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Heidrun Hurst hat sich, nach der Veröffentlichung eines Sachbuches, auf das Schreiben historischer Romane konzentriert. Zu ihrer Spezialität gehören gut recherchierte Geschichten, die unter die Haut gehen und sich einfühlsam mit dem Schicksal der einfachen Leute beschäftigen. Von Rezensenten werden ihre Romane als ergreifend, atemberaubend und abseits des Klischees beschrieben. Sie lebt mit ihrer Familie in Kehl am Rhein.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Jean Francois Humbert/Arcangel Images

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Christine Derrer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-529-9

Historischer Schwarzwaldkrimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die litmedia.agency, Offenburg.

Für Jochen,
Freund, Gefährte, Lieblingsmensch

PROLOG

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Mühsam schleppte sich das Mädchen durch den Wald. Sie war müde – so müde –, und sie fror. Du hast zu viel Blut verloren, dachte sie, und nun bist du so schwach wie ein Säugling.

Ihre Knie waren weich wie Butter. Sie versuchte das Zittern, das so unaufhaltsam wie fließendes Gewässer durch ihren Körper strömte, nicht weiter zu beachten. Bei den Krämpfen, die von Zeit zu Zeit ihre Muskeln blockierten, war das schon schwieriger.

Wie hatte sie nur so dumm sein können? Vermutlich war sie dem ältesten Trick seit Menschengedenken aufgesessen – und dennoch hatte ihre Gutgläubigkeit sie in die Falle tappen lassen. Doch nun war es zu spät, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Sie musste fort von hier. Fort von dem Entsetzlichen, das ihr zugestoßen war.

Bisher hatte sie kaum glauben können, dass Menschen zu so etwas fähig waren, doch die letzten Tage hatten sie eines Besseren belehrt. Nun wollte sie nur noch eines: nach Hause, wo sie in Sicherheit sein würde, ganz gleich, wie sehr Mutter mit ihr schimpfen sollte. Selbst die Prügel ihres Vaters würde sie ertragen. Alles war besser als das, was sie erlebt hatte. Wenn sie nur wüsste, in welcher Richtung ihr Zuhause lag …

Verzweifelt drehte sie sich um ihre eigene Achse und entdeckte nichts als Bäume. Wald, so weit das Auge reichte. Zu allem Unglück kroch die Dämmerung aus Senken und Spalten, legte sich über das frische Grün des Waldbodens, das die Kruste aus Erde und altem Laub durchbrochen hatte. Die Farben des Tages verblassten und tauchten den steil abfallenden Berghang zu ihrer Linken in unergründliche Düsternis. Selbst die Bäume veränderten sich unter dem schwindenden Licht und ragten wie schwarze dämonische Gestalten über ihr auf.

Entsetzlicher Hunger brannte in ihrem Magen. Ihr Körper gierte nach Milch und Fleisch, etwas, das Kraft verlieh. Nach Leben! Doch hier gab es nichts von alledem. Nur ihren Durst hatte sie an den Bächen, die den Gebirgswald durchzogen, stillen können.

Du wirst dich davon nicht beirren lassen, sagte sie sich, während sie ihre Füße dazu zwang weiterzugehen. Noch einen Schritt und noch einen, obwohl es immer dunkler wurde. Du bist erst fünfzehn Jahre alt. Eine Jungfrau, erst vor Kurzem erblüht. Du wirst heiraten und Kinder bekommen – du wirst erfahren, wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein.

Allerdings hatte sie auch von Liebe geträumt. Einer romantischen Liebe, die sie unvorsichtig werden ließ und in diese Situation gebracht hatte. Mutter hatte sie in den Wald geschickt, um nach jungem Farn zu suchen, dessen gekochte Triebe das wenige ergänzen sollten, das ihnen als Nahrung diente. Doch sie war nicht die Einzige, die darin weilte, und diese Begegnung war ihr zum Verhängnis geworden. Zum Glück hatte sie fliehen können, aber es war noch nicht vorbei.

Die plötzliche Regung eines Schattens ließ sie herumfahren. Was war das? Jähe Furcht schärfte ihre Sinne. Ihre Augen wanderten rastlos umher. Hatte man sie entdeckt? Möglicherweise waren die Hunde ihrer Spur gefolgt. Der Schauder, der ihren verängstigten Körper durchlief, vermischte sich mit dem beständigen Zittern ihrer Glieder. Dann straffte sie ihren Rücken. Sie würde nicht an diesen schrecklichen Ort zurückkehren. Auf gar keinen Fall würde sie noch einmal solch eine Tortur über sich ergehen lassen. Lieber starb sie hier auf der Stelle!

Dann sah sie einen weiteren, huschenden Schatten – und noch einen. Sie versteckten sich vor ihr. Aufatmend stellte sie fest, dass sie nichts Menschliches an sich hatten. Dafür waren sie zu klein. Für Hunde hingegen waren sie groß genug. Ein plötzliches Knurren trieb ihren Herzschlag zu einem rasenden Tempo an. Sie hatten sie tatsächlich gefunden! Panisch sah sie sich um. Immer mehr Schatten bewegten sich zwischen den dunklen Umrissen des Waldes. Sie versuchte zu rennen, doch es nützte nichts. Nach nur wenigen Schritten umzingelte sie ein Ring aus Leibern. Sie waren nun so nah, dass sie erkennen konnte, dass das, was da auf sie zukam, nicht das kurze hellbraune Fell der Hunde besaß, die sie kannte. Der üppige Pelz und die aufgestellten Ohren deuteten auf andere Tiere hin. Wölfe! Und vermutlich hatten sie ebenso großen Hunger wie sie!

Der Schreck ließ sie erstarren. Sie stand so still wie die Bäume um sie herum, unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Hoffnungslosigkeit saugte die letzte verbliebene Kraft aus ihrem Körper. Es hatte keinen Sinn mehr wegzulaufen. Es waren zu viele. Ihr Herz protestierte rasend gegen die erzwungene Untätigkeit. Lauf weg, schien es zu schreien.

Das drohende Knurren wurde lauter. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie zwei der schlanken Tiere kommen. Sie duckten sich wie Katzen vor dem Sprung. Ihre gelben Augen flackerten unbarmherzig im verblassenden Licht des Tages.

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade«, betete sie. »Der Herr ist –«

Weiter kam sie nicht. Die Wölfe setzten zum Sprung an – und dann waren sie über ihr.

1. KAPITEL

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Schiltach, 1343

»Ist schon gut, Symon.« Johanna, eine junge Frau mit langen goldbraunen Locken, bemühte sich um einen mütterlichen Tonfall. »Wir wollen dir nur helfen.«

Der Mann, der auf dem Hocker vor ihr gefährlich schwankte, stöhnte schmerzerfüllt auf. Weder der klagende Laut noch die unschickliche Berührung, die seinen Hinterkopf gegen ihre Brust drückte, drangen tiefer in ihre Gedanken. Mit einer matten Drehung seines Halses versuchte er, ihren Fingern zu entkommen, die sacht über einen gänseeigroßen Bluterguss oberhalb der rechten Schläfe tasteten. Viel zu schwach für einen starken Mann wie Symon, der normalerweise Bremser auf einem der Flöße war, die wertvolle Baumstämme ins Rheintal transportierten.

Sein letzter Auftrag war nicht gut für ihn ausgegangen. Nach dem Verlassen des Kirchweihers war er im Schwellwasser des nächsten Wehres bei voller Fahrt vom hinteren Gestör gestürzt, wie die aneinandergebundenen Floßtafeln aus mehreren Baumstämmen genannt wurden. Womöglich war er auf der glatten, entrindeten Fläche ausgerutscht und hatte sich an den Griffen des Eichenstammes, der als Bremse fungierte, nicht mehr halten können. Burckhart, der mit ihm den schweren Stamm bediente, bemerkte es zu spät. Die beiden waren ganz hinten auf dem langen Floß, und bei dem rasanten Tempo durch das tosende Wasser richteten sich die Blicke der anderen nach vorn. Da Burckhart allein nicht mehr in der Lage gewesen war, den schweren Stamm in den Grund des Flusses zu rammen, hatte sich das flexible Gefüge verschoben. Die hinteren Gestöre liefen auf die vorderen auf und hatten dafür gesorgt, dass das gesamte Floß sich verkeilte. Zum Glück gab es außer ein paar kleineren Platzwunden, einem verstauchten Knöchel und geprellten Rippen keine größeren Verletzungen. Nur Symon hatte es härter erwischt. Seine Kameraden hatten den Besinnungslosen aus dem Wasser gezogen und ihn so vor dem Ertrinken gerettet. Eine dicke Beule am Kopf ließ darauf schließen, dass er gegen die Befestigung des Wehres aus schweren Flusssteinen gestoßen war. Seither dämmerte Symon in einem seltsamen Zustand dahin.

Johannas Finger glitten über die Erhebung auf seiner Schädeldecke. Ihr tiefes Rot grenzte sich scharf von der weißen empfindlichen Kopfhaut ab, die unter dem Haar des Flößers zum Vorschein gekommen war. Sie hatte die kräftigen dunkelbraunen Strähnen an dieser Stelle abrasiert und zwei Blutegel angesetzt, die leider nicht allzu viel bewirkten. Die Geschwulst war immer noch da, und die verfärbte Haut ließ sich fast so leicht eindrücken wie eine mit Flüssigkeit gefüllte Blase. Der Knochen darunter schien immer noch beruhigend fest zu sein, dennoch musste mehr dahinterstecken. Bei einem harmlosen Schlag auf den Kopf wäre Symon schon längst wieder bei Sinnen. Doch er lag nun schon einen ganzen Tag fast apathisch auf seinem Bett, einem großen mit Brettern eingefassten Strohsack, über den man ein Leintuch gebreitet hatte. Immer wieder stöhnte er auf, wie unter schrecklichen Schmerzen. Ab und zu öffnete er die Lider und sah Johanna aus so trüben Augen an, als nähme er sie gar nicht wahr. Einmal hatte sie ein Talglicht vor sein Gesicht gehalten und so bemerkt, dass die Pupillen unterschiedlich groß waren, was darauf hindeutete, dass das Gehirn Schaden genommen hatte. Da blieb nur noch eines: Sie musste etwas dagegen tun, bevor es zu spät war.

Johannas Augen huschten zu Margaret, Symons Weib, hinüber. Auf ihr knappes Nicken hin spannten sich die Muskeln der Frau an. Gemeinsam keilten sie Symons Kopf mit ihren Körpern und Armen ein. Mit einem raschen Schnitt durchtrennte Johanna die zähe Kopfhaut am Rand der Erhebung und schnitt sie der Länge nach auf. Symon gab einen lang gezogenen Laut von sich, doch fehlte es ihm an Kraft, um sich gegen die Behandlung zu wehren.

Gut so, dachte Johanna, das wird die folgende Prozedur erleichtern. Allerdings kostete es auch erhebliche Mühe, ihn in einer aufrechten Position zu halten. Dickflüssiges Blut quoll aus der Wunde, das in frappierender Weise an die Konsistenz ungekochter Blutwurst erinnerte. Nur die Speckstückchen fehlten … Johanna schob den unziemlichen Gedanken beiseite. Wie konnte sie in dieser Situation an Essen denken?

Sanft tupfte sie das klumpige Blut mit einem Lappen fort und setzte einen weiteren daumenlangen Schnitt, der sich quer über die verfärbte Haut zog. Symon wimmerte kläglich. Anscheinend war er wacher, als sie vermutet hatte. Allerdings hatte er sich auch willenlos aus dem Bett auf den Hocker befördern lassen, auf dem er nun mehr hing als saß.

All ihre Sinne richteten sich auf das schmale Messer, ein Vermächtnis ihrer Mutter, mit dem sie vorsichtig die Kopfhaut zur Seite faltete. Was sie darunter entdeckte, ließ sie die Luft mit einem zischenden Geräusch durch die Zähne ziehen.

»Was ist?«, fragte Margaret besorgt.

Johanna warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Der Schlag muss wirklich heftig gewesen sein. Ein kleines Knochenstück ist abgesplittert.«

Vorsichtig zog sie das Gebilde, so groß wie ihr Daumennagel, hervor. Scharfe Abbruchkanten markierten die Ränder. Nachdem sie die Wunde ein weiteres Mal gesäubert hatte, entdeckte sie rechts und links von der Absplitterung zwei feine Risse, die sich in einer roten Linie über den Knochen zogen. Trotz dieser Verletzungen war der Schädel noch so stabil wie ein frisch gebrannter Tonkrug.

»Der Knochen ist nicht vollständig durchbrochen. Vermutlich ist das Gehirn darunter geschwollen und hat nun zu wenig Platz.«

Margaret gab einen unglücklichen Laut von sich. »Du lieber Herrgott! Was machen wir denn jetzt?«

»Bei solch einer Verletzung gibt es nur einen Weg: Ich muss den Schädel öffnen, damit der Druck aus Symons Kopf entweichen kann. Wenn alles gut verläuft, wird es ihm bald besser gehen.« Die Folgen möglicher Komplikationen behielt Johanna lieber für sich.

»Den Schädel öffnen? Bist du verrückt?«, stieß Margaret hervor.

Johanna schnaubte. »Das bin ich nicht. Es funktioniert tatsächlich. Natürlich gibt es keine Garantie, dass der Eingriff gelingt, aber wenn ich es nicht tue, wird diese Verletzung frappierende Folgen haben.« Sie hielt einen Moment inne. »Vermutlich wird Symon dann nie wieder gesund werden, schlimmstenfalls wird er daran sterben.« Wobei die Aussicht, dass er seiner Arbeit nicht mehr nachgehen konnte, ebenso erschreckend war.

»Woher weißt du das?« Ein deutlicher Zweifel lag in Margarets Stimme.

»Von meiner Mutter. Ich habe sie dabei beobachtet, wie sie solche Eingriffe durchgeführt hat.« Einmal hatte sie ihr sogar dabei geholfen.

Die Flößerei war gefährlich, und das Holzschlagen im Winter forderte ebenfalls den einen oder anderen Tribut. Da blieb es nicht aus, dass ihre Mutter alle Hände voll zu tun hatte.

»Bist du nicht viel zu jung dafür?«, fragte Margaret mit dünner Stimme.

Johanna erahnte ihre unausgesprochenen Gedanken: Würde das, was sie von ihrer Mutter gelernt hatte, genügen? Oder würde ihre Unerfahrenheit Symon umbringen? Margaret und Symon hatten drei Kinder, die sie allein durchbringen musste, falls etwas schiefging.

»Willst du nun, dass ich ihm helfe, oder nicht?«, entgegnete Johanna ungehalten. Die hervorschießenden Tränen in Margarets Augen zügelten ihr aufbrausendes Temperament. »Margaret«, sagte Johanna nun erheblich sanfter, »ich werde mein Möglichstes tun, damit es mir gelingt – aber es sollte bald geschehen. Jede weitere Stunde wird das Gehirn deines Mannes schädigen, bis es irgendwann zu spät dafür ist.«

Margaret war eine unscheinbare Frau Mitte zwanzig, deren Gesicht viel zu verhärmt für ihr Alter war. Viele Frauen sahen so aus wie sie. Es war ein hartes Leben, das sie in der kleinen Stadt unterhalb der Schiltacher Burg führten. Doch es hatte ihr auch eine robuste Beharrlichkeit beschert, bereit, den Schwierigkeiten ins Auge zu schauen und auf nüchterne Weise zu handeln. So war es nur eine Sache von wenigen Minuten, bis Margaret über Johannas Worte nachgedacht hatte und ihre Tränen trocknete. »Dann tu es!«

Johanna atmete erleichtert auf. Die erste Runde ging an sie. Doch sie hatte auch Margarets Hoffnung auf eine mögliche Heilung ihres Mannes geweckt. Sie durfte jetzt nicht versagen! Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als sie mit raschen Fingern die Dinge zurechtlegte, die sie brauchte. Zum Glück hatte sie an alles gedacht und musste nicht erst nach Hause eilen. Das verschaffte ihr nun wertvolle Zeit. Sie war ein paar Jahre jünger als Margaret. Vor ein paar Wochen war ihr neunzehnter Geburtstag gewesen. Eine vorwitzige goldbraune Strähne hing ihr in die Stirn, was sie daran erinnerte, ein Tuch um ihren Kopf zu binden. Danach reinigte sie den Bohrer, der aus einem hölzernen Schaft mit einer scharfen Metallspitze und einem kleinen Bogen bestand.

Bist du wahnsinnig, dich auf solch einen gefährlichen Eingriff einzulassen?, mahnte sie eine innere Stimme, die dem besorgten Ton ihrer Mutter glich. Wenn er misslingt, wird Symon zum Krüppel werden, und du wirst die Verantwortung dafür tragen. Man wird dich anklagen, und das Geringste, was dir passieren kann, ist, dass sie dich aus der Stadt jagen und den Gefahren des Waldes überlassen.

Dennoch muss es getan werden, widersprach Johanna im Stillen. Es lag nicht in ihrer Natur, die Hände in den Schoß zu legen und auf den Willen Gottes zu warten. Sicher lenkte Gott die Geschicke der Menschen, aber er gab ihnen auch den Verstand und stattete sie mit einem Streben nach Wissen aus. Er schenkte ihnen Pflanzen und Dinge, die einen Menschen gesund machen konnten – sie war bereit, beides einzusetzen. Und hatte nicht auch der Herr selbst ein tiefes Bedürfnis zu heilen?

»Mach die Tür auf«, wies Johanna Margaret an, während sie Symons Rücken fest an ihren Bauch presste. »Ich brauche so viel Licht, wie ich kriegen kann.« Die kleinen Fenster des Hauses, das Symon und Margaret bewohnten, boten zu wenig davon. Draußen war Frühling. Eine warme Maisonne beschien die Berge, erhellte den Himmel bis zum Horizont. Ihre Strahlen würden genügen, um ihr den Weg zu weisen.

Margaret befolgte Johannas Wunsch. Anschließend eilte sie wieder zu ihrem Mann zurück, um ihn zu stützen.

»Halt seinen Kopf fest.« Johannas Hände zitterten leicht, als sie die Bogensehne ergriff. Diese bestand aus einer starken Schnur, die sie nun um eine Kerbe im Schaft des Bohrers wickelte. »Nicht bewegen jetzt«, sagte sie knapp.

Ihre Augen verengten sich konzentriert, dann setzte sie den Bohrer auf die Stelle, wo der Knochen bereits abgesplittert war. Mit kräftigen Bewegungen zog sie den Bogen vor und zurück und trieb damit die Spitze des Bohrers an, die auf diese Weise immer tiefer in den Knochen vordrang. Sie musste auf der Hut sein. Wenn sie zu tief bohrte, würde sie das Gehirn verletzen. Lediglich die Schädeldecke musste durchbrochen werden, um Symon zu helfen.

Aus seinem Mund quoll ein lang gezogenes Stöhnen. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Die sich rasch verbreiternde Spitze schabte wie ein Spatel über die freigelegte Oberfläche des Knochens. Mit Sicherheit war diese Prozedur nicht angenehm, doch wenn erst einmal ein Ausgang geschaffen war, würde der Druck in Symons Kopf nachlassen. Mehr als einmal hatte Johanna erlebt, wie sich die Schmerzen so rasch besserten, dass die Kranken vor Erleichterung weinten. Es war wie bei einer Geburt. Zuerst kam der Schmerz, danach die Freude.

Warum sollte ein Mann so etwas nicht auch einmal erleben dürfen?, dachte sie in einem Anfall von Boshaftigkeit. Die meisten Frauen durchlitten dieses Martyrium viele Male – und keinen Mann kümmerte es. Wurden die Schmerzen bei der Geburt doch als gerechte Strafe für Evas sündiges Verhalten im Paradies angesehen, die alle Frauen zu tragen hatten. Nun, das mochte ja sein, aber was war mit Adam? Immerhin war er dumm genug, die Frucht vom Baum der Erkenntnis aus ihren Händen zu nehmen – und das, obwohl man die Männer gemeinhin für den klügeren Teil der Menschheit hielt.

Symon knirschte nun so laut mit den Zähnen, dass sie fürchtete, sie könnten zerbrechen. Sein ganzer Körper war bis aufs Äußerste gespannt.

Eine plötzliche ruckartige Bewegung, mit der er sich zu befreien versuchte, brachte Johanna aus dem Takt. Fast wäre ihr der Bohrer aus der Hand gefallen.

»Halt still!«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Du hast es gleich geschafft.«

Dennoch nahm Johanna den Bohrer für eine Weile fort, um Symon eine Verschnaufpause zu gönnen. Sie schaute sich das Ergebnis ihrer Bemühungen an: Eine kreisförmige Vertiefung prangte nun inmitten der knöchernen Erhebung. Noch ein wenig mehr und der Schädel war durchbrochen. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, der von der raschen Drehung der scharfen eisernen Spitze durch Blut und Knochen stammte.

Sie setzte den Bohrer wieder an und ignorierte das hohe Fiepen, das mehr zu einer verängstigten Maus als zu dem stattlichen Mann passte, den sie zwischen sich eingekeilt hatten. Margaret fixierte Symons Kopf mit beharrlicher Kraft.

Johannas Mund verzog sich zu einem Lächeln. So wie es aussah, hatte Margaret das Prinzip des Heilens verstanden, das anfangs oft eine gewisse Rücksichtslosigkeit erforderte, um dem Verletzten die größtmögliche Erleichterung zu verschaffen.

Endlich quoll etwas Flüssigkeit aus der Wunde, und Johanna wusste, dass es Zeit wurde, aufzuhören. Ein kirschgroßes Loch war entstanden, aus dem ein rötliches Rinnsal strömte, als Johanna den Bohrer absetzte. Symon fiel wie eine geplatzte Schweinsblase in sich zusammen.

»Was ist mit ihm?«, fragte Margaret, hin- und hergerissen zwischen Angst und Freude, als sie das entspannte Gesicht ihres Mannes betrachtete.

»Es scheint ihm besser zu gehen.« Johanna massierte ihre verkrampften Finger, während sie Symons Rücken weiter mit ihrem Körper stützte. »Wir werden ein Weilchen warten, bevor ich die Wunde verschließe.«

In der Zwischenzeit überließ sie Symon der Fürsorge seiner Frau und zerdrückte in einem Mörser die Kräuter, die sie in der Früh gesammelt hatte: Spitz- und Breitwegerich und etwas Beinwell. Danach leuchtete sie mit einem Talglicht in Symons Augen. Er brummte und hob abwehrend die Hände, um sich vor dem grellen Licht zu schützen.

»Sch, sch«, säuselte Margaret sanft. »Johanna will dir nur helfen.«

Symon verzog den Mund, ließ aber die Arme sinken, um Johanna einen Blick auf seine Pupillen zu gewähren, die erfreulicherweise dabei waren, sich einander anzugleichen.

»Das sieht gut aus«, sagte sie zufrieden. Johanna nahm einen sauberen Lappen, tupfte noch einmal alles behutsam damit ab und begann die Haut mit einem gewachsten Hanffaden zu nähen. Nur noch wenig Flüssigkeit drang aus dem Loch im Knochen, das erst allmählich zuwachsen würde. Auf diese Weise würde es dafür sorgen, dass der Druck durch das geschwollene Gehirn weiter ausgeglichen werden konnte.

Vielleicht ist es ja auch die rötliche Flüssigkeit, die solche Schmerzen verursacht? Ganz genau wusste Johanna es nicht. Sie verließ sich auf das, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte – und das war eine ganze Menge. Von ihr hatte sie auch gelernt, die entstandene Wunde mit einer Naht zu verschließen, statt lediglich einen Lappen oder eine Münze daraufzupressen.

Symon protestierte lautstark unter den flinken Stichen, mit denen Johanna die Kopfhaut zusammenfügte. Margaret hatte nun alle Mühe, ihn zu bändigen. Nachdem Johanna den Brei aus zerdrückten Kräutern aufgetragen und das Ganze mit einem Verband aus handbreiten Tuchstreifen fixiert hatte, ließ er sich bereitwillig zu seinem Bett führen. Seufzend ließ er sich darauf nieder. Mit jeder Minute wurde Symon wacher.

Johanna atmete auf. »Du solltest ihm eine gute Brühe kochen«, wandte sie sich an Margaret. »Das wird ihn stärken.« Danach konnte Symon einen Sud aus Weidenrinde trinken. Dieser würde die Schmerzen der überstandenen Tortur lindern. Doch Symon hatte schon seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen, bloß etwas Wasser hatten sie ihm einflößen können. Weidenrinde rief auf nüchternen Magen oft Bauchschmerzen hervor. Das Risiko, ihm dadurch noch mehr Schaden zuzufügen, war zu groß. Wenn er erst einmal etwas zu sich genommen hatte, würde ihm der Sud besser bekommen.

Margaret beugte sich über ihren Mann und gab ihm einen vorsichtigen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich werde sofort damit anfangen«, sagte sie eifrig. »Ruh dich inzwischen ein wenig aus.«

Ihre Worte zauberten ein Lächeln auf Symons Lippen.

Johanna fiel eine Last von der Seele. Erleichtert breitete sie eine Decke über ihn. Es sah ganz danach aus, als ob ihre Behandlung geglückt war.

Margaret drückte ihren Arm. »Ich danke dir.«

»Ich habe getan, was in meiner Macht stand. Jetzt muss Gott ihn heilen«, erwiderte sie lächelnd.

Als Margaret sich an die Arbeit machte, füllte Johanna frisches Wasser in einen Becher und hob Symons Kopf ein wenig an. »Komm, trink etwas.«

Er trank mit gierigen Schlucken.

»Langsam, langsam. Sonst kommt dir alles wieder hoch.« Sie nahm den Becher fort und ließ seinen Kopf vorsichtig auf das Kissen sinken.

Erschöpft schloss Symon die Augen.

»Schlaf ein bisschen. Ich komme gleich wieder«, sagte sie und wandte sich zur Tür.

Draußen hielt Johanna ihr Gesicht den goldenen Strahlen der Sonne entgegen, die den Wald auf den umliegenden Bergen in einen Flickenteppich aus Grüntönen tauchten. Wie die meisten Flößerfamilien wohnten Symon und Margaret außerhalb der Stadtmauern. Johannas eigenes Häuschen lag nur ein paar Schritte entfernt, und auch die Gerber und Müller hatten sich hier, wo die Schiltach in die Kinzig mündete, angesiedelt. Selbst die Kirche befand sich außerhalb der schützenden Befestigung.

Der Ort, den seine Bewohner liebevoll »das Städtle« nannten, trug den Namen des Flusses: Schiltach. Er lag in einer Senke, an der engsten Stelle des Kinzigtals. Die hohen Mauern des Städtles ragten nicht weit entfernt vor ihr auf. Es war nicht groß, aber dennoch etwas Besonderes. Im Grunde hatten sie dies den Römern zu verdanken, wie der Sonnenwirt hin und wieder betonte, wenn Johanna ihm ein Mittel gegen seine Gicht zukommen ließ. Der Wirt unterhielt sich gern mit seinen Gästen und hatte so im Laufe der Zeit ein enormes Wissen angesammelt. Und da er dieses Wissen großzügig teilte, erfuhr Johanna so einiges, was ihr sonst verschlossen geblieben wäre.

Jene Römer hatten schon vor Urzeiten eine Straße gebaut, die sich, von Straßburg kommend, lange Zeit auf ebener Fläche durch das Kinzigtal zog. Doch irgendwann hatte auch diese Bequemlichkeit ein Ende, und man musste den Schwarzwald überqueren, um über die Höhen vom Kinzigtal ins Neckartal zu gelangen. Innerhalb weniger Meilen musste ein gewaltiger Höhenunterschied bewältigt werden. Schon weit vor Schiltach wurde es bergiger, in der Ortsmitte des Städtle stieg der Weg aber besonders steil an. Aus diesem Grund hatte ein Vorfahr der Tecker Herzöge, lange vor Johannas Geburt, an der engsten Stelle des Kinzigtales eine Burg gebaut und aus einer bereits bestehenden Ansiedlung ebendiese Stadt gegründet. Innerhalb der Stadtmauern befand sich alles, was zur Versorgung Reisender notwendig war. In den Gaststätten konnte man Ochsen und Pferde mieten, die den Aufstieg gewohnt waren. Auch Wagner, Schmiede und einen Schuhmacher gab es hier, falls Fahrzeuge und Schuhwerk repariert werden mussten, was relativ oft vorkam. Hinter den meisten Reisenden lag ein weiter Weg. Die stark frequentierte Verbindungsstraße, die sie zuvor bewältigt hatten, war in keinem guten Zustand. In der Zwischenzeit luden die Gaststätten zum Verweilen ein. Ein Knochenhauer bot Fleisch zur Ergänzung des Reiseproviants an, und nicht selten dauerte der Aufenthalt länger als vorgesehen, was den Wirten einen hübschen Gewinn bescherte sowie allen anderen, die an diesem Geschäft beteiligt waren. Davon und von dem Zoll, der hier erhoben wurde, profitierten die Burgherren nicht minder.

Auch die Flößerei entwickelte sich zu einem neuen aufstrebenden Gewerbe, das immer mehr an Bedeutung gewann. Bislang hatte sie sich im vorderen Kinzigtal rund um Gengenbach abgespielt. Nun rückte sie immer weiter vor und hatte nach Wolfach auch Schiltach erreicht.

Johanna schloss versonnen die Augen und lauschte dem Zwitschern der Vögel, das sich mit dem Rauschen der beiden Flüsse vermischte. Ein überschwängliches Glücksgefühl strömte durch ihren Körper, drang bis in ihre Seele. Das Heilen Kranker und Verletzter war alles, was sie je hatte tun wollen. Das war es, wozu sie bestimmt war. In Symons Fall hatte sie viel gewagt, und ihr Mut wurde belohnt. Er machte einen deutlich besseren Eindruck als vor ihrer Behandlung. Doch der Kampf war noch nicht zu Ende. Die Wunde konnte sich immer noch entzünden. Sie musste auf der Hut sein. Wenn nötig auch andere Kräuter einsetzen, damit alles gut verheilte.

Vielleicht würde sie experimentieren müssen, aber waren es nicht gerade diese Herausforderungen, die sie liebte?

»Du siehst sehr zufrieden aus«, drang eine bekannte Stimme an ihr Ohr. Unwillig öffnete sie die Augen.

»Lukas. Hast du nichts Besseres zu tun, als dich hier herumzutreiben?«, fragte sie schroff.

»Nun, was gibt es Schöneres, als deinen schmeichelhaften Worten zu lauschen«, erwiderte er. Seine Stimme war sanft und umfing sie wie warmer Sommerregen. Ein verschmitztes Grinsen umspielte die vollen Lippen. Es verlieh ihm eine charmante Jungenhaftigkeit, der man sich nur schwer entziehen konnte.

»Eigentlich wollte ich wissen, wie es Symon geht.« Er musterte sie mit übertriebener Aufmerksamkeit. »Nach deinem Gesichtsausdruck zu urteilen, scheint sich sein Zustand zu bessern.«

»Das tut er tatsächlich«, entgegnete Johanna etwas milder.

Der hochgewachsene junge Flößer verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie. »Das ist schön. Bei dir ist er in guten Händen.«

Sein helles, kurz geschnittenes Haar hatte einen goldenen Schimmer und passte gut zu dem warmen Ton seiner haselnussbraunen Augen, die mit ihren langen Wimpern fast mädchenhaft wirkten. Er hatte es hinter die Ohren gestrichen, was seine kantigen Wangenknochen vorteilhaft zum Vorschein brachte. Alles in allem war er ein gut aussehender Mann, der unter den fadenscheinigsten Gründen immer wieder bei ihr auftauchte. Jedenfalls besuchte er Johanna öfter, als ihr lieb war. Sie ahnte, was ihn dazu bewegte. Er war im heiratsfähigen Alter und schien sich sonderbarerweise in sie verliebt zu haben. Ausgerechnet in sie!

Noch immer war sie unverheiratet, und wenn es nach ihr ging, würde dies auch so bleiben. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie sich mit Hans, einem Flößer, verlobte, damit sie nach ihrer Heirat versorgt war. Er hatte sich auf der Stelle zu ihrem Beschützer aufgeschwungen – im Grunde war sie an diesem Tag in seinen Besitz übergegangen, den er ständig kontrollierte. Noch nie hatte Johanna sich so eingeengt gefühlt wie in dieser Zeit. Um dem Unausweichlichen zu entgehen, hatte sie immer wieder einen Vorwand gefunden, der die Hochzeit hinauszögerte, und nach Mutters Tod hatte sie dem Ganzen ein für alle Mal ein Ende gesetzt. Sie hatte nicht vor, zur Sklavin eines Mannes zu werden, der über ihr Leben bestimmte. Ja, mein Gemahl. Zu Befehl, mein Gemahl. Soll ich dir den Hintern wischen, mein Gemahl? Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Sie kam gut allein zurecht. Ganz sicher brauchte sie niemanden, der sie herumkommandierte und ihr erklärte, was sie zu tun hatte. Hans hatte sich schnell getröstet und nach wenigen Wochen eine andere geheiratet. Sie weinte ihm keine Träne nach.

Mutter! Obwohl Johanna ihren Tod vor einem halben Jahr bedauerte, kam sie nun in den seltenen Genuss der Freiheit. Ihren Vater hatte sie nie gekannt. Er war ein Spielmann gewesen, der ihre Mutter vor Johannas Geburt verlassen hatte. Da es auch sonst keine Verwandten gab, zwang niemand sie zu heiraten. Aber es würde auch niemanden kümmern, wenn sie verhungerte, denn außer dem kleinen Haus vor der Stadtmauer und zwei Ziegen gab es nichts, was ihr gehörte – wenn man von Töpfen und Tiegeln und einem umfangreichen Wissen über die Heilkunst einmal absah. Es würde nicht leicht sein, zu überleben, doch sie war frei, und diese Freiheit war kostbarer als alles andere.

»Nun, da du weißt, wie es um Symon steht, kannst du ja wieder gehen«, wandte sie sich an Lukas.

Sein Mund verzog sich zu einem Strich. »Was soll ich nur mit dir machen?«, erwiderte er leicht gekränkt. »Kannst du nicht einmal nett zu mir sein?« Er warf ihr einen so treuherzigen Blick zu, dass Johanna lachen musste.

»Ein anderes Mal. Und jetzt geh, ich muss wieder nach drinnen.« Sie deutete mit dem Daumen auf den offenen Türspalt, aus dem ein verführerischer Duft nach gekochtem Gemüse und etwas Salzfleisch drang.

Ein sonderbares Gefühl ergriff Johanna, als sie hinter Lukas hersah, der ihrer Bitte mit einem leisen Seufzen gefolgt war. Seine breiten Schultern zogen sich entmutigt nach unten. Es ist besser so, sagte sie sich, dann wandte sie sich zur Tür, um nach Symon zu sehen.

2. KAPITEL

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Johanna schlug schläfrig die Augen auf, als die beiden Ziegen zu meckern begannen. Eine Zicke und ihr Junges. Die braunen Tiere waren typisch für den Schwarzwald. Sie setzten wenig Fleisch an, gaben aber auch bei kargem Futter genügend Milch. Ihr Stall lag, durch eine Holzwand getrennt, im hinteren Teil des Hauses. Es war schlicht und klein, aber durchaus annehmbar.

Johannas Bett stand im Hauptraum, der mit dem Stall die gesamte Fläche des Häuschens einnahm. In einer Ecke des Raumes befand sich ein einfacher Herd aus gemauerten Feldsteinen. Ein Tisch, zwei kleine Bänke, ein Holzschemel und eine Truhe vervollständigten die Einrichtung, neben mehreren Haken für das langstielige Kochgeschirr und Regalborden, vollgestopft mit einem Durcheinander aus Tiegeln, Spanschachteln und kleinen Säckchen.

Johanna rekelte sich genüsslich, bevor sie die Decke zurückwarf und ihre nackten Füße auf den kalten Boden setzte. Das Feuer im Herd war heruntergebrannt. Rasch schlüpfte sie in eine hellbraune Cotte und den Surcot, ein dunkleres ärmelloses Überkleid von derselben Farbe.

Ihr Bett bestand aus einem mit Brettern eingefassten Strohsack, auf dem zwei Lammfelle lagen, und einer dicken Decke. Früher hatte sie es mit ihrer Mutter geteilt. Noch heute vermisste sie die menschliche Wärme, die von ihr ausgegangen war. Die beiden Felle, die kräftig nach ihren einstigen Trägern rochen, waren nun das Einzige, was sie vor der nächtlichen Kälte schützte. Trotz der üppigen Zeichen des Frühlings war es immer noch empfindlich kalt, sobald es Nacht wurde.

Einer der Flößer hatte ihr einmal erzählt, dass die Natur im Rheintal deutlich früher erblühte. Sie konnte dies kaum glauben, aber sie war auch noch nie dort gewesen. Hier war ihr Zuhause, und sie verspürte nicht den Drang, in die weite Welt hinauszugehen und sich der Gefahr des Reisens auszusetzen. Obwohl ihr Großvater aus einem anderen Holz geschnitzt war.

Während Johanna die Ziegen versorgte, die Mutterziege molk und ein schnelles Frühstück aus einem Kanten Brot und einem Becher Ziegenmilch zu sich nahm, verlor sie sich in Erinnerungen. Sie hatte ihren Großvater nie gekannt, aber ihre Mutter Afra hatte viel von ihm erzählt. Er hatte dem fahrenden Volk angehört, war als reisender Bader durch das Land gezogen. Sein Weib war schon vor vielen Jahren im Wochenbett gestorben, lediglich Afra ging aus dieser Verbindung hervor. Er hatte sie viel Nützliches gelehrt, doch er hatte auch immer gern den Mund ein wenig zu voll genommen, um an Geld für Bier und Wein zu kommen, die ihn über den Verlust des geliebten Weibes hinwegtrösteten. Eines Tages hielten sie in einem Dorf, wo er einen jungen Mann behandelte, dem ein Pferd in den Bauch getreten hatte. Es war der einzige Sohn des Vogts, der über dieses Gebiet herrschte und auf einer der zahlreichen Burgen wohnte, die man überall dort finden konnte, wo es etwas zu holen gab. Ihr Großvater hatte reichen Lohn gewittert und den jungen Mann mit dem Versprechen geködert, er würde wieder vollständig genesen. Doch das Schröpfen und die verabreichten Tränke halfen nicht. Am nächsten Morgen war der Junge tot.

Unglücklicherweise führte der Vogt dies auf die Behandlung des fahrenden Baders zurück. Zornentbrannt scharte er seine Männer um sich. Sie zerrten den schlafenden Großvater, der in tiefem Schlummer seinen letzten Rausch ausschlief, aus dem Wagen. Afra entging den Schergen nur, weil sie zum Fluss gegangen war, um Wasser zu holen. Dort traf sie einen Spielmann, der sie schon tags zuvor beobachtet hatte. Er war ebenfalls auf der Durchreise, jung und ansehnlich. Sein Name war Wentzel. Wie Afra gehörte er zu jenen, die umherzogen, um ein Auskommen zu haben. Er war auf die Burg eingeladen worden, um seine Lieder, begleitet von einer Laute, vorzutragen. Da er dort übernachten durfte, hatte er das Drama um den Jungen miterlebt. Anscheinend gefiel Afra ihm, denn er machte sich sofort auf den Weg, um sie zu warnen. Für ihren Vater kam seine Hilfe zu spät. Verborgen hinter dichtem Gebüsch beobachteten sie, wie die Männer ihn schlugen und dann mit sich schleppten.

Afra brachte es nicht fertig, ihn sterben zu sehen, und so floh sie mit dem jungen Spielmann, bevor man sich daran erinnerte, dass der reisende Bader noch eine Tochter gehabt hatte. Anfangs war Wentzel ihr Beschützer gewesen. Afra dankte es ihm, indem sie sein Eheweib spielte, das mit dem Hut umherging, sobald sie in eine Ansiedlung kamen, in der er seine Musik zum Besten geben konnte. Er war galant und sang wunderschön gedrechselte Verse von nie endender Liebe und ewiger Treue. Und so blieb es nicht aus, dass sie seiner gekonnten Verführung erlag. Afra hatte an die große Liebe geglaubt, wie in den Versen, die Wentzel sang, doch ihr Glück währte nicht lange. Bald wurde er ihrer überdrüssig, und nachdem Wenzel sie geschwängert hatte, war er eines Tages fort.

Ihre Mutter sah ihn nie wieder. Eine schwangere, allein umherziehende Frau war schutzlos einer Vielzahl von Gefahren ausgeliefert. Überall gab es Wegelagerer und andere Abscheulichkeiten. Ohne ein Auskommen konnte sie sich nur von dem ernähren, was die Natur ihr bot. Hin und wieder bettelte sie, doch mehr als einmal vertrieb man sie, hungrig und elend, aus einem der Dörfer, die ihren Weg kreuzten.

Als die Geburt näher rückte, fand Afra in einer Klause im nahe gelegenen Witticher Tal eine Zuflucht. Dort, wo wegen des Bergbaus alles kahl geschlagen war und sich die aufgegebene Burg Wittichen befand, hatte die Begine Luitgard mit dreiunddreißig weiteren Frauen eine Klause gegründet. Kurz darauf wurde die Klause als Kloster anerkannt. Und so wurde Johanna, entstanden aus der sündigen Beziehung eines Spielmanns mit der Tochter eines Baders, auf heiligem Boden geboren. Luitgard von Wittichen, nun die Äbtissin des Klosters, erkannte Afras Gabe, Kranke zu heilen. Doch sie spürte auch, dass das Kloster nicht der richtige Ort für sie war. Nach Johannas Geburt lud sie Afra dennoch ein, eine Weile zu bleiben. In dieser Zeit überzeugte sie die junge Frau, die nach den schrecklichen Ereignissen und dem Tod ihres Vaters geschworen hatte, nie wieder jemanden zu heilen, und es trotzdem nicht lassen konnte, dass dies eine falsche Entscheidung war. Wegen der besonderen Beziehung zu dem Herrn der nahe gelegenen Schiltacher Burg – immerhin war sie die Taufpatin eines seiner Kinder – erwirkte sie bei Herzog Hermann II. von Teck eine Bleibe für die alleinstehende Mutter. Afra bekam ein Haus im Gerberviertel des Städtchens, das nach dem Tod seiner Bewohner leer gestanden hatte. Ganz am Rand der Vorstadt, ein wenig abseits von den anderen Häusern, mit einem kleinen Garten und den nötigsten Einrichtungsgegenständen. Hier konnte man schalten und walten, wie man wollte. Da Afra bewiesen hatte, dass sie sich auf das Behandeln von Verletzungen verstand, und es Nonnen und Mönchen verboten war, operative Behandlungen durchzuführen, überredete Luitgard von Wittichen den Herzog, es Afra zu gestatten. Die Entscheidung des Burgherrn war nicht ganz so selbstlos, wie sie aussah. Chirurgische Eingriffe und einiges mehr waren eigentlich den Badern vorbehalten, doch da es in dieser Gegend keine gab und sich auch kein Wundarzt nach Schiltach verirrte, erhielt sie die Erlaubnis. Auch die Bewohner der Burg profitierten von Afras Heilkunst, ebenso wie die Flößer, die übrige Stadtbevölkerung und die Bauern der Lehenshöfe, die sich auf Tälern und Höhen rund um das Städtle verteilten. In gewisser Weise sorgte der Herzog so dafür, dass diejenigen, über die er herrschte, schneller wieder arbeiten konnten und ihm den größten Gewinn brachten.

Also war Afra in dieses Häuschen gezogen. Und wenn sie auch ihrem Schwur nicht treu blieb, so hatte sie eines aus dieser Sache gelernt: Nie würde sie falsche Versprechungen machen oder gar lügen, nur um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, wie es ihr Vater getan hatte. Überdies nahm sie nur dann etwas an, wenn eine Behandlung geglückt war – und es mussten keine Münzen sein. So kamen sie zu Mehl, Honig, Früchten, sogar die beiden Bettfelle waren auf diese Weise in ihren Besitz gelangt. Auch Johanna befolgte die Prinzipien ihrer Mutter und war bisher nicht schlecht damit gefahren.

Nach dem Frühstück machte sie sich auf, um nach Symon zu sehen. Hoffentlich ging es ihm gut! Johanna schluckte schwer. Nicht auszudenken, wenn Symon die Nacht nicht überlebt hätte.

Margaret öffnete auf ihr Klopfen und scheuchte die Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen, von denen das älteste acht Jahre alt war, aus dem Haus. Symon lag noch immer im Bett, doch seine Augen waren klarer. Er sah ziemlich munter drein, als Johanna bei ihm ankam.

»Wie geht es dir?«

Der stattliche Mann verzog den Mund zu etwas, das wie ein Lächeln aussah. »Besser, aber ich fühle mich immer noch wie ein gefällter Baum. Ich kann mich kaum erheben, um meine Notdurft zu verrichten.«

»Alles hat seine Zeit. Das steht schon in der Heiligen Schrift. Du bist schwer gestürzt. Und nun brauchst du Ruhe, damit die Verletzung heilen kann. Bald wirst du wieder kräftig genug sein.«

Sie leuchtete ihm mit der Flamme eines Talglichts in die Augen und fand zwei gleich große Pupillen vor, die sich vom Licht geblendet zusammenzogen. Das war gut.

Nachdem sie frischen Kräuterbrei auf die Wunde gelegt und Margaret mit einem Beutel zerkleinerter Weidenrinde versorgt hatte, verabschiedete sie sich.

»Ich glaube, er wird wieder ganz gesund«, raunte ihr Margaret zu, als sie Johanna zur Tür brachte.

»Nun, das hoffe ich doch. Du hingegen siehst heute ganz und gar nicht gut aus.« Besorgt betrachtete Johanna Margaret. Sie erwiderte den Blick aus dunkel umschatteten Augen. Der Rest des Gesichts war bleich wie ein Leintuch.

»Ach, es ist nichts.«

Die gequälte Miene ließ Johanna erahnen, dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Es war wohl alles ein wenig zu viel für mich.« Margaret stockte für einen Moment, als ob sie etwas loswerden wollte, das ihr peinlich war.

Johanna hob die Hand und strich ihr beruhigend über den Oberarm. »Nun komm schon. Du kannst es mir ruhig erzählen. Ich bin einiges gewohnt.«

»Es ist … nun ja … meine Blutung hat heute Nacht eingesetzt, und ich habe schreckliche Krämpfe.«

»Hast du das jedes Mal?«

Margaret nickte.

»Das haben viele Frauen«, sagte Johanna erleichtert darüber, dass Margaret wohl nicht schwerer erkrankt war. »Es gibt ein gutes Mittel dagegen. Leider habe ich nichts mehr davon. Ich werde sehen, dass ich es finde und es so schnell wie möglich vorbeibringe. Du musst dir einen Sud davon kochen, und schon nach dem ersten Becher wirst du merken, wie die Schmerzen nachlassen.«

»Das wäre schön.« Margaret seufzte. »Es ist nicht einfach, die Kinder, den Haushalt und einen kranken Mann zu versorgen.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Johanna pries im Stillen ihre Entscheidung, ledig zu bleiben. »Ich komme bald wieder vorbei. Ruf mich, wenn in der Zwischenzeit etwas sein sollte.«

Zufrieden mit sich und der Welt schlenderte Johanna nach Hause. Ein leichter Wind wehte weiße Schäfchenwolken über einen zartblauen Himmel. Im Frühling zeigte sich das Kinzigtal von seiner schönsten Seite. Malerisch, weich und freundlich lag es vor ihr. Man konnte sich zum Leben kaum einen schöneren Ort vorstellen. Im Winter sah es dagegen oft ganz anders aus, doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Heute vergoldete die Sonne die hohen, bewaldeten Bergkuppen und ließ die Mauern der Schiltacher Burg erstrahlen, die auf dem Sporn des Schlossberges hoch über der Stadt thronte. Seit ein paar Jahren wohnte neben den Herzögen von Teck auch Herzog Reinold von Urslingen hier, der eine Tochter des alten Teckers geheiratet hatte. Neben einem Wachturm schützten auf drei Seiten steil abfallende Berghänge den viereckigen Bergfried und einen Palas. Auf der vierten Seite, wo man hinaufsteigen konnte, hielt ein Graben mit einer Zugbrücke mögliche Angreifer von der Wehrmauer fern, die halb so hoch wie der Bergfried war. Die gesamte Anlage der edlen Geschlechter – ein hohes, trutziges Gebilde – blickte majestätisch und abweisend auf die Stadt und das Tal. Dort oben war kein Platz für die einfachen Leute – es sei denn, sie hatten in der Burg ihre Arbeit zu verrichten.

Laute, kehlige Rufe ließen Johannas Augen zum nahe gelegenen Kirchweiher schweifen, wo gerade ein Floß in die Kinzig entlassen wurde. Ein langes Ungetüm mit einer schmalen Spitze, das sich zur Mitte hin verbreitete, schwamm in dem aufgestauten Weiher. Nur sechs Flößer waren nötig, um es durch den Fluss zu lenken, der an manchen Stellen nicht viel breiter als das Floß selbst war. Johanna blieb einen Moment stehen und beobachtete, wie sich die Kraft des Wassers entlud, als das Wehr geöffnet wurde. Mit einem kräftigen Schwall schossen die miteinander verbundenen Stämme durch den offenen Schlund. Der Fahrer an der Spitze des Floßes hatte alle Hände voll zu tun, um es sicher durch die entstandene schmale Schneise zu lenken, während die beiden Bremser an dessen Ende auf der Hut waren, um nötigenfalls die Geschwindigkeit zu drosseln, und die anderen es mit langen Stangen im Fahrwasser hielten. Diese Arbeit erforderte einiges an Kraft und Geschick. Ganz sicher war sie nichts für Schwächlinge und Kranke. In seinem gestrigen Zustand wäre Symon vermutlich nie wieder mit einem Floß gefahren. Nun bestand zumindest Hoffnung.

In ihrem Häuschen packte Johanna ein Säckchen Mehl neben einem leeren Beutel in einen Korb, zusammen mit einem Tiegel, der eine Salbe aus Kräutern und Gänseschmalz enthielt, und den Rest des Brotes, das ihr noch geblieben war. Sie sollte dringend neues backen, doch das konnte warten. Zunächst galt es, andere Dinge zu erledigen. Das gute Wetter würde ihr dabei von Nutzen sein. Wer wusste schon, wie lange es noch hielt.

Entschlossen machte sie sich in die Richtung der Wiesen und Felder auf, die man auf einem breiten gerodeten Streifen rings um die Stadt angelegt hatte. Das Schnattern von Gänsen wies ihr den richtigen Weg. Kurz darauf sah sie Peter, einen etwa zehnjährigen Jungen, der als Hirte auf seine Schützlinge aufpasste. Zumindest sollte er das. Im Moment jedoch lag er in der Sonne und döste vor sich hin.

»Gott zum Gruße, Peter«, rief sie ihm zu.

Der Junge schoss in die Höhe und stieß erleichtert die Luft aus den Lungen. »Johanna! Ich dachte schon, meine Mutter wäre hier, um nachzuschauen, ob ich meine Arbeit gut verrichte.«

»Und, hast du?«

Peter sah schuldbewusst drein. Langsam schüttelte er den Kopf. »Du wirst mich doch nicht verraten, oder?«, fragte er ängstlich.

Johanna lächelte. »Ganz gewiss nicht. Ich suche nur etwas.«

»Na, dann ist es ja gut, sonst hätte es heute Abend eine Tracht Prügel gegeben.« Er betrachtete Johanna, die ihre Augen prüfend über den Rand der Weide schweifen ließ. »Was suchst du denn?«

»Gänsefingerkraut«, murmelte Johanna. Und dann entdeckte sie es. Dort, wo die Gänse es in Ruhe gelassen hatten, reckten kleine buttergelbe Blüten ihre Köpfchen zwischen sattgrünen Blättern hervor. Sacht strich sie über die gezackten Blätter, auf deren Unterseite ein Flaum aus silbrigen Haaren wucherte. Irgendjemanden mussten sie an Finger erinnert haben. Sonst hätte die Pflanze diesen Namen nicht bekommen. Jedenfalls würde es Margaret helfen, die Krämpfe loszuwerden, die ihr zusetzten. Rasch pflückte Johanna, was sie brauchte, und stopfte es in den leeren Beutel.

Nachdem sie der erleichterten Margaret die Blätter gebracht und ihr erklärt hatte, wie sie den Sud bereiten sollte, machte sie sich auf in den Wald. Dieses Mal überquerte sie Wiesen und Felder. Das bergige Land dahinter hatte man den Bäumen überlassen. Hier gab es jede Menge davon.

Das Gelände stieg an, sobald Johanna den Saum aus Büschen und Bäumen hinter sich gelassen hatte. Ein schmaler Weg führte sie immer tiefer unter das dichte Geflecht aus Laub- und Nadelbäumen, das hauptsächlich aus Fichten, Tannen und Buchen bestand. Still war es hier und dennoch voller Leben. Hier und da knackte es, das Geräusch flüchtender Tiere, denen sie zu nahe gekommen war. Ein vielstimmiges Zwitschern drang an ihr Ohr. Zu ihrer Linken erklang das warnende Schnarren eines Eichelhähers, und in der Ferne erschallte der typische Ruf eines Kuckucks. Eigentlich hätte sie sich fürchten sollen. Es war für eine Frau nicht ganz ungefährlich, allein in den Wald zu gehen. Doch sie liebte die Ruhe und die Abgeschiedenheit, die sie hier fand. Den nachgiebigen moosigen Boden unter ihren weichen Schuhsohlen. Das sanfte Atmen der Bäume. Hier konnte sie ganz sie selbst sein, ohne das Gefühl zu haben, beobachtet zu werden – und sie fand vieles von dem, was sie brauchte. Jetzt aber hatte sie noch etwas anderes vor.

Johanna musste eine ganze Weile gehen, bevor sie zu einer kleinen Siedlung kam, die idyllisch an einem plätschernden Bach lag, der vom Gebirge herabströmte. Der äußere Schein trog. Die Menschen, die hier wohnten, genossen diesen malerischen Rückzugsort nicht. Man hatte sie abgesondert, sie zu Ausgestoßenen erklärt, damit ihre Krankheit nicht auf die Gesunden übersprang. Hier hausten die armen Kinder Gottes, die Leprosen, wie sie sonst noch genannt wurden. Sechs Männer und drei Frauen waren es, die ein karges, einsames Leben getrennt von ihren Familien fristeten. Wenn sie Glück hatten, wurden sie von denen versorgt, die sie liebten. Sobald der Ernährer jedoch fehlte, hatte es die Familie selbst schon schwer genug. Dann waren die Kranken auf die Barmherzigkeit anderer angewiesen, und auch Johanna trug ihren Teil zu diesen Almosen bei.

Eine Welle des Mitleids überflutete sie, als sie die Glocke des Tores betätigte, dem einzigen Einlass in einer hohen Palisade. Die Einfriedung aus angespitzten Baumstämmen schnitt die Siedlung vollkommen von der übrigen Welt ab. Ein unnatürlich heller Ton störte die Ruhe, als der Klöppel auf den Klangkörper traf. Danach war es wieder still.

Kurz darauf öffnete sich eine Klappe. Das Gesicht eines Mannes mittleren Alters erschien in der Öffnung.

»Sei gegrüßt, Michel.«