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Michael Pilz

Tanz
der Elemente

Über die Schönheit des Periodensystems

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Salzburg – Wien

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Lektorat: Christine Dobretsberger

ISBN e-Book 978 3 7017 4625 5

ISBN Print 978 3 7017 3483 2

Für Elke und Reiner

INHALT

Eins

Am Anfang war das Nichts

Eine Erleuchtung, eine Revision der reinen Lehre und die Renaissance der Chemie als fröhliche Wissenschaft.

Zwei

Der Sibirische Prophet

Ein Traum, eine Ordnung der Welt und der Mensch als Schöpfer der Natur.

Drei

Vom Feuer zum Himmel

Höhlenbilder, erste Elemente, nutzlose und nützliche Metalle und die Welt des Homo chemicus.

Vier

EIn, zwei, drei, Viele Elemente

Die Welt als Baukasten, Feuer, Wasser, Luft und Erde und die Natur des Menschen.

Fünf

DAs große KunstWerk

Wie man Dreck in Gold verwandelt, auf der Suche nach dem Stein der Weisen und die Alchemisten unserer Zeit.

Sechs

Die AlcHemie der Aufklärung

Der Anfang der Chemie vor Tausenden von Jahren, endlich neue Elemente und die Herstellung von Gold aus Wismut.

Sieben

Alte Schweden

Die wahre Chemie, die Gruben von Falun und stoische Entdecker.

Acht

Es lebe die Revolution!

Die Elemente des Feuers und der Luft, des Wassers und der Erde, englische Exzentriker, französische Edelmänner und die erste Ordnung.

Neun

Alles Atome

Kleinste, unteilbare Teilchen, Holzkugeln aus Manchester und die Symbolsprache der Stoffe.

Zehn

Alles Fügt Sich

Ein Professor der Triaden, magische Metalle, Schrauben und Spiralen und der deutsch-russische Streit um ein System.

Elf

Im PostperiodiSchen ZeitalTer

Die älteste Schulkarte der Welt, zerfallende Elemente, edle Gase, weise Quanten, seltene Erden und der alte Traum der Alchemie, die Welt neu zu erschaffen.

Zwölf

Die Poesie des Periodensystems

Ein Lied über die Elemente, Risse im Gebäude, tausend Formen, die Natur als Kunstwerk und die Anschauung der Welt.

Eins

Am Anfang war das Nichts

Eine Erleuchtung, eine Revision der reinen Lehre und die Renaissance der Chemie als fröhliche Wissenschaft.

Vor dreißig Jahren fand ich mich an einer Hochschule im Hörsaal wieder. Der Professor sprach über die Herstellung von Schwefelsäure. Er trug eine Brille, in der seine Augen schwammen, einen Kittel und kein Haar. Wie sich das für Chemiestudenten so gehört, war ich verkatert, an der Hochschule hießen die Klubs Reaktor, Alchemistenfalle oder Ölgrube. Ich dachte an die »Muppet Show«, an Prof. Dr. Honigtau-Bunsenbrenner, der wie mein Dozent aussah, in dessen Labor die Zukunft schon heute gemacht wurde und der im Fernsehen ein neues Element entdeckte. Sein Bunsonium war farblos, flüssig und schien unter Normbedingungen zu sieden. Beaker, der bedauernswerte Assistent, sank nach der Einnahme in sich zusammen. Er verlor die Lebensluft.

So wäre für mich auch die Vorlesung zur Technischen Chemie dahingegangen, hätte sich der Weltgeist mir nicht offenbart. Er hing über der Kreidetafel mit den Formeln für die Reaktion von Schwefeldioxid zu Schwefeltrioxid zu Schwefelsäure und der Skizze eines Drehofens. Das Periodensystem der Elemente hing über der Tafel. Es hing immer da und überall, es fing mit Wasserstoff an und hörte damals mit Bohrium auf, dem 107. Element. Nicht dass ich es davor noch nie gesehen hatte: In der Schule endete es mit dem 104. Element, dem Kurtschatovium, das heute Rutherfordium heißt. Ich hatte schon verstanden, dass die Elemente sich nach ihren fortlaufenden Ordnungszahlen, nach ihrer Protonenmenge, ins System fügen. Dass nach den Edelgasen in der nächsten Zeile eine neue Periode anfängt. Und dass sich die Elemente in den Spalten gleichen, in den Gruppen, wegen ihrer Elektronen. Wo die bunte Karte hing, war der Chemieraum.

Was mir nun in meinem müden Hirn, im noch nicht abgebauten Alkohol und vielleicht durch die frühen Früchte meines Studiums aufging, war das Göttliche. Oder, wenn man an Gott glaubt, das Blasphemische. Ich sah den Urknall. Ich sah, die Materie entstehen, die Protonen, Neutronen und Elektronen, die Atome. Die Evolution der Elemente: Einprotonige Wasserstoffatome krachten ineinander und erzeugten zweiprotoniges Helium. Die Kernfusion des Universums setzte Lithium, Beryllium und Bor auf die drei folgenden Plätze. In den neugeborenen Sternen stieg die Dichte und die Energie, bis aus drei Heliumkernen mit vier Neutronen der Kohlenstoff entstand und aus dem Kohlenstoff durch einen weiteren Heliumkern der Sauerstoff. Daraus wurden heute allgegenwärtige Substanzen wie Silizium und Eisen. Wenn ein Stern wieder verglühte, war die Energie so hoch, dass die Materie sich vom Eisen bis hinunter zum Uran verdichten konnte. Eine Wolke solcher Stoffe ballte sich zur Erde.

Im System der Elemente an der Wand zeigte sich, dass am Anfang nichts war und Milliarden Jahre später alles, was jemals der Fall war und der Fall sein wird. Die ewige Gesetzestafel unseres Lebens. Eine Karte unserer Welt oder, wenn man so will, der Schöpfung. Die Evolution der ursprünglichen Bausteine, ein auf der Krone stehender Stammbaum aller Stoffe: oben links der Wasserstoff und oben rechts das Helium und unter ihnen ihre mehr als hundert Nachkommen.

Ich starrte auf die Mitte, auf die Elemente unseres Daseins. Sieh mal an, sagte ich mir, der Kohlenstoff: Steht nicht am Rand zwischen den radikalen Linken oder Rechten, sondern bei den Netten und Neutralen, bei den Langweilern, die sich mit allen gut vertragen. Er bindet sich auf behutsame und fürsorgliche Weise mit den anderen um ihn herum, sogar mit dem von Hause aus extremen Wasserstoff. Weil er sich selbst genügt, der Kohlenstoff, bildet er Ketten oder Ringe, Diamant, Graphit und Moleküle, die wie alte Fußbälle aus Fünf- und Sechsecken geformt sind. Aus ihm ist das Leben, das, wenn es vorüber ist, zu Kalk und Kohle, Öl und Gas wird, zu den Roh- und Kunststoffen der Zivilisation. Unter dem Kohlenstoff und links davon, noch weiter in der Mitte, ruhen die Metalle, ohne die der Mensch keine Kultur besäße: Blei und Zinn, Silber und Gold, Kupfer und Eisen. Unser Blut trägt in der Mitte seiner Moleküle ein Atom mit 26 Protonen und 20, 23, 24, 26 oder 28 Elektronen, da legt sich das Eisen nicht so fest als Element der grauen Mitte. So leicht, wie es Sauerstoff zum Atmen aufnimmt und durch unsere Adern trägt, so leicht gibt es ihn wieder her, wo wir ihn brauchen. An den Rändern des Systems hausen die schwierigeren Charaktere. Natrium und Chlor zum Beispiel lassen, wenn es um die Elektronen ihrer Hüllen geht, kaum mit sich reden. Dafür sind sie, wenn sie sich gewaltsam aussöhnen, wieder bei uns, als Salz auf unserem Frühstücksei.

Das war meine Erleuchtung. Menschen sind empfänglich für solche Momente, in denen das Leben einen Sinn ergibt. Eine Art ursprünglicher, innerer Ordnung. Das System der Elemente war mein Dornbusch, auch wenn es nicht brannte und nicht zu mir sprach. Es hing nur vor mir und erklärte mir, warum ich da war.

Damals saß ich mittendrin in der Chemie. In Merseburg, da stand die Hochschule, lag, je nachdem, woher der Wind wehte, der Duft von Aromaten aus den Leuna-Werken in der Luft, oder die Buna-Werke reicherten den ohnehin schon sauren Regen mit Carbid an. Es waren die späten Achtzigerjahre: Während sich in Westdeutschland die Grünen in die Parlamente häkelten, las man im Osten »Flugasche« von Monika Maron über die Dreckstadt B., das Buch spielte in Bitterfeld, nicht weit entfernt von Merseburg. Im Keller der Berliner Zionskirche sammelte die Umweltbibliothek Beweise für die Ökosünden, und die langhaarige Jugend schmückte ihre Fahrräder mit blühenden Zweigen. Rund um Merseburg hießen die Fußballklubs BSG Chemie Buna Schkopau, Chemie Leipzig, Hallescher FC Chemie. Die Klubs stammten wie viele überholte Utopien aus den Sechzigerjahren wie die Werbung für »Plaste und Elaste aus Schkopau« an den ruinierten Autobahnen, über die sich die Transitreisenden aus dem Westen amüsierten, wenn sie ihren Ostverwandten ihre hübscheren Chemieprodukte überreichten. In den späten Achtzigern war nichts mehr übrig von den Glücksverheißungen der Kunststoffe, Labordrogen und Kernkraftwerken. Die gesamte Zukunft war von einer Wissenschaft erledigt worden, die den Vornamen Natur verwirkt zu haben schien.

Ich weiß nicht mehr, warum mich weder ihr verdorbener Ruf vom Studium abhielt noch die Schule mit ihren sechs Jahren Unterricht zuvor. Es hatte damit angefangen, dass der Lehrer Strom in Wasser leitete und darüber mit seinem Feuerzeug ein Reagenzglas bellen ließ. Er ließ einen Magnesiumspan und eine Scheibe Natrium über dem Bunsenbrenner leuchten, grellweiß und orange. Er kippte Salzsäure über ein graues Eisenpulver und freute sich über den Gestank nach Furz. Wahrscheinlich hat der Lehrer uns die Formeln von der Schultafel abschreiben lassen, so wie es im Lehrplan stand. Möglicherweise hat er auf der bunten Karte auch auf die Symbole des Systems gezeigt und die Zusammenhänge zwischen Gruppenzahl und Bindungsart erwähnt. Am Anfang war Chemie nur eine Lehre von den überraschenden Geräuschen und den überwältigenden Gerüchen, von den Sensationen irgendwelcher Stoffe. Eine Lehre, die man nicht verstehen kann und lernen muss. Vielleicht sollte sich die Chemie mit dem Gedanken anfreunden, dass Kinder in der Lage sind, nicht nur die Unordnung der Dinge zu erfassen, sondern auch die höhere Ordnung. Man sollte vielleicht nicht mit den Phänomenen anfangen, sondern mit den Prinzipien und mit der Philosophie, der sie gehorchen, dem System der Elemente.

In der Fernsehserie »Breaking Bad«, der großen Welterzählung unserer Zeit, steht der Chemielehrer vor einer Klasse resignierter Gymnasiasten und stellt nach all den verlorenen Jahren eine Frage für die erste Stunde seines Fachs: »Chemie, das ist die Lehre von was?« Der pickelige Prügelknabe in der ersten Reihe, der Physik und Mathe mag, hebt vorsichtig die Hand und stammelt: »Chemikalien.« »Chemikalien«, sagt der Lehrer: »Nein! Chemie ist, also strenggenommen ist Chemie die Lehre von den Stoffen.« Walter White, so heißt der Lehrer in der Serie, entzündet einen Bunsenbrenner, sprüht gefärbte Flüssigkeiten in die Flamme und spricht über Elektronen, Bindungen und das Prinzip des Lebens. »Es ist faszinierend, wirklich«, sagt er und gibt auf. Er hat das Innerste des Seins, den Sitz der Elektronen um den Kern herum, die Schalen und die Orbitale, auf die Schultafel skizziert. Das Zauberwort periodic table steht dabei. Es ist zu spät.

Zu spät ist es für Walter White, den traurigen Chemielehrer, dem in der Schule niemand zuhört, und den Drogenkoch, dem draußen vor den Plasmabildschirmen Abermillionen über 62 Folgen dabei zugeschaut haben, wie er das reinste Methamphetamin herstellt und damit auch seinen Hormonhaushalt und seine Hirnchemie verändert hat. Ein Mann, der an den Geist in der Materie glaubt. Es ist zu spät für seine Schüler. Als sie selbst die großen Fragen hätten stellen können, warum Wasser nass ist und die Blumen bunt sind, hatten sie in Kindergärten und in Grundschulen mit Fachkräften zu tun, die lieber was mit Menschen machen wollten, als was mit Materie, weil ihnen das in der Schule schon nicht lag. Als dann die Schulkinder, bevor die Pubertät ihren Hormonhaushalt und ihre Hirnchemie veränderte, der Unterricht verwirrte mit seinen gut hundert Elementen und ihren Millionen Molekülen. Mit obskuren Formeln und geheimnisvollen Fakten, hingeworfenen Gleichungen und unergründlichen Gesetzen.

Es ist nicht zu spät für den, der noch einmal am Anfang anfängt, das Periodensystem der Elemente nicht als Gruselgrafik seiner Schuljahre betrachtet und den großen Sinn nicht nur im selbstgezogenen Rettich hinter seinem Landhaus sucht. Oder wie Walter White in »Breaking Bad« erklärt: »Das Universum ist zufällig. Subatomare Teilchen, die unaufhörlich und sinnlos kollidieren.« Warum alles doch da ist, erzählt uns das System der atomaren Teilchen. Gott, wenn jemand einen braucht, der daran schuld ist, würfelt eben doch. Und Sinn war, seit der Mensch, was er Natur nennt, nicht nur anhimmeln, sondern verstehen will, auch die Erkenntnis, was die Welt zusammenhält.

Wer freitags aus der Stadt flieht, um in seinem Landhaus regionale Früchte aufzutischen, tut es nicht allein wegen des Fußabdrucks, den seine Kohlendioxid-Bilanz zwischen den Feldern hinterlässt. Er isst den Sauerklee und manchmal auch die Sau vom Förster nebenan, weil er irgendwie ahnt, dass seine Heimatsehnsucht auch durch seinen Molekülhaushalt zu stillen ist. Jeder ist, was er isst. Ohne Chemie ist das Leben ein Irrtum. Es scheint eine gute Zeit dafür zu sein, wieder von der Materie, davon, was die Welt ist, zu erzählen. In der Popkultur sind Chemiker nicht mehr die Irren zwischen ihren brodelnden Destillen und ihren mit falschen Formeln übersäten Schiefertafeln auf der Suche nach den Stoffen für die Weltherrschaft.

Es sind die tragischen Genies wie Walter White in »Breaking Band«. Es sind die weisen Nerds mit ihren Asthmasprays wie die Atom- und Astrophysiker in »Big Bang Theory«, der Serie, aus der das Wort »Bazinga« stammt, das mit den Zeichen für die Elemente Barium, Zink und Gallium (Ba Zn Ga) als T-Shirt-Aufdruck ein Verkaufshit wurde. Es sind die Symbole des Systems, die heute überall auftauchen. In der »Breaking Bad«-Typografie mit Brom (Br) und Barium (Ba). Am Technologischen Institut von Massachusetts, als Barack Obama als Ikone einer besseren Welt mit dem Symbol für Sauerstoff, dem großen O, gefeiert wurde. Wenn einem beim Festival in Wacken zottelige Männer mit dem Aufdruck »Heavy Metals« und den Elementzeichen Pb (Blei) und Cr (Chrom) auf den Shirts entgegenwanken.

Es gibt Periodensysteme für Bier und HipHop, Schriften und Computerspiele. Das Periodensystem der Elemente gibt es als Tapete, Duschvorhang und Kaffeetasse. YouTube zeigt, dass sich die Jugend nicht nur mit Strukturformeln von Legal Highs befasst, mit psychedelischen Substanzen, die in Kräutermischungen und Badesalzen vorkommen. Die Jugend bastelt nicht nur Bomben und freut sich über Kondome, die im Feuchten ihre Farben ändern. Sie feiert auch »Chemical Parties« und lässt alle Welt bei YouTube daran teilhaben: Da tanzt die Jugend miteinander als Atome, sie verkleidet sich als Elemente und verbindet sich zu Molekülen. Scheue Edelgase tragen auf den Schildern vor dem Leib ein He für Helium und Ne für Neon, einsam stehen sie neben der Tanzfläche. Zwei Wasserstoffe tanzen um den Sauerstoff herum. Die unedlen Metalle, Natrium und Magnesium, sprengen den Pas de trois des Wassers und geraten mit den dreien aneinander. Eisen tanzt mit jedem. Wasserstoffe irren rastlos durch den Saal. Und als der Kohlenstoff eintritt, der Star unter den Elementen, werfen alle sich an seinen Hals und wollen bei ihm sein, die Wasserstoffe und die Sauerstoffe. Aber auch die anderen Kohlenstoffe, die schon da sind, stürmen auf den Kohlenstoff zu. Wären die Eltern dieser Jugend früher zu »Chemical Parties« eingeladen worden, hätten sie Designerdrogen mitgebracht. Für sie war die Chemie an sich kein Grund zum Feiern, sondern die Geheimlehre der Gifte, an denen die Welt zugrunde gehen würde.

Aus der bösen ist wieder die fröhliche Wissenschaft geworden, die sie für die Großeltern vor fünfzig Jahren war. Nur dass wir heute klüger sind als damals, als die Beatles die Lysergsäure in »Lucy In The Sky With Diamonds« besangen und die DDR den volkseigenen Industrien ihr Chemieprogramm verordnete: »Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit«. Klüger sind wir, weil wir jetzt den Preis kennen. Vor allem sind wir klüger, weil wir wieder wissen, dass unsere Kultur und die Natur keine zwei Sphären sind, die sich berühren mögen aber nie vereinen können: Sie sind eins.

Der Mensch ist ein organisches System aus Molekülen, ein lebendiger Reaktor, um Erkenntnisse zu produzieren. Die Materie ist die Mutter jeder Welterkenntnis. Es braucht, wie Feuilletonisten sagen würden, nur ein anderes, ein neues Narrativ. Im Jahr 2019 wird es 150 Jahre alt, das periodische System der Elemente. Dmitri Mendelejew hat es 1869 aufgestellt, er war kein wirrer Russe, der die Elemente willkürlich für seine Schüler tabellarisch katalogisiert hat. Sein System ist keine Karte, die sadistische Chemielehrer in ihre Klassenräume hängen, um die Schüler zu traumatisieren. Was da hängt, ist zwar kein Gottesbeweis, aber ein Zeugnis dafür, dass der Himmel auch nie leer war. Eine Grafik, ein Modell des Seins wie jede Tonleiter die Töne sinnvoll ordnet und das Alphabet die kleinsten Teilchen unserer Sprache, um sie zu verstehen. Das Periodensystem ist Poesie. Seine Kulturgeschichte ist elementar. Hier ist sie.

Zwei

Der Sibirische Prophet

Ein Traum, eine Ordnung der Welt und der Mensch als Schöpfer der Natur.

Am 1. März des Jahres 1869 bringt Dmitri Mendelejew in Sankt Petersburg die Welt in Ordnung. Wegen des julianischen Kalenders, der in Russland gilt, schreibt Mendelejew den 17. Februar. Er sitzt an seinem Schreibtisch in der Universität. Ein 35-jähriger Chemieprofessor, der, sobald es Frühling wird, sein Haar und seinen Bart vom Schäfer scheren lässt und dies dann erst wieder im nächsten Frühjahr machen lassen wird. Bilder zeigen ihn als Rasputin der Elemente. Es sind unsere Russlandbilder, die ihn zu einem sibirischen Schamanen machen, zu einem Kalmücken oder Tschuktschen, dem sich die Natur noch auf geheimnisvolle Weise offenbart. Es gibt entsprechende Legenden zu den Bildern: Mendelejew soll als Wunderheiler durch das Riesenreich gereist sein und den sterbenskranken Zarensohn mit einem Elixier gerettet haben.

1869 wartet er auf einen Pferdeschlitten, der ihn zum Moskauer Bahnhof bringen wird, von wo er mit der Eisenbahn nach Twer fahren und Vorträge vor Milchbauern und Käsefabrikanten halten soll. In Twer, 500 Kilometer südlich von Sankt Petersburg, besitzt der Chemiker ein Landgut seit die Leibeigenschaft 1861 abgeschafft und Grundbesitz erschwinglich wurde. Wie der aufgeklärte Gutsherr Konstantin Ljewin in Leo Tolstois »Anna Karenina« und wie der weitsichtige Biobauer heute startet Mendelejew seine eigenen Agrarreformen. Landwirtschaft durch Naturwissenschaft, Fortschritt zum Wohl des Volkes. Der Professor aus St. Petersburg berät auch die Petrolförderer am Kaspischen Meer. Auch Russland wird zu einer Industrienation mit Öl und Düngemitteln. Überall finden sich Menschen, die den überhitzten Zeitgeist zähmen und alles in Formen zwingen, um der Welt und ihres Wissens wieder Herr zu werden. Die Evolution des Lebens, die Gesetze der Genetik und die Phänomene der Elektrik.

Für die Stoffe fühlt sich Dmitri Mendelejew aus Tobolsk in Ostsibirien zuständig. Abzüglich aller damals zweifelhaften Elemente und aller Substanzen, deren Eigenarten auf verbundene oder vermischte Elemente hindeuten, zählt er im Winter 1869, als er auf den Schlitten wartend über seinen Schriften brütet, 63 Elemente. Von Eisen und Kupfer, aus denen die menschliche Kultur geschmiedet und gegossen wurde, bis zu Cäsium und Rubidium, die sein Heidelberger Lehrer Robert Bunsen acht Jahre zuvor im Spektrum eines Mineralwassers entdeckt hatte. Die 63 Elemente, weiß er, unterscheiden sich in den Gewichten ihrer Grundbausteine, in den relativen Massen der Atome mit der Maßeinheit des leichtesten Atoms, des Wasserstoffs. Dass es Atome gibt, ist 1869 immer noch ein Postulat. Der Grieche Demokrit, der lachende Vorsokratiker, nahm es um 400 vor Christus jedenfalls an. Der Engländer John Dalton kam um 1800 im Labor bei seinen Untersuchungen der Luft und aller anderen Gase, die er fand, darauf zurück. Als Mendelejew seine 63 Elemente nach ihren Atomgewichten ordnet, pflegt der Physiker und Philosoph Ernst Mach, jedem, der ihm, wo immer er gerade lehrt, in Wien, Graz oder Prag, mit den Atomen kommt, zu fragen: »Haben S’ schon mal eins g’sehen?«

Mendelejew hat noch kein Atom gesehen, aber er sieht seine lange Liste, die mit Wasserstoff anfängt und mit Blei aufhört. Er kennt seine Elemente. Seit Anfang des Jahres 1869 lesen die Studenten seine »Grundlagen der Chemie«, im ersten Band, über die Halogene Fluor, Chlor, Brom und Jod. Es ist das erste Lehrbuch der »Reinen Chemie«, wie Mendelejews Lehrstuhl für die anorganische Materie heißt, auf Russisch. Nun schreibt er am zweiten Band über die Elemente, mit denen die Halogene ihre Salze bilden: die Alkalimetalle Lithium, Natrium, Kalium, Rubidium und Cäsium. Das Kapitel ist zum Wochenende fertig, vor der Fahrt nach Twer am Montag zu den Molkereien. Mendelejew, hier beginnt der Mythos, weiß nicht weiter in der Systematik seines Lehrwerks. Er grübelt die Nächte durch. Am Montag morgen legt er unter Zeitdruck noch einmal die 63 Spielkarten, die er mit den seit über 50 Jahren üblichen Symbolen für alle 63 Elemente beschriftet hat, wie Patiencen vor sich hin. Darüber nickt er ein und träumt das Periodensystem der Elemente. Alles fügt sich zur Tabliza Mendelejewa, so nennen es die Russen heute noch, nach 150 Jahren.

Als Dmitri Mendelejew, der Messias der Materie, wieder erwacht, notiert er seine Ordnung auf der unbeschriebenen Rückseite eines Briefs, den ihm der Erste Sekretär der frisch gegründeten Agrargenossenschaft aus Twer geschickt hat. All das existiert: Der Brief aus Twer mit Mendelejews Handschrift und dem Abdruck seiner Teetasse als Stempel, der das Dokument beglaubigt, sein gewaltiger Schreibtisch und der schwere Sessel, seine Brille und der Federhalter sind in seiner Wohnung in der Universität verwahrt, auf der Sankt Petersburger Wassilewski-Insel in seinem Museum. Alles da, molekular und atomar. So stofflich wie die Stadt Peters des Großen aus dem Gold Sibiriens, das die Dachdecker als Amalgam mit Quecksilber auftrugen und sich mit den Giftdämpfen ihre Gesundheit ruinierten, und dem weißen Marmor aus den Kalksteinbrüchen auf der Krim. Sankt Petersburg war, als Chemie noch Alchemie war, Russlands Anschluss an Europa. Auf der Wassilewski-Insel wurde die Kultur des Kontinents zu Stein. Zur Kunstakademie und zur Akademie der Wissenschaften, zu Palästen, Kirchen und zur Universität, die Mendelejew 1867 zum Professor der reinen Chemie berief und 1890 zwangsemeritierte, weil er sich weder dem Herrn verpflichtet fühlte noch dem Zaren, sondern ausschließlich der Welterkenntnis und dem anarchistischen Materialismus. Bis zu seinem Tod zehn Jahre vor der russischen Revolution mit ihrem Schießpulver und den sozialen Kettenreaktionen, die das 20. Jahrhundert prägen sollten.

Mendelejews rotes Haus im hanseatischen Barock beherbergt seine Dinge, seine Möbel, seine Bücher. Über allem schwebt ein Ölgemälde in so düsteren Farbtönen, als wären Kobalt, Chrom und Cadmium damals noch nicht bekannt gewesen. Man muss Mendelejews Blick nur standhalten, um sich hinter dem heiligen Zorn, den ihm die Biografen nachsagen, den heiteren Menschen vorzustellen, der er sein musste, um Gott aus der Genesis zu vertreiben und das Universum nach Zeilen und Spalten zu sortieren. Es gibt überhaupt die schönsten Bilder von ihm. Wer genauer in das Silber der Fotografien hineinschaut, sieht nicht das Schamanische darin, sondern den rationalen Geist. Gern rauchend. Das berühmteste der Bilder lässt sich nun in aller Ruhe ganz profan bei Wikipedia betrachten. Mendelejew sitzt gebeugt an seinem Schreibtisch, dem Altar seines Museums, unter seinen eigenen Ikonen: Da hängt Isaac Newton, dem der Apfel der Erkenntnis die Gravitation bescherte, aber auch den Aberglauben an die Alchemie: »Ich aber kannte diese Kunst und Wissenschaft allein durch Gott, dem es gefiel, sie seinem Diener und dessen Verstand zu offenbaren.« Da hängt Galileo Galilei, der Nestor der Naturwissenschaften. Da hängt Michael Faraday, der Gase aller Art verflüssigte und Elektronenströme durch mit Kupferdraht umsponnene Eisenringen fließen ließ. Da hängt René Descartes, der Vater der Vernunft. Er trennte Leib und Seele voneinander – und damit auch die Natur von der Kultur, was Mendelejew im Periodensystem wieder in eins setzt. Es ist die Natur im menschlichen Gehege der Kultur.

Was das Museum noch erzählt: Dmitri Mendelejew pflegt neben der tabellarischen Struktur des Seins die für einen Professor seltene Passion des Koffernähens. Im Museum stehen große Koffer, kleine Koffer, fertige und unfertige Koffer, da liegt Leder für die Koffer und daneben Sattlerwerkzeug für die Koffer. Als wäre nichts wichtiger am Vorabend einer Moderne, deren Bauplan Mendelejew in Sankt Petersburg entwirft, als viele Koffer für das durch eine globalisierte Welt zu tragende Gepäck. Der Schreibtisch auf den Bildern zeigt die Unordnung, die Entropie des Zeitgeistes. Die Koffer stehen für die Ordnung. Im Periodensystem ist alles, wo es hingehört, so schön verstaut und aufgeräumt, dass man sich heute fragt, wie es der Mensch zuvor im Chaos ausgehalten hat. Wie andere Geistesblitze durch die Botenstoffe der Neuronen im gesunden Menschenverstand, das heliozentrische System des Himmels oder das System der lebenden Arten, ist es 1869 plötzlich da wie eine Gottesbotschaft. Gut, dass es Geschichten dazu gibt, an die man glauben kann: Die 63 Karten, mit denen der Weise von Tobolsk die Schöpfung nachspielt wie ein müder Pendler heute auf dem Smartphone seine Solitaire-Reihen hin- und herschiebt, sind nur als Repliken seiner Kuratoren überliefert. Die Legende, sein System sei ihm im Traum erschienen, geht auf ihn zurück. »Im Traum«, so schreibt es Mendelejew später nieder, »sah ich einen Tisch, auf dem sich alle Elemente wie erforderlich zusammenfügten.«(1) Er wacht auf und hält ihn fest, den Traum, auf seinem Briefpapier, das im Museum zu bewundern ist.

Für solche feierlichen Anlässe spart sich die Menschheit ihre Mythen auf. Die Relativitätstheorie soll Albert Einstein im Schlaf überwältigt haben. August Kekulé soll es mit dem Benzolring so ergangen sein wie Louis Agassiz mit dem fossilen Urfisch, Paul McCartney mit seiner Jahrhunderthymne »Yesterday« oder Nils Bohr, sechs Jahre nach dem Tod von Mendelejew, mit dem ersten brauchbaren Atommodell. Das Periodensystem liegt, als es zur Welt kommt, auch noch auf der Seite, mit dem Wasserstoff nach links. Das Quecksilber findet sich in der falschen Gruppe wieder, bei Silber und Kupfer, Gold und Aluminium. Aber das System ist klar, oder, wie Mendelejew es bereits in seinen frühesten Schriften formuliert hat: »Das Gebäude einer jeden Wissenschaft erfordert nicht nur Material, es braucht auch einen Plan.« Ihm ging es immer um »Prinzipien« und um »Symmetrien«, so seine am liebsten zu Papier gebrachten Worte.

Seine Lebensleistung sind die Fragezeichen im System, die Leerstellen zwischen den Elementen. Mendelejew lässt zwischen Silizium und Zinn einen Platz frei, nach Aluminium ebenfalls. Eka-Silizium und Eka-Aluminium nennt er die beiden Elemente, die er der Chemie in Aussicht stellt. Eka, das Jenseits im Sanskrit. Er schreibt schon einmal die Atomgewichte zu den Fragezeichen, er legt sich auf ihre Eigenschaften fest. Ein Halbmetall und ein Metall von eher geringer Dichte. Als die Russisch-Chemische Gesellschaft im März 1869 tagt, verliest er seinen Aufsatz »Über die Beziehungen der Eigenschaften zu den Atomgewichten der Elemente«, der wiederum kurz darauf in deutscher Sprache in der »Zeitschrift für Chemie« erscheint. Unter Punkt sechs verkündet er: »Es ist die Entdeckung noch zahlreicher unbekannter einfacher Körper zu erwarten.« Seine Prophezeiung liegt sechs Jahre lang über dem Periodensystem wie ein Fluch. Die Ordnung wird von Mendelejews Konkurrenten und Kollegen angezweifelt und verspottet, seine Beiträge erscheinen unter vorsichtigen Überschriften: »Ein mutmaßliches System der Elemente« heißt der nächste Aufsatz für die Russisch-Chemische Gesellschaft. »Ein Versuch eines Systems der Elemente« nennt er das Kapitel in der ersten Auflage des zweiten Lehrbuchs seiner »Grundlagen« im Frühjahr 1869.

1875 meldet die Akademie der Wissenschaften in Paris, ihr Mitglied Paul Émile Lecoq de Boisbaudran habe im Zinksulfit aus einem Bergwerk in den Pyrenäen ein dem Aluminium verwandtes Element entdeckt und sein Atomgewicht ermittelt. Gallium, wie Lecoq es nennt, ist leichter, als von Mendelejew vorausgesagt. Der Russe schreibt einen empörten Brief nach Frankreich mit der Forderung, das Element zu reinigen und neu zu wiegen. Das Ergebnis: Gallium ist genauso schwer, wie Mendelejew prophezeit hatte. Es schmilzt, wenn man es in die Hand nimmt. 1879 schließt der Chemiker Lars Nilson an der Universität von Uppsala in Schweden eine weitere Lücke im System, als er das Scandium findet. Das Eka-Silizium taucht 1886 an der Bergakademie in Freiberg auf. Der Deutsche Clemens Winkler fördert es aus einem regionalen Erz zutage und nennt es Germanium. Gallium, Scandium und Germanium: Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Nationalstaaten und der Identitätsromantik. In der folgenden Auflage der »Grundlagen« lässt Mendelejew seine drei fernen Gehilfen sogar gütlich als »Verstärker des periodischen Gesetzes« abbilden. Er hängt sie sich zwischen die Hausheiligen in sein Arbeitszimmer, da sind sie noch immer. Draußen am Museum stellt eine Tabliza Mendelejewa die drei Beweise ihrer Gültigkeit in Sandstein aus. Der Wasserstoff schwebt oben, sie steht aufrecht mit den Edelgasen links.

Mit Argon und seinen Verwandten hatte Mendelejew nicht gerechnet. 1894 taucht das erste Edelgas im Londoner Labor von William Ramsay auf. Dem Argon folgen Helium, Neon, Krypton, Xenon – dem System fehlt eine ganze Spalte für eine Familie von Elementen. Mendelejew setzt wieder seine gereizten Briefe auf, die Ramsay umso freundlicher erwidert, bis die Tafel kurzerhand um eine Stoffgruppe zwischen den Halogenen und Alkalimetallen erweitert wird. Auf wunderbare Weise fügen sich die Edelgase in die Karte der Materie, als hätte Mendelejew sie so postuliert wie seine Eka-Elemente. Bei ihm, an seinem Museum links und nach ihm, in allen Chemieräumen, Laboratorien und Hörsälen, rechts. Weil das Periodensystem aber, wenn es sich räumlich vorstellt, ein Zylinder ist, eine Spirale wie die Helix unserer Erbanlagen, können die genügsamsten der Elemente sich die Seite aussuchen, auf der sie stehen möchten.

Friedrich Engels setzte Dmitri Mendelejew als Propheten gleich mit Urbain Le Verrier. Der Astronom hatte im Nachthimmel über Paris die Bahnen der Planeten so lange verfolgt, bis er sich 1846 sicher war, dass es noch weitere Planeten geben musste. Er berechnete die Position des Neptuns, wo der neue Himmelskörper vom Refraktor der Berliner Sternwarte dann auch entdeckt wurde. Deswegen wollte Clemens Winkler sein Germanium eigentlich Neptunium nennen. Das Neptunium folgte schließlich 1939, als der Chemiker Glenn Seaborg an der Universität in Berkeley die Grenzen des natürlichen Periodensystems sprengte und Uran, benannt nach dem Planeten Uranus, so lange mit Neutronen beschoss, bis aus dem 92. »einfachen Körper«, Mendelejews schwerstem Element, ein 93. entstehen konnte. Hätte Friedrich Engels noch erlebt, wie Albert Einstein 1916 die Gravitationswellen vorhersagte, die weitere hundert Jahre später durch Signale zwischen Schwarzen Löchern nachgewiesen wurden, wären sie zu dritt gewesen. Einstein, Le Verrier und Mendelejew.

Es sind nicht nur drei Propheten, die dem Menschen seine wundersame Welt erklären konnten und es anderen überlassen mussten, ihre Fantasien zu beweisen. Es ist nichts Messianisches. Es ist die menschliche Vernunft, die Geistesgröße des vernunftbegabtesten Geschöpfs und die Chemie seines Gehirns. Das Periodensystem von Mendelejew ist eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Vielleicht hat er das Atom ja doch gesehen, bevor Ernest Rutherford, zwei Jahre nachdem Mendelejew in Sank Petersburg beerdigt wurde, eine Goldfolie mit Alphateilchen bombardierte und erkannte, dass Atome kleine Kerne haben müssen, weil die meisten seiner Teilchen durch das Gold wie durch ein Nichts hindurchgingen. Das Nichts ihrer Atomhüllen. Wieder zwei Jahre später kam der visionäre Mystiker Niels Bohr mit seinen Schalen, auf denen die Elektronen kreisten. Henry Mosley röntgte die Atomkerne und wies den Elementen aus den Spektren ihre Ordnungszahlen zu. Die Quantenphysiker der Zwanzigerjahre sorgten dafür, dass der Weltgeist in die Gruppen und Perioden des Systems einzog. Damit wurde es amtlich.

Es war wiederum der Chemophysiker Glenn Seaborg – ihm sind einige der höheren Elemente zu verdanken, Seaborg hat sie nicht entdeckt, sondern erschaffen –, der aus Einsteinium, dem 99., das 101. Element gewann und dessen fünf Atome, die dabei entstanden, Mendelevium nannte. Im Labor in Berkeley, 1955. Einsteinium war drei Jahre zuvor beim Test der Wasserstoffbombe auf dem Eniwetok-Atoll gefunden worden. Seaborgs Mendelevium entstand durch den Beschuss mit Heliumkernen. In »Adventures in the Atomic Age«, seinen bescheidenen Memoiren von 2001, erzählt er, wie die Kerndesigner ihre Transurane nach dem Periodensystem herstellten und stolz waren, wenn die Prognosen zu den Eigenschaften eintrafen. Dass Mendelevium existiert, aber so flüchtig und in so geringen Mengen, dass es hypothetisch bleibt wie seine Salze, die es laut Periodensystem bilden müsste, hätte Mendelejew gefreut. Ihm wäre auch die »kühne Geste« nicht entgangen, von der Seaborg schreibt, im Kalten Krieg als Amerikaner ein neues Atom nach einem alten Russen zu benennen.

All das aber war nichts mehr gegen jenes Loch, das sich bis 1937 in der Mitte des Periodensystems zwischen den gewöhnlichen Metallen auftat, auf Platz 43. Das Eka-Mangan, schräg unter Chrom und Eisen, wurde 1877 erstmals präsentiert, als Davyum. Davyum war irgendwas, aber kein neues Element, auch Lucium, Nipponium und Masurium waren nicht die 43, für die man sie hielt. Erst 1937 kam die Isotopenforschung darin überein, dass es das Element auf Erden gar nicht geben könne, weil es weniger stabil sei als die Erde alt. Emilio Segré gewann es in Palermo durch Beschuss von Molybdän und nannte es Technetium, das erste technisch hergestellte Element. Es hätte auch Kulturium heißen können. Oder Homium, nach dem Menschen, der bewiesen hatte, dass er die Materie, die Schöpfung, nicht nur vorfindet, sondern auch selbst erschafft nach der Tablitza, seinem Plan. Warum? Weil er es kann.

So geht es seither immer fort. Nachdem am Vorabend des Zweiten Weltkriegs der Berliner Otto Hahn herausgefunden hatte, dass sich Elemente spalten lassen und Uran zu Barium zerfallen kann, stellte Glenn Seaborg auf der anderen Seite, in Amerika, die ersten Transurane her, Neptunium und Plutonium. Sein Mendelevium war 15 Jahre später dann das erste Element, das nicht nur künstlich hergestellt wurde wie seine älteren Geschwister im Periodensystem, wie Einsteinium und Fermium: Es wurde gezüchtet. Jedes seiner ersten fünf Atome ein Homunkulus wie im Laboratorium des Doktor Faustus. Endlich hatte Dmitri Mendelejew – der ein Jahr vor seinem Tod für den Nobelpreis nominiert war und ihn nicht bekam, was unter Chemiker noch heute als Tragödie beklagt wird –, nach so vielen Physikern wie Bohr und Rutherford, sein eigenes Element. Ein herrlich unnützes.

Heute ist auch die siebte Periode voll. 2006 wurde in Dubna, wo schon die Sowjetunion ihre Atomkerne verschmolz und spaltete, das Ununoctium synthetisiert, das 118. Das letzte Element heißt seit 2016 amtlich Oganesson, es wurde nach Juri Oganesjan benannt, dem Institutsleiter. Ein Russe schließt das Mendelejewsche System mit einem Edelgas. Es sollte erst Moscovium heißen. Zu Moscovium wurde dann das Ununpentium, das Eka-Bismut mit der Nummer 115, das 2006 aus Americium und Kalzium erzeugt wurde. Moscovioum wiederum, damals noch Ununpentium, hätte nach einer Petition 2016 Lemmium heißen sollen. Mehr als 40 000 hatten auf der Seite change.org unterschrieben. Lemmy Kilmister, der Sänger und Bassist von Motörhead, war kurz zuvor verstorben. Lemmium wäre in der Tat der ideale Name für ein neues Superschwermetall gewesen. Nicht nur weil sich Motörhead als Mutter aller Metalbands mit Liedern über Feuer, Elektrizität, Metallurgie, Ozon, Amphetamin, Gift und »Red Raw«, das scharlachrote Salz Karmin, um die Chemie verdient gemacht hat. Niemand hat den Tod als stoffliche Verwandlung tröstlicher vertont als Lemmy. »Dead Men Tell No Tales«, »Stone Dead Forever«, »Dead And Gone«, »Better Off Dead«: Es gibt kein Leben nach dem Tod. Es ist viel schöner: Die Atome bleiben in der Welt, sie bilden neue Moleküle um die Hinterbliebenen herum und vielleicht sogar in ihnen, wer weiß.

Hätten sie Dmitri Mendelejew in den Achtzigern des 21. Jahrhunderts, als die säkularen Todestrostlieder von Lemmy Kilmister entstanden, vor ein Rastertunnelmikroskop gesetzt und ihm das Helium-, das Lithium- und das Berylliumatom gezeigt, wäre er auch nicht glücklicher gewesen. Er hätte davor gesessen wie vor seinem eigenen Museum auf dem Sockel seines Denkmals. Der gelassene Denker, der da sitzt, ist sich dessen bewusst, dass seine Tafel kein geschlossenes System ist. Nicht einmal nach 118 Elementen. Ununnennium ist bereits in Arbeit, das erste Alkalimetall der achten Periode.

Das Periodensystem besteht aus Papier, aus Porzellan, wenn es auf einer Kaffeetasse steht, oder aus Baumwolle auf einem Shirt. Der Mensch ordnet die Welt und gibt ihr einen Sinn.

Drei

Vom Feuer zum Himmel

Höhlenbilder, erste Elemente, nutzlose und nützliche Metalle und die Welt des Homo chemicus.

Wenn ich als Kind versuchte, mir den ersten Menschen vorzustellen, sah ich keinen nackten Mann im Paradies mit einem Feigenblatt im Schritt. Ich stamme aus einem entschieden wissenschaftsgläubigen Atheistenhaushalt. Ich sah einen pelzigen Schrat wie in den herrlichen Paläomalereien Zdenek Burians. Der erste Mensch trat vor die Höhle, sah sich um und dachte: »Überall, wo man auch hinschaut, Zeug aus lauter Stoff.« Noch stand er mittendrin in der Natur. Als er das Feuer zähmte, wurde er zu einem kulturellen Wesen, das die Stoffe, aus denen die Welt besteht, verwandeln konnte. Er verbrannte Bäume. Er zermahlte Samen, formte Teig und backte Brot. Er garte Tiere. Er wurde zum Homo chemicus, der Eiweiße verdaulich zubereiten und sein Großhirn wachsen lassen konnte, um das Universum zu erkennen und Systeme aufzustellen. Aus dem stolzen Bäcker wurde Abertausende von Jahren später ein neurotischer Gluten-Allergiker. Und aus dem Menschen, der das Feuer hütete, wurde ein Künstler, der zunächst einmal mit den verkohlten Holzstücken zurück in seine Höhle ging und seine Sicht der Dinge an die Wände malte. Er hatte den Kohlenstoff entdeckt.

6C

Der Kohlenstoff der Steinzeit war die Holzkohle, die in den kalten Feuerstellen lag, und das verbrannte Fleisch, in dem sich auch die ersten Aromaten sammelten, um Krebszellen zu bilden. Dass der Kohlenstoff das Element des Lebenskreislaufs ist, konnte der Mensch damals nicht ahnen. Vielleicht fand er einmal einen schwarzen Felsbrocken, den er zum Glühen bringen konnte, einen grauen Erdklumpen, mit dem er schönere Striche zeichnen konnte als mit den verkohlten Hölzchen aus dem Herd, und einen unscheinbaren Stein, den er nicht spalten konnte. Er wusste von Steinkohle, Graphit und Diamant so wenig wie davon, dass es ihn ohne Kohlenstoff nicht gäbe und dass Kohlenstoff ein Element ist, ein elementarer Baustein der Materie. Wer die Welt betrachtet wie der erste Mensch, kann keine Elemente sehen. Ihm geht es wie Jesse Pinkman in der Serie »Breaking Bad«, als Walter White ihn nach dem Element fragt, das als Stromleiter berühmt sei (es ist Kupfer). »Draht«, sagt Jesse.

In der Bibel kommt die Kohle vor, so heißt es im Buch Jeremia: »Der König aber saß im Winterhause vor dem Kohlenbecken; denn es war im neunten Monat. Sooft nun Jehudi drei oder vier Spalten gelesen hatte, schnitt er sie ab mit einem Schreibermesser und warf sie ins Feuer, das im Kohlenbecken war, bis die ganze Schriftrolle im Feuer verbrannt war.« In den Büchern Hesekiel und Mose wird der Diamant erwähnt wie in griechischen Schriften und der hinduistischen Veda. Kohlenstoff wurde verfeuert, um zu heizen und den Räucheraltar anzufachen, Kohlenstoff wurde, ohne zu wissen dass es sich um Kohlenstoff handelt, als Edelstein gefeiert. Ruß war im Mascara, dem Make-up der Schönheit und der Sünde. Er muss überall gewesen sein, schon »weil er jedem alles zu sagen hat, er ist nicht spezifisch, so wie Adam kein spezifischer Vorfahr ist«, wie Primo Levi schreibt, der Chemiker und Schriftsteller, in seinen Memoiren »Das periodische System«.