirtschaftlich war Rumal ein Erfolg. Das Schürfen unterschiedlichster Erze, insbesondere des begehrten Rumalins und hochwertiger Geminga-Drusen schuf eine gesunde ökonomische Basis.

Sie drehte sich der Stirnseite des Raums zu, einem riesigen, konvexen Fenster aus Glassit. Das Licht, das von draußen hereinfiel, war schmerzhaft hell, alle drei Sonnen standen am Himmel.

Rumal umkreiste den Dreifachstern Algol, 93 Lichtjahre von der Erde entfernt, im Sternbild Perseus. Mansour blinzelte, die Lichtflut ging zurück. Ihre okulare Membran regelte die Helligkeit automatisch nach unten, und die Wassermeisterin konnte die drei grellen Punkte nun problemlos sehen. Die technische Ausweitung der Augenfunktionen war auf Rumal eine der häufigsten Augmentierungen.

Mansour hatte die Filter in den Glassitflächen der Panoramascheibe bewusst desaktiviert. Die integrierten Nanoteilchen sorgten im Normalfall selbsttätig dafür, dass die Lichtflut für Menschen erträglich war. Ihre Okularmembranen waren über den Grid mit ihrer Umgebung verbunden. Alle Systeme interagierten miteinander, die dezentrale Struktur entsprach eher dem Nervensystem eines Lebewesens als einem historischen Computernetzwerk. Sie schätzte den ungefilterten Kontakt zu ihrer Welt – obwohl es sich in diesem Fall nur um Licht handelte. Ihr Gehirn hatte die implantierten Augmentierungen längst ins eigene Körperempfinden integriert. Gedimmte Scheiben hingegen blieben ein Reiz von außen.

Rumal sah sehr friedlich aus, ein krasser Kontrast zu der Zerstörung draußen im All, die Mansour gerade bezeugt hatte. Mitzuerleben, wie Steuertechniker Geoffry McGhee gestorben war, war auch für eine rumalische Wassermeisterin schwer erträglich. Unfälle waren im Algolsystem nicht unbedingt selten, Katastrophen dieses Ausmaßes allerdings schon.

Sie war allein im Plexus. Als Wassermeisterin war sie für so gut wie alle Systeme verantwortlich, die nicht vom Schaltmeister kontrolliert wurden, darunter die Exklaven im Materiegürtel. Es war eine anspruchsvolle Aufgabe, mit der Mansour bisher stets gut zurechtgekommen war. Sie liebte es, Verantwortung zu übernehmen, und sie galt als die beste Wassermeisterin seit Langem. Der Grid war ein melodisches Flüstern in ihrem Kopf, das niemals verstummte. Nicht jeder war in der Lage, das auszuhalten ... und nicht jeder war zum Wassermeister berufen oder gar zum Schaltmeister.

Die psychische Belastung durch das aktuelle Ereignis indes war enorm grenzwertig. Ihr Nervensystem produzierte kleine Wahrnehmungsfehler. Ein leises Stampfen, als nähere sich ihr jemand. Es war unangenehm, aber der Effekt würde sich gewiss schon bald legen.

Die ganze Kolonie war ein Experimentierfeld – und sie selbst war eines dieser Experimente.

In Augenblicken wie diesem bewunderte sie Krumar Rabkob, den Schaltmeister, noch mehr als sonst. Er war ihr Vorbild. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie weit sie von seinen Fähigkeiten noch entfernt war.

Das Murmeln in ihrem Kopf schwoll an und ab. Viele der Entscheidungen, die sie traf, liefen unterhalb der Bewusstseinsschwelle ab – Mansour war integraler Bestandteil des Grid. Wassermeisterin zu sein, erforderte mehr als bloß einen wachen Verstand. In vielerlei Hinsicht entsprach ihre Funktion der eines Emotionauten. Nur der Schaltmeister übertraf ihre eigene neuronale Packungsdichte – und zwar um ein Vielfaches. Man musste zuerst Wassermeister gewesen sein, um Schaltmeister werden zu können. Vega bint Ahmed Mansour würde die nächste Schaltmeisterin werden. Zunehmende Erfahrung und die stetig größer werdende neuronale Vernetzung ihres Gehirns würden sie irgendwann dazu qualifizieren. Aber so weit war sie noch nicht.

Sie war unverändert nervös. Das lag mittlerweile keinesfalls mehr daran, dass sie die Katastrophe virtuell miterlebt hatte, sondern war ein deutliches Zeichen dafür, dass sich irgendwo in der komplexen Struktur des Grid ein Problem aufschaukelte. Es ähnelte einer Drohung am fernen Horizont. Es drängte sie nach draußen, raus aus dem Raum.

Kompensierendes Ausweichverhalten, konstatierte sie. Noch unterhalb der Bewusstseinsschwelle. Rabkob wüsste bereits, welcher Prozess sich entwickelt.

Ein weiterer Versuch, die Kommunikation zum Materiegürtel wiederaufzubauen, scheiterte. Das verstärkte ihre Unruhe, wurde zur Beklemmung. Das Flüstern des Grid war ihr in dieser Situation keine Hilfe. Der Zugang zu den externen Partitionen fehlte.

Luft. Ich brauche Luft, dachte sie. Ein Klaustrophobieanfall deutete sich an. Das hatte sie im Plexus noch nie erlebt.

»Öffnen!«, befahl sie. Teile der Glassitwand schoben sich zur Seite. Prallfelder hielten weiterhin den feinen Staub und den Sand draußen, die Strukturlücke darin ließ keinen Mikrometer Platz, durch den sich Staub eventuell hätte hereinverirren können.

Dennoch roch sie die Wüste.

Wie kann ich etwas riechen, das definitiv nicht da ist?, ging es ihr durch den Kopf. Homöopathisches Riechen? Ist das möglich? Oder es ist eine nachhallende Wahrnehmungsstörung?

Hinter ihr schloss sich die Glassitscheibe wieder. Diese traditionelle, nichtenergetische Lösung entsprach dem Pragmatismus der Rumaler. Prallfelder verbrauchten ohne Pause Energie. Glassit löste das Problem sehr viel einfacher.

Sie trug den üblichen Nancoat, ein weites, langes, mantelähnliches Kleidungsstück. Er war schwarz und glänzte seidenmatt. Er erzeugte im Freien die nötigen Isolationsfelder, die den extrem feinen Staub von Rumal daran hinderten, überall einzudringen.

Der Sand aus der Zusewüste brachte ihre Gesichtshaut zum Prickeln. Vom Arklis herab kam ein kühler Fallwind. Sie hatte die externen Isolationsfelder im Kopfbereich desaktiviert. Sie wollte die staubbeladenen Böen spüren, die nun sanft über ihre Wangen und ihre Stirn fuhren. An ihrer Unruhe änderte das jedoch nichts. Sie strich sich eine pechschwarze Haarsträhne aus den Augen und blinzelte. Die Wüste glitzerte bläulich weiß. Der Sand auf Rumal ähnelte vom Aussehen her Schnee. Myriaden von kleinen Lichtreflexen funkelten. Sie sah nach oben. Algol C stand beinahe im Zenit.

Sie liebte diese Welt, mit all ihren Gefahren und Eigenheiten.

Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Mansour erhöhte die externe Datenrate. Das Rumoren in ihrem Kopf wurde lauter. Sie musste wissen, was vor sich ging. Das war ihre Aufgabe, ihre Verantwortung.

Der Datenfluss von der Raumkontrolle schwoll kurz an. Drei kleine Frachter starteten von »Habakuks Landing«, dem Raumhafen, der den Namen des ersten Prospektors trug. Der Landeplatz war eher Nostalgie als effizientes Logistikzentrum, aber kein Rumaler hätte diesen Ort je verändert. Seit der Gründung der Kolonie war er ein Denkmal für das, was Menschen auf diesem Planeten erreicht hatten.

Vergangenheit, dachte sie missmutig. Ich brauche diese Verbindung – sofort!

Die drei kleinen Punkte stiegen in den Himmel, zogen Kondensstreifen hinter sich her. Sie würden Kurs auf den Materiegürtel nehmen. Diese Region im Außenbereich des Algolsystems war ein ergiebiges Schürfgebiet für Rohstoffe aller Art – sogar Rumalin fand man dort. Nur Geminga-Drusen suchte man vergeblich. Die Aktivitäten im Materiegürtel unterstanden der Kontrolle der Wassermeisterin, wie beinahe alle externen Angelegenheiten. Krumar Rabkob, der gegenwärtige Schaltmeister, war mit den Vorgängen auf Rumal selbst mehr als ausgelastet. Zudem waren die Schürferplattformen weitgehend autark. Etwas stimmte nicht. Mansours Gefühl war eindeutig. Immer wieder schlugen ihre Kontaktversuche zum Materiegürtel fehl.

Sie fluchte, ein Zeichen dafür, wie angespannt sie war. Sie konnte die Pflichten für ihren Verantwortungsbereich nicht wahrnehmen, wenn sie von den erforderlichen Informationen abgeschnitten blieb. Für sie war das ein Albtraum. Ein dumpfes Geräusch im Hintergrund lenkte sie ab, wieder konnte sie es nicht zuordnen.

Sie starrte auf die dritte, weit entfernte Sonne. Der zweite Sonnentransmitter im Algolsystem war nach wie vor ein Rätsel. Der Transmissionsbereich formte sich zwischen den Algolsonnen A und C; rhythmisch, aber für normale Transporte nicht zu gebrauchen. Egal wohin er auch führen mochte, dort musste die Hölle herrschen. Mörderische Glut wie im Herzen eines Sterns loderte regelmäßig in blutigem Rot im Zentralareal auf und vernichtete alles, was dem Feld zu nahe kam. Warum das so war, obwohl der Transmitter Dinge abstrahlte, wusste niemand. Das Ganze war zwar recht praktisch, um den Abraum zu beseitigen, der an den zahllosen Schürfstätten im Materiegürtel anfiel. Die Nebenwirkungen allerdings waren unangenehm: Die Kommunikationsverbindungen im Algolsystem wurden immer wieder instabil. Mansour hoffte, dass dies auch für den aktuellen Kontaktverlust der einzige Grund war.

Gedankenverloren fixierte sie eine Ansammlung von Friabäumen, die ganz in der Nähe stand. Sie trugen noch keine Nüsse, also hielt sich der Gestank in Grenzen. Die beinahe wie Totholz aussehenden Stämme waren schwarz und bildeten einen maximalen Kontrast zum bläulichen Weiß des Sands. Etwas davon entfernt sah sie die von einem glasartig transparenten Energiefeld geschützte, runde Öffnung eines Schlupfs. Diese dezentralen Schaltstellen existierten überall auf Rumal. Sie waren die einzigen Bauwerke, die mehrere Meter in die Tiefe reichten. Gerade mal so breit wie ein Mensch, boten sie überall die Möglichkeit, sich vermittels physischer Datenleitungen mit dem Grid zu verbinden. Denn die omnipräsente Hyperstrahlung der Schwingquarzvorkommen in der Planetenkruste machte Drahtlosverbindungen auf Rumal vielerorts heikel und anfällig.

Keller gab es auf Rumal nicht. Die empfindliche Wurzelvegetation, die den überlebenswichtigen Luftsauerstoff produzierte, wucherte überall im Untergrund. Der Schutz ihres Lebensraums war unabdingbar. Gebaut wurde deshalb nur, wo der Boden felsig und stabil genug war, um ohne Unterkellerung und tiefe Fundamente auszukommen. Die Schlupfe waren die einzigen Ausnahmen. Als wüsste die Wurzelvegetation um deren Wichtigkeit, zog sie sich von diesen Schaltlöchern bereitwillig zurück.

Eine Kommunikationsanfrage durchdrang das Rumoren in Mansours Kopf. Der Absender war eindeutig Plattform I.

Endlich!, dachte sie erleichtert. Identifikation Bernárd Lahaie. Er hat die Katastrophe überlebt.

Sie befand sich im Freien, also setzte sie einige nanitische Holokerne frei. Ein dreidimensionales Bild baute sich auf und zeigte den Ringmeister, einen erschreckend dürren Mann mit Halbglatze. Die Augen waren beinahe schwarz und erkennbar prothetisch verstärkt. Wahrscheinlich hatte Lahaie sein perzeptives Spektrum ausgeweitet und sah neben infraroten auch ultraviolette Frequenzbereiche.

»Wassermeisterin!«, sagte er respektvoll. Er blinzelte nervös. »Diese Verbindung ist provisorisch. Es tut mir leid. Hier geht es drunter und drüber. Ich vermute, dass Rumal keine Daten erhält. Die Sendeanlagen der Relais wurden offenbar manipuliert.«

Lahaie wirkte gefasst, dabei war der Ringmeister nur knapp dem Tod entronnen. Mansour wusste daher nicht, wie viel von seiner Ruhe reine Maske war.

»Was haben Sie für mich, Lahaie?«, fragte sie.

Hinter dem Ringmeister sah sie das Weltall, wahrscheinlich eine Projektion. Vielleicht hielt sich Lahaie aber tatsächlich in einer der unzähligen Oberflächenkuppeln von Plattform I auf. Zu erkennen war das Glosen der dritten Algol-Sonne, die etwa 2,69 Astronomische Einheiten vom Sternenpaar entfernt lag, um das Rumal und der innere Planet Lork kreisten. Ein diffuses Band zog sich vor dem Stern über den ansonsten nachtschwarzen Himmel. Das war der Abraumstrom, der Schlacken, totes Gestein und anderes wertloses Material von den Schürfstätten im Materiegürtel in das zweite Transmitterfeld transportierte.

Lahaie zögerte. »Ich übermittle Ihnen ein Datenkonglomerat, das ich aus den Gesamtaufzeichnungen im Materiegürtel extrahiert habe. Es basiert auf den Protokollen der Sektionen Eins bis Vier. Ich habe versucht, es über die Standardkanäle zu senden, aber eine Meldung über massive Dateikorruption erhalten.«

»Datenkorruption? Wohl kaum.« Die bei Mansour nun eintreffende Datenflut ging mit einer körperlichen Empfindung einher, als liefen Ameisen über ihre Gliedmaßen. Dann verstand sie Lahaie.

Die Zahlenkolonnen der Messungen, die Kontrolldaten und besonders die markierten Fehlermeldungen prägten sich ihr ein wie Bildsequenzen. Sie begriff sofort, was sie vor sich hatte.

Lahaies Stimme klang auf. »Die ökonomischen Verluste der Kollision sind verkraftbar. Sie werden die Kolonie nicht merklich schädigen, aber wir haben sechzehn Tote, darunter drei hochqualifizierte Ingenieure. Die zwei kollidierten Plattformen waren im Reparatur- und Testmodus. Andernfalls hätten wir sogar einige Hundert Tote gehabt.«

Er rieb sich die Augen. »Es war eindeutig Sabotage«, sagte er müde. »Die Sicherheitsroutinen kann man nicht umgehen – man kann sie nur außer Kraft setzen. Genau das ist geschehen, leider nicht zum ersten Mal. Vor etwa drei Stunden kam es zu einem ähnlichen Vorfall, allerdings weniger geschickt, deshalb wurde die Katastrophe rechtzeitig verhindert. Wer auch immer das getan hat: Er hat offenbar seither dazugelernt. Habe ich recht, dass diese Information Sie bisher nicht erreicht hat?«

Mansours Laune sank ins Bodenlose. »Nein. Hat sie nicht.«

»Wir waren uns nicht sicher«, gab Lahaie zu. »Zumindest der Vorfall vor drei Stunden stellte sich anfangs nicht eindeutig dar. Es hätte auch ein technischer Fehler im externen Grid sein können. Aber das Verschwinden der entsprechenden Information lässt keinen Zweifel zu: Es war Sabotage.«

Die Wassermeisterin war nach dem Schaltmeister die zweite Kontrollinstanz. Dass sie bei einer solchen Faktenlage uninformiert blieb, war alarmierend. Mansour beherrschte sich mühsam.

Es sieht ganz so aus, als gäbe es Löcher im Grid.

Die Exklaven im Materiegürtel waren zwar weit entfernt von Rumal. Aber dass sämtliche Kommunikationsfäden rissen, war bei der vielfach redundanten Konzeption der Funkstrecken beängstigend.

Der Grid war ein einzigartiges, revolutionäres Datennetz, das die gesamte Algolkolonie durchzog. Seine dezentrale Struktur machte ihn weniger anfällig als jegliches andere Kommunikationswesen. Basis war die alte Blockchain-Technologie der Erde gewesen, die mit arkonidischer Technik eine komplexe Symbiose eingegangen war. Die neuronale Struktur gehörte zum Besten, was irdische Wissenschaft hervorzubringen vermochte. Der Grid wuchs selbstständig und bildete sogar eigenständig neue neuronale Knoten aus. NATHANS Hilfe und die der Posbis hatte sich bei der Entwicklung des Grid als extrem wertvoll erwiesen. Die Whistler Corporation, unter deren Schirmherrschaft Rumal besiedelt worden war, war dadurch zum Vorreiter geworden, was moderne positronische Anwendungen anging. Wenn also der Grid Schwächen zeigte, war das ein dramatisches Alarmsignal. Sabotage allerdings war zwar ein Grund zur Sorge, aber immerhin kein Zeichen für ein systemisches Versagen der digitalen Infrastruktur.

»Sabotage«, wiederholte Mansour gepresst. »Hat sich ...«

Lahaie unterbrach sie sofort, er wusste um die Brisanz der Sache. »Leider. Der Verdacht hat sich bestätigt. Es war eindeutig ein Fremdzugriff. Aber das erleichtert mich nicht, um ehrlich zu sein.«

Sabotage war etwas, das es auf Rumal nie zuvor gegeben hatte. Jeder Kolonist wusste um das empfindliche Gleichgewicht, das sie alle am Leben hielt. Niemand bei klarem Verstand würde auf diese Weise in die technische Infrastruktur eingreifen.

»Das ist nicht alles?«, fragte Mansour, der das Schweigen Lahaies auffiel.

Der Ringmeister räusperte sich. »Nun, Sie erinnern sich an die Ankunft der SOLORION ... vor etwas über einem Monat?«

»Der Frachter von Plophos? Der bei der Landung beinahe mit dem Hafengebäude kollidiert wäre? Was ist damit?« Mansour wusste, dass der Kontakt zum Capellasystem einseitig war. Die Kolonie hielt sich seit über einem halben Jahr abgeschottet und gestattete keinen Besucherverkehr mehr. Nur ab und zu kamen Frachter von dort, um die wirtschaftlichen Beziehungen zur Außenwelt nicht ganz abreißen zu lassen.

Lahaie aktivierte ein Standbild aus dem Archiv. Drei Männer von Plophos, die Besatzung der SOLORION, waren zu sehen – während eines Verhörs. Mansour erinnerte sich, denn selbstverständlich hatte man sie informiert. Damals schien ihr der Vorfall nicht brisant gewesen zu sein. Dass ältere Frachter technische Probleme zeigten, war weder selten noch überraschend.

»Sie erinnern sich, dass der Pilot eigenartig verzögerte Reaktionen zeigte?« Lahaie vergrößerte das Hologramm und blendete ergänzend einige medizinische Daten ein.

»Ja, durchaus. Und? Er hat epsalisches Foggott konsumiert, nehme ich an. Das tun viele Piloten, um das Stressniveau zu senken. Egal ob das medizinisch angezeigt ist oder nicht.«

»Dieselben Symptome haben wir bei dem Saboteur festgestellt, der für den ersten Vorfall verantwortlich war«, berichtete Lahaie. »Er ist der Einzige, den wir bisher erwischen konnten. Ein niederrangiges Schaltfaktotum – und der Mann hatte definitiv kein Foggott zu sich genommen. Der Drogenscan war eindeutig: nichts. Trotzdem zeigte er diese sonderbaren Verhaltensweisen. Bisweilen wirkte er sogar verwirrt. Ohne dass wir dafür eine medizinische oder neurologische Ursache finden konnten.«

Lahaie übermittelte ihr eine Videoaufzeichnung. Der in dem Holofilm, der daraufhin vor Mansours Augen ablief, zu sehende Mann war lethargisch, lächelte ab und zu abwesend und schien kaum zu registrieren, was um ihn herum vorging.

Beinahe entrückt, urteilte Mansour. Man könnte ihn für einen religiösen Spinner halten, der gerade eine göttliche Vision zu haben glaubt. Das passt so ganz und gar nicht zu einem Schaltfaktotum, nicht mal zu einem der Klasse drei. Was stimmt nicht mit ihm?

»Diagnose?«, fragte sie.

Lahaie schüttelte den Kopf. »Wie ich sagte: Bis auf das auffällige Verhalten an sich scheint er gesund zu sein. Mag ja sein, dass man auf Mimas etwas herausfinden könnte ... Wir indes sind mit unseren Mitteln am Ende. Eine Tatsache aber bleibt. Seit dem Vorfall mit der SOLORION haben sich die Zwischenfälle gehäuft. Das ist längst keine statistische Anomalie mehr, da steckt Absicht dahinter.«

Ein Geräusch lenkte Mansour kurz ab. Ein leises, dumpfes Stampfen. Sie sah sich um, aber da war niemand. Die rezeptiven Fehlleistungen sind hartnäckig, dachte sie unwillig. Es macht mir stärker zu schaffen, als ich glaubte. Ich hoffe, das wird kein Fall für einen Mediker.

Lahaie verwies sie auf eine Datensammlung, die analytisch alle erfassten Vorkommnisse präsentierte. Das Muster war unverkennbar.

»Jemand versucht planmäßig, sich in unseren Systemen zu etablieren«, murmelte Mansour verblüfft. »Ziemlich geschickt obendrein. Das eigentliche Ziel bleibt unsichtbar. Die Vorfälle sind nur Symptome ... bloß Nebenwirkungen. Das ist beängstigend.« Ihre Finger kribbelten. Mansour spürte, dass sich etwas zusammenbraute.

Als Wassermeisterin war sie nicht nur technisch kompetent, sondern auch empathisch. Auf dieser humanbasierten Eigenschaft hatte interessanterweise ausgerechnet NATHAN beharrt, der neben der Whistler Corporation der Hauptförderer der Algolkolonie war. Mansour fand das schon deswegen interessant, weil man von einer anorganisch-technischen Intelligenz erwartet hätte, dass sie eine komplette Steuerung durch KI-Komponenten bevorzugen würde. Dass NATHAN dies anders sah, war ein Thema, das in der Kolonie häufig diskutiert wurde.

»Was werden Sie tun?«, fragte Lahaie.

»Die Informationen werden dem Schaltmeister vorgelegt, sobald ich selbst einen Überblick habe«, beschloss Mansour. Ihre Stirn juckte, sie kratzte sich. Eine psychosomatische Reaktion, die viele Rumaler zeigten; vielleicht ein Nebeneffekt der vielen Klein- und Mikroimplantate. Eine Lästigkeit, mehr nicht. Sie atmete tief durch. »Als Erstes werde ich NATHAN kontaktieren. Ich denke, wir brauchen Hilfe bei dem, was sich da zusammenbraut. Was auch immer es ist.«

Lahaie kniff die Augen zusammen, als blende ihn etwas. »Sie halten das für so ernst?«

Mansour aktivierte bereits eine Hyperfunk-Relaisstrecke zu NATHAN ins Solsystem und nannte das Codewort Hephaistos' Krücke.

»Das tue ich. Danke für Ihre Hilfe. Sie hören von mir.« Die Verbindung zur Plattform I erlosch. Sie hoffte, die Fernkommunikation nach Luna würde keine Ausfälle zeigen.

NATHANS Rufsymbol erschien, gleich darauf ein Gesicht.

Der Mann trug einen räudig wirkenden Bart. Sein Haar war strubbelig, als wisse er nicht, wie ein Kamm aussah. Zudem machte er einen übernächtigten Eindruck, wie nach einem ausgedehnten Besäufnis.

»Leibnitz!«, entfuhr es Mansour. Dass sich NATHANS Sprecher sofort persönlich meldete, war ungewöhnlich.

Leibnitz verbeugte sich. Im Hintergrund sah Mansour einen großen, eiförmigen Schatten: Monade, die Leibnitz immer und überallhin begleitete.

»Wassermeisterin«, sagte Leibnitz leise und freundlich. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

Mansour hielt sich nicht mit Vorreden auf. Sie übermittelte dem Mann auf dem irdischen Mond eine komplette Übersicht und ergänzte sie mit ihrer eigenen Einschätzung der Lage.

Leibnitz unterbrach sie nicht. Zuweilen zupfte er abwesend an seinem eigenartig steifen Mantel, aber er war konzentriert, das konnte Mansour sehen. Sie wusste, dass der chaotische äußere Anschein ihres Gesprächspartners täuschte. Leibnitz wurde häufig unterschätzt. Aber er war nicht ohne Grund NATHANS Sprecher. Manche spekulierten, dass er sogar weit mehr war: ein Vertrauter womöglich, obwohl die Hyperinpotronik das nie bestätigt hatte.

Nachdem sie fertig war, zwinkerte Leibnitz kurz.

Vielleicht kommuniziert er mit Monade, dachte Mansour. Schade, dass ich diese faszinierende Posbi bisher nie persönlich getroffen habe.

»Ihre eigenen Schiffe ...?«, fragte Leibnitz.

Mansour kontrollierte die Positionsübersicht. Ihr linkes Augenlid zuckte nervös.

»Das ist sonderbar«, sagte sie. »Sie halten sich ausnahmslos im Materiegürtel auf. Keins davon steht zur Verfügung. Bis auf drei Kleinfrachter, die ich vor Kurzem selbst habe starten sehen. Selbst die nehmen Kurs auf eher abgelegene Zielorte. Die Entfernungen zur Plattform Eins sind ... auffällig groß.«

Leibnitz runzelte die Stirn. »Als wolle jemand das Zentrum des Grid im Asteroidenring isolieren? Meinen Sie das?«

»Zumindest entsteht dieser Eindruck, obwohl der Begriff ›Zentrum‹ am Kern des Konzepts vorbeigeht«, antwortete Mansour. Das Jucken auf ihrer Stirn nahm zu. »Allerdings geben die Marschbefehle nichts Offenkundiges her. Es sieht komplett nach purem Zufall aus. Das betrifft sowohl die Frachter als auch die Werft- und Arbeitsschiffe, alles ist scheinbar völlig normal. Die Kommunikationsausfälle passen da leider nur zu gut ins Bild.«

Leibnitz lachte sarkastisch. »Zufall? Nie im Leben. Sie haben recht, Wassermeisterin, da ist etwas im Busch. NATHAN wird umgehend Hilfe schicken, die nach dem Rechten sieht.«