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Verlagstext

Die Schwulenbewegung der 1970er Jahre kämpfte für die Befreiung der Sexualität. Mit dem Auftreten von HIV und Aids geriet sie in die Defensive. Der «Lebensstil der Homosexuellen» wurde für die Verbreitung der tödlichen «Schwulenseuche» verantwortlich gemacht. Dagegen hat Martin Dannecker von Beginn an Stellung bezogen, immer wieder die dramatischen Einschnitte in die sexuelle Freiheit analysiert und dabei an seinem sexualitätsbejahenden und emanzipatorischen Standpunkt festgehalten.

Heute kann eine HIV-Infektion in Schach gehalten werden, hat sich Aids zu einer behandelbaren Krankheit entwickelt, ist das Infektionsrisiko durch die Kombitherapien und PrEP deutlich gesunken. Und doch haben HIV und Aids die Sexualität, nicht nur die homosexuelle, spürbar verändert. In der Rückschau legen Danneckers hier versammelten, oft provokativen Eingriffe in die Debatten den längst verschütteten Anteil offen, den HIV und Aids an den gegenwärtigen sexuellen Verhältnissen haben. Und sie zeigen einen engagierten Wissenschaftler, der sich dem Druck der «Normalisierung» widersetzt und die Freiräume der Subjekte verteidigt.

Über den Autor

Martin Dannecker, geboren 1942, gehört zu den Pionieren der Schwulenbewegung. Er war an Rosa v. Praunheims Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers …» (1971) beteiligt; seine mit Reimut Reiche durchgeführte Studie «Der gewöhnliche Homosexuelle» (1974) veränderte die öffentliche Wahrnehmung schwuler Männer. Dannecker lehrte von 1991 bis 2005 als außerordentlicher Professor am Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Universität Frankfurt /M. und publizierte zahlreiche Aufsätze und Bücher. Er lebt seit einigen Jahren in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch «Faszinosum Sexualität. Theoretische, empirische und sexualpolitische Beiträge» (2017).

Martin Dannecker

Fortwährende Eingriffe

Aufsätze, Vorträge und Reden zu AIDS und HIV

aus vier Jahrzehnten

Mit einem Nachwort von
Clemens Sindelar & Karl Lemmen

Männerschwarm Verlag

Berlin 2019

Inhalt

Verlagstext

Über den Autor

Inhalt

Vorbemerkung

Rosa wird evangelisch. Offener Brief an Rosa von Praunheim – 1985 –

AIDS und die Homosexuellen –1986

Offener Brief an Rudolf Augstein – 1986

Sexuelle Liberalisierung und AIDS – 1987

Sexualität und Aids – 1988

Sexualität und Verhaltenssteuerung am Beispiel der Reaktion homosexueller und bisexueller Männer auf Aids – 1990

«Der homosexuelle Mann im Zeichen von Aids» – 1991

Der Aids-Hilfe-Komplex – 1991

Safer Sex im Liebesfall – 1994

Nein sagen zu Aids – 1996

Dem Sinnlosen Sinn abgewinnen. Die Bedrohung durch Aids bleibt bestehen, sie wird nur anders wahrgenommen. Ein Gespräch mit Martin Dannecker – 1996

Aids-Zeiten – 1998

Erosion der HIV-Prävention? – 2002

Rede zum Gedenken an Hans Peter Hauschild – 2003

Abschied von Aids – 2005

HIV-Prävention in der Krise? – 2007

Machen die Pillen frei? – 2012

Die Zeit der Trauer – 2012

Bilder von Aids – 2016

Keine Rechenschaft für Leidenschaft. Zum Umgang mit Sexualität im Verband – 2016

Zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der DAH – 2017

Nachwort

Anhang

Über den allgemeinen Umgang mit AIDS Eine Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung – 1984

Literaturverzeichnis

Impressum

Vorbemerkung

Am 5. Juni1981 wurde in den Vereinigten Staaten ein kurzer Bericht publiziert, in dem über eine ungewöhnliche Konstellation von Pilzinfektionen und einer seltenen Lungenentzündung bei fünf jungen homosexuellen Männern informiert wurde. In einem Kommentar zu diesem Bericht vermuteten die Herausgeber einen Zusammenhang zwischen dem neuen Krankheitsbild und einigen Aspekten des homosexuellen Lebensstils.

Schon vier Wochen später erschien in der New York Times ein Artikel mit der Überschrift «Rare Cancer Seen in 41 Homosexuals», in dem betont wurde, dass die Mehrheit der Erkrankten häufig sexuelle Kontakte mit verschiedenen Männern gehabt hätte. Wie bei allen neuen Krankheitsbildern tauchte auch in diesem Fall die Frage nach einer möglichen Ansteckung auf. Wohl in der Absicht, die Bevölkerung zu beruhigen, ließ die Gesundheitsbehörde der Vereinigten Staaten verlauten, dass nicht von einer Ansteckung auszugehen sei, da dieses Krankheitsbild und sein besorgniserregender Verlauf (mehrere der Patienten waren kurze Zeit nach der Diagnosestellung verstorben) nur unter homosexuellen Männern beobachtet worden sei.

Ende des Jahres 1981 wurde das neue Krankheitsbild mit dem Akronym GRID (Gay Related Immune Deficiency) bezeichnet und damit zu einer Schwulenkrankheit gemacht. Diese Bezeichnung wurde, nachdem dieses Krankheitsbild auch bei einigen Drogengebrauchern und Frauen auftrat, Mitte 1982 durch das Akronym ‹AIDS› (Aquired Immune Deficiency) ersetzt. Heute steht ‹Aids› als ein gewöhnliches Wort im Duden.

Obwohl für jeden vernünftig Denkenden von Anfang an klar war, dass die Vorstellung einer nur homosexuelle Männer befallenden Krankheit ein Trugbild sein musste, das auf mehr oder weniger bewussten antihomosexuellen Straffantasien beruhte, hat sich die Gleichsetzung von Aids mit Homosexualität in vielen Köpfen der westlichen Welt für lange Zeit eingenistet. Verstärkt wurde diese Verlötung durch die bald eingeführten epidemiologischen Register, die zeigten, dass sich Aids sowohl in den USA als auch in Europa vor allem unter homosexuellen Männern ausbreitete.

Mit einer gewissen Verzögerung kam Aids, und der Rumor über diese Krankheit, auch hierzulande an. 1983 setzte die von Angst beherrschte Debatte über die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen von Aids voll ein und beherrschte für mehrere Jahre das öffentliche Bewusstsein. Beispielhaft dafür war ein Spiegel-Titel vom 6. Juni 1983 und dessen Aufmacher. In diesem hieß es: «Die Homosexuellen-Seuche ‹AIDS›, eine tödliche Abwehrschwäche, hat Europa erreicht. Mindestens 100 Deutsche sind bereits erkrankt, sechs in den letzten Wochen gestorben. Die Ärzte sind ratlos: Über die Ursache wird nur spekuliert, eine Behandlung gibt es nicht. In den nächsten zwei Jahren wird die Zahl der ‹AIDS›-Kranken drastisch zunehmen.»

Die grassierende Angst trieb die Hochrechnungen an. Bald war von 600.000 Infizierten oder mehr die Rede. Doch diese Hochrechnungen waren keine, sondern nur schlecht begründete Schätzungen. Als sich auch amtliche Stellen wie das Bundesgesundheitsamt an den angstmachenden Spekulationen beteiligten, habe ich eine hier im Anhang dokumentierte öffentliche Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) angeregt. Erschienen ist diese gemeinsam mit meinen sexualwissenschaftlichen Kollegen verfasste Erklärung «Über den allgemeinen Umgang mit AIDS» im November 1984.

Die grassierende und medial unterfütterte Angst vor Aids beschränkte sich keineswegs auf die Angst, an Aids zu sterben. Angst hatten die Menschen auch vor der Offenbarung ihrer Sexualität und der damit einhergehenden Stigmatisierung, die im Moment des Nachweises einer HIV-Infektion in Gang gesetzt wurde. Von Anfang an war Aids nicht nur eine schwere Erkrankung. Aids war auch ein Zeichen für ein angeblich falsch gelebtes Leben. Aids war von wuchernden Bildern umstellt, die ausgrenzend wirkten. Aids war eine Metapher für die Folgen einer nicht normgerecht gelebten Sexualität. Aids wurde eng mit einem unkonventionellen Lebensstil verknüpft. An Aids erkrankten, abgesehen von Hämophilen, vor allem gesellschaftlich Marginalisierte oder solche, die sich mit diesen zu eng eingelassen hatten. Nachgewiesen wurde das Aids verursachende Virus im Blut, im Schweiß, im Sperma und in Tränen. Alles Stoffe, aus denen die Mythen und die Leidenschaften gewebt sind. Um die Ausbreitung von Aids zu verhindern, so meinten bald die Hardliner der Aids-Prävention, müssten diese Antriebe eingehegt, ja bekämpft werden. Auf dem Spiel standen folglich nicht weniger als die Errungenschaften der sexuellen Liberalisierung.

Seit Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat mich «Aids» sozusagen nicht mehr losgelassen und ich habe darüber mit vielen diskutiert, aber auch gestritten, und einiges dazu publiziert. Eine Auswahl meiner zahlreichen öffentlichen Äußerungen zu Aids und HIV ist in diesem Band versammelt. Soweit es mir erforderlich schien, habe ich die Kontexte ihrer Entstehung in den vorangestellten editorischen Notizen erläutert. Außerdem wurden die Texte redaktionell überarbeitet – sie stimmen also nicht Wort für Wort mit den angegebenen Erstveröffentlichungen überein.

In den Texten finden sich unterschiedliche Schreibweisen von Aids. In den älteren wird zumeist das Akronym AIDS verwendet. Dieses Akronym steht in einem gewissen Zusammenhang mit der exzeptionellen Phase im Umgang mit dieser Erkrankung. Doch schon vor der «Normalisierung von AIDS» Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts taucht in vielen Texten, so auch in meinen, bereits die Kleinschreibung auf. Über einen längeren Zeitraum wurden beide Schreibweisen relativ beliebig nebeneinander verwendet. Inzwischen ist das Akronym AIDS fast völlig verschwunden und taucht zumeist nur noch zur Bezeichnung von Einrichtungen auf, die während der Anfangsphase von Aids gegründet wurden, wie beispielsweise die AIDS-Hilfen. Dass Aids zu einem Wort der Umgangssprache geworden ist, sagt mehr über die Bedeutungsverschiebung im Umgang mit dieser Krankheit aus, als es auf den ersten Blick erscheint.

Eingeflossen in die hier versammelten Texte sind die Diskussionen, die ich im Laufe der Zeit mit unterschiedlichen Personen geführt habe, wobei mir diejenigen mit Mitgliedern von AIDS-Hilfen besonders wichtig waren. Nicht unerwähnt lassen möchte ich auch die Auseinandersetzungen in den Anfängen des Nationalen AIDS-Beirats. Eingang gefunden haben auch die Erfahrungen, die ich als Supervisor von AIDS-Hilfe-Mitarbeiter_innen und von Ärzt_innen und Pflegekräften der AIDS-Ambulanz und AIDS-Station des Frankfurter Klinikums und als Dozent und Gruppenleiter der «Positiventreffen» in der Akademie Waldschlösschen und im «Gesundheitstraining für Menschen mit HIV / AIDS» gemacht habe. Ich habe dadurch unschätzbar viel gelernt. Nicht zuletzt die professionell gerahmten Begegnungen mit an Aids erkrankten Menschen und HIV-infizierten Menschen haben mir immer erneut vor Augen geführt, was es bedeutet unter das «Zeichen von HIV / Aids» gestellt zu sein. Sie verfügen über eine Art von Wissen über den Aids-Komplex, das ich nicht habe, das aber als Wiederhall in einigen Texten aufscheint.

Ausdrücklich erwähnen möchte ich an dieser Stelle all jene, in deren Dankesschuld ich stehe: Michael Albaum, Bernd Aretz, Sophinette Becker, Michael Bochow, Michael Bohl, Christa Brunswicker, Ulla Clement-Wachter, Folker Feix, Herbert Gschwind, Hans Peter Hauschild, Agnes Katzenbach, Bärbel Kischlat, Stefan Majer, Christoph Mayr, Anne Morneweg, Stefan Nagel, Uli Niesenhaus, Reimut Reiche, Dirk Sander, Rainer Schilling, Christian Setzepfandt, Volkmar Sigusch, Albrecht Ulmer, Achim Teipelke, Bernd Vielhaber, Wolfgang Vorhagen und Wolfgang Wettstein. Die hier nicht Erwähnten, deren Zahl groß ist, bitte ich um Nachsicht. In gewisser Weise sind aber auch sie, wie die ausdrücklich genannten Personen, Mitautoren der von mir geschriebenen Texte.

Einige von ihnen haben mir mit ihrer Freundschaft über die schwere Zeit hinweggeholfen, in die ich Anfang der 1990er Jahre durch die Erkrankung und den Tod meines Lebensgefährten Rüdiger Hahn geraten bin. Aber auch schon davor war mir Aids, durch das Sterben und den Tod von Freunden, mit denen ich in der Welt unterwegs war, viel zu nahe gerückt. Das kann an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben.

Auf die Idee, Publiziertes und Unpubliziertes zum Thema Aids und HIV in einem Sammelband zusammenzustellen, hat mich Clemens Sindelar gebracht, dem ich dafür danken möchte.

Berlin, im September 2018

Rosa wird evangelisch Offener Brief an Rosa von Praunheim
– 1985 –

Der offene Brief «Rosa wird evangelisch» ist meine Antwort auf einen Text von Rosa von Praunheim, der unter dem Titel «Gibt es Sex nach dem Tode?» im Spiegel 48 / 1984 publiziert wurde. Vermutlich wurde Rosa von Praunheim vom Spiegel-Redakteur Hans Halter zu diesem Text aufgefordert. Halter, Autor zahlreicher nicht nur von Aids-Aktivisten kritisierter Artikel, war Ende 1984 auf der Suche nach einer in der schwulen Community bekannten Person, die bereit war, die Schwulen öffentlich zum Verzicht auf ihr angeblich todbringendes sexuelles Leben aufzufordern. Mit diesem Ansinnen, das auf das Eingeständnis eines falsch gelebten Lebens hinauslaufen sollte, ist Halter damals auch an mich herangetreten. Ich habe das jedoch abgelehnt.

In einer Vorbemerkung zu seinem Text erwähnt Rosa von Praunheim zwar die Bedenken seiner «schwulen Brüder gegen die bisherigen Artikel des Spiegel über AIDS», ohne freilich zu begründen, warum er sich über diese Bedenken hinweggesetzt hat.

Etwa ein Jahr später haben Rosa von Praunheim und ich uns zu einem von der Journalistin Ingrid Klein moderierten Streitgespräch über die «richtige» Reaktion auf Aids getroffen. Lange habe ich darüber nachgedacht, ob ich dieses in «Operation AIDS» (Sigusch / Gremliza 1986) dokumentierte Gespräch in diesen Sammelband aufnehmen soll oder nicht. Schließlich habe ich mich dann doch dagegen entschieden, und zwar, weil dieses Gespräch endlos lang ist, vor inneren Widersprüchen auf beiden Seiten nur so wimmelt und eine Annäherung der von mir und Rosa vertretenen Positionen erkennbar von Anfang an ausgeschlossen war. Während ich versuche, meine Ängste durch den Verweis auf Rationalität in Schach zu halten, spricht Rosa ganz aus der Angst heraus. Darüber hinaus ist dieses Gespräch ein Dokument des Irrsinns. Aber nicht des Irrsinns zweier Personen, sondern des Irrsinns, den Aids zeitweise in die schwule Welt und in die gesamte Kultur gebracht hat.

Liebe Rosa,

du hast also nicht widerstanden, sondern dem Spiegel geliefert, wonach er verlangte. Dort suchte man nach der heftigen Kritik an den homosexuellenfeindlichen Übertreibungen des letzten AIDS-Artikels einen Verbündeten. Dieser sollte homosexuell sein, einen nicht ganz unbekannten Namen haben, vor allem aber bereit, das vom Spiegel angestimmte Menetekeln fortzusetzen. Dein Beitrag zeigt, dass der Spiegel aus seiner Sicht eine glänzende Wahl getroffen hat. Du brandmarkst die scheinbar so lockeren Sitten der Homosexuellen und bezichtigst die Homosexuellen der Indolenz im Umgang mit AIDS. Du gibst vor, als Bruder zu Brüdern zu sprechen, und wiederholst doch nur, was vor dir auch Nicht-Brüder ausgedrückt haben: Für Homosexuelle sind die Zeiten des aufrechten Ganges und erhobenen Hauptes vorbei. Die neue Parole lautet: Klein machen und anpassen. Glaubst du wirklich, dass all das, was in den vergangenen Jahren sich in vielen Köpfen bewegt hat, wegen AIDS unwahr geworden ist? Dabei zeigt die Debatte um AIDS doch gerade, dass nichts von dem, was auch du einmal wolltest, damals, als wir an dem Film «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» gearbeitet haben, wirklich eingelöst ist. Auch darüber hättest du schreiben können. Stattdessen legst du ein öffentliches Bekenntnis ab und beteuerst, dass ja alles nicht so gemeint gewesen sei.

Ich habe mich beim Lesen deiner Thesen plötzlich an eine lange zurückliegende Zeit erinnert. Vor ungefähr zwanzig Jahren ging ich in Stuttgart über den Schlossplatz. Dort stand ein Mann auf einer umgedrehten Obstkiste und missionierte für eine der in Württemberg so zahlreichen evangelikalen Gruppen. Er wetterte über die moralische Verkommenheit der Welt und ließ die Passanten wissen, dass es auch um ihn einmal schlimm bestellt war. Ein paar Sätze dieses Eiferers sind mir wieder eingefallen. Er rief: «Auch ich habe gesoffen. Auch ich habe gehurt. Aber nun ist Jesus in mein Herz eingekehrt und ich bin von meinen Lastern befreit.»

Mich hat diese öffentliche Selbstbezichtigung peinlich berührt. Deine Thesen können diese verschüttete Szene nur deshalb evoziert haben, weil sie ihr in Struktur und Gestus gleichen. Du legst stellvertretend für die Homosexuellen ein Schuldbekenntnis ab und identifizierst dich mit deiner Selbstbezichtigung mit den offenen und versteckten Angriffen auf sie in den vergangenen Wochen. Wie jede Identifikation wirkt auch die Identifikation mit dem Aggressor entlastend. Zu bekommen ist diese Entlastung jedoch nur um den Preis der Unterwerfung.

Auch nach mehrmaligem Lesen deiner Thesen ist mir nicht klargeworden, von wem du eigentlich sprichst. In deinem Artikel sind Innen- und Außenwelt völlig ungetrennt, und du springst beständig zwischen einem völlig unbestimmten «Wir» und einem ebenso unbestimmten «Ich» hin und her. Wer ist das Kollektiv, von dem du behauptest, es würde «die Krankheit» beschönigen und sich an jeden rettenden Strohhalm klammern «zum Schutze unserer Promiskuität»? An wen denkst du, wenn du schreibst, «wir haben wenig richtig und viel falsch verstanden»? Kategorisch rufst du aus: «Wir müssen unser Verhalten ändern.» Weißt du eigentlich, wie sich die Homosexuellen verhalten? Vielleicht verhalten sich viele von ihnen schon längst so, wie du meinst, dass sie sich verhalten müssten!

Ich fürchte, du verstehst von dem Krankheitsbild AIDS und dem Virus, das mit ihm in Zusammenhang gebracht wird, zu wenig. Daran könnte es auch liegen, dass du AIDS zu einer gigantischen Metapher stilisierst, obgleich du den fulminanten Essay von Susan Sontag erwähnst, in dem sie gegen den metaphorischen Umgang mit Krankheiten polemisiert. Hättest du ihn gelesen, dann hättest du auf der ersten Seite einen Satz gefunden, der als Motto für den Umgang mit AIDS genommen werden sollte. Susan Sontag sagt dort, dass der metaphorische Umgang mit einer Krankheit krank macht und «daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise, krank zu sein –, darin besteht, sich so weit wie möglich vom metaphorischen Denken zu lösen, ihm größtmögliche Widerstandskraft entgegenzusetzen» (Sontag 1978: 6). Bei dir aber wird AIDS zu einem mysteriösen Übel, von dem eine auserwählte Gruppe befallen ist: «Warum trifft es uns Schwule, so fragen wir uns, jahrhundertelang verfolgt, gedemütigt und bestraft.» Wer so fragt, wird keine Antwort erhalten. Er drückt jedoch tief verwurzelte Schuldgefühle aus und benützt AIDS als ein Vehikel, die Homosexualität einmal mehr in eine metaphysische Schuld zu überführen.

Unmetaphorisch betrachtet lässt sich über AIDS bislang so viel sagen: Das für AIDS verantwortlich gemachte Virus hat durch ein Ereignis, das Zufall zu nennen nur deshalb angeht, weil wir noch nicht wissen, wie es sich wirklich verhielt, Eingang in die Gruppe der homosexuellen Männer gefunden. Es hätte genauso gut irgendwo anders sich einnisten können. Die Ausbreitung des Virus unter homosexuellen Männern hängt, da es nun einmal sexuell übertragbar ist, mit den in gewissen Regionen der Subkultur üblichen Verkehrsformen zusammen. Der stabile hohe Anteil an homosexuellen Männern unter den Erkrankten ist darauf zurückzuführen, dass sie in der Regel nur mit ihresgleichen sexuelle Kontakte haben.

Erwähnt man die Verkehrsformen eines Teils der homosexuellen Subkultur, muss man von den Orten sprechen, in denen promiskes Verhalten gepflegt und befördert wird. Auch du versäumst es nicht, auf die Promiskuität hinzuweisen. Das haben vor dir auch schon die Epidemiologen und Virologen getan, die die Promiskuität einen Risikofaktor nennen. Bei dir wird die Promiskuität jedoch umstandslos zu einem moralisch minderwertigen Verhalten. Dadurch, dass du aus den statistisch-epidemiologischen Kategorien «Risikofaktor» und «Risikogruppe» moralische Kategorien machst, stigmatisierst du das gesamte Kollektiv der Homosexuellen. Du zögerst nicht zu schreiben «jede Ansteckung, die wir verursachen, kann fahrlässige Tötung sein». Nein, Rosa: Wir haben nicht alle AIDS. Die Homosexuellen haben ein höheres Risiko, an AIDS zu erkranken. Das macht einen entscheidenden Unterschied. Die Philister werden sich aber für deine Transformation epidemiologischer Kategorien in moralische bedanken.

Selbstverständlich ist für jemanden, der mit vielen verschiedenen Partnern sexuelle Kontakte hat, das Risiko, sich eine sexuell übertragbare Krankheit zu holen, größer als für jemand, der nur mit wenigen Partnern Sex hat. Auch ist für den ersteren die Wahrscheinlichkeit größer, ohne sein Wissen Träger des Krankheitserregers zu sein. Ist das aber schon, wie du zu glauben scheinst, eine moralische Ungeheuerlichkeit? So kann man nur argumentieren, wenn man der Ansicht ist, die Sexualität sei an sich eine moralisch zweifelhafte Angelegenheit.

Ich bin kein besonderer Freund von Analogien, weil sie zumeist nicht sehr weit tragen. Gleichwohl will ich hier auf die Teilnahme am Straßenverkehr verweisen, weil ich glaube, dass das Beispiel nicht zu konstruiert wirkt. Wenn ich ein Auto benutze, gehe ich ein Risiko ein, mich und andere zu gefährden. Das duldet angesichts der hohen Zahl der im Straßenverkehr Verletzten und Getöteten keinen Zweifel. Das Risiko der Fremd- und Selbstgefährdung wird umso größer, je häufiger ich am Straßenverkehr teilnehmen bzw. je mehr Kilometer ich innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit fahre. Stehe ich aber deshalb, weil ich mein Auto häufiger benutze und somit sowohl aktiv als auch passiv das Risiko eines schlimmstenfalls tödlichen Unfalls erhöhe, moralisch niedriger als andere? Wohl kaum, es sei denn, man hält Autofahren an sich für eine Untat.

Du hättest also schon radikaler sein müssen, um einzulösen, was du versprochen hast, nämlich deinen Lesern zu sagen, was zu tun sei. Ich nehme jedoch an, du schrecktest davor zurück oder hast es selbst als absurd empfunden, den Homosexuellen zu empfehlen, auf alle sexuellen Kontakte miteinander zu verzichten. Moralisch wird ja nach deiner Argumentation jetzt die Masturbation! Stattdessen lässt du deine Leser wissen, dass du jetzt «oft am Nachmittag mal ein Stündchen in die Sauna gehst», dabei aber immer vorsichtig und äußerst wählerisch bleibst. Ist der Besuch einer Sauna am Nachmittag deshalb gesünder, weil dann nur Künstler, Intellektuelle und Studenten anwesend sind, oder wie sollen wir dein Rezept verstehen?

Mit magischem Denken, liebe Rosa, ist AIDS gewiss nicht beizukommen. Auch nicht mit der Parole, auf die du dich neuerdings kaprizierst: Erst reden, dann ficken. Ich übergehe, dass du damit suggerierst, die Homosexuellen seien insgesamt eine sprachlose Meute. Die Mehrzahl der Homosexuellen verhält sich schon längst so, wie sie es nach deiner Ansicht sollten. Sprechen wir aber ruhig von jenen ausgewählten Bereichen der Subkultur, in denen es so zugeht, wie du generell behauptest, in denen also der sexuelle Kontakt dem sprachlichen Kontakt vorausgeht.

Der Verzicht auf Sprache könnte als Ausdruck der größeren Triebnähe verstanden werden, die mit der Homosexualität in unterschiedlicher Ausprägung zusammenzufallen scheint. Auch wenn das so ist: Die Sexualität der Homosexuellen wird dadurch nicht weniger gesund, weniger reif oder weniger richtig als die der Heterosexuellen. Wenn es einen Unterschied zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen gibt, dann dürfte der in der größeren Triebnähe der letzteren liegen. Ich sage das, auch wenn es gegenwärtig nicht opportun erscheint, und möchte dazu eine Stelle von Freud paraphrasieren. Freud spricht dort über den Unterschied zwischen dem Liebesleben der Alten Welt und dem unsrigen und meint, dass in der Antike der Akzent auf dem Trieb gelegen hätte, wir ihn aber auf das Objekt verlegten. «Die Alten feierten den Trieb und waren bereit, auch ein minderwertiges Objekt durch ihn zu adeln, während wir die Triebbetätigung an sich geringschätzen und sie nur durch die Vorzüge des Objekts entschuldigen lassen.» Man braucht nur anstelle der «Alten» Homosexuelle einzusetzen, und man begreift die Differenz des Umgangs mit dem Trieb zwischen Heterosexuellen und Homosexuellen. Diese stärkere Akzentuierung des Triebes unter Homosexuellen ist keineswegs gleichbedeutend mit einer unmäßigen Triebhaftigkeit. Sie scheint mir jedoch eine der Wurzeln für den geheimen Neid, ja Hass auf Homosexuelle zu sein.

AIDS gibt den Moralisten einen Trumpf in die Hand, weil sie zeigen können, was bei einem solchen Umgang mit dem Sexuellen anscheinend herauskommt. Dich mitten unter den Verteidigern der konservativen Sexualmoral zu finden, wird nicht nur mich überrascht haben. Wir mussten in den letzten Wochen beobachten, dass der alte Hass auf Homosexuelle wieder virulent wird. Das mag für diejenigen überraschend sein, die glaubten, er sei überwunden. Er war jedoch in den vergangenen Jahren nur tiefer verdrängt. Jetzt aber begegnet er uns im Gewande der Gesundheitsfürsorge wieder. Das gilt freilich auch für den Selbsthass der Homosexuellen, was man an deinem Beitrag für den Spiegel ablesen kann. Sollten sich im Gefolge von AIDS der Selbsthass der Homosexuellen mit dem Hass auf sie verbünden, dann ist Schlimmes zu befürchten.

Tiefer Pessimismus ist angebracht, wenn schon einer wie du, der dieser Gesellschaft in den vergangenen Jahren in der Rolle des Hofnarren immer wieder die Wahrheit sagte, zum Narren zu werden beginnt.

Erstveröffentlichung: Konkret, Heft 1, Januar 1985.

AIDS und die Homosexuellen
–1986 –

Als der in Frankfurt ansässige Athenäum Verlag sich 1986 entschloss, meine 1978 erstmals erschienene Studie «Der Homosexuelle und die Homosexualität» in der Reihe «Taschenbücher Syndikat» erneut aufzulegen, erschien mir das ohne eine Ergänzung zum Thema Aids unmöglich. Die damalige Aidskrise war vor allem eine Krise der Homosexuellen, die sie und die Homosexualität mit einer tödlichen Erkrankung und deren Machinationen in Zusammenhang brachte. Dazu konnte ich in einem Text, der von den Homosexuellen und der Homosexualität handelt, nicht schweigen, zumal ich mich schon anderenorts, in Rundfunk- und Fernsehdiskussionen, in die Debatte um Aids eingemischt hatte.

Schon nach den ersten vagen Informationen über AIDS haben manche die Vermutung geäußert, diese Krankheit würde das Sexualleben der homosexuellen Männer einschneidend verändern. Zu dieser Vermutung brauchte es nur geringe prophetische Gaben. An AIDS erkrankten anfangs nur homosexuelle Männer, und es sprach einiges für eine Übertragung der Krankheit durch sexuelle Kontakte. Schon damals war klar, dass eine Veränderung im Umgang mit der Sexualität, wenn sie denn einträte, sich nicht auf das Sexualleben der homosexuellen Männer beschränken würde. Das Sexuelle ist nicht teilbar, und auch die Sexualität ist nicht in der Weise geteilt, wie es die inzwischen geläufige Rede von den verschiedenen Sexualitäten nahelegt. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen der Sexualität erscheinen zwar so imponierend, dass sie als voneinander unabhängig wahrgenommen werden. In Wahrheit sind die differenten Sexualitäten aber durch ein System von Abhängigkeiten miteinander verflochten. Das sexuell «Normale» erhält seine Bestimmung erst durch das sexuell «Absonderliche», wie umgekehrt das sexuell «Absonderliche» sich erst über das sexuell «Normale» konstituiert. So bestehen zwischen der Heterosexualität und der Homosexualität auch keine grundsätzlichen, sondern nur graduelle Differenzen. Eingriffe in eine der Formen der Sexualität wirken sich, sofern sie tief genug gehen, allemal auf die Sexualität in ihrer Gesamtheit aus. Zwar kommt es wegen der trotzdem bestehenden relativen Unabhängigkeit der verschiedenen Formen der Sexualität voneinander zu Ungleichzeitigkeiten in der Wirkung solcher Eingriffe. Letztendlich aber erweist sich, dass isolierte Eingriffe in das Sexuelle nicht möglich sind. Sollte AIDS, wie manche befürchten und viele hoffen, eine sexuelle Kehre unter homosexuellen Männern bewirken, wird sich mit einer zeitlichen Verzögerung auch der Umgang der Heterosexuellen mit ihrer Sexualität verändern.

Homosexuelle Männer seien, so war von Infektologen zu vernehmen, das Indikatorenkollektiv für AIDS und die mit ihm zusammenhängenden Krankheitssymptome. Bei ihnen zeige sich nur früher, was auch für andere zu erwarten sei. Indikatorenkollektiv sind sie auch in dem Sinne, dass an ihnen früher abgelesen werden kann, in welche Richtung AIDS die Sexualität zwingt.

AIDS hat, das ist inzwischen nicht mehr zweifelhaft, die Stellung der Homosexuellen in der Gesellschaft einschneidend verändert. Umgemodelt wird durch AIDS auch die Sexualität der Homosexuellen. Bewerkstelligt wurde das freilich nicht von AIDS allein, das heißt von der Krankheit als solcher. Gewiss, AIDS ist eine schwere, tödliche Erkrankung. Aber AIDS ist längst nicht mehr diese Krankheit allein. Die physische Krankheit war vom Moment ihres Bekanntwerdens von wuchernden Bildern umstellt, die ängstigend und stigmatisierend wirkten: AIDS ist eine Metapher für die Folgen des laxen Umgangs mit der Sexualität. AIDS soll eng mit einem bestimmten Lebensstil verknüpft sein. An AIDS erkranken, abgesehen von den Hämophilen, von denen man das Gegenteil immer sofort weiß, vor allem Außenseiter und Randständige sowie solche, die mit diesen zu intim waren. Nachgewiesen wurde das die Krankheit verursachende Virus im Blut, im Schweiß, im Sperma und in Tränen. Alles Stoffe, aus denen die Mythen und die Leidenschaften zusammengesetzt sind. Die Metaphern kleben fest an den Kranken, die sich von ihnen ebenso so wenig frei machen können wie diejenigen, die sie behandeln oder über AIDS nachdenken.

Wenn es wahr ist, wie Susan Sontag schreibt, dass «Krankheit keine Metapher ist und daß die ehrlichste Weise, sich mit ihr auseinanderzusetzen – und die gesündeste Weise krank zu sein – darin besteht, sich so weit wie möglich von metaphorischem Denken zu lösen, ihm größtmöglichen Widerstand entgegenzusetzen» (Sontag 1978:6), dann haben sowohl die bereits Erkrankten als auch die HTLV-III-Infizierten, aber auch gesunde Angehörige der sogenannten Risikogruppen eine schlechte Prognose. Wären die sich um AIDS rankenden Metaphern bloß zugeschriebene, von außen aufgeklebte Etiketten, hafteten sie weniger fest. Da sie aber mit den inneren Bildern von Kranken und Gesunden korrespondieren, sind sie unlösbar mit der physischen Seite von AIDS verschweißt. Kranke und Angehörige von Risikogruppen ersticken schier an der Flut der äußeren und inneren Bilder, die alle um die Vorstellung eines falsch gelebten Lebens kreisen.

Für homosexuelle Männer wird der Umgang mit AIDS dadurch erschwert, dass der Ausbruch der Krankheit, aber auch schon der Nachweis von HTLV-III-Antikörpern zum Verräter ihrer geheim gehaltenen Sexualität werden könnte. AIDS deckt auf, was viele verborgen haben, weil sie fürchteten, sonst sozial deklassiert zu werden. Die Krise, in die ein verheirateter homosexueller Mann mit verheimlichten homosexuellen Beziehungen nach einem positiv ausgefallenen HTLV-III-Test gerät, wird nicht nur durch seine Angst vor dem Tod ausgelöst. AIDS bzw. ein positives Testergebnis sprechen statt derjenigen, die wegen der Diffamierung der Homosexuellen stumm blieben. Die Krankheit zerstört den Schein von Wohlanständigkeit und bringt die Identifikation mit der homophoben Gesellschaft ins Wanken. Die Angst eines homosexuellen Mannes vor AIDS ist die Angst davor, zu sterben. Zugleich aber ist sie die Angst vor dem psychosozialen Tod, der eintreten könnte, noch bevor man gestorben ist.

Epidemiologen, Virologen und Infektologen sprechen über AIDS und führen dabei zugleich einen Diskurs über Sexualität, in dem diese fest mit Krankheit und Tod verschmolzen wird. Ausgelöst wurde dadurch eine kollektive Angst, die durch nichts gerechtfertigt ist als durch die schlichte Tatsache, dass alle Menschen sich irgendwie sexuell verhalten und viele von ihnen eine sexuelle Leiche im Keller haben, von der sie fürchten, sie beginne durch AIDS zu stinken. Gunter Schmidt hat diese Angst als «kollektive Hypochondrie» bezeichnet, weil sie «in keiner Relation mehr zur wirklichen Gefahr steht, sondern irrational ausufert» (Schmidt 1986: 149). Nach der Statistik des Bundesgesundheitsamtes wurden in der Bundesrepublik zwischen Oktober 1984 und Oktober 1985 181 neue AIDS-Fälle gemeldet. Das entspricht einer jährlichen Inzidenzrate für diesen Zeitraum von 0,29 pro 100 000 Personen.1 Diese Rate liegt zwar deutlich unter der aus den Vereinigten Staaten gemeldeten, wo für den Zeitraum Juni 1983 bis Mai 1984 eine jährliche Inzidenzrate von 1.43 pro 100 000 Einwohner im Alter von 5 oder mehr Jahren angegeben wird (vgl. Hardy: 1985, 215). In der Bundesrepublik wäre jedoch das durchschnittliche Risiko, an AIDS zu erkranken, auch dann noch niedrig, wenn man von einer Verdoppelung der Erkrankungen im 12-Monats-Rhythmus ausgeht und jährliche Inzidenzraten wie in den Vereinigten Staaten erreicht würden.

Dieses Bild verändert sich freilich, wenn die jährlichen Inzidenzraten nach «Risikogruppen» aufgefächert werden. Als erstes wird danach deutlich, dass AIDS bislang nicht in stärkerem Ausmaß aus den bekannten «Risikogruppen» ausgebrochen ist. In der Bundesrepublik liegt der Anteil der homosexuellen und bisexuellen Männer an allen bekanntgewordenen AIDS-Fällen immer noch bei ca. 80 Prozent (Stand 28. Februar 1986). Trotzdem hält sich das Bild von der tödlichen Volksseuche zäh, und das mit AIDS ursächlich im Zusammenhang gebrachte HTLV-III-Virus wird nach wie vor zum fünften apokalyptischen Reiter stilisiert, dessen verlockendem «Komm» niemand widerstehen kann. Wir haben es diesen Imaginationen zufolge mit einem Virus zu tun, das sich seine Opfer blind und zugleich zielsicher aussucht. Die Schwachen erliegen ihm, und an jenen, die sich sexuell weiter hervorgewagt haben, nimmt es grausame Rache: «Vor allem aber hat die Liebe den heimtückischen Keim weiterbefördert – vom bisexuellen US-Soldier auf das pummelige Mädchen in Hessen oder Rheinland-Pfalz, vom arbeitslosen Traveller auf die kosmopolitisch fühlende Studentin, von der Sachbearbeiterin auf den Herrn Abteilungsleiter. Nach der Disco, vor der Party, während des Clubabends. Der bösartige Erreger, den man nicht sehen und spüren kann, sucht seine Opfer blind und rücksichtslos. Die meisten werden später nicht einmal sagen können, wann und wo sie sich angesteckt haben» (Halter 1985 a: 144). Die Transformation von AIDS aus einer «Schwulenseuche» in eine «Volksseuche» geht einher mit offener antisexueller Demagogie, die jede außerhalb einer monogamen Beziehung aufscheinende sexuelle Regung zu einem tödlichen Fehltritt macht. Nicht wenige Homosexuelle haben die Transformation von AIDS zu einer Volksseuche erleichtert aufgenommen, weil sie hofften, dass dadurch die Homosexuellen von dem Wahn, sie hätten durch ihr buntes sexuelles Treiben das Virus produziert, entlastet würden. Inzwischen ist es nicht mehr die Homosexualität, die das Virus hervorbringt und verbreitet, sondern die Promiskuität als solche, oder genauer gesagt, die außerhalb der monogamen Ordnung platzierten Intimkontakte. Homosexuelle Männer verbleiben aber schon deshalb im Zentrum des Hasses, weil zuvor deren angeblich exorbitant hohen Partnerzahlen der öffentlichen Erregung ausgesetzt wurden: «Sex ohne Namen, mit Männern, die man nicht kennt und niemals wiedersehen will. Drei, fünf, zehn Intimkontakte pro Abend. Eine Dauererektion über Stunden, unterstützt vom blutabschnürenden Penisring. [...] Ein New Yorker Wahnsinn, der seinesgleichen auf der Welt nicht hat? Oder handelt es sich um einen integralen Bestandteil des homosexuellen Lebensstils, um die übliche oder doch weit verbreitete Promiskuität, die der Motor der Seuche wurde» (Halter 1985 b: 174)?

Zahlreiche Studien an homosexuellen Männern, in denen eine Korrelation zwischen einer AIDS-Erkrankung bzw. einer HTLV-III-Infektion und der Anzahl von Sexualpartnern in einer bestimmten Zeiteinheit nachgewiesen werden konnte, haben die Behauptung, die Promiskuität sei der Motor der Seuche, scheinbar bestätigt. Diese Studien sind indes so trivial, dass man sich fragen muss, was durch ihre laufende Wiederholung erreicht werden soll. Wenn das HTLV-III-Virus durch sexuelle Kontakte übertragen werden kann, dann ist unmittelbar evident, dass das Risiko, sich eine sexuell übertragbare Krankheit zuzuziehen, mit der Anzahl der Sexualpartner steigt. Es ist wie bei den Dachdeckern. Diese haben deshalb ein weitaus höheres Risiko, von Dächern zu fallen, weil sie häufiger als die Durchschnittsbevölkerung auf diese steigen. Ebenso scheint es sich mit der Promiskuität und deren Zusammenhang mit AIDS zu verhalten. So verführerisch es ist, mit solchen Analogien die Trivialität von Studien aufzudecken, die einen Zusammenhang zwischen der Erkrankung an AIDS bzw. einer HTLV-III-Infektion und der Anzahl von Sexualpartnern nachweisen, so sehr sollte man sich davor hüten. Solche Analogien bewegen sich bereits innerhalb des verrückten Systems, das sich um AIDS gebildet hat. Die Promiskuität an sich, weder die der homosexuellen Männer noch die von wem auch immer, wird erst durch das Vorhandensein und die Ausbreitung eines Virus in einer bestimmten Region und Gruppe zu einem Risiko. Sie wird es aber auch unter diesen Bedingungen erst durch bestimmte sexuelle Praktiken. Man kann, worauf die Propagandisten des «Safer Sex» unermüdlich hinweisen, auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen promisk sein. Die Promiskuität ist auch nicht mit einer bestimmten sexuellen Praktik verschwistert. Seit wir jedoch mit den völlig leeren Korrelationen zwischen der Anzahl der Sexualpartner und der Erkrankung an AIDS bzw. der Infektion mit dem HTLV-III-Virus überschüttet wurden, sind solche Selbstverständlichkeiten keine mehr. Und schon reagiert man mit Erleichterung, wenn das angesehene New England Journal of Medicine eine Unsinns-Studie veröffentlicht, in der die Resultate der vorhergehenden Unsinns-Forschungen widerlegt werden. Der Titel dieser Studie «Lack of Correlation between Promiscuity and Seropositivity to HTLV-III from a Low-Incidence Area for AIDS» enthält bereits deren Ergebnis, was den Vorteil hat, auf eine detaillierte Darstellung dieser Studie verzichten zu können (vgl. Calabrese u. a. 1985).

Zu Beginn des Auftretens von AIDS waren solche Studien wenigstens nicht völlig sinnlos, weil sie Evidenzen für die vermutete sexuelle Übertragbarkeit lieferten. Solche Evidenzen aber sind inzwischen der Gewissheit gewichen. Die Wiederholung solch trivialer Studien bekommt dann auch eine andere Funktion. Mit ihnen wird von der therapeutischen Ohnmacht der Medizin, an der sie offensichtlich schwer trägt, abgelenkt. Gleichzeitig wird mit ihnen, sei das nun bewusst beabsichtigt oder nicht, Sexualpolitik betrieben. Jede dieser ansonsten leeren Studien soll uns damit konfrontieren, wohin die sexuelle Liberalisierung geführt habe. Konservative Politiker können schweigend abwarten. AIDS und seine Aufbereitung durch Wissenschaft und Medien wird jene sexualpolitische Wende vorwärtstreiben, die sie propagierten, ohne jedoch auf einen Erfolg hoffen zu können. Kein moralischer Satz muss nach AIDS mehr fallen, um durchzusetzen, was in der Vergangenheit nicht mehr gelang: monogame Beziehungen und der Schein von Treue. Die laufenden Veröffentlichungen der kumulativen Zahlen der AIDS-Toten und an AIDS-Erkrankten im Verein mit den zumeist auf abenteuerliche Weise gewonnenen Hochrechnungen über die Zahl der HTLV-III-Infizierten wird die Menschen Mores lehren. Was keinem Papst mehr gelang, könnte AIDS besorgen: die Wiedererrichtung strenger sexueller Sitten. Sollte das gelingen, wird sich das Sexuelle wieder mit jener Kälte überziehen, von der es einen flüchtigen historischen Augenblick lang befreit schien.

Zu den Paradoxien in diesem Prozess gehört, dass homosexuelle Männer, die in den vergangenen Jahren, wie Gunter Schmidt meint, «nicht nur eine verachtete sexuelle Minderheit, sondern [...] auch eine sexuelle Avantgarde» (Schmidt 1986: 160) waren, diesen rückwärts gerichteten Prozess vorantreiben. Schmidt stützt seine Einschätzung auf einen Gedanken von Ariès, den dieser in seiner «Geschichte der Homosexualität» darlegte. Weil, so schreibt Ariès dort «die Homosexualität der Fortpflanzung ihrer Natur nach fernsteht, weil sie in diesem Sinne unabhängig ist, weil sie außerhalb der gesellschaftlichen Traditionen, Institutionen und Bindungen erscheint, kann sie die sexuelle Dichotomie, die den Orgasmus privilegiert, bis ans Ende treiben. Sie wird zu einer Sexualität im Reinzustand und erhält damit Pilotfunktion» (Ariès 1984: 90).