Stefan Deichert

 

 

Das Heim der Wölfe

 

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Chronik der Venatoren I

 

Vorwort

 

Kleine Ideen werden zu Träumen, Träume zu Gedanken und Gedanken letztlich irgendwann zu Taten oder in meinem Fall zum geschriebenen Wort. Diese Geschichte war in ihrer Grundfassung nicht mehr als eine kurze Gruselgeschichte, ersonnen für meine Abschlussklasse für einen Abend am Lagerfeuer. Doch diese Gedanken ließen mich nicht los, also entschied ich mich irgendwann, sie niederzuschreiben, ohne genau zu wissen, wo die Reise wohl enden möge. Nach und nach entwickelte ich die Einzelheiten der Geschichte und trug Berichte meiner Recherche zusammen. Aber dies alles wären leblose Fakten ohne die Menschen aus meinem Umfeld geblieben, die sich an manchen Stellen sicher wiedererkennen werden! Daher gilt mein tiefempfundener Dank all jenen, die mich unterstützt und die mein Leben mit ihrer Einzigartigkeit bereichert  haben.

 

Als erstes danke ich meiner Familie, hier vor allem meiner Mutter und meiner Schwester, die sich nicht nur die Mühe machten, diese Geschichte Korrektur zu lesen, sondern mir auch wichtige Hinweise für den Verlauf der Erzählung gaben!

 

Ich danke der Schulgemeinde der Gesamtschule in Hungen, mit all ihren Schülern und Kollegen, ohne die es die Idee zu diesem Roman nie gegeben hätte und die es mir ermöglichen, jeden Tag aufs Neue ihr Lehrer sein zu dürfen.

 

Natürlich gelten auch mein Dank und mein Respekt all meinen Freunden, deren Eigenarten und Lebensläufe ich mich bedient habe, um zu großen Teilen die Charaktere der Protagonisten zu füllen. Ich danke Albi, Manu, Tweety, Cäl, Glöcki und Daniel. Neben meinen besten Kumpels möchte ich auch meinen besten Freundinnen Caro und Sabrina danken, die mich beinahe mein ganzes Leben lang begleitet und an mich geglaubt, mich in meinen Vorhaben bestärkt und mich auch gelegentlich gefordert haben. Ich bin stolz, euch meine Freunde nennen zu dürfen.

 

Mein letzter Dank gilt der Frau, die ich vor vielen Jahren als Mädchen kennen lernte und die meine erste große Liebe werden sollte. Auch wenn wir nie zueinander gefunden haben, inspirierte sie mich zu der weiblichen Hauptfigur dieser Geschichte. Ich wünsche ihr alles Glück dieser Welt…

 

 

Homberg /Ohm, Mai 2014 bis März 2015

Prolog

Die Bestie schlich beinahe lautlos durch das Unterholz am Rande des kleinen Wäldchens. Jeder Tritt ihrer mächtigen Pranken war sorgsam platziert. Nur sehr kleine Ästchen knackten unter der gewaltigen Statur der Kreatur, und deren Geräusch wurde augenblicklich zwischen Laub und Erdboden fast völlig erstickt. Die Blätter, die sie streifte, hätten vielleicht durch ihr leises Wispern ihren Aufenthaltsort verraten, aber in einer solchen frühsommerlichen Nacht zirpten die Insekten so laut, dass sich das Wesen scheinbar lautlos bewegte. Es war auf der Jagd. Es hatte bereits sein Opfer gefunden. Das Mädchen war nicht allzu weit von ihr entfernt. Es konnte sie aus dem Dickicht heraus sehen. Mehr noch: Es konnte sie beinahe fühlen. Es sah jedes noch so feine Härchen auf ihren Armen, es roch den Duft ihrer jungen Haut, ihrer frisch gewaschenen Haare, die ein wenig nach Shampoo und ein wenig nach Holzkohle rochen, es roch ebenso ihren Atem, eine Mischung aus Alkohol, Zigarette und Pfefferminz. Es konnte sogar ihr Herz schlagen hören! Und das alles auf diese Entfernung. Die Bestie liebte diesen besonderen Tag im Jahr. Alles war klarer, einfacher. Ihre Sinne waren um ein Vielfaches geschärft, ihre Kraft und Ausdauer um ein Vielfaches gesteigert. Sie konnte sogar das Blut des Mädchens wittern. Für einen normalen Menschen roch und schmeckte Blut nach Kupfer – metallisch, in größeren Mengen wird vielen Leuten alleine von dem Geruch schlecht. Für die Bestie hingegen war dieser Duft das reinste Aphrodisiakum. Sie empfand es als eine Mischung aus einem guten, trockenen Rotwein und Rosenwasser. Das monströse Wesen sah das Mädchen vor sich auch nicht länger als attraktiven Teenager, der sie war, sondern vielmehr als Erfüllung ihres Verlangens. Es hatte sie buchstäblich zum Fressen gern.

 

Eine typische Nacht zum Sommeranfang in Mittelhessen. Bis jetzt hatte man schon ein paar einzelne, wirklich schöne, sonnige Tage dieses Jahr erleben dürfen. Tage, an denen die Limonade aus dem Kühlschrank etwas besser schmeckt als sonst, Cabriolet fahren einfach nur Spaß macht und man am liebsten den ganzen Tag im Schwimmbad verbringen möchte, um sich die wärmenden Strahlen auf den Bauch brennen zu lassen und ab und zu zum Abkühlen ins feuchte Nass zu springen. An solchen Tagen fühlte sich alles ein wenig wie Urlaub an. Diese Art von Tage waren aber bisher noch etwas spärlich und daher umso wertvoller, und bis jetzt hielt sich auch die Wärme solcher Tage noch nicht in der Nacht. Kaum verschwand die Sonne am Horizont, fiel auch augenblicklich das Thermometer um einige Grad. Nicht, dass es in dieser Nacht wirklich kalt war, aber warm ist etwas anderes. Vor allem, wenn ein leichtes Lüftchen wehte, kam man schnell ins Frösteln und nur die direkte Hitze des Feuers hielt einem die Vorderseite warm, während der Rücken kalt blieb.

Auf diese Wärme musste das Mädchen jetzt verzichten, als es sich langsam von der Feier entfernte und sich nur von wenigen Anwesenden verabschiedete. Die siebzehnjährige Yvonne, die gerade vor einer Woche ihren Geburtstag gefeiert hatte, wankte ein klein wenig auf dem Weg nach Hause. Die Feier war noch in vollem Gange, man konnte die Glut des großen Feuers noch tiefrot hinter den Kiefersträuchern vor dem Festplatz erkennen, aber sie entschied, sie habe schon ein Glas Hugo zu viel getrunken. Den Wodka-Energy am Ende hätte sie aber auf jeden Fall weglassen sollen. Oh Gott, was würden ihre Eltern sagen, wenn sie sie so sähen. Aber was sollte sie schon tun, wenn ihr Freund Marvin ausgerechnet am Abend vorher mit ihr Schluss gemacht hatte, dieser Arsch. Ihr Plan war eigentlich gewesen,ihn auf diesem Fest zurückzuerobern, denn sie wusste genau, dass er da sein würde. Ihre Taktik bezog auch ihr neues Kleidungsstück mit ein: ein kurzes Stretchkleid in Bordeauxrot mit silbernen Applikationen, das ihre sportliche Figur betonte und mit dem weiten Ausschnitt ihre bereits voll entwickelten Brüste gekonnt in Szene setzte. Sie trug dazu die schwarzen Wildlederpumps, die zum einen Marvin so gefielen und zum anderen ihren Körper beim Gehen streckte und ihre Beine noch länger wirken ließen. Eine doch eher etwas unpraktische Kleiderwahl für so ein Fest, zumal jetzt am Ende des Abends das Kleid nach Rauch roch und ihre Schuhe völlig verdreckt waren, aber: Sie wollte mit allem kämpfen, was ihr zu Verfügung stand. Womit sie allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass ihr Angebeteter die meiste Zeit des Abends etwas abseits der Feierlichkeiten mit ihrer (jetzt wohl ehemaligen) besten Freundin Tabea in einer anregenden Unterhaltung vertieft war, während sie sich bei dieser Lagerfeuerstimmung geradezu gebannt in die Augen sahen und sich wie zufällig immer wieder berührten – zum Kotzen!!! Also hatte sie sich an ihre Freundinnen gehalten und ihren Kummer auf eine der ältesten Arten der Welt gemildert: Alkohol und Nikotin. Aber wo hatte sie denn jetzt ihr Handy gelassen? Sie hielt an und suchte verzweifelt im Dunklen nach ihrem Telefon in ihrer großräumigen, schicken Handtasche, die sie sich bei ihrem letzten Urlaub in Venedig von einem Straßenhändler gegönnt hatte. „Scheiße“, entfuhr es ihr lallend, nachdem sie einige Zeit erfolglos in ihrer Tasche herumgewühlt hatte und leicht vor und zurück wankte. „Was mach ich´n jetzt?“ Ihre Mutter stand auf Abruf bereit, sie auch zu später Stunde von diesem Fest abzuholen. Yvonne war sich bewusst, dass dieser Fahrservice wohl bald vorbei sein würde, wenn sie nächstes Jahr alleine ein Auto fahren dürfte. Doch bis dahin durften ihre Eltern noch ein wenig bluten. Aber wenn sie ihr Handy nicht fand, um zu Hause anzurufen, würde sie, ob sie wollte oder nicht, nochmal zurückgehen müssen, um entweder jemanden zu finden, der sie fuhr, oder sich zumindest ein Handy ihrer Freundinnen zu leihen. Denn von hier aus nach Villingen zu laufen war vor allem in diesen Schuhen einfach zu weit.

Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich plötzlich beobachtet und ihre Nackenhaare stellten sich auf. Ein tiefes Grollen ließ sie aufschrecken. Ein Geräusch wie der V-8 Motor eines amerikanischen Muscle-Cars in einer Tiefgarage, nur sehr viel leiser. Irritiert schaute sie sich um. Woher kam das? „Hallo?" Wie eingefroren blieb sie stehen und bewegte sich nicht mehr: „Halloho?"  Für einen Moment hielt sie den Atem an und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. Zunehmend fühlte sie sich unwohler. Irgendetwas war dort draußen. „Das is echt net witzig!“ Langsam bildete sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn, ihren Handflächen und ihren Oberarmen. Niemand antwortete. Nur die Grillen zirpten ihre Melodie und Yvonne lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie spürte die Gefahr, doch das konnte auch nur vom Alkohol kommen, oder war es einfach nur Paranoia? Wollte Marvin ihr vielleicht einen letzten Streich an diesem Abend spielen? Hatte es nicht gereicht, ihr das Herz zu brechen und sich hier noch mit ihrer Freundin über sie lustig zu machen? Konnte er sie nach all dem nicht einfach in Ruhe lassen?

Dann brach ein dunkler, riesiger Schatten aus dem Wäldchen hervor, schnell, nahezu lautlos, aber präzise. Der gekonnte Angriff eines Jägers, eines Raubtieres, eines Killers. Yvonne hatte nicht einmal mehr die Gelegenheit, laut zu schreien. Sie holte Luft und öffnete weit den Mund, um die Energie in ihren Lungen schlagartig freizusetzen, doch in diesem Augenblick war das Monster bereits über ihr und zerriss ihr mit einem schnellen, lautlosen Hieb die Luftröhre. Alles, was sie noch wahrnahm, war der faulige Atem, die rotgrauen Augen und die unglaublich großen Zähne der Bestie. Dann wurde um sie herum langsam alles stiller und dunkler, als würde man die Welt und ihre Sinne in immer mehr Lagen Watte packen. Alle Farben verloren allmählich an Intensität und wurden zu verwaschenen Grautönen. Ihr Verstand schien müde zu werden, sie fühlte ihr warmes Blut an ihrer ansonsten immer kälter werdenden Haut kleben und das Letzte, das Yvonne in ihrem Leben dachte, war: Was werden meine Eltern sagen? Dann umfing sie die ewige Stille, während das Wesen begann seinen Appetit an ihr zu stillen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

 

 

Das Heim der Wölfe

Chronik der Venatoren I

Stefan Deichert

 

© 2019 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Sabrina Gleichman (www.bookcover.eu)

unter Verwendung eines Motivs von Renata Soszynska

Lektorat: Armin Bappert

 

 

www.vss-verlag.de

Anspiel

 

Furchtbare oder tragische Begebenheiten werden sehr schnell zu Geschichten. Einige Geschichten werden im Laufe der Zeit zu Legenden und manche dieser Legenden werden mit etwas Glück zu Horror-Romanen oder sogar zu Hollywood-Blockbustern. Diese Romane oder Filme werden von verschiedensten Schriftstellern oder Regisseuren immer weiter verändert und nehmen immer skurrilere Formen an, aber unter dem Strich haben sie oft einen gemeinsamen Ursprung oder sogar einen wahren Kern.

Ich war schon als Kind von solchen Gruselgeschichten fasziniert. Ich verbrachte viel Zeit mit dem Lesen unterschiedlichster Horrorromane. An kalten und dunklen Januartagen, wenn die Welt so scheint, als ob sie nicht richtig wach werden will, alles etwas träge und lustlos auf einen wirkt, der Wind heulend durch sämtliche Ritzen des Hauses weht und der graue Schnee alles unter einer eisigen Decke begräbt, machte ich es mir oft zu Hause auf der Couch bequem, schaltete nur eine Leselampe an, stellte Chips und Cola bereit und widmete mich meinen Büchern. Oder während sich alle im Bus bei einem Schulausflug oder einer Klassenfahrt über Musik oder die neuesten Actionfilme oder Comics unterhielten, saß ich immer hinten auf der letzten oder vorletzten Bank in mein Taschenbuch vertieft. Für eine kleine Weile war ich nicht Teil dieser Welt, nahm die Vibrationen des fahrenden Busses genauso wenig wahr wie das Geschrei und das Herumgestikulieren meiner Klassenkameraden und Freunde. Für diese kurze Zeit tauchte ich in eine andere Welt ein. Inspiriert durch die Worte auf den Seiten des Buches und zum Leben erweckt nur durch meine eigene Phantasie. Auch wenn ich eine Geschichte schon zum vierten oder fünften Mal gelesen hatte, ließen der Zauber und die Spannung nicht nach. Die Bilder, die in diesen Geschichten heraufbeschworen wurden, ließen mich frösteln. Manche detaillierte Beschreibung wollte ich gar nicht lesen, geschweige denn es mir vorstellen, aber ich konnte nicht anders, genauso, als wenn man sich im Kino oder abends vor dem Fernseher die Hände vor die Augen schlägt, wenn das Monster sein nächstes Opfer auf möglichst kreative und blutrünstige Weise zur Strecke bringt. Man hat zwar die Hände vor den Augen, späht aber trotzdem zwischen den Fingern hindurch.

Das bedeutete aber nicht, dass ich in meinem Leben nur in diese Welten abdriftete, wie heute wohl einige Jugendliche in ihre virtuellen Fantasy- oder Ego-Shooterwelten auf dem PC versinken. Es gab natürlich auch für mich ganz konkrete Probleme und Herausforderungen ohne einen maskierten, unsterblichen Serienkiller mit Machete, Klingenhand oder Kettensäge. So war mir immer klar, dass es keine Dämonen, parasitäre Aliens oder Monster aus anderen Dimensionen oder den unergründlichen Tiefen des Meeres gibt. Doch die Faszination für all die grauenerregenden Wesen, Kreaturen und Dämonen ließ mich Zeit meines Lebens nicht los. Im Gegenteil: so wie meine eigene Roman- und Filmsammlung wuchs, so steigerte sich bei mir auch das Interesse an diesen blutrünstigen Monstern selbst. Meine Freizeit verbrachte ich unter anderem des Öfteren damit, dem Ursprung dieser Legenden über solche Wesen nachzuforschen.

Aber mein besonderes Interesse galt vor allem den, wie ich sie nenne, drei Großen des Horrorgenres. Die drei wohl bekanntesten, beliebtesten und wohl auch am häufigsten beschriebenen und verfilmten Kreaturen aus der Welt des Grusels, Horrors oder Splatters. Wenn Sie die Leute auf der Straße zum Thema Horror befragen, werden Sie Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit an erster Stelle eine dieser Monstrositäten nennen, statt den bereits erwähnten soziopathischen Serienkiller, Außerirdischen oder Dämon.

Die wohl bekannteste Bestie dürfte wohl der Hominus Nocturnus sein – der Vampir! Über die genaue Herkunft des Wortes sind sich die Forscher nicht ganz einig, da es auch in den verschiedenen europäischen und asiatischen Regionen unterschiedliche Schreibweisen und Aussprachen des bei uns geläufigen „Vampir“ gibt. Doch wahrscheinlich kommt das Wort aus dem mazedonischen Raum und heißt so viel wie „geflügeltes Wesen“.

Der Siegeszug dieses Roman- und Filmmonsters begann wohl unbestritten mit dem Roman des in Irland geborenen Schriftstellers Bram Stoker, der am 18. Mai 1897 die gleichnamige Geschichte über den Patriarchen des Vampirtums, „Dracula“, veröffentlichen ließ. Die Vorlage für seine Figur lieferte ihm die Legende des rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea. Der 1431 im Landstrich Siebenbürgen (damals Transsilvanien) in Rumänien geborene Vlad Basarab gelangte zu Ruhm und Ansehen durch seinen Widerstand gegen das Osmanische Reich. Durch seine grausame Form der Hinrichtung seiner Gegner erlangte das Ordensmitglied des Drachen (dracul) nach seinem Tod den Beinamen Țepeș - der Pfähler, da er seinen besiegten Gegnern einen langen Holzpfahl senkrecht durch den gesamten Torso stoßen ließ. Die so zum Teil zu hunderten aufgestellten Opfer sollten als Abschreckung dienen. Im Lauf der Zeit wurde aus dem rumänischen Fürsten ein Graf und aus dem Beinahmen des Fürsten für grausam oder Drachen (Drăculea) eben Dracula! Seitdem zogen unzählige Formen von Untoten ihre blutige Spur durch die Literatur der Neuzeit.

Doch die Geschichte des Vampirs ist viel älter! Es gab ihn schon lange bevor Schriftsteller und Hollywood ihn mit Knoblauch, Silber, christlichen Symbolen und Tageslicht bekämpften und in ihm eine Geldquelle entdeckten. Das Meiste zum Thema Vampir erfuhr ich komischerweise auf der Uni. In meiner Zeit als Lehramtstudent besuchte ich ein Seminar bei meinem Geschichtsprofessor Herr Seule-Carlson mit dem Titel: Prolegomente zum Vampirismus. Das hat mich sicher nicht zu einem besseren Lehrer gemacht, aber ich fand es dennoch lehrreich und hochinteressant. Zumal eine solche Lehrveranstaltung meinen Interessen an Horrormythen entgegen kam.

Die erste dokumentierte, angebliche Vampirsichtung stammt bereits aus der ersten Jahrtausendwende. Besagtes Schriftstück wurde in Irland verfasst. Hier war von sündhaften Verstorbenen die Rede, die vor allem in Zeiten großer Seuchen wie der Pest nach ihrem Begräbnis viele weitere Familienmitglieder mit in den Tod rissen, ohne dass Krankheitssymptome bei diesen zu finden gewesen wären.

Aus einigen dieser vermeintlichen Vampirgräber vernahm man ein lautes Schmatzen und so entschloss man sich, das jeweilige Grab zu öffnen. Der Anblick ließ einem das Blut in den Adern gefrieren: Ein aufgedunsener Körper, dessen Leichentuch oft blutverschmiert und der eigene Körper nicht selten angefressen war. Nach Meinung der Menschen dieser Zeit verspeisten sich die Vampire, da sie sich nicht selbst aus ihrem Grab befreien konnten, Stück für Stück selbst.

Wie sollte man nun dieser teuflischen Plage Herr werden? Vorbeugend zerteilte man bei dem Begräbnis eine Geldmünze, um dem Verstorbenen die eine Hälfte, unter seine Zunge gelegt, mit ins Grab zu geben, während man die andere Hälfte über der eigenen Haustür einmauerte. Dies sollte den Untoten vom eigenen Haus fernhalten. Trieb der Untote dennoch sein Unwesen, versuchte man dem Körper endgültig durch einen Pflock ins Herz die dämonische Kraft zu rauben. Sollten jetzt die Untaten an den Familienmitgliedern immer noch nicht aufhören, wurden die Mittel drastischer: Das Abschlagen des Kopfes oder gleich eine komplette Verbrennung galten in diesen Fällen als die einzigen wirkungsvollen Methoden.

Auch in diesen ersten Legenden gab es schon die Vorstellung, dass Menschen, die durch einen Vampir gestorben waren, selbst zu solchen Untoten werden. Doch anders als Bram Stokers Roman und Hollywood nach ihm uns glauben machen wollen, dass für eine Verwandlung das Blut der Vampirs notwendig sei, erzählen einige ältere Geschichten, dass das Vampirblut eine gegenteilige Wirkung hatte und den Infizierten heilen konnte. So backte man Brot, das mit dem Blut des krankheitsübertragenden Vampirs versetzt war. Aß man davon, konnte man geheilt werden.

Diese und ähnliche Geschichten zogen sich sowohl durch die europäischen Länder wie auch durch die Jahrhunderte.

Die Quellen zu der zweiten Art von Monstern sind sicherlich noch vielfältiger und jeder Einzelnen von ihnen nachzuspüren, wäre sicher eine Lebensaufgabe. Daher lassen Sie mich nur von den beiden (meiner Meinung nach) Haupteinflüssen berichten.

Die Rede ist von dem Wiedergänger oder auch lebenden Toten – dem Zombie! Letztlich aus der uralten Idee geboren, abgestorbenem (menschlichem) Gewebe mit unterschiedlichsten Mitteln wieder Leben einzuhauchen. Die nun wieder mehr oder weniger lebende Kreatur verliert jedoch ihre Persönlichkeit und Menschlichkeit, lässt sich nicht kontrollieren und wird meist nur von seinen niederen Instinkten getrieben.

Das Wort Zombie leitet sich von dem Begriff nzùmbe aus der zentralafrikanischen Sprache Kimbundu ab und bedeutet so viel wie Totengeist. Das Wort, wie auch den Glauben an Zombies, findet man vor allem in Verbindung mit dem Voodoo-Kult auf Haiti. Laut diesem Glauben belegt ein Schwarzmagier, ein Voodoo-Priester oder eine – Priesterin jemanden mit einem Fluch, worauf die betreffende Person stirbt. Danach wird der Tote durch einen Ritus wieder zum Leben erweckt, um anschließend als billiger Arbeitssklave missbraucht zu werden. In diesem Volksglauben sind die Wiedergänger zwar seelenlos und langsam, jedoch durch die Macht dessen, der den Fluch ausgesprochen hat, leicht zu kontrollieren. Auch anders als uns die Filme und Romane einreden wollen, sind diese Wesen nicht ununterbrochen auf der Jagd nach frischem Fleisch. Die Angst vor solchen dämonischen Kreaturen ist im Volksglauben der Haitianer oft noch so tief verankert, dass diese ihre Toten nicht selten zerstückeln, um ein Wiederkehren ihrer geliebten Verstorbenen zu verhindern.

Als zweite wichtige Quelle möchte ich hier den Roman Frankenstein benennen. Ein Meilenstein der Grusel- und Horrorliteratur. Geschrieben wurde die Geschichte von der bis dahin noch nicht einmal zwanzigjährigen Engländerin Mary Shelley und zunächst anonym 1818 veröffentlicht. Der Roman handelt von dem jungen Naturwissenschaftsstudenten Viktor Frankenstein, der in seinem Lerneifer und seiner ungezügelten Faszination von biochemischen Vorgängen einen, aus verschiedenen Teilen zusammengefügten menschlichen Organismus reanimiert. Das Experiment gelingt, doch nicht so, wie er es sich vorstellt. Das von ihm erschaffene Monster wird zu seiner Nemesis, die ihm zunächst unermessliches Leid zufügt und letztendlich beiden den Tod bringt.

Gerade im letzten Jahrzehnt haben die Ängste vor biologischen Waffen oder viralen Pandemien den Geschichten über lebende Tote in der PC-Spielewelt und im Kino neuen Aufschwung gegeben. Sowohl der Vampir als auch der Zombie haben etwas gemeinsam: Beide gingen aus der Angst vor dem Unbekannten oder dem damaligen Unerklärlichen hervor. Diese Dinge haben schon von jeher die Fantasien der Menschen beflügelt. Auch wenn in all diesen Sagen und Legenden über diese Wesen ein Fünkchen Wahrheit liegt, so sind sie letztendlich doch nur Gruselgeschichten, die uns heute zur Unterhaltung dienen.

Die tragische Begebenheit, deren Auswirkungen mir erst einige Stunden nach dem Erwachen in einem Krankenhausbett völlig begreiflich wurden, drehte sich um die dritte große Kreatur des Horrorgenres. Bis vor dem, was mir letztes Jahr passiert ist, hielt ich auch sie nur für ein volkstümliches Märchen aus einer unwissenschaftlichen, von Aberglauben und Angst geprägten Zeit. Man sollte meinen, gerade meine Generation sowie die folgende, die, obwohl in einer wissenschaftlichen Welt aufgewachsen, von Monstern, Aliens und Dämonen in allen Sparten der Unterhaltungsmedien geprägt sind, sollten auf das, was mir passiert war, vorbereitet sein.

Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Ich sollte mich restlos irren…

 

 

 

14. Tag: Sonntag, der 21. August 2011

 

Das erste, das ich wahrnahm, als die Dunkelheit in meinem Geist nachließ, war Schmerz – beinahe überall: Der Kopf, der rechte Arm und die Seite meines linken Beins, alles tat mir weh! Das Schlimmste aber war der gesamte Brustkorb. Jeder Atemzug war eine einzige Qual. Es fühlte sich an, als ob man mit heißen Nadeln in meine Lungenflügel stechen würde und mein Herz gegen eine Betonplatte drückte. Ich fühlte überall Gips oder Bandagen auf meiner Haut.

Dann drangen die ersten Geräusche in mein Bewusstsein: elektronisches Piepsen, gedämpfte Gespräche, wie in Watte gepackt, hallende Schritte, wie hinter einer Tür auf einem langen Flur. Erst gefühlte unendliche Zeit später hatten meine Augenlider die Kraft, sich zu heben. Nur mit extremer Willenskraft schaffte ich es, meine Augen zu öffnen. Was ich sah, war ein gedecktes Weiß. Das Weiß einer Zimmerdecke. Die Geräusche wurden präsenter und Gerüche kamen hinzu oder besser: ein bestimmter Geruch. Der dezente Geruch nach Desinfektionsmittel füllte meine Nase und Lungen. Als Letztes tauchten die Erinnerungsfetzen der letzten Tage und Stunden in meinem Bewusstsein auf und mir wurde endlich klar, wo ich sein musste. Mein Mund war unglaublich trocken und ich sehnte mich nach etwas Flüssigem, um wenigstens meine Lippen zu benetzen und so dem Geschmack nach Asche in meinem Mund entgegenzuwirken. Doch meine Stimme versagte. Die Sätze waren in meinem Geist, doch hatte ich das Gefühl, das mein Mund noch niemals Worte geformt hatte. Mein Blick wanderte von der Zimmerdecke durch den Raum, mein Kopf drehte sich nach links und blieb an dem schlafenden Gesicht meiner Mutter hängen.

„Maaama?“ Meine Stimme klang, als würde ein Fingernagel über eine Tafel kratzen.

Meine Mutter schreckte aus ihrem Halbschlaf auf, rutschte mit ihrem Stuhl an mein Bett und beugte sich zu mir herab: „Oh Gott, mein Junge, wie geht’s dir?“

„Na ja, ich denke es ging mir schon besser!“, brachte ich jetzt schon mit etwas festerer Stimme hervor. „Wo bin ich?“

Sie fasste sanft meine Hand, bevor sie mit ihrer Erklärung begann: „Du bist in der Uniklinik in Gießen." Sie seufzte erleichtert: „Du warst fast dreißig Stunden nicht bei Bewusstsein oder hast geschlafen. Papa und ich waren fast wahnsinnig vor Angst! Du bist sehr schwer verletzt worden. Als die Notärzte dich gefunden hatten, hing dein Leben an einem seidenen Faden. Gott sei Dank waren sie noch rechtzeitig bei dir, trotz der Umstände."

Langsam kehrte die vollständige Erinnerung an die Geschehnisse zurück. Grauenhafte, unwirkliche Bilder erschienen vor meinem geistigen Auge. Verstörende Eindrücke von schmerzverzerrten Schreien, zu Tode verängstigten Gesichtern, jeder Menge Blut und zerrissenen Körpern bahnten sich mit aller Gewalt ihren Weg in mein Bewusstsein.

Während meine Mutter weiter auf mich einredete und schier endlos Fragen stellte, drängten die Schwestern sie schließlich aus dem Krankenzimmer, um meine Vitalfunktionen zu überprüfen. Die vielen Fragen und die anschließende Prozedur ermüdeten mich und ich nickte kurz darauf wieder ein.

Als ich meine Augen wieder öffnete, sah ich in die schönsten Augen, die ich mir vorstellen konnte. Die Augen einer jungen Frau, die ich gerade einmal zwei Wochen kannte. Andrea saß an meiner Bettkannte, hielt meinen Arm und lächelte auf mich herab. Ich war selbst überrascht, wie schnell unsere Beziehung zueinander in den wenigen vergangenen Tagen gewachsen war. Bis zu diesem Moment war ich mir nicht sicher, aber jetzt wusste ich es: Ich hatte mich in sie verliebt und ich hatte nicht länger Angst, zu dieser Liebe zu stehen. Ich wollte mein Leben mit ihr verbringen! Ich würde für sie sterben, ich würde für sie töten und ich würde mit ihr neues Leben erschaffen. Als ich in ihre Augen sah, wusste ich, dass sie genauso für mich empfand.

Überglücklich, sie an meiner Seite zu sehen, brachte ich nur ein „Hi!“, hervor.

„Hi!“, Andrea strich mir sanft über das Haar, „Es ist vorbei!“

Erleichtert bildete sich ein Tränenschleier vor meinen Augen: „Was ist mit den Anderen?“

Andrea senkte den Blick und schüttelte leicht den Kopf. Ich wusste, was sie meinte und schlug ebenfalls die Augen nieder. Ich fühlte, wie sich mein Blick durch noch mehr Tränen weiter trübte. Auch Andrea kullerten jetzt salzige Tropfen über die Wangen.

Sie sah ziemlich mitgenommen aus, blass, mit großen Ringen unter den Augen. So, als hätte sie einen ganzen Tag nicht geschlafen. Vermutlich hatte sie das auch nicht. Ihr rechter Unterarm war bandagiert.

„Eines musst du mir noch erklären, das ich beim besten Willen nicht verstanden habe: Was hattest du gerade in dieser Nacht dort zu suchen?“

„Ich hatte es herausgefunden!“, sagte Andrea und blickte etwas verlegen zur Seite. „Nach unserer ersten gemeinsamen Nacht habe ich selbst Nachforschungen angestellt. Es war eine verzwickte Suche, aber ich wurde fündig. Und die Antwort brachte mich in dieser Nacht direkt zu dir!“

Ich kann wohl, ohne zu übertreiben behaupten, dass die letzten zwei Wochen mein Leben in vielerlei Hinsicht maßgeblich verändert haben. Nur vierzehn Tage und mein Leben war sicher nicht mehr das, was es einmal war.

 

1. Tag: Montag, der 08. August 2011

 

Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf auf. Die Schlafanzughose, die ich immer ohne Oberteil im Bett trug, klebte unangenehm an meinen Beinen und im Schritt. Im Gegensatz zu meinem überhitzten, klitschnassen Körper unter der Bettdecke, waren Stirn und Nacken mit einem kalten Schweißfilm überzogen. Jeder Muskel in meinem Körper schmerzte. Mein Körper fühlte sich an wie nach einem Schüttelfrost oder dem Kampf eines Neugeborenen durch einen Geburtskanal. Mein Herz raste und ich atmete so schnell, wie nach einem zweihundert Meter Sprint. Im ersten Moment war ich völlig orientierungslos und wusste nicht, ob ich vielleicht laut geschrien hatte. Langsam kam die Realität wieder zurück. Ich lag in meinem Bett und sah mich im Zimmer um. Nur ganz allmählich nahmen meine Augen die vertraute Umgebung war. Mein Blick schwenkte nach links zu meinem Nachttischschränkchen auf meinen digitalen Wecker, der zehn vor sieben am Morgen anzeigte.

Richtig! Heute war ja wieder Schule, der erste Schultag nach den Sommerferien. Ich war jetzt schon drei Jahre Lehrer an der GesaHu, der integrierten Gesamtschule in Hungen, aber der erste Schultag nach den Sommerferien war trotzdem immer noch aufregend.

Erst gestern hatte ich meinen neuen Stundenplan von der Internetseite der Schule heruntergeladen, da ich vorgestern Nacht erst wieder zu Hause angekommen war. Denn abgesehen von den ersten Ferientagen, hatte ich meine gesamten großen Ferien in Australien verbracht, um mir dort über fünf Wochen lang die Kultur, die Leute und vor allem das Land ansehen zu können. Alleine zwei Wochen davon hatte ich ohne Begleitung im Tasmanischen Busch verbracht, nur mit Rucksack, Zelt und dickem Schlafsack ausgerüstet. Letzteres war besonders wichtig, da es um diese Zeit vor allem auf der australischen Südinsel Tasmanien tiefster Winter ist. Einen ähnlichen Survival-Trip hatte ich bereits vor zwei Jahren am Amazonas hinter mich gebracht. Dieser ging nicht ganz so gut aus. Ich war bereits nach vier Tagen nachts von einem großen, wilden Tier angefallen worden, war aber mit einer Bisswunde davongekommen. Hierbei hatte ich allerdings Begleitung gehabt, dank der ich schon dreißig Stunden später im Krankenhaus lag und fünf Tage darauf nach Deutschland zurück gekehrt war. Das war echt unangenehm gewesen. Ich hatte damals das Tier nicht richtig erkennen können. Die Wunde war tief und heilte sehr schlecht. Ich habe noch zwei Monate später leicht gehumpelt.

Ich hatte vor den Ferien meine zehnte Klasse abgegeben. Das bedeutete für mich zu Beginn des neuen Schuljahres: Klassenlehrer einer neuen Klasse und, da ich Lehrer für die so genannten Nebenfächer bin, auch jede Menge anderer neuer Klassen. Denn uch hatte zwar „nur“ evangelische Religion und Geschichte studiert, aber um auf meine Stundenzahl einer vollen Stelle zu kommen, um dann, so hoffte ich, bald verbeamtet zu werden, unterrichtete ich darüber hinaus noch Fächer wie: Arbeitslehre, Gesellschaftslehre und PoWi, also Politik und Wirtschaft. Und das bedeutete: Wenige Wochenstunden in vielen unterschiedlichen Klassen.

Es war somit sowieso Zeit aufzustehen, denn in etwa zehn Minuten würde mein Wecker ohnehin klingeln.

Aber was hatte mich im Schlaf so beschäftigt oder vielmehr verängstigt? Mir lag es auf der Zunge, es war zum Greifen nahe. Ich meinte mich an ein Gefühl zu erinnern, eine Art Jagd erlebt zu haben. Aber anders als bei den meisten solcher Albträume schien es mir nicht so, als sei ich der Gejagte gewesen, der vor irgendetwas oder irgendjemand davonlief, sondern vielmehr war ich der Jäger. Aber letztendlich war es nicht mehr als ein Gefühl und keine Erinnerung. Nur ein schaler Geschmack auf der Zunge, wenn man so wollte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an die Handlung oder Einzelheiten erinnern. Dabei lag mein letzter Albtraum schon eine ganze Zeit zurück. Der letzte war bestimmt schon ein Jahr her.

Es machte wohl kaum einen Sinn, diesen Gedanken nachzuhängen. Zeit zum Aufstehen! Ich schlug die Bettdecke zurück, schwang meine Beine aus dem Nachtlager und tapste im Dunkeln Richtung Badezimmer, um meinen verschwitzten Körper gründlich zu duschen, bevor der erste Tag des neuen Schuljahres begann.

Ich fand mich auch bei ziemlich schwachem Licht recht gut in meiner Behausung zurecht. Seit fünf Jahren wohnte ich nun schon in einer etwa 65 Quadratmeter großen Wohnung im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses in der Lindenallee, das in der Nähe der Stadthalle und des Festplatzes, der eigentlich nur zweimal im Jahr tatsächlich als solcher genutzt wurde, in der Schäferstadt Hungen zu finden ist. Das war zwar nicht so wahnsinnig viel Platz, aber mir hatte es immer gereicht, zumal ich mich vor sechs Jahren von meiner damaligen Freundin getrennnt hatte und seitdem alleine lebte. Sicher: Das Leben als Junggeselle ist oft einsam, aber auch unkomplizierter. Und obwohl ich mich nach der richtigen Frau in meinem Leben sehnte, hatte ich mich mit dem Alleine sein arrangiert. Und ich war nun mal ein „Landei“! Ich hatte den größten Teil meines, zugegebenermaßen, noch jungen Lebens hier verbracht, aber mich zog es nicht hier weg, eben auch nicht wegen einer Frau.

Die Großgemeinde Hungen liegt etwa zwanzig Kilometer südöstlich von Gießen zwischen der Wetterau und dem Vogelsberg, nahe dem römischen Limes im Herzen Hessens. Die Großgemeinde Hungen hat etwa 12500 Einwohner und setzt sich, neben Hungen selbst, aus elf weiteren Stadtteilen zusammen. Man hatte ihr den Beinamen Schäferstadt gegeben, weil Hungen der Mittelpunkt der Schafzucht in Hessen ist. Alle zwei Jahre, im letzten Augustwochenende, findet hier das Schäferfest statt, das vor allem dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch, der beruflichen Förderung und der Wissenserweiterung der Schäfer dienen soll. Aber natürlich kommt bei einem solchen Fest auch der gesellige Teil nicht zu kurz. Hungen wurde erstmals am 28. Juli 782 als Geschenk Kaiser Karls des Großen an das Stift Hersfeld erwähnt. 1361 gelangte es schließlich durch Kaiser Karl IV. zum Stadtrecht und im Mai 1469 zum Marktrecht, jedoch vorerst nur in der Zeit vom 28. Oktober bis zum 11. November. In dieser Zeit findet in Hungen heute noch der Allerheiligenmarkt statt. Die Gemeinde ist, wie viele andere Gemeinden im Vogelsberg und der Wetterau, vor allem durch die Landwirtschaft geprägt, doch finden sich hier auch Klein- und Mittelbetriebe im handwerklichen und industriellen Bereich. In Hungen sind sogar industrielle Großbetriebe zu finden, wie eine bekannte Großmolkerei und ein Warenumschlagplatz einer namhaften Supermarktkette. Auch mit den unterschiedlichsten Freizeitangeboten und Veranstaltungen konnte Hungen seit jeher aufwarten. Einfach gesagt: Man hatte hier alles, was man zum Leben brauchte und das genügte mir!

Der Weg zu meinem Arbeitsplatz betrug nicht mehr als vielleicht fünf- oder sechshundert Meter. Daher benutzte ich meine „Lady“, so nannte ich meinen schwarzen getunten Mazda MX5, nur bei sinnflutartigen Regengüssen für den Schulweg. Die meiste Zeit ging ich zu Fuß zur Schule und wenn ich mal spät dran war, bemühte ich mein altes Fahrrad. Somit blieb also mein Schmuckstück die meiste Zeit unter dem Carport für die Anwohner und kam meist nur bei größeren Einkaufstouren, Freundbesuchen oder Urlaubsfahrten zum Einsatz.

Gleich nach meinem Staatsexamen, nachdem klar war, dass ich eine Planstelle hier an der Schule bekommen würde, hatte ich mir den Traum von einem kleinen Cabrio-Zweisitzer erfüllt. ich hatte mich für den kleinen Japaner entschieden, nicht, weil er eher in mein Budget passte als vergleichbare Modelle, weil er eine bessere Schadensstatistik aufwies, wie seine Konkurrenten oder weil er vielleicht sparsamer im Verbrauch gewesen wäre. Nein, ich war Zeit meines Lebens schon immer ein Ästhet. Ich fand diesen Wagen einfach am schönsten. Ich habe bis heute keine Ahnung von den technischen Details eines Autos, daher brauchte ich natürlich sowohl beim Kauf als auch ein Jahr später in den Sommerferien, als ich die Optik meines kleinen Flitzers verändern wollte, fachkundige Unterstützung. Diese fand ich problemlos in Daniel Ritter, einem meiner ältesten Freunde.

Daniel war drei Jahre jünger als ich und wohnte nach wie vor im sechs Kilometer entfernten Nonnenroth. In seinem Elternhaus hatte er die obere Etage des alten Bauernhauses zu einer eigenen, kompletten Wohnung, beinahe im Alleingang, renoviert. So oft ich konnte, war ich in den letzten drei Jahren an den Wochenenden bei ihm, um ihn mit Schweiß, Muskelkraft und vor allem Ideen bei seinen Umbauaktionen zu unterstützen. Denn das war unser unausgesprochenes Abkommen: Ich war der Denker und Planer, er der Macher. Ich brachte immer wieder neue Vorschläge in den Bau seiner Wohnung ein, die er auch oft dankbar annahm. Was die handwerkliche Seite betraf, war ich eine echte Niete, aber so ergänzten wir uns eigentlich ganz gut.

Als ich dann im Internet meinen schwarzen Traumwagen gefunden hatte, war Daniel auch sofort begierig darauf, mich zu unterstützen. So fuhren wir gemeinsam nach Buchen im Odenwald, wo der Wagen bei einem Gebrauchtwagenhändler bereits auf mich wartete. Daniel nahm meine zukünftige Lady genau unter die Lupe, konnte aber keinerlei Mängel an dem vier Jahre alten Auto entdecken. Das gestaltete die Preisverhandlungen etwas schwierig, aber ich war letztlich dennoch zufrieden. Zu Beginn der folgenden Sommerferien erzählte ich Daniel, welche Umbaumaßnahmen ich vorhätte und auch hier war er begeistert bei der Sache. Also stellte ich mein neues Vehikel für drei Tage in seiner Werkstatt unter. Er hatte die alte Scheune des längst aufgegebenen Landwirtschaftsbetriebes seiner Eltern zu einer improvisierten Werkstatt umfunktioniert. Hier konnten wir ungestört meinen Wagen mit neuen Teilen modifizieren. Über das Internet hatte ich bei diversen Anbietern neue Dreispeichen-Leichtmetallfelgen mit Niederquerschnittreifen geordert, ebenso wie die Frontschürze im Dodge Viper-Lock, Seiten- und Heckschweller, einen MP 3 Adapter und zu guter letzt weiße Blinkergläser. Kaum wurden die Teile geliefert, schon legten wir los. Na ja, eigentlich legte er los, während ich eher ratlos daneben stand, denn abgesehen von den Blinkergläsern und ein paar Situationen, in denen ich etwas festhalten sollte, machte Daniel eigentlich die Arbeit allein. Aber er beschwerte sich nicht. Er sah es wohl als entspannenden Ausgleich zu seinem Job. Denn tagsüber war er nur in Anzug und Krawatte in der Hungener Volksbank anzutreffen. Aber nach Dienstschluss konnte er in alten Klamotten und mit verschmierten Fingern seiner Leidenschaft für Autos und Motorräder frönen. Er war eben ein echtes Exemplar der Hobbyschrauber-Fraktion!

Probleme hatten wir eigentlich nur beim Lackieren der neuen Glasfaserkunststoff-Bauteile, das sollte ich aber erst ein Jahr später bemerken. Der aufgesprühte Lack in Wagenfarbe hielt nicht und blätterte nach einigen Monaten nach und nach von den neuen Teilen wieder ab. Wir hatten wahrscheinlich bei der Grundierung gepfuscht. Also durfte ich im Winter bei Minustemperaturen im Freien, mit jeder Menge Lösungsmittel und festen Gummihandschuhen bewaffnet, in stundenlanger Kleinstarbeit die alte Farbe wieder abkratzen, um die Teile anschließend von einem Fachmann neu lackieren zu lassen. Den Abschluss meiner Umbauaktion machten die von mir zugeschnittenen Zierstreifen, die über die gesamte Länge des Wagens führten. Dazu hatte ich mir bei einer Autofolienwerkstatt in Gießen entsprechende Folienteile gekauft und diese in Handarbeit mit Cuttermesser und Schere zugeschnitten und zuletzt auch auf den Wagen gebracht. Das Ergebnis war sicher nicht perfekt, aber ich war damit zufrieden. Mein Flitzer hatte jetzt eine weitaus bedrohlichere, düsterere Optik, ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Ich machte mich heute also zu Fuß auf den Weg zur Schule  und war eine gute Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn dort. Hier war ich also wieder: An dem Ort, an dem ich beinahe mein halbes Leben verbracht hatte, dem Ort meiner täglichen Erfolge und Niederlagen - der Gesamtschule Hungen. Nachdem durch die Schulreform Ende der sechziger Jahre die einzelnen Dorfschulen aufgelöst worden waren und langsam die Mittelpunktschulen in den Kerngemeinden entstanden, folgte im nächsten Schritt die Bildung der Gesamtschulen. Am neunten November 1970 trat die Ernennungsurkunde in Kraft, nach der die einstige Haupt- und Realschule, deren Bauarbeiten an den ersten fünf Gebäuden bereits 1965 abgeschlossen worden waren, mit dem Hungener Gymnasium zusammengeführt wurde. Die integrierte Gesamtschule mit Oberstufe war geboren, die im Sommer 1971 als solche ihre Arbeit aufnahm. Bereits zwei Jahre später begannen die ersten erweiternden Baumaßnahmen. Ein Anbau für die polytechnisch-naturwissenschaftlichen Fächer entstand. 1987 wurde ein eigener Schulgarten eingerichtet und 1993 folgte eine große Schulsanierung, die vor allem die komplette Heizungsanlage, die Dächer und die Fassaden umfasste. Im Zuge weiterer Umbaumaßnahmen 2001, dem Jahr, in dem ich eben in dieser Schule mein Abitur ablegte, wurde in Block sechs ein zusätzlicher, dritter Computerraum geschaffen und in Block elf entstand ein Multimedia-Arbeitsraum für die Oberstufenschüler. Als Letztes wurde 2005, während ich mitten in meinem Lehramtstudium steckte,  die neue Aula vor Block elf eingeweiht. Bereits sieben Jahre nach meinem Schulabschluss hatte mich diese Anstalt wieder. Mit dem Unterschied, dass nun mein Platz hinter dem Lehrerpult war. Dieses Jahr im September sollte nun ein großes Schulfest zum 40-jährigen Bestehen der Schule ausgerichtet werden.

Auf dem Schulgelände waren zu dieser Zeit drei Schulhöfe und 13 freistehende Gebäude zu finden. Diese beherbergten etwa 100 Lehrkräfte, Angestellte und Sozialpädagogen, sowie etwa 1100 Schülerinnen und Schüler, die während der Schulzeiten in jedem Winkel des Schulareals zu finden waren.

Da ich noch ein klein wenig Zeit hatte, bevor mein erster Unterricht beginnen würde, schlenderte ich an den Bushaltestellen vor dem Hauptgebäude vorbei, um mich auf die bevorstehenden Arbeitswochen einzustimmen. Einige Schüler standen noch in kleinen Grüppchen hier unten herum. Andere saßen auf dem Podest unseres Schulmaskottchens, dem „Sprung ins Leben“, eine große Metallstatue, die einen Menschen in vollem Lauf zeigt und in der Mitte des Busbahnhofes drei Meter in die Höhe ragte. Bekannte Gesichter drehten sich zu mir herum und begrüßten mich mit einem überschwänglichen „´Moin Herr Kramer“ oder „Auf ein Neues“!

Als ich mit meinen Eltern 1988 nach Hungen gezogen und im gleichen Jahr hier eingeschult worden war, hatte man den Verein „Schulpartnerschaft mit Mosambik e.V.“ gründet. 1975 hatte sich Mosambik, nach einer jahrhundertelangen Kolonialherrschaft, die Unabhängigkeit von Portugal sichern können. Das Land war ein Jahr später in einen Bürgerkrieg zwischen der „Befreiungsfront“ FRELIMO und der Terrororganisation RENAMO verfallen. In den folgenden Jahren wurden unzählige Schulen, Gesundheitsstationen, Handelsposten und Gemeinschaftsdörfer von den Terroristen zerstört worden. 1980 hatte auch die Gesamtschule von diesem unsäglichen Leid erfahren und beschlossen zu helfen. Die Schüler initiierten Flohmärkte in Gießen, deren Einnahmen als erste Hilfsmaßnahmen für eine Schule in N´kondedzi dienen sollten. Die Idee kam an und fortan wurde seit 1984 jedes Jahr ein Weihnachtsbasar auf dem Schulgelände veranstaltet, um mit dem erwirtschafteten Geld verschiedenste Projekte in Mosambik zu unterstützen. Erst 1992, als ich Schüler dieser Gesamtschule wurde und die fünfte Klasse besuchte, endete der Bürgerkrieg. Doch damit war das Leid nicht zu Ende und somit auch nicht die Unterstützung unserer Schule.

Ich hatte noch Zeit, im Hauptgebäude mein Fach im Lehrerzimmer zu checken, noch diverse Kopien für meine neuen Schüler zu erstellen und mich seelisch und moralisch auf die erste Woche vorzubereiten. Ich nannte sie immer spaßeshalber „die Horrorwoche“. In einer integrierten Gesamtschule wie in Hungen ist bis zur zehnten Klasse jeder Schüler im größten Teil seiner Fächer verkurst, bedeutet also, jeder Einzelne hat seinen eigenen Stundenplan mit zugewiesenen Räumen. Organisatorisch gesehen ist dies somit ein Albtraum. Und natürlich geht bei der Planung nie alles auf Anhieb glatt: Doppelte Raumbelegung, falsche Lehrerzuordnung, falsche Stundenzahlen, falscher Ausdruck der Stundenpläne,… ist natürlich alles halb so wild, aber in der ersten Woche eben etwas stressig!

Um eine Minute vor acht betrat ich das Klassenzimmer meiner neuen Klasse. Vor drei Jahren hatte ich bereits einige von ihnen in einem Religionskurs unterrichtet, allerdings auch nur für ein Jahr und zwei Jahre sind bei jungen Menschen dieses Alters Welten! Das neue Schuljahr 2011 / 2012 konnte los gehen! Wenn ich eine neue Klasse übernahm, hatte ich für sie immer als erstes, nachdem alle von mir ihren aktuellen Stundenplan bekommen haben, eine Einführungsansprache vorbereitet.

Ich schrieb also zunächst meinen Namen an die Tafel, setzte mich auf die Ecke des Lehrerpultes und wartete geduldig, bis alle leise waren und ich ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher war.

„Guten Morgen!“, begrüßte ich die Klasse 9f, die ich ab sofort die nächsten zwei Jahre begleiten sollte.

„Guten Morgen, Herr Kramer!“, schallte es im Chor zurück.

Die Stundenpläne, die ich zu Hause schon soweit vorbereitet hatte, wurden verteilt und letzte Unstimmigkeiten besprochen. Nachdem ich nun wieder für Ruhe gesorgt hatte, (was in der ersten Stunde noch nicht so schwierig ist, da die Schüler gerade in den ersten Stunden herausfinden müssen, mit was für einer Art Lehrkraft sie es zu tun haben, bevor sie anfangen, ihre Grenzen auszutesten), begann ich also meine Ansprache, bei der es normalerweise auch der vorlauteste Schüler nicht wagte, mich zu unterbrechen:

„Ich bin nicht euer Freund! Ich bin aber auch nicht euer Feind! Ich bin Lehrer. Das ist mein Job. Und das bedeutet, wenn ich euch irgendwie helfen kann, werde ich tun, was in meiner Macht steht. Ich halte mich selbst nicht unbedingt für den besten Lehrer, aber ich versuche immer so ehrlich zu sein, wie es mir möglich ist. Und genau das erwarte ich auch von euch. Jeder macht mal Fehler, ihr genauso wie ich. Aber ich erwarte, dass ihr dann den Arsch in der Hose habt, das zuzugeben. Denn wofür ich überhaupt kein Verständnis habe, ist, wenn jemand versucht, mich zu verarschen. Ihr könnt immer zu mir kommen und mit mir reden und glaubt mir, ich werde mir die Zeit dafür nehmen, aber versucht nicht, mich irgendwann hinters Licht zu führen, denn dann werde ich richtig sauer! Mit der Wahrheit kann ich umgehen, und egal was anliegt, wir werden gemeinsam eine Lösung finden.“

Ich war mit dieser Ansprache in den letzten Jahren immer ganz gut gefahren. Die meisten Schüler vertrauten mir und hier und da hatte ich tatsächlich auch das eine oder andere gerade biegen können!

„Jetzt vielleicht noch ein paar Infos zu mir, damit ihr wisst, wen ihr vor euch habt: Mein Name ist Kramer, Vorname: Herr! Ich bin 29 Jahre alt und seit drei Jahren Lehrer hier an der GesaHu für evangelische Religion und Geschichte. Neben meinen beiden studierten Fächern unterrichte ich noch PoWi, AL, GL und auch soziales Lernen. Ich bin unverheiratet, habe keine Kinder, außer denen, die ich im Normalfall um viertel nach eins wieder abgeben kann, und seit einiger Zeit bin ich wieder solo. Soviel vielleicht zu mir. Habt ihr noch irgendwelche Fragen zu meiner Person?“ Abwartend sah ich meine Schüler an.

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen. Dann meldete sich zögernd doch ein Schüler. Ich kannte ihn noch aus meinem Relikurs. Robin – clever, aber auch immer etwas vorlaut.

„Ja, Robin?“ Ich sah ihn fragend an.

„Wie waren Ihre Ferien? Was haben Sie so gemacht?"

Ich schüttelte leicht mit dem Kopf und konnte mir den Anflug eines Lächelns nicht verkneifen: Schüler!, schoss es mir durch den Kopf. Sie wollen immer gleich alles über ihren Lehrer wissen, aber leider oft nichts, wenn es um die Lerninhalte geht! „Ich war unterwegs! Australien! War anstrengend, aber echt toll! Und du, Robin?"

Der Schüler platzte sofort mit einem „Nix!" heraus. „Aber war schon o.k., schließlich war hier in den letzten Wochen ja genug los. Hatte fast schon was von ´nem Rollenspiel,... aber eben echter!"

Mit dieser Aussage konnte ich nun überhaupt nichts anfangen, doch ich hatte in meinem Beruf sehr schnell gelernt, dass man nicht jede Kleinigkeit der Schüler hinterfragen durfte, sonst würde man nie zum Arbeiten kommen. Aber Robin schien kurz nachgedacht zu haben, denn jetzt meldete er sich erneut.