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Einleitung

Wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der meine Mutter nach und nach in die Demenz hinüberglitt, erinnere ich mich zuerst an meine Ängste, die sich zu Angstzuständen und Panikattacken auswuchsen und mir viele schlaflose Nächte und von innerer Verzweiflung geprägte Tage bescherten. Und ich erinnere mich auch an mein schlechtes Gewissen darüber, dass mir meine eigenen Gefühle oft näher standen als die meiner Mutter, die doch offensichtlich Furchtbares durchmachte und wahrscheinlich noch viel mehr litt als ich. Aber ich wollte nichts mit diesem Furchtbaren zu tun haben, und so reagierte ich aus meiner Hilflosigkeit heraus oft mit unterdrückter Wut auf sie. Praktisch aus dem Nichts und für sie völlig unverständlich wurde ich aggressiv, schrie sie auch einige Male an – und konnte auf dem Heimweg von den Besuchen bei ihr dann nur mühsam die Tränen unterdrücken, Tränen der Scham, der Abwehr, der Ohnmacht, der Verzweiflung. Meine Welt geriet aus den Fugen, aber das sollte niemand bemerken. Nach außen hin spulte sich der Alltag ab wie immer, innen versuchte ich, mein Gefühlschaos unter Kontrolle zu halten.

Es war ein Glück, dass mein Hausarzt mich gut kannte und mir half, bevor mir der Eisenring, der sich um meinen Brustkorb gelegt hatte und sich immer enger zusammenzog, die Luft abschnürte. Er vermittelte mir eine Gesprächstherapie, und die Therapeutin benutzte ein zwar einfaches, aber mir sich sehr einprägendes Bild, das mir half, den entscheidenden Schritt weg von der peinigenden passiven Haltung gegenüber der Alzheimererkrankung meiner Mutter hin zum mitfühlenden Umgang mit ihr zu machen. Ich solle mir ein Gefäß vorstellen, sagte sie, in dem sich alle nicht bewältigten Gefühle befinden: Leid, das keinen Trost erfährt, Liebe, die keine Erwiderung findet, Angst, auch Trauer, die nicht durch positives Erleben wieder abgebaut wird. Im besten Fall lebt man sein Leben, das Gefäß füllt sich, mal mehr, mal weniger, und leert sich auch wieder.

Gerät man allerdings in eine Krisensituation, kann es passieren, dass dieses Gefäß immer voller wird, Angst wird auf Leid auf Verzweiflung auf Trauer gepackt. Der Körper sendet zwar Warnsignale aus wie z. B. Schlaflosigkeit, Antriebslosigkeit, tagtägliche Müdigkeit, Angstzustände, Panikattacken. Die Signale werden auch immer dringlicher, je höher der Pegel im Gefäß steigt, aber oft werden sie nicht wahrgenommen, gehen unter im Alltagsstress. Bis eines Tages der berühmte Tropfen das Gefäß zum Überlaufen bringt, und das kann dann durchaus eine Depression werden oder der Beginn einer schweren körperlichen Krankheit.

So weit war es bei mir noch nicht, aber ich musste versuchen, „mein Gefäß“ zu leeren. Also schaute ich hinein, versuchte, meine Gefühle auseinander zu dividieren und mich ihnen zu stellen. Ich lernte, sie anzunehmen und sie gewähren zu lassen. Indem ich sie nicht mehr wegdrückte, verloren sie ihre Gewalt über mich. Als Erstes verschwand die unkontrollierbare Aggressivität, dann das schlechte Gewissen und schließlich die Abwehr. Leben, das war die Quintessenz der Gespräche, bedeutet, die Widrigkeiten und die Widersprüche auszuhalten. Nicht sie zu leugnen, nicht sie zu ignorieren, nicht sie ausgleichen zu wollen, sondern sie anzunehmen und auszuhalten. Für den Umgang mit der Demenz meiner Mutter bedeutet dies, unser früheres Mutter-Tochter-Verhältnis ad acta zu legen, es zwar zu betrauern, aber ihm nicht nachzutrauern, sondern zu lernen, sich ganz auf die Gegenwart und auf die Welt meiner Mutter einzulassen.

Während ich neuen Halt suchte und fand, verlor ihn meine Mutter mehr und mehr. Da sie zu der Generation gehört, die nie gelernt hat, über ihre Gefühle zu sprechen, war es schon immer schwer, ihr etwas über ihr Innenleben zu entlocken. Und nun kam noch die Alzheimerkrankheit dazu, die, von außen gesehen, einen immer dichteren Kokon um sie legte. Ich glaube, dass das der eigentliche Schock für uns Angehörige ist: Der Verlust des Partners, obwohl er noch bei uns ist. Was bedeutet: Der Verlust des intellektuellen und emotionalen Austausches. Der Verlust der Projektionsfläche für die eigene Identität im anderen Menschen. Der Verlust der erfüllten oder abgewiesenen Erwartungen. Der Verlust der gemeinsam erlebten Zweisamkeit und deren Geschichte. Der Verlust des Familiengefüges, in dem die Rollen auf vertraute Weise verteilt sind.

All diese Verluste verkraften müssen und dann zu akzeptieren, dass nun eine lange Zeit des Abschieds folgt, in der sich unser dementer Angehöriger nicht nur immer mehr in sich selbst zurückzieht, sondern sich auch, was seine körperlichen Fähigkeiten betrifft, zu einem Kleinkind zurückentwickelt, das erscheint uns, wenn es vor uns liegt, wie die Besteigung des Mount Everest. Und das ist es am Anfang auch: Schwerstarbeit. Aber je besser es gelingt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und sich nur noch der Gegenwart, dem gelebten Augenblick zu überlassen, desto niedriger wird der Berg, den wir besteigen müssen.

Mit diesem Buch, mit der Darstellung unseres Erlebens und unserer praxisorientierten Erfahrungen, möchten wir – Andrea Jandt, Leiterin eines Pflegeheimes, und ich, Schriftstellerin und Tochter einer dementen Mutter – Ihnen als Angehörige helfen, die Ängste, die die Diagnose Demenz bei Ihnen auslöst, besser zu verkraften und zu verarbeiten. Wir möchten dazu beitragen, die Zeit der Schockstarre und des Gefühlschaos zu verkürzen, möchten Mut machen, das „Leben im Augenblick“ der Betroffenen zu teilen und die alltäglichen kleinen und großen Krisen durchzustehen, egal ob ruhig und besonnen oder (laut oder leise) schimpfend. Wir möchten das Ohr schärfen und das Herz öffnen für die poetischen oder humorvollen Überraschungen, die jeder erlebt, der mit dementen Menschen umgeht.

Und vor allem möchten wir Sie unterstützen, sich über Ihre Gefühle klar zu werden, Ihre Grenzen zu erkennen und eine Lebenssituation zu finden, die diese Grenzen berücksichtigt. Dementen Menschen geht im Zuge der Krankheit die Sprache als Kommunikationsmittel nach und nach verloren. Daher orientieren sie sich zunehmend am Gefühlszustand ihres Gegenübers: Ist die Person nervös? Nicht gut aufgelegt? Mit ihren Gedanken nicht bei der Sache? Unleidlich? Oder ist sie in ausgeglichener Verfassung? Lässt sie sich auf die Situation ein? Zwingt sie den dementen Menschen nicht, sich nach den Regeln der Normalität zu richten, sondern akzeptiert die unlogischen, aus der jeweiligen Situation entstandenen?

Es ist nicht schlimm, wenn man mal in der einen, mal in der anderen Verfassung ist. Wichtig ist zu wissen und danach zu handeln, dass demente Menschen den Gefühlszustand der sie Betreuenden widerspiegeln: Permanente Überforderung beschwört sich zuspitzende Krisen herauf, ruhige Ausgeglichenheit und fürsorglich bestimmtes Handeln hingegen bedeuten Sicherheit und Geborgenheit für sie.

Zwei Hinweise:

1 |  Die faktischen, medizinischen und wissenschaftlichen Aspekte der Demenz streifen wir nur am Rande. Sie sind in vielen Ratgebern, im Internet, als DVD usw. eingehend und genau beschrieben worden. Eine kleine Auswahl von unserer Meinung nach empfehlenswerten Büchern und anderen Informationsquellen haben wir am Schluss zusammengestellt.

2 |  Das Wort „Angehöriger“ wird in diesem Text sehr häufig vorkommen. Wir verzichten darauf, die weibliche und männliche Form zu differenzieren und nehmen die männliche als Gesamtbegriff für Partner, Eltern, sonstige Verwandte und Freunde.

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Wie es anfängt

Eines Tages zeigte mir meine Mutter ihren alten Badewannenvorleger und behauptete, Ameisen hätten ihn angeknabbert. Ameisen im ersten Stock eines Neubaus? Ich riet ihr, Insektenspray zu kaufen.

Einige Wochen später zog sie ein altes Stück Saumband aus ihrem Nähkästchen zum Beweis, dass die Ameisen nun schon überall in der Wohnung ihr Unwesen trieben. Auf meinen Einwand hin, dass auch dieses Saumband genau wie der Badewannenvorleger abgenutzt und daher ausgefranst sei, holte sie eine Plastikdose aus der Küche und hielt sie mir triumphierend unter die Nase. Ich solle nur genau hinsehen, sie habe, weil sie ja schon mit meinen Widerworten gerechnet habe, die Ameisen gesammelt. Doch statt toter Ameisen klebten Krümel an meinem befeuchteten Finger. Ich riet ihr, mal zum Augenarzt zu gehen. Ihren zutiefst verunsicherten Blick in die Dose, bevor sie sie wieder zuschraubte, registrierte ich zwar, ignorierte ihn aber geflissentlich.

Auf dem Heimweg bekam ich plötzlich Atemnot. Gerade war mir durch den Kopf gegangen, dass ich diesen Weg nun öfters würde gehen müssen, jetzt war sie gekommen, die Zeit, in der ich mich intensiver um meine Mutter kümmern musste. Aber damit hatte ich schließlich gerechnet, warum also diese heftige Reaktion?

Ich vergaß die Ameisen. Wochen vergingen. Dann erzählte mir meine Mutter am Telefon, dass sie einen Kammerjäger bestellt habe, sie könne das Ungeziefer nicht mehr ertragen. Ich war entsetzt und sagte ihr, dass sie sich lächerlich machen würde, wenn der Kammerjäger statt des Ungeziefers nur Krümel finden würde.

Am anderen Ende der Leitung trat Stille ein. Dann hörte ich einen erstickten Schluchzer, dann war die Verbindung unterbrochen. Ich biss mir auf die Lippen. Was mischte ich mich auch ein? Wenn sie mir nicht glaubt, würde sie dem Kammerjäger glauben, dann wäre das Problem endlich erledigt.

Dachte ich. Aber als ich sie ein paar Tage später besuchte, streckte sie mir statt ihrer Hand einen Stiefel entgegen und zeigte auf die abgenutzte Gummisohle. „Ich bin nicht so blöd, wie du immer denkst. Hier schau sie dir an, alles weggefressen. Und komm mir nicht mit meinen Augen, die sind hervorragend für mein Alter, hat der Arzt gesagt.“

Wenn ich jetzt nicht aufpasste, würde das ein heiterer Nachmittag werden. Also lieber nicht nach dem Kammerjäger fragen. Ich atmete tief ein und aus und konnte den aufsteigenden Seufzer gerade noch in ein Husten umfunktionieren. Besorgt fragte sie mich, ob ich eine Erkältung bekäme und bot mir einen Tee an. Ich verneinte lächelnd. Gut, dass wir uns wieder auf neutralem Boden bewegten.

Und wieder vergingen Wochen. An ihrem Geburtstag veranstaltete sie einen Kaffee, zu dem sie ihre beiden ältesten Freundinnen und mich eingeladen hatte. Die drei Damen schwelgten in Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Stunden, und im Sommer solle doch nun endlich die schon lang geplante gemeinsame Schiffsreise auf dem Rhein steigen. Da sagte meine Mutter: „Diese Reise hat mir meine Tochter verboten.“ Ich sah sie wie vom Donner gerührt an. Meinte sie mich, oder sprach sie von meiner im Ausland lebenden Schwester? Ich wusste überhaupt nichts von der Reise. „Doch, du hast es mir verboten, diese Reise anzutreten.“ Und zu ihren Freundinnen: „So geht sie mit mir um. Erst verbietet sie mir die Reise, und dann behauptet sie das Gegenteil. Ich lüge doch nicht!“

Auf dem Weg nach Haus steigerten sich meine Verletztheit und meine Wut mit jedem Schritt. Sie log und behauptete das von mir! Und das auch noch vor anderen Leuten! Was für ein empörendes Verhalten! Ich war außer mir.

Wie zeigt sich eine beginnende Demenz?