Umschlag

Silvia Götschi, geboren 1958 in Stans, lebte und arbeitete erst in Davos und dann im Kanton Schwyz. Von Jugend an widmet sie sich dem literarischen Schaffen und der Psychologie. Seit 1998 ist sie freischaffende Schriftstellerin und Mitarbeiterin in einer Werbeagentur. Sie hat drei Söhne und zwei Töchter und wohnt heute mit ihrem Mann in der Nähe von Luzern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang findet sich ein Glossar.

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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/perreten
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-520-6
Originalausgabe

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Den Lebensmörder erwartet gerechterweise die verdiente Strafe; aber die Seelenmörder, welche das Innerste eines Menschen mit rohen Händen zerreissen, gehen straflos aus.

Wilhelm Vogel, 19./20. Jh., deutscher Aphoristiker

 

«Winnetou! Winnetou!»

Albin Odermatt beobachtete die Jungs, die auf den untersten Stufen der überdachten Tribüne zusammengerückt waren. Ein Dutzend testosterongesteuerter Körper, erhobener Hände, aufgerissener Münder und bunter ärmelloser Leibchen. Sie bildeten einen unkoordinierten Haufen. Wie Ausgebrochene eines Irrenhauses. Oder eine Gruppe seelenloser Zombies. Und pausenlos die drei Silben: «Win-ne-tou! Win-ne-tou!»

Dort, wo gewöhnlich der Wasserfall über den felsigen Ausläufer des Hahnenmassivs sprudelte, zeichnete sich bloss ein Rinnsal ab. Nur wer genau hinsah, bemerkte den Streifen Wasser, der wie ein Silberfaden eine feine Linie zog. Es hatte seit geraumer Zeit nicht mehr geregnet. «Besser könnte das Wetter nicht sein», hatte Odermatt gesagt, bevor er sich das Gewand des Bösewichts überzog. Ein kariertes Hemd, schwarze Weste, schwarze Hose. Der Hut vermittelte ihm etwas Eigenwilliges, passte zu der Figur, deren Rolle er im letzten Moment einstudiert hatte: Bud Forrester.

Jetzt schleppte er sich den Felsen entlang, versuchte, das ohrenbetäubende Gekreische dieser Halbstarken zu ignorieren. Die Apachen hatten ihn schon längst umzingelt. Wie Ratten näherten sie sich ihm von allen Seiten. Pfeil und Bogen schussbereit auf ihn gerichtet. Sie wollten ihm Angst einjagen, bevor sie Ernst machten.

Forrester blieb kein anderer Weg als der zur Höhle, wollte er am Leben bleiben. Ein letzter Versuch, seinem Verderben zu entrinnen. Im Rücken wähnte er weitere Rothäute, als er es schaffte, die steile Felswand zu erreichen. Fast siegessicher näherte er sich einer Strickleiter, die da nicht zufällig hing. Wie oft waren Kinder an ihr emporgestiegen, um die Festigkeit zu prüfen. Würde sie seinem Gewicht standhalten?

Plötzlich waren sie wieder überall. Sie hatten ihm einen Vorsprung gelassen, spielten mit ihm, um ihn schneller denn je einzuholen und zu töten. Seine Schuhe klackten über das nackte Gestein, sonst war nichts zu hören. So, wie sie angefangen hatten, verstummten die Geister am unteren Ende des Tribünenaufgangs. Forrester sah schwarze Augen und die glänzenden Pfeile, deren Ziel er war.

Das erste Geschoss traf ihn am linken Oberarm, prallte jedoch ab. Sie hatten es stundenlang geübt. Forrester torkelte Richtung Leiter. Alles musste echt aussehen. Auf der Zuschauertribüne herrschte angespannte Ruhe. Der zweite Pfeil streifte seinen Rücken, als er die erste Sprosse erreichte. Mit letzter Kraftreserve versuchte er sich hochzuziehen – um ihn herum waren noch mehr Indianer aus den Zelten getreten, hinter Bäumen hervor. Eine ganze Armada zielte auf ihn. Einer nach dem andern spannte den Bogen, schoss seinen Pfeil. Direkt auf ihn. Einer traf ihn im Gesicht. Das war nicht vorgesehen gewesen. «Keine unnötigen Schüsse», hatte der Regisseur gesagt. «Niemand soll leiden.»

Forrester hangelte sich hoch, geriet aus der Puste. Verdammt, er hätte das Bier vor der Aufführung besser nicht getrunken. Jetzt musste er büssen. Was dachte seine Mutter, wenn sie ihn da oben so hängen sah. Seine Beine baumelten in der Luft, bis er die zweite Sprosse erfasste. Die Zuschauer feuerten ihn an. Und wieder die Jungs. Diesmal schrien sie seine Namen abwechselnd: «O-der-matt! For-res-ter!» Lächerlich, das alles. Dabei hatte er die Szene zigmal geübt.

Noch sieben Sprossen bis oben. Er würde sich platt auf den Boden legen und sich ausruhen, wenn ihn alle tot wähnten. Warum hatte er auch den Bösewicht spielen wollen? Bereits zum dreiunddreissigsten Mal. Andere Rollen wären eher auf ihn zugeschnitten gewesen. Die von Old Shatterhand zum Beispiel hätte ihm gefallen. Doch dazu war er zu unsportlich. Und Reiten lag ihm nicht. Immerhin hatte niemand ihm Forrester streitig gemacht, ausser Hurschler. Aber das war eine andere Sache. Wer war schon gern der Böse? Man nannte ihn bereits Bud. «Mit deiner Visage bist du nicht weit von dieser Figur entfernt», hatte Hurschler gefeixt, worauf er ihm eine scheuerte. Aus purem Reflex. Dass Hurschler ihn nicht mochte, wussten alle. Es beruhte auf Gegenseitigkeit.

Wieder zischte es an seinem Kopf vorbei. Ein weiterer Pfeil verfehlte ihn um Haaresbreite. Die Strickleiter drehte sich; er fühlte sich um die eigene Achse wirbeln. Kurz meinte er, Mutters angespannte Miene unter den Zuschauern entdeckt zu haben. Sie war dagegen gewesen, dass er bei dem Kasperletheater, wie sie es nannte, mitmachte. «Sie werden dich mit Häme überschütten», war ihr Kommentar gewesen. «Ein Mann in deiner Position lässt sich nicht auf so etwas ein.» Jetzt sass sie dort, gewiss nicht ohne Stolz, und freute sich über die Glanzleistung ihres Sohnes. Am Ende der Aufführung würden sie ihn mit Standing Ovations verabschieden, und er würde sich verneigen und den Applaus auf sich einwirken lassen.

Er blickte nach oben ans Ende der Leiter, in den sich verdunkelnden Himmel. Die Dämmerung war schon längst über Engelberg hereingebrochen. Der Kondensstreifen eines Linienflugzeugs zog sich über das Firmament. Ein scharfer Schnitt.

Vier Sprossen. Er hätte sich in den letzten Jahren weniger anfuttern sollen. Nun musste er leiden. Schweisstriefend kletterte er weiter. Seinen Puls spürte er bis zum Hals. Er raste, dass ihm dabei die Kehle schmerzte. Mit letzter Anstrengung zog er sich über die Felskante, an der die Leiter befestigt war. Erschöpft und schwer atmend erhob er sich.

Plötzlich ein Knall. Er echote zigfach in den umliegenden Felsen, wurde leiser, bis er im Nirgendwo verstummte. Ein Raunen ging durch die Zuschauertribüne.

Forrester durchfuhr ein stechender Schmerz in der Brust. Er griff an sein Herz, spürte warmes Blut. Das war keine Einbildung. Über ihm drehte sich das Universum, in das er zu blicken glaubte. Und hineinflog. Er verinnerlichte sich dieses Bild, bevor er vornüberkippte, unter dem frenetischen Beifall der Zuschauer. Sein Gesicht schlug hart auf dem Sand auf. Das letzte Irdische, das er sah, war die rot-weiss gestreifte Flagge mit den Sternen auf blauem Grund im aufkommenden Wind. Er vernahm das Horn, an dessen Tönen sie gefeilt hatten, bevor sie sie im Tonstudio aufnahmen. Die Musik von Martin Böttcher verebbte. Er hatte sie so gemocht.

EINS

Diese bescheuerten Leinenhosen mit dem Lederbesatz waren Fedes Idee gewesen. Die Fransenjacke war zu viel des Guten. Max von Wirth, Privatdetektiv und seit zwölf Monaten im Handelsregister eingetragen, schwitzte. Auch an den Füssen, an denen er halbhohe Cowboystiefel trug. Ein Hut schützte ihn vor der sengenden Sonne. Der einzige Grund, warum Max diesen Zirkus mitmachte, war seine Freundin. In ihrem eng anliegenden Kleid, an dem sie offensichtlich mit Leder gespart hatte, sah sie zum Anbeissen aus. Auch sie trug Stiefel, die ihre braun gebrannten Beine betonten. An der linken Wade schlängelte sich eine Python Richtung Kniekehle. Das neuste Tattoo, das sie sich kürzlich hatte stechen lassen. Ihre Mähne hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, um den Kopf ein Lederband gebunden und mit künstlichen Federn geschmückt. Nicht nur die Männer blickten ihr nach. Fede – sie war eine Augenweide. Und wie sie vor ihm dahinschlenderte, eine prall gefüllte Jutetasche lässig über die Schultern geworfen.

Sie hatte unbedingt nach Engelberg fahren wollen, die Tickets zu den Karl May Freilichtspielen bereits weit im Voraus gekauft. «Winnetou», hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Das hatte sie ihm nie zuvor gesagt, bis er begriff, was sie damit meinte. Sie hatte die Eintrittskarten auf seinen nackten Bauch gelegt. «Nachdem ich die beiden ersten Teile gesehen habe, ist es für mich ein Muss, auch die neuste Vorführung zu sehen. Das Theater ist genial.» Max hatte nicht gewusst, worauf er sich einliess, und sich ganz auf Fedes Organisationstalent verlassen. Dass er sich dabei wie ein Clown hatte kleiden müssen, nahm er einstweilen in Kauf. Doch mit dieser unsäglichen Hitze hatte er nicht gerechnet.

«Kommst du?», fragte Fede. «Ich habe einen Mordshunger. Dort drüben gibt es einen Essstand.»

Unter seinen Stiefeln knirschte der Sand. Max überquerte den weitläufigen Platz, in dessen Zentrum ein Totem stand, einem farbigen Obelisken gleich, auf dem ein Rabe mit gelbem Schnabel und weit gespreizten Flügeln prangte. Um das Totem herum waren Tische und Bierbänke verteilt, an denen Leute sich verköstigten und sich einzelner Wespen erwehrten, die angriffslustig um belegte Brote kreisten. Es herrschte eine Jahrmarktatmosphäre, mit klassischer Filmmusik untermalt.

Die Leute trugen Kleider, die an Cowboys erinnerten. Sie schienen ihre verborgenen Sehnsüchte auszuleben: einmal im Jahr aussehen wie die Siedler des 19. Jahrhunderts, als diese – gemäss Mythos – den Wilden Westen eroberten. Max sah einem Mann älteren Jahrgangs nach, der sich neben einem Planwagen in Pose stellte. Ein Fotograf lichtete ihn ab. Den Platz umschlossen diverse Stände in Form von Westernhäusern, an denen man Speisen, Getränke und zum Thema passende Preziosen verkaufte.

Vor Billys Saloon, einem rostroten Holzgebäude, hatte sich Fede in die Reihe Wartender gestellt. Sie fuchtelte Max an ihre Seite und rief über alle Köpfe hinweg: «Möchtest du auch eine Wurst? Eine Schweins- oder Kalbsbratwurst?»

Max pirschte in ihre Nähe, worauf sich der Indianerhäuptling hinter Fede beschwerte: «Hey, Cowboy, seine Alte vorausschicken, damit man nicht selbst anstehen muss.» Eine Alkoholfahne streifte Max’ Nase.

Max ignorierte ihn. Er berührte sachte Fedes Arm. «Ich dachte, du seiest Vegetarierin?»

«Ausnahmen bestätigen die Regel.» Sie lachte verschmitzt.

Im Tal lag Verheissung. Ein lila Himmel, umrissen von messerscharfen Bergkanten, ergoss sich über Engelberg. Zugegeben, Max fühlte sich trotz seiner anfänglichen Bedenken wohl. Es war ein Bilderbuchsommer, ein Tag schöner als der andere. Sie hatten den Morgen auf dem Jochpass verbracht, waren zum Trübsee gewandert und von dort mit der Seilbahn zurück nach Engelberg gefahren, wo sie sich im Hotel «Terrace» einquartierten.

«Wir können uns diesen Luxus nicht leisten», hatte Max interveniert, worauf Fede ihn zärtlich in den Arm kniff. Sie habe noch etwas auf der hohen Kante, hatte sie gesagt. Zudem habe das Hotel nur drei Sterne. Damit war für sie das Thema erledigt gewesen.

«Willst du Senf?»

«Senf?» Dass sie über eine finanzielle Reserve verfügte, war neu.

«Max, Darling, wo bist du bloss mit deinen Gedanken. Wir sind an der Reihe.» Fede nahm ihn beim Arm. «Kannst auch Ketchup dazu haben.» Sie hielt inne. «Ruthli?» Das galt wohl nicht ihm. «Ruthli! Du bist es!»

Die Frau hinter dem Tresen hob die Augenbrauen. Das Erkennen beruhte offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit. «Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.» Instinktiv zog sie ihren Cowboyhut tiefer ins Gesicht, das von dunklen kinnlangen Haaren umgeben war.

Fede blieb hartnäckig, wie immer. «Du bist doch Ruth Barmet, drittes Gymnasium in Stans, kurz bevor meine Familie nach Zürich zog. Erinnerst du dich?»

«Was möchten Sie denn essen?», fragte die Frau genervt. Sie sandte einen anklagenden Blick nach hinten in die Schlange der Wartenden.

«Zwei Kalbsbratwürste mit Senf», sagte Max an Fedes Stelle und flüsterte ihr danach ins Ohr, dass die Leute hinter ihnen ungeduldig würden.

Fede wandte sich um. «Zwei Minuten können die wohl warten, oder?» Sie bezirzte den Indianer, der ihr nicht in die Augen, sondern auf den Ausschnitt starrte.

«Falls mir weiterhin diese tolle Aussicht beschert ist, macht es mir nichts aus», sagte er.

Aber mir, wollte Max erwidern, konnte sich jedoch im letzten Moment eine Bemerkung verkneifen. Er musste heute alles ein wenig lockerer angehen als üblich.

«Etwas zum Trinken?»

«Zwei Biere», sagte Max.

Die Frau reichte ihm zwei eisgekühlte Dosen. «Die Würste bekommen Sie von meinem Kollegen, und bezahlen können Sie bei mir.»

«Ruth, jetzt tu nicht so, als kenntest du mich nicht.» Fede schüttelte ungläubig den Kopf. «Oder soll ich mir die Perücke vom Kopf reissen? Scherz, ich habe rote Haare, schon vergessen? Ich bin es, Federica Hardegger.»

Die Frau fand es nicht lustig. Max sah es ihr an. Zum Lachen war ihr auf jeden Fall nicht zumute. Sie gab auf die Fünfzigernote, die Max ihr überreicht hatte, das Retourgeld heraus.

Fede nahm indessen die beiden Kalbsbratwürste entgegen, jonglierte die Kartons in der einen Hand und drückte mit der anderen Senf aus einem Plastikbehälter. Max beobachtete den Mann am Grill, der einen fragenden Blick zwischen seiner Kollegin und Fede hin- und herwarf. Dass hier etwas Unausgesprochenes in der Luft lag, spürte Max.

Fede entfernte sich mit Wurst, Brot und Bier beleidigt vom Stand. Max kannte ihre Körperhaltung, wenn sie sich geschlagen gab.

Sie suchten sich einen freien Platz an einem der Stehtische aus. Fede schob sich frech neben zwei mit eindrücklichen Wampen bestückte Männer, die sich über Büstenhalterkörbchengrössen unterhielten.

«Was war das soeben?» Max grinste. «Die neue Masche, wie man schneller an das Gewünschte kommt? Oder war es ein Ablenkungsmanöver, damit der Verkäufer das Einkassieren vergisst?»

«Siehst du mich in deinen Augen als so dreist?» Fede boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, schälte die Bratwurst aus der Serviette und biss hinein. Während sie ausgiebig kaute, warf sie immer wieder einen Blick Richtung Essstand. «Wenn das nicht Ruth Barmet ist, fresse ich einen Besen.»

«Da freue ich mich jetzt schon drauf.»

«Was?»

«Dir dabei zuzuschauen, wie du den Besen isst.»

«Ich habe ein gutes Gedächtnis. Namen sind mir nicht immer auf Anhieb präsent, aber Gesichter kann ich mir merken. Ruth hat sich zwar verändert, aber die Grundzüge sind geblieben. Im dritten Gymi sass sie neben mir. Wir hatten es immer sehr lustig. Als ich nach Zürich zog, verlor ich sie aus den Augen. Keine Ahnung, was sie heute tut. Sie scheint jedoch nicht über die Grenzen der Innerschweiz hinausgekommen zu sein.»

«Woran erkennst du das?»

«Ein Gefühl.»

«Sie arbeitet während der Freilichtspiele am Stand, gehört wohl zu den Theaterleuten.» Max’ Blick blieb an den Männerwampen hängen. «Halb Engelberg ist daran beteiligt.»

Fede lachte auf. «Sie will mich nicht mehr kennen. Egal, lass uns heute Spass haben.»

«Wir sind immer für Spass zu haben.» Einer der Männer am Stehtisch hatte Fedes Gespräch aufgeschnappt und wollte sich wichtigmachen. «Willst du unsere Handynummer?»

«Kein Bedarf.» Max griff nach der Bierdose. «Komm, Schatz, lass uns zu den Tribünen gehen.»

Fede folgte seiner Aufforderung.

Nachdem ein Security einen Blick in Fedes Tasche geworfen hatte, waren sie zu ihren Sitzen gelangt. Tribüne eins, Reihe elf, Sitze siebenundfünfzig und achtundfünfzig. Der Blick von diesem Platz aus hätte besser nicht sein können. Das zumindest fand Max.

Fede küsste ihn auf die Wange, kaum hatten sie sich gesetzt. «Hast du gesehen? Hinter uns hat es leere Plätze. Ganz oben wären wir zudem für uns.» Sie zeigte zu den obersten Sitzreihen.

«Was hast du vor?»

«Nichts.»

«Ich kenne dich doch.»

«Komm schon, jetzt können wir noch tauschen. Wetten, dass sich die Tribüne nicht füllen wird?» Fede erhob sich, packte ihre Jutetasche und begab sich unter dem neugierigen Blick zweier molliger Damen mit Hut nach oben.

Zähneknirschend folgte Max ihr.

«Siehst du?» Fede schwang sich auf einen der Plastiksitze. «Hier sind wir ungestört und haben die totale Übersicht.»

«Bist du sicher, dass wir hier sitzen bleiben?» Max registrierte den Zuschauerzulauf auf den unteren Plätzen und das sich zunehmende Gedränge und war froh, Fedes Vorschlag angenommen zu haben.

Fede klemmte die Jutetasche zwischen ihre Füsse. «Hier sind wir absolut ungestört.»

«Hast du deine Kaffeemaschine mitgenommen?» Max zeigte auf die Tasche.

«Jeans, Pullover und Jacke. Und eine Wolldecke. Sobald die Sonne untergegangen ist, wird es hier empfindlich kalt.»

«Eine Wolldecke.» Max konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Mit Fede hatte er schon die abenteuerlichsten Sachen erlebt.

«Nicht für das, was du denkst.»

«Woran denke ich denn?»

«Wir wollen doch nicht Grund für ein öffentliches Ärgernis sein.»

Die letzten Sonnenstrahlen des ausklingenden Tages kitzelten Fels und Tann. Im künstlich angelegten See kräuselte sich das Wasser, ein Kanu schaukelte am Rand. Darüber erhob sich nebst einem Bohrturm imposant das Pueblo der Apachen schimmernd im Abendrot. Ein Krieger bewachte es, ein strammer Bursche mit entblösster Brust und einem Speer in der rechten Hand. Zwei Wäscheleinen spannten sich von einer zur anderen Hauswand.

Max liess die Bilder auf sich einwirken. Neben dem Pueblo standen Zelte, wie er sie aus den Karl-May-Filmen kannte. Helle Tipis, vor denen Kinder spielten. Am See wuschen Frauen Kleider. Weiter rechts war die Kleinstadt aufgebaut. Der Saloon mit Balkonen und mit roten Vorhängen bestückten Fenstern, ein paar Holzgebäude, davor Wagenräder und Strohballen. Sogar der Barbier fehlte nicht. Westernidylle wie aus dem Bilderbuch. Ein Ort, vom vermeintlichen Frieden beherrscht. Damen in langen Röcken, Männer in Cowboykluft und Pferde, die gesattelt wurden. Es fühlte sich an wie die Ruhe vor dem Sturm.

Die Winnetou-Melodie schwoll an, unverkennbar der cineastische Touch, der in Max erneut Erinnerungen wachrief, an eine Zeit, in der seine Mutter Milagros ihn vor den Fernseher gesetzt hatte, weil sie einmal an den Wochenenden Ruhe vor ihrem Sohn haben wollte. Max kannte sie auswendig. Als er älter geworden war, hatte er die Karl-May-Bücher verschlungen und festgestellt, dass die Drehbücher fast komplett neu geschrieben waren.

Allmählich verstummten die Stimmen im Publikum, als hätte man den Ton an einem Radio zurückgedreht. Über ein unsichtbares Mikrofon ertönte die sonore Klangfarbe des Erzählers: «Im südlichen Arizona des Jahres 1862 zog ein Siedlertreck mit Auswanderern durch das Land. Der Treck bestand aus einer bunten Gesellschaft von Menschen, die aus verschiedenen Motiven hier im Wilden Westen unterwegs waren. Sie stammten aus Deutschland und der Schweiz.»

«Aus der Schweiz?», fragte Fede. «Hast du das gewusst?»

Max legte ihr den Finger auf den Mund. «Es liegt in der Freiheit des Regisseurs.»

«Zur selben Zeit», tönte es über die Lautsprecher, «trieben sich die Finders, eine Bande von zwölf gefährlichen Revolverhelden, in der Gegend herum. Raub, und nicht selten Mord, waren deren Geschäft.»

Zwei Planwagen tauchten auf, begleitet von einer Handvoll Komparsen, die eine Gruppe von Siedlern darstellten. Und wie aus dem Nichts heraus wurden sie gleich von üblen Typen überfallen. Schüsse fielen, Feuerkörper explodierten und erleuchteten die Naturbühne. Es schien, als würden die Planen in Brand gesetzt.

Fede drückte sich an Max’ Seite. «Das fängt ja megamässig an.»

«Feinste Pyrotechnik», witzelte Max, der genauso wie die anderen Zuschauer zusammengezuckt war. Der Einstieg war seines Erachtens gelungen. Er mochte die Action.

«Du, der Grimmige dort, das ist Buttler», sagte Fede. «Der Anführer. Hat nichts mit Red Buttler von ‹Vom Winde verweht› zu tun.»

Max konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, hoffte jedoch, dass Fede in den kommenden Minuten nicht zu jeder Szene eine Bemerkung fallen liess.

«Aussteigen!», befahl Buttler. «Und schön die Hände hoch.»

«Geht’s auch unschön?» Fede lachte. Sie war auf der Stuhlkante nach vorn gerutscht, fieberte mit.

Aus den Planwagen stiegen noble Leute, die Kutscher sprangen vom Bock.

«Los, Männer», fuhr Buttler fort, «erleichtert die ehrenwerte Gesellschaft von ihrem Geschmeide und den schweren Dukaten.» Dabei ging er die Reihe entlang und streifte mit seinem Colt über die Nasen der Siedler.

Seine Männer sammelten Ohrringe, Ketten und Geldscheine ein.

«Also so eine Unverschämtheit», beschwerte sich eine Dame, die sich offensichtlich nicht einschüchtern liess.

«Wer ist denn das?», fragte Fede.

«Wer hat Ihnen denn die Erlaubnis gegeben, uns wehrlose Bürger –»

Buttler brach in schallendes Gelächter aus. «Habt ihr gehört, Leute», er nickte Richtung Dame, «Signora, die Erlaubnis, von der Ihr sprecht, gebe ich mir selbst. Meine Leute und ich nehmen, was uns beliebt.»

«Na, da hört bei mir aber jegliche Form des Anstands auf. Ich bin Rosalie Ebersbach, geborene Morgenstern, geschiedene Infanger, verwitwete Leiermüllerin, und komme aus Sachsen. Und ich verbiete euch dahergelaufenen Halunken –»

«Stopft der alten Krähe das Maul!», höhnte Buttler, worauf zwei seiner Leute die Frau bedrängten. «Ihr habt nichts zu melden.»

Hinter einem Hügel ertönte eine andere Stimme: «Ja, richtig, ihr habt nichts zu melden. Ergebt euch!»

«Sam Hawkens», sagte Fede, worauf dieser mit seiner Flinte vier Schüsse abgab. «Das Unikum des Wilden Westens.»

Deutlich war die Verunsicherung bei den Banditen zu sehen.

«Abhauen, Leute», rief Buttler. «Das ist eine Falle. Bringt euch in Sicherheit. Wir treffen uns beim Ranchero.»

Die Banditen schwangen sich unter Beschuss auf ihre Pferde. Buttler versuchte, den Rückzug zu decken, und schoss zurück. In diesem Chaos tauchte ein anderes Pferd auf und auf dessen Rücken ein wunderschöner Indianer.

«Das ist nicht Winnetou», sagte Fede, fast ein wenig enttäuscht.

Buttler wollte abhauen, doch der Indianer versperrte ihm den Weg.

In die Siedlerszenerie drang plötzlich eine Stimme, die mutmasslich nicht zum Spiel gehörte. Von der unteren Reihe der linken Tribüne löste sich eine Frauengestalt, rannte Richtung Naturbühne und gelangte auf den Platz, wo die Planwagen standen. Gleich war ein Sicherheitsmann zur Stelle.

Zuschauer und Spieler hielten gleichermassen den Atem an.

«Ist die durchgeknallt?», fragte Fede. «Oder gehört sie dazu?»

«Ihrem Outfit zu urteilen nach nicht.» Max wunderte sich über deren Aufmachung. Die Fremde trug ein buntes Sommerkleid, was zu ihrem Alter nicht passen wollte. Max schätzte sie auf die siebzig, was er an deren Bewegungen zu sehen glaubte. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, wohl um besser gehen zu können. Das halblange Haar umspielte ihr schmales Gesicht.

Sie versuchte, sich aus dem Griff des Sicherheitsmannes zu befreien. «Ihr Penner und Taugenichtse!», schrie sie in die Menge. «Ihr gefühlskalten Möchtegernberühmten und Ignoranten im Publikum.» Sie riss sich mit einer ungebändigten Kraft los. «Kein Jahr ist es her, seit mein Sohn hier auf dieser Bühne sein Leben gelassen hat. Und ihr wagt es, euer Theater wieder aufzuführen. Schämt euch!»

Der Sicherheitsmann packte sie erneut.

«Wo kommt denn die her?» Fede reckte ihren Hals. «Das ist ja mal ein Schauspiel, ein lebensechtes.»

«Vielleicht gehört das zur Werbung», mutmasste Max. Er liess die Leute auf den Sitzreihen nicht aus den Augen. Fedes Aufmerksamkeit galt ganz der Frau.

«So ein Quatsch. Die meint das ehrlich. Ihre Stimme unterscheidet sich wesentlich von einem Bühnendeutsch. Das kommt aus ihrer tiefsten Seele.»

Ein zweiter Mann von der Security rannte heran. Gemeinsam zerrten sie die Frau von der Bühne, wo die Pferde zu scheuen begannen, sich auf die Hinterbeine stellten und wie verrückt wieherten. Ein Pferd brach Richtung Saloon aus. Hawkens landete rücklings vor einem der Planwagen. Einen Moment lang sah man ihn des vielen Staubs wegen nicht mehr. Ein Siedler konnte sich im letzten Moment mit einem Hechtsprung hinter einen Hügel aus Steinen retten, bevor ihn das Pferd des Indianers niedergetrampelt hätte. Buttler rannte geistesgegenwärtig hinter dem Hengst her, versuchte, dessen Zaumzeug zu greifen und ihn zu beruhigen, wogegen Rosalie sich flach auf den Boden legte und die Ohren zuhielt. Einige der Komparsen ergriffen die Flucht zum Pueblo auf der linken Seite. Der Rest der Leute irrte ziellos umher. Ein weiteres Pferd brannte durch. «Rette sich, wer kann!», schrie Buttler. Er schien seine Mission vergessen zu haben. Die Zuschauer auf der Tribüne schrien mit, erhoben sich, verstummten gebannt und schockiert. Die Stimme des Erzählers gebot, Ruhe zu bewahren. «Wir werden das in den Griff bekommen», versicherte sie. «Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen.»

Derweil gelang es Buttler, das eine Pferd in seine Gewalt zu nehmen. Er schwang sich auf dessen Sattel und hantierte mit den Zügeln. Das andere Pferd galoppierte im Kreis herum, haarscharf an Rosalie vorbei, die immer noch am Boden lag, schreiend jetzt. Hawkens, wieder auf den Beinen, rannte hinterher, worauf ihm das Pferd einen Huftritt verabreichte. Die Zuschauer standen jetzt, schrien entsetzt auf. Max wusste nicht, weshalb er an einen Gladiatorenkampf denken musste. Er erhob sich ebenfalls. Auf der Bühne war der Teufel los.

«Was ist?», fragte Fede, die angespannt sitzen blieb.

«Ich muss mal.»

«Aufs Klo?» Fede sah ihn fragend an. «Jetzt, wo mal richtig was läuft?»

«Wenn die Pferde durchdrehen, ist es nicht nur für die Schauspieler brandgefährlich. Pferde sind Fluchttiere, die galoppieren einfach los, wenn Gefahr droht. Vielleicht kann ich helfen.»

«Wie helfen? Die Pferde einzufangen? Ich erinnere dich daran, dass du nicht mal mit einer Kuh klarkommst.»

«War das jetzt eine Anspielung auf dein Vieh?» Max grinste. Fede hatte zwei Kühe. Rambo und eine namenlose. Auf ihrem Bauernhof in Stans. Eine Welle der Zuneigung bemächtigte sich seiner, als er sich in Erinnerung rief, wie er Fede zum zweiten Mal kennengelernt hatte. Die bodenständige Bäuerin – das Gegenteil von dem, was sie bei ihrer ersten Begegnung im Pilatuskeller gewesen war. Dort hatte sie ihn als Femme fatale überrumpelt und verführt. «Ich gehe dann mal.»

«Max, ist das dein Ernst? Auch in diesem Fall ist vorgesorgt. Schau, die Pferde haben sich beruhigt. Es geht gleich weiter.»

«Warte nicht auf mich.»

«Was ist los?»

«Ich muss wissen, wer diese Frau ist. Vielleicht steckt sie in Schwierigkeiten.»

«Offensichtlich. Aber du bist kein Seelenklempner, wenn du das meinst.»

«Das nicht. Aber ich vermute, dass sie einen wie mich braucht.»

«Max, bitte nicht.» Fede hielt ihn am Ärmel zurück. «Ich bezahle doch nicht Eintritt, damit du die Aufführung verpasst. Hast du plötzlich eine soziale Ader? Das wäre neu. Zudem arbeitest du nicht mehr als Anwalt. Was ist nur los mit dir?»

Es war das Letzte, wenn er jetzt ausfällig wurde. Seit ihrem ersten gemeinsamen Fall im Oktober vorigen Jahres hatten sie keinen grossen Job mehr erhalten, und Max war wieder dort gelandet, womit er persönlich abgeschlossen hatte – untreue Frauen und Männer zu observieren und ab und zu Leute in rechtlichen Fragen zu beraten. Einmal hatte ihn jemand für Werkspionage anheuern wollen. Davon hatte er die Finger gelassen. Fede hatte wenigstens einen abwechslungsreichen Job auf ihrem Bauernhof und als Hackerin einer namhaften Firma eine finanzielle Sicherheit. Max war zum Warten verdammt. Vielleicht müsste er es sich überlegen, wieder in einer Anwaltskanzlei einzusteigen, wo ihm ein monatliches Einkommen sicher war. Die Reserven ihrer GmbH drohten allmählich zu erschöpfen. Es durfte nicht sein, dass er sich von Fedes Portemonnaie abhängig machte. Wenn sie ausgingen, bezahlte immer sie.

«Bitte gehe nicht weg», sagte er.

«Darauf kannst du Gift nehmen.»

«Sehen wir uns in der Pause?»

Fede wandte sich beleidigt ab. Max hatte eindeutig am Ziel vorbeigeschossen, wusste er doch, wie Fede sich auf diesen Abend gefreut hatte. Unterschwellig war seine Angst, als Privatdetektiv zu versagen. Womöglich hatte ihn die Frau aus seiner momentanen Lethargie geweckt, mit der Aussage «Penner und Taugenichtse». In der ersten Hälfte des Jahres hatte er den Erfolg des bis dahin einzig lukrativen Falls auf sich einwirken lassen. Er hatte sich darin gesonnt. Nun fühlte er sich wieder an jenem Abgrund stehen, der nach Vaters Tod so stark präsent gewesen war.

Max überlegte, welchen Weg er einschlagen musste, wollte er kein Aufsehen erregen. Doch die Zuschauer waren zu sehr mit dem Chaos und der Angst beschäftigt, als dass sie ihn beachtet hätten.

Hauptdarsteller und Komparsen kehrten zurück. Die Pferde hatte man abgeführt. Das Spiel fand seine Fortsetzung mit der Szene, in der Hawkens auf den Indianer zutrat. «Schi-So, mein junger Freund. Hätte dein Vater dies jetzt gesehen, er wäre stolz auf dich, wenn ich mich nicht irre … hihihi …»

Max konnte sich keinen Reim darauf machen, was er wirklich damit meinte.

«Schi-So dankt dem Westmann Sam Hawkens», sagte der Indianer.

«Na, wir kennen uns nun schon eine Weile, mein junger Freund … hihihi … Sag Du zu mir.»

«Danke, Sam, das mache ich gern.» Schi-So war beim Treck angekommen, wohin ihn nebst Hawkens und einem anderen Mann Rosalie begleitet hatte.

«Verbindlichsten Dank», sagte sie, als wäre nichts geschehen, «Mister Hawkens und Mister Schi-So. Wenn schon unser Scout, Mister Poller», sie winkte dem dritten Mann zu, «komm mal her zu mir! Und wo ist denn unser Kantor Hampel?»

Max hatte weder Ohren für den Text noch Augen für die Bühne. Mit geneigtem Kopf stieg er über die Treppen nach unten, wo er der Tribünenreihe entlang zum Ausgang ging. Eine Squaw mit langen seidigen Haaren hielt ihn zurück. «Wohin so eilig?»

«Zu den Toiletten», flunkerte Max. Wenn er sich beeilte, würde er sehen, wohin man die Frau von vorhin brachte.

«Sie können jetzt nicht durch», sagte die Squaw. «Ausser in Begleitung, wenn’s eilt.» Sie zitierte einen Security an ihre Seite, einen jungen Typen in braunen Fransenhosen und mit entblösstem Oberkörper. Sein Body war beneidenswert durchtrainiert. «Der Herr hier möchte aufs Klo.»

«Wie bitte?» Max glaubte, sich verhört zu haben.

«Das ist Vorschrift», sagte der junge Mann. «Wie Sie sehen, befinden sich die Pferde, die nicht auf der Bühne sind, hinter der Tribüne. Die allgemeine Aufregung hat sie nervöser gemacht, als sie eh schon sind. Unsere Sicherheitsleute haben alle Hände voll zu tun.»

«Wissen Sie, wohin man die Frau gebracht hat, die vorhin auf der Bühne war?», fragte Max.

«Sind Sie ein Verwandter?»

«Ja.» Max’ Blick wich nicht vom Gesicht des Mannes. Dass er log, musste dieser ihm ansehen.

«Sie wird gleich abgeholt», sagte die Squaw. «Sie wartet im Westerndorf auf ihre Betreuerinnen vom Pflegeheim. Mein Kollege hat sie herbestellt. Er bleibt so lange bei ihr, bis sie eintreffen.»

«Kennen Sie die Frau?», fragte Max.

«Wer will das wissen?» Sie bezirzte ihn mit ihren blauen Augen, die ihn an Aquamarin erinnerten.

Max wandte sich an den Security. «Bringen Sie mich zu ihr.»

«Nicht zu den Toiletten?»

«Gott behüte, nein.»

«Glauben Sie ernsthaft, das macht mir Spass? Ich bin hier angestellt, muss aufpassen, dass nichts geschieht.» Er nahm Max beim Arm. «Kommen Sie und bleiben Sie am Rand.» Der Zwischenfall von vorhin musste ihn echt nervös gemacht haben. «Ich bringe Sie zu der Frau. Ist mir eigentlich egal, in welchem Verhältnis Sie zu ihr stehen. Befolgen Sie einfach unsere Vorschriften.»

Das Westerndorf wirkte wie ausgestorben. Dort, wo erst noch die Leute an Tischen und vor Ständen gestanden und sich verköstigt hatten, herrschte gähnende Leere. Max suchte den Platz ab, den die abendlichen Schatten eingenommen hatten. Er entdeckte bloss zwei Männer, die mit von ihm abgewandtem Gesicht rauchten.

«Von hier aus können Sie allein weiter», sagte der Wachmann. «Wenn Sie zurück auf die Tribüne wollen, winken Sie mir zu. Ich werde ein Auge auf Sie werfen.»

Die Fremde sass unter einem Sonnenschirm und nippte an einem Strohhalm. Neben ihr stand ein Mann in Cowboymontur. Max näherte sich ihnen. «Heiss heute», sagte er, weil ihm nichts Intelligenteres einfiel. Seit die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, sanken die Temperaturen.

«Und Sie sind?», fragte der Fremde.

«Ich löse Sie ab. Sie können getrost zurückgehen und die Vorstellung geniessen. Max von Wirth. Ich kümmere mich um –»

«Sind Sie vom Pflegeheim?»

«Nein, ein Freund.»

«Ich weiss nicht, ob ich Sie mit Frau Odermatt allein lassen kann.» Er flüsterte hinter vorgehaltener Hand: «Sie ist unberechenbar. War bei der letzten Vorstellung schon hier und machte Radau. Aber dass sie auf die Bühne kommt, ist neu. Menschenskind! Das hätte danebengehen können. Haben Sie gesehen, wie die Pferde scheuten? Ein Hufschlag, und Sie sind mausetot. Ich habe Annies Betreuerinnen benachrichtigt. Sie werden gleich hier sein. Sie kommen meistens zu zweit. Bestellen Sie sich etwas zum Trinken. Das geht auf mich.»

Max sah ihm nach, wie er zu den Tribünen zurückkehrte. Er selbst wandte sich an Annie Odermatt. «Wie geht es Ihnen?» Er hatte sich nicht getäuscht. Vor ihm sass eine Frau, die die siebzig überschritten hatte. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich nicht bloss das Alter, auch etwas Melancholisches hatte sich in den Zügen stigmatisiert. Ihre graublauen Augen drückten Traurigkeit aus.

Sie sah ihn an. «Geht so. War ja nicht gerade eine Glanzleistung, die ich vollbracht habe, nicht wahr?»

«Dafür gibt es sicher einen Grund.» Max setzte sich zu ihr.

«Mein Sohn wurde letztes Jahr ermordet.» Annie Odermatt hinterliess nicht den Eindruck, sie könnte durch den Wind sein, während sie dies sagte.

«Bei den Freilichtspielen?»

«Lesen Sie denn keine Zeitung?» Sie schien durch ihn hindurchzublicken. «Eine ganze Woche lang war es in den Medien. Allerdings verblasste es so schnell, wie es gekommen war.»

«Ich erinnere mich. Ein Unfall während der letzten Aufführung.» Max hatte es am Rande mitbekommen. Er war in besagter Zeit zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

«So kann man es auch nennen. Nur hat bis dahin niemand gewusst, dass mit scharfer Munition geschossen wird. The show must go on, nicht wahr?» Es klang verbittert.

«Hat man …» Max hielt inne. Er wollte weder aufdringlich sein noch das Wort «Mörder» in den Mund nehmen. «Hat man den Verantwortlichen gefasst?»

«Man hat. Damit war es erledigt, und man konnte sich getrost auf die neuen Spiele konzentrieren. Ich finde es pietätlos. Wenigstens eine Schweigeminute für meinen getöteten Sohn wäre das Minimum, nicht wahr?» Ihre Augen füllten sich mit Tränen. «Ich bin sonst nicht so. Doch wie schnell ist heute etwas vergessen. Jemand wird getötet, man nimmt es in Kauf. Es gehört wie alles andere zur Unterhaltung in einer nach Unterhaltung lechzenden Gesellschaft. Das Leid prallt ab. Sehen Sie sich die Tagesschau an. Sie dröhnt uns täglich zu mit grauenhaften Bildern. Von Kriegen, Hungersnöten, Vergewaltigungen, Naturkatastrophen. Wir lassen diese kurz auf uns einwirken, schaudern dabei, sind froh, dass es uns nicht selbst betrifft. Minuten später sehen wir uns einen Krimi an, wo genauso getötet und gemetzelt wird, und vergessen die realen Dinge, die auf der Welt geschehen. Nicht wahr?» Annie Odermatt zog Rotz hoch. «Es ist schlimm, wenn man das eigene Kind verliert. Wenn ein Fremder es tötet, ist es unerträglich. Es ist, als hätte man dir das Herz aus der Brust gerissen. Das Loch bleibt, wird auch nach Jahren nicht geheilt sein.»

«Möchten Sie darüber reden?» Max ergriff ihre Hand.

Sie zog diese zurück. «Es ist lieb von Ihnen, wenn Sie sich um mich kümmern wollen. Aber ich rate Ihnen, ins Leben zurückzugehen und es zu geniessen, solange Sie es können.»

Der Wachmann kam mit zwei Frauen zurück. «Ihre Pflegerinnen sind da», sagte er, worauf die jüngere sich um Annie Odermatt sorgte. In ihrem Outfit sah sie aus wie von der Heilsarmee.

«Was machen Sie auch für Sachen? Kommen Sie. Wir werden Sie ins Heim bringen.» Die Frau sah Max an. «Danke, dass Sie sich um sie bemüht haben. Es ist nicht das erste Mal, dass wir sie abholen müssen. Sie lebt im Alters- und Pflegeheim Fichtenheim. Frau Odermatt macht liebend gern Ausflüge. Leider enden sie nicht immer glimpflich.»

«Sie sass auf der Zuschauertribüne», sagte Max.

«Ja, dann hat sie wohl ein Freibillet bekommen.»

«Wegen des Vorfalls im letzten Jahr?»

Die Frau sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. «Das entzieht sich meinem Wissen.»

«Leidet sie unter Demenz?» Max hatte zwar nicht den Eindruck gehabt. Aber er konnte sich täuschen.

«Sagen wir es mal so, sie hat eine blühende Phantasie und kann diese von der Realität oft nicht unterscheiden.»

«Dann lebt ihr Sohn?»

«Nein, Albin Odermatt wurde vor einem Jahr umgebracht. Aber das haben Sie sicher aus den Medien erfahren. Nach dieser Katastrophe war nicht klar, ob die Freilichtspiele wieder aufgenommen würden.» Die Frau half Annie Odermatt beim Aufstehen. «So, dann werden wir mal schön nach Hause gehen. Ihre Freundinnen würden gern einen Jass mit Ihnen klopfen.»

Dass sich Annie Odermatt wehrte, entging Max nicht. Sie stiess die Pflegerin von sich, die zweite kam ihr zu Hilfe. Sie sah Max dabei mitleidfordernd an. «Helfen Sie mir, junger Mann. Ich bin nicht plemplem. Ich will nicht zurück ins Heim. Dort will man mich bloss einsperren. Am Abend geben sie mir jeweils eine Schlaftablette, damit ich durchschlafe. Am Morgen muss ich im Zimmer bleiben, bis es jemandem passt, mich zum Badezimmer zu begleiten. Das ist doch kein Leben.»

«Haben Sie denn niemanden, der sich um Sie kümmert?» Max grapschte nach einer Visitenkarte.

«Nein, meine Schwiegertochter hat mich vor einem Jahr abgeschoben. Vorher lebte ich bei meinem Sohn.»

«Sie übertreibt mal wieder», sagte die zweite Pflegerin. «Glauben Sie ihr nicht alles.» Sie rief den Wachmann zu Hilfe, weil sich Annie Odermatt mit Händen und Füssen zu wehren begann.

Max wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. War er gerade Zeuge einer Zwangsmassnahme? Er griff nach Annie Odermatts Hand, legte seine Visitenkarte hinein. «Melden Sie sich bei mir, wenn Sie es für nötig finden.»

Sie sah ihn verdattert an. «Schämen Sie sich nicht, mir Avancen zu machen? Sie Grapscher!»

Max blieb konsterniert stehen, derweil die Pflegerinnen die Frau lachend zurück zum Wagen brachten. Die Pferde waren verschwunden, hatten wohl ihren Einsatz.

Auf der Freilichtbühne wurde nun geschossen. In die dramatischen musikalischen Einsprengsel mischten sich Männerstimmen, Kindergeschrei und das Geräusch galoppierender und wiehernder Pferde. Max sah auf die Uhr. Die Halbzeit würde bald um sein.

ZWEI

Auf der Kommode neben dem Bett surrte das iPhone. Max griff schlaftrunken danach, nachdem er Fedes Beine von seinen geschoben hatte. Wie immer hatte sie einen narkoseähnlichen Schlaf. Leise, als könnte er sie trotzdem wecken, schlich er ins Badezimmer und fuhr erst dort über den Touchscreen.

«Maximilian!» Euphorisch wie immer klang ihre Stimme.

«Milagros, es ist erst halb neun.»

«Du verschläfst die schönste Tageszeit. Zudem haben wir uns auf dem Bürgenstock verabredet. Hast du’s vergessen?»

Max fuhr es in alle Knochen. «Ist schon Samstag?»

«Du sagtest am Freitag.»

«Du musst dich irren.»

«Ich irre mich nicht.»

«Okay, dann ist es mein Fehler.» Max mochte es nicht, mit seiner Mutter zu streiten. Sie gehörte zu den beharrlichen Menschen, auch dann, wenn sie nicht im Recht war.

«Wo steckst du?»

«In Engelberg.»

«In Engelberg?» Ihre Stimme schlug in eine höhere Oktave um. «Was tust du in Engelberg?»

«Ich sah mir gestern zusammen mit Fede Winnetou an. Winnetou und der Ölprinz.»

«Gestern? Seid ihr nicht zurückgefahren?»

«Wir haben im Hotel ‹Terrace› ein Zimmer bezogen.»

«Hotel ‹Terrace›, sagst du? Die haben bloss drei Sterne.»

Max erwiderte nichts darauf. Für Milagros war nicht einmal das Beste gut genug. Dabei kam sie aus bescheidenen Verhältnissen. Bevor sie seinen Vater Kaspar von Wirth kennengelernt hatte, hatte sie in Valencia als Tochter eines Tagelöhners gelebt. Früher hatte sie oft davon erzählt, wie sie als Kind habe unten durchgehen müssen, weil ihre Eltern nichts besassen. Sie seien einfache Leute gewesen, die ein Stück Land kultivierten und Arbeiten annahmen, die gerade angeboten wurden. Eine Woche nach der Hochzeit mit Kaspar von Wirth hatte Milagros ihre Eltern in die Schweiz geholt und ihnen eine Anliegerwohnung in ihrem Haus geschenkt. Max hatte eine schöne Kindheit verbracht – unter demselben Dach wie Abuela und Abuelo. Es gab ein paar Erinnerungsfetzen in Form von Bildern, die er aufbewahrte. Kurz nach dem Tod seiner Grosseltern hatte Max die Anliegerwohnung bezogen und bis zum Kauf seines eigenen Appartements dort gewohnt.

Milagros riss Max aus seinen Gedanken. «Kommt ihr wenigstens heute Abend zum Nachtessen vorbei? Ralph wird auch zugegen sein.»

Ralph, der Erbschleicher, dachte Max zähneknirschend. Milagros vergötterte ihn, weil er Cello spielte, über zwanzig Jahre jünger war als sie und wahrscheinlich einige Qualitäten vorzuweisen hatte, die sie als Jungbrunnen sah. Max hatte sich noch nicht an ihn gewöhnt, zumal die Spuren seines Vaters allgegenwärtig waren. Da hingen Fotos in seiner Wohnung, die er täglich von Neuem betrachtete. Kaspar von Wirth mit seinem Sohn auf dem Flughafen in Buochs, von wo sie zusammen mit ihrem Segelflieger geflogen waren. Und ausgerechnet bei seinem geliebten Hobby war er zu Tode gekommen. «Weisst du», hatte er oft gesagt, «sollte mir beim Fliegen etwas zustossen, denk daran, dass ich dann einen schönen Tod hatte.»

Der Tod hatte eine schreckliche Fratze gezeigt, als Kaspar von Wirth mit seinem Segler die südliche Flanke des Pilatus rammte. Was genau geschehen war, hatte Max nie erfahren. Sein Pilatus, an dessen Fuss er aufgewachsen war, der «Mons fractus», wie man ihn im Mittelalter genannt hatte, der gebrochene Berg, hatte ihn selbst zerbrochen. Noch heute trauerte er um Kaspar von Wirth.

«Maximilian, bist du da?»

«Meine Gedanken sind bei Dad», gab er zu.

«Weil ich Ralph erwähnte?» Milagros hüstelte. «Kaspar wird immer in meinem Herzen sein. Das weisst du.» Sie machte eine Pause, in der Max sie heftig atmen hörte. «Ich kann uns einen Tisch im ‹Spices Kitchen & Terrace› reservieren. Federica mag die asiatische Küche doch auch sehr. Ist wenigstens sie schon auf?»

Max stellte sich unter den Durchgang zum Schlafzimmer.

Wie sie dalag. Auf dem Bauch, abgedeckt und hüllenlos. Nur ihre roten Haare breiteten sich wie Flammen auf dem Kopfkissen aus, und die skurrile Zeichnung auf dem Rücken verriet Fedes Vorlieben: ein Teufelskopf mit seitlich angelegten Flügeln. Sofort war dieses Begehren da. «Du, ich muss auflegen. Wann sollen wir bei dir sein?»

«Halb sieben.» Ob Milagros sich verabschiedete, hörte Max nicht mehr. Er hatte das Gespräch beendet und legte das iPhone auf die Kommode zurück. Er mochte es, Fede beim Schlafen zuzusehen. Meistens lag sie dann mit abgewandtem Rücken zu ihm oder zog wie ein Embryo ihre Beine an. Sie hatten sich in der vergangenen Nacht lange geliebt, nachdem sie mit einer Flasche Champagner intus ins Bett gefallen waren. Später war etwas Zeit geblieben, um gemeinsam das Freilichtspiel nachwirken zu lassen. Nach der Pause hatte Max die Tribüne wieder betreten und es nicht bereut. Entspannt hatten sie sich den zweiten Akt angesehen. Der Zwischenfall mit Annie Odermatt war vergessen. Hauptdarsteller und Komparsen hatten ihr Bestes gegeben. Max und Fede hatten die waghalsigen Stunts bewundert sowie Winnetou, mit welcher Geschmeidigkeit er ritt, und Fede hatte immer wieder erzählt, was vor der Pause alles passiert war. Es ging um einen Ölprinzen, einen skrupellosen Revolverhelden, der mit Hilfe seines Halbbruders Buttler dem Bankier Rollins eine dubiose Ölquelle gegen viel Geld überlassen wollte. In der Nähe dieser Quelle bekämpften sich zwei Indianerstämme bis aufs Blut. Winnetou und Old Shatterhand waren die Retter, obwohl sie selbst kurzfristig in Gefangenschaft gerieten. Höhepunkt waren die spektakuläre Pyrotechnik sowie die wilden Pferderitte gewesen.

«Schau mich nicht so an.» Fede sagte dies, ohne sich zu bewegen.

«Ich schaue dich nicht an.»

«Ich spüre doch, dass du es tust.» Endlich drehte sie den Kopf nach ihm um. «Wer war am Telefon?»

«Ach, so ist das. Du bist wach und neugierig.» Max setzte sich aufs Bett, streichelte sanft über Fedes Rücken. «Dein Teufel könnte mir direkt gefallen, wenn er die Flügel nicht so nah am Kopf angesetzt hätte. Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, ein solches Tattoo zu stechen?»

«Das war meine Idee. Es stellt das Gute und das Böse dar.»

«Der Teufel dominiert», fand Max.

«Nicht mehr lange. Ich werde die Flügel vergrössern lassen. Sie sollen etwas mehr Fläche bekommen.»

«Macht es eigentlich Spass, sich Schmerzen auszusetzen?»

«Du weisst, ich bin süchtig danach. Wenn es vorbei ist, sehne ich mich bereits auf die nächste Sitzung.»

Es war das Einzige, was Max an Fede zu bemängeln hatte. Für ihre Unfähigkeit, zu kochen, hatte er nur ein Schmunzeln übrig. Ihr immer gut bestückter Kühlschrank im Bauernhaus, wo sie mit Christian, einem sporadisch angestellten Philosophielehrer, zusammenlebte, täuschte über ihre kulinarische Unbegabtheit hinweg. Egal, Fede hatte andere tolle Qualitäten, von denen Max anfangs nur zögerlich profitiert hatte. Sie kannte sich mit Computern und dergleichen aus wie niemand sonst.

Fede drehte sich auf den Rücken. Vor einem halben Jahr hatte sie sich die linke Brust tätowieren lassen. Eine Rosenblüte zierte ihre Knospe. Max hatte grosse Mühe damit bekundet, zumal er sich vorstellte, wie ein Mann sich an ihr zu schaffen gemacht hatte. Es sei eine Frau gewesen, hatte Fede behauptet und ihm darauf die Libelle am rechten inneren Oberschenkel präsentiert. Jetzt lag sie da, was ihm nicht nur einen freien Blick auf das Insekt gewährte.

«Milagros hat uns zum Nachtessen eingeladen.» Fede erregte ihn.

«Dann haben wir eine Menge Zeit.» Sie kuschelte sich an ihn, kraulte seinen Nacken.

«Um elf müssen wir das Zimmer räumen.»

«Warum auf einmal so kompliziert?» Sie fasste seine Arme und zog ihn an sich. Ihr Griff ging tiefer. «Du hast wohl nie genug.»

«Du doch auch nicht.» Er suchte ihren Mund mit seinem, während er über sie kam.

Sie fiel in seinen Rhythmus.

Durch das Fenster ergossen sich erste Sonnenstrahlen und fluteten über Fedes Gesicht.

Sie lächelte ihn an. «Jetzt können wir.»

«Was?»

«Frühstücken gehen.»

«Du hast reichlich Kalorien verbraucht.»

«Frag nicht, ob es schön war.»

«Nein, tue ich nicht. Deine Augen sprechen Bände.» Max löste sich von ihr, setzte sich auf die Bettkante und sah Fede zu, wie sie sich aus den Laken schälte, sich erhob und im Badezimmer verschwand.

Während sie unter der Dusche stand, summte sein iPhone erneut. Max kannte die Nummer nicht. Eine namenlose Handynummer, von deren Art er sich mehr wünschte, denn diese bedeuteten im besten Fall Arbeit. Er räusperte den Kloss im Hals weg und meldete sich.

«Max von Wirth?»

«Ja.»

«Ruth Odermatt am Apparat. Haben Sie fünf Minuten Zeit?»

Ruth Odermatt. Max überlegte. Die Frau von gestern hiess Odermatt, aber Annie. Die Stimme am Telefon klang jünger. Vielleicht war es wirklich nur Zufall. «Woher haben Sie meine Nummer?» Dass die Frage überflüssig war, kam Max erst später in den Sinn. Die Telefonnummer erschien einmal pro Woche in allen Amtsblättern der Innerschweizer Kantone, wenn er für seine Dienste warb. Zudem hatte er eine eigene Webpage.

Ruth Odermatt ging auf die Frage nicht ein. «Ich brauche Ihre Hilfe.»

«Worum geht’s?» Seine Dienste waren gefragt. Hoffentlich keine der Observierungen eines Ehemannes oder einer Ehefrau. Max hatte sie im Überdruss.

«Darüber kann ich nicht am Telefon sprechen. Können wir uns heute treffen?»

Max warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die er auf die Kommode neben dem Bett gelegt hatte. Halb elf. Er hatte sich den Tag für Fede reserviert. Am Abend wollten sie auf dem Bürgenstock sein. Für eine lange Reise war er nicht vorbereitet. Schlimmstenfalls müsste er bis an die Schweizer Grenze fahren. Und was würde Fede sagen? Sie hatte die Dusche abgestellt, erschien nun in ein übergrosses Frotteetuch gewickelt unter dem Türrahmen. «Wo wohnen Sie?»

«In Engelberg.»

Das war nicht möglich! «Woher haben Sie meine Nummer?», wiederholte er.

«Das tut hier nichts zur Sache.»

Und ob es das tat. «Sie sind nicht zufällig mit Annie Odermatt verwandt?» Max hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Vielleicht würde er Arbeit bekommen, und er stellte sich so dämlich an, dass es wehtat.

Auf der anderen Seite der Leitung herrschte vorübergehend Stille.