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Gabriela Kasperski war als Moderatorin im Radio- und TV-Bereich und als Theaterschauspielerin tätig. Heute lebt sie als Autorin mit ihrer Familie in Zürich und ist Dozentin für Synchronisation, Figurenentwicklung und Kreatives Schreiben.

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www.instagram.com/kasperskigabriela

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: 995645/Pixabay.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-532-9

Originalausgabe

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Für Monika

 

Gänsehaut kroch ihr über den Nacken, da, wo der Atem ihre Haut berührte. Leicht glitten seine Finger vorwärts, vergruben sich in ihrem Haar. Ein Moment des Glücks. Bis ihr Kopf nach hinten gerissen wurde. Sie spürte den Schlag bis zu den Zehen, eine Strähne löste sich. Auch Haar kann bluten, dachte sie.

Ellie Apt, 1979

Prolog

«Für diese Titten würde ich killen», sagte der bärtige Karohemdträger zu seinem Nachbarn.

Hannah Frank, unfreiwillige Zeugin der Flüsterei, war gleichzeitig amüsiert und konsterniert. Die Männer in der Reihe vor ihr, beide Familienväter, beide im Glauben, sie wären akustisch geschützt von den Bläsern des Schulorchesters, merkten nicht, dass Hannah jedes Wort verstand.

«Nicht nur für die Titten», flüsterte der andere. «Schau dir mal die Stempel an, wie Lianen.»

Hannahs Augen wanderten zur jungen Protagonistin im gold-roten Kleid, die den anderen Laiendarstellern um ein Vielfaches überlegen war. Der Schlussapplaus ging los. Die vorderste Reihe stand auf, die zweite, die dritte, bis der Saal tobte. Als die im Gold-Roten mit der Verbeugung Einblick in ihr Kleid bot, standen auch die beiden Väter auf, stiessen sich an und feixten.

«Ein Kollege von mir ist an einer Liane erstickt», zischte Hannah dem Karohemdträger ins Ohr. «Kein schöner Tod.»

Blitzschnell verfiel sie ins Klatschen, übersah den Mann, als er sich ertappt umdrehte. Kurze Zeit später stand Hannah im Getümmel an der Bar und bestellte sich einen Rotwein.

«Hannah Frank. Wie schön, dass Sie gekommen sind», brüllte der Regisseur des Schultheaters, klein, gedrungen, mit zu engem Jackett, und bahnte sich einen Weg zu ihr.

Hannah hätte ihn gern gefragt, warum um Himmels willen er ein Stück ausgewählt hatte, das bei allem Charme vor archaischem Männlichkeitsgebaren nur so strotzte.

«Die Hauptdarstellerin ist grossartig.» Diplomatisch, das konnte Hannah durchaus sein, wenn sie wollte.

Der Regisseur war ein netter Kerl, als Kulturbeauftragte hatte sie öfter mit ihm zu tun.

«Nicht wahr? Meine Entdeckung», erwiderte der Regisseur.

Von allen Seiten trafen ihn Blicke; Eltern, die nur darauf warteten, ihm zur Inszenierung und vor allem sich selbst zur Leistung der Sprösslinge zu gratulieren. Hannah spürte seinen Geruch, eine Mischung aus Alkohol und Schweiss, die sie daran erinnerte, dass er ihr bei einer Konferenz mal zu nahe gekommen war. Kein Interesse, wollte sie schon signalisieren. Andrerseits, ihr Privatleben war nicht berauschend. Sie wurde älter und die Abende einsamer.

«Cheers, auf Ihren Erfolg», sagte sie.

Er leerte sein Glas in einem Zug. «Das tut gut. Die letzten Wochen waren anstrengend.»

Die junge Schauspielerin betrat den Raum, und die Leute brachen erneut in Applaus aus.

«Was für ein Powermädchen!» Das Gesicht des Regisseurs hatte plötzlich etwas Gieriges. «Sie will eine professionelle Ausbildung machen.»

«Tanzen und singen kann sie», sagte Hannah. «Ich bin sicher, dass sie gute Chancen hat.»

«Gute Chancen? Winny Apt wird ein Star.»

Hannah glaubte, sich verhört zu haben. «Wie heisst sie? Apt?»

Sie holte sich ein Programm und sah sich das Foto an. Meine Hand zittert, dachte Hannah und wischte mit einer Serviette über den verschütteten Wein. Winny Apt. Im Geist überschlug sie die Jahreszahlen, konnte das sein? Ihr wurde kalt, da, wo der weisse Rollkragenpullover den rechten Arm nicht bedeckte, zeigte sich eine Gänsehaut, nur die Narbe blieb unberührt. Sie sah den Glassplitter vor sich, sich selbst als unsichere blutjunge Schauspielerin, darauf hoffend, dass jemand sie aus ihrem Nebenrollendasein heraushexte.

«Noch eines?», fragte die Schülerin an der Bar.

Hannah schüttelte den Kopf. Winny Apt stand nur wenige Meter entfernt, von Menschen umrahmt. Eine grosse, schöne Nofretete. Pass auf, wollte Hannah ihr zurufen, die fressen dich auf, und am Schluss bleibt weniger als ein Haufen Dreck.

Und dann tat Winny etwas Unerwartetes. Sie schulterte einen Rucksack und stapfte in klobigen Schuhen in Richtung Ausgang. Hannah holte ihren Mantel und ging hinterher, fand die junge Frau bei den Mofas, ins Gespräch vertieft mit ihrem Bühnenpartner.

«Winny Apt?»

Winny reagierte abweisend.

«Ich kenne deine Grossmutter. Du gleichst ihr», erklärte Hannah.

«Ellie?», sagte Winny. «Sie ist längst gestorben. Vielleicht meinen Sie Luma, meine Urgrossmutter.»

«Ich kannte beide. Hast du einen Moment?»

«Nein. Wir wollen gerade …»

«Einen trinken? Das kannst du auch mit mir.»

«Wieso sollte ich?»

Hannah stockte, ihre Reaktion war spontan gewesen. «Komm einfach mit.»

Winny musterte sie. «Sind Sie noch ganz dicht?»

«Ich bin Hannah Frank. Als ich in deinem Alter war, hiess ich Anne.»

«Anne Frank, echt jetzt? Ziemlicher Stress, dieser Name.»

Hannah war beeindruckt. Nicht nur, dass Winny ihre Namensvetterin kannte, sie wusste auch um die Hypothek, die Hannahs Eltern ihr damit in die Wiege gelegt hatten. «Das ist so. Seit ich ein Kind bin, muss ich kämpfen. Meist bin ich allein. Diesmal könnte ich Hilfe brauchen. Lies das.»

Hannah zog den Artikel aus der Tasche, den sie vor wenigen Tagen in einer Gratiszeitung entdeckt hatte.

«Schlossfestspiele Greifensee starten mit Shakespeare-Stück. Initiator Simon Perron, 70, will jeden Abend tausend Zuschauer ins historische Städtchen locken», stand im Titel. Daneben ein Foto von Perron.

«Der soll siebzig sein? Hat sich gut gehalten, der Typ.» Winny schmunzelte.

«Er ist ein Blender», erwiderte Hannah.

Winny überflog den Artikel. «Arielle Bergmann spielt die Hauptrolle», murmelte sie. «Krass, ich kenn die. Ihr YouTube-Kanal hat endlos Follower. Sie ist vegan, fitnessgestört und ein Fashionfreak. Vielleicht sollte ich nicht auf eine Schauspielschule, sondern Influencerin werden.»

In diesem Moment entstand in Hannahs Kopf ein Plan.

Genau, glasklar, genial.

«Wer weiss …»

In Winnys Blick lag Neugier. «Wie meinen Sie das?»

«Du kannst mich duzen. Trinken wir jetzt einen Kaffee?»

Januar 2019

«Haben Sie dem Schauspieler, Regisseur und Produzenten Simon Perron in der Öffentlichkeit Betrug vorgeworfen und damit seine Firma Strahland in den Konkurs getrieben?», fragte der Staatsanwalt, während sich im vollen Saal des Zürcher Bezirksgerichts ein Murmeln erhob und alle gespannt zu Hannah Frank sahen.

Sie schwieg. Wie sie das seit Beginn der Verhandlung tat, wie sie es während des gesamten Strafverfahrens gemacht hatte. Ihr Blick ging zu Winny Apt in der ersten Reihe. Winny schüttelte ihre Rastafrisur, deutete auf den leeren Sitzplatz neben sich. «Nichts von Zita und Beanie», formten ihre Lippen stumm. Hannah sah auf die Uhr. Es war kurz nach elf. Alles genau wie verabredet. Und doch. Hannah spürte ein Kribbeln im Bauch. Was, wenn ihr Plan, den sie vor über einem Jahr gefasst hatte, was, wenn dieser Plan nicht aufging?

«Vertrau mir, Hannah. Beanie und ich, wir arbeiten die ganze Liste ab», hatte Zita Schnyder gesagt, ein Funkeln in den Augen, die Haare verstrubbelt, Milchflecken auf dem blauen Regenmantel. «Wir finden Zeuginnen, die aussagen. Damit erheben wir Gegenklage, unter Einbezug der Öffentlichkeit. Die Fetzen werden fliegen.»

Hannahs Blick schweifte zur Seite, zur Presse, zu den Journalistinnen und Berichterstattern. Sie wirkten alle gespannt, sahen zur Richterin. Mehr Aufmerksamkeit würde Hannah nie wieder haben … wenn alles auf die Minute klappte.

Der Staatsanwalt wurde ungeduldig. «Hannah Frank. Ich erwarte eine Antwort. Haben Sie Simon Perron ein Schwein genannt?» Das Schluss-T knallte durch den hohen Raum.

Die Verteidigerin hatte in den ersten beiden Prozesstagen Hannahs Bild einer Schafferin gezeichnet. Eine Schafferin, die sich seit vielen Jahren als europäische Kulturvermittlerin für die Rechte von Frauen und Kindern einsetzte und sich dabei, sozusagen den Umständen geschuldet, ab und zu in den Mitteln vergriff. Es sah so aus, als ob die Verteidigerin damit Simon Perrons Vorwürfe, Grundlage der Anklage gegen Hannah, mit geschicktem Nachfragen und Richtigstellungen entkräften könnte.

Bis sich das Blatt wendete, in einem Ausmass, mit dem Hannah, Zita und Beanie Barras, die Dritte in ihrem kleinen Team, nicht hatten rechnen können. Die Gegenseite trieb in letzter Minute neue Zeugen auf. Eine davon war die Kostümbildnerin der Schlossfestspiele Greifensee. Hannah hatte immer gewusst, dass sie ihr nicht trauen konnte. Dennoch musste sie schlucken, als Carole Weder nun in den Zeugenstand gerufen wurde, Hannahs Blick vermeidend.

Der Staatsanwalt präsentierte ihr, genussvoll, wie Hannah zu spüren glaubte, eine Frage nach der anderen, während Hannahs Verteidigerin nervös in ihren Akten blätterte und auf dem Handy herumtippte. Erst schwärmte Carole Weder von Perrons Treue, seiner Loyalität zur Firma und seiner Liebe zu den Mitarbeitenden, seiner Meute, wie er sie nannte. Vom Staatsanwalt milde zur Eile ermahnt, beschrieb sie anschliessend die Vorgänge beim Schloss Greifensee aus ihrer Sicht. Hannah Frank hätten sie es zu «verdanken», dass die Firma Strahland vor dem Ruin stünde und das gesamte Ensemble, darunter sie selbst, vor der Arbeitslosigkeit. Weil Hannah mit ihren aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen die Festspiele nicht nur verhindert, sondern diese und weitere Produktionen für alle Zeiten ruiniert habe. Sie, die Kostümbildnerin, sei dabei von Hannah instrumentalisiert und zur Mitarbeit gezwungen worden.

Der Staatsanwalt untermauerte ihre Aussagen mit Handyaufnahmen und Fotos. Verschiedene Begegnungen mit Hannah, film- und tonmässig dokumentiert.

«Du musst mir helfen, Perron dranzukriegen, egal, mit welchen Mitteln», dröhnte Hannahs Stimme über eine Boombox durch den Saal, «sonst werde ich Perrons Frau erzählen, dass du eine Tochter hast von ihm.»

In dem Moment brach Carole Weder in Tränen aus und deutete auf eine junge Frau, die zwischen Perron und seiner Frau in der ersten Reihe sass, intensiv beschäftigt mit einem Spielzeug aus bunten Holzbällchen. «Sie ist autistisch. Simon Perrons Familie hat meine Tochter längst akzeptiert. Sie unterstützen mich, ohne ihre Hilfe könnte ich mir das Heim nicht leisten.»

Da änderte sich die Stimmung im Saal radikal. Hannah spürte es körperlich. Es waren nicht die Blicke, das Murmeln, das Flüstern, es war eine Form von feindseliger Energie, die sie nach Luft schnappen liess. Obwohl Hannah damit gerechnet hatte, kostete es sie Kraft, nicht aufzustehen und die ganze Wahrheit hinauszuschreien. Sie streckte ihren zierlichen Körper, umklammerte den gelähmten Arm, zwang sich, ihren Blick ins Publikum zu richten. Der Moment war noch nicht da. Er käme später. Am Nachmittag, kurz vor Verhandlungsschluss. Alles andere war keine Option.

In der Mittagspause sagte Hannahs Verteidigerin erst kein Wort, die Wut grub ihr eine Falte zwischen die Augenbrauen.

«Es tut mir leid», rang Hannah sich schliesslich ab.

«Haben Sie die Frau erpresst?», zischte die Verteidigerin, weiss im Gesicht.

«Nein. Ja», sagte Hannah. «Weil es die einzige Möglichkeit war, in das System hineinzukommen.»

«Sie sind bald sechzig Jahre alt, ich hätte Sie für klüger gehalten. Alles, was Sie Perron vorwerfen, kehrt sich gegen sie. Die werden auch den Fall der Influencerin noch mal neu aufrollen. Wenn nicht ein Wunder passiert, müssen Sie ins Gefängnis, Hannah.»

September 2018

1

«Den Greifensee sehen und sterben», textete Arielle Bergmann neonpink in die Sprechblase und platzierte sie auf dem bewegten Bild, in dessen Zentrum sie selbst stand, ein strahlendes Lachen, über der Schulter das Sportbag mit dem gerollten Theatertext.

«Instagrammable?»

Arielle postete im Insta-Feed. Sofort ploppte ein «Gefällt»-Herz auf, gefolgt von neun weiteren. In knapp einer halben Stunde hatte sie die Dreihunderter-Marke geknackt, die Aufrufe lagen bei über zehntausend, Kommentare bei knapp dreihundert. Ihre Community war genial, schon am frühen Morgen ritten sie die Welle.

Am Schild «Tribüne betreten verboten» vorbei sprang Arielle die Treppe der steilen Holztribüne hoch.

«Hallo, ihr Schätze», sprach sie in ihrem gepflegt urbanen Zürcher Dialekt ins Mikro und hielt die Kamera so, dass das nachtblaue Oberteil ihres Kostüms sichtbar wurde. «Ich freu mich, dass ihr bei ‹Arielles Welt› dabei seid. Bevor die Probe beginnt, zeige ich euch die beste Aussicht ever.»

Im Laufen streamte sie gute Laune in die Kamera, nicht ausser Atem, selbstverständlich. Sie wollte ihre Follower zu einem positiven Lifestyle motivieren. Hätte Arielle jemand nach ihrem Herzensanliegen gefragt, hätte sie gesagt: «Die Welt retten.» Wenn nur die Schuhe nicht wären. Arielle schlüpfte aus den High Heels, während sie eine Leichtglasflasche aus der Tasche zog und sich beim Trinken filmte, darauf bedacht, die Farbkombination ideal ins Bild zu bringen: das Grün des Kohl-Smoothies und das Blau des Greifensees. Bis sie mit der Kamera auf dem Textbuch landete. «Viel Lärm um nichts».

Es sprang ins Auge, weil sie den Titel mit Farben und Emojis aufgepeppt hatte. Arielle liebte Emojis. Sie brachten Sonne ins Leben.

«Nun muss ich Text lernen. Wünscht mir Glück.» Fertig und posten.

Der Beitrag kam an, es gab ein «Gefällt» nach dem anderen. Unter den üblichen Kommentaren ploppte auch ein kritischer: «Habt ihr ein Textbuch aus echtem Papier? Kein Tablet?»

Arielle fühlte sich bestätigt. Genau dasselbe hatte sie ihrem Regisseur Simon Perron bei der Leseprobe gesagt. Ökologisch gesehen war das ganze Papier ein Verbrechen. Er hatte sie ausgelacht. Von Anfang an hatte sie vermutet, dass er sie nur auf Druck der Sponsorbank engagiert hatte. Sie, Arielle, die noch nie auf einer Bühne gestanden hatte, spielte Beatrice, die Hauptrolle. Dafür brachte sie eine riesige Community mit, über eine Million Fans, wenn sie alle Kanäle zusammenzählte. Ihre Follower, ihre Familie. Seit dem ersten Probentag informierte sie täglich über alles, was abging.

Die Proben waren anstrengend und mühsam gewesen, die Kollegen nicht immer sehr freundlich. Arielle war froh, wenn die Premiere vorbei wäre und sie endlich frei spielen konnte, ohne die ständigen Unterbrechungen. Aber das würde sie niemals öffentlich sagen, stattdessen lächelte sie und biss auf die Zähne. Das hatte sie von ihrer Mam gelernt. Ihre Mam war ihr Vorbild. Und ihre Agentin Kleo Zürcher, von allen Kleo Z. genannt. Wenn beide Frauen Arielle dazu rieten, einen guten Job zu machen, um die Früchte später zu ernten, musste was dran sein. Das Erntebild gefiel Arielle, es hatte mit Selflove zu tun und mit Achtsamkeit, ihrem Thema.

«Lasst das Gejammer, Ladys, lasst es sein», sagte sie den ersten Satz. Er ging ihr nicht leicht über die Lippen. Dass dieser Shakespeare so ein komplizierter Typ sein musste und dauernd verschwurbelte, was einfach ginge.

«Über die Worte sollen im Kopf der Zuschauer Bilder entstehen», hatte Perron erklärt.

Wozu, wenn es doch Insta gab? Wäre es nach Arielle gegangen, hätten sie Fotos projiziert.

Perron blieb hart. «Arielle, mein Schatz, du bist gold, und der Vorverkauf läuft super, dank dir. Aber bis zur Premiere bist du nur Schauspielerin. Nix Influencerin, nix Insta-Girl, nix Snapperin. Es gibt diesen einen Text, Buchstaben für Buchstaben. Hänger liegen nicht mehr drin, klar?»

In diesem Moment wurde Arielle von einem Sonnenstrahl geblendet. #Morgenstimmung. Noch ein spektakuläres Hammerbild, dann würde Arielle Text lernen. Versprochen, heute würde sie die Souffleuse kein einziges Mal brauchen. Gerade als sie nach oben zum Mischpult klettern wollte – obwohl schwindelfrei, schluckte sie leer: links und rechts ging es steil runter –, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Arielle blieb stehen.

«Hallo?»

Wer von den anderen war denn schon so früh hier? Yannik? Nun glaubte sie, ein Geräusch zu hören. Schritte? Sie drehte sich um. Es musste Istvan Tschirky sein, Simons rechte Hand, ein doppelzüngiger Arschkriecher. Arielle benutzte das Wort äusserst selten. Achtsam war sie auch in der Sprache, aber sie mochte Tschirky nicht, seit er ihr mehrfach angeboten hatte, sie nach der Probe Text abzufragen. Oder war es der Bühnenmeister? Ein Bulle, um den sie gern einen Bogen machte, und der sie gleich kritisieren würde, weil sie sein Verbot missachtet hatte und auf die Tribüne geklettert war. Aber da war niemand, sie hatte sich getäuscht.

Flink wie ihre Lieblingsratte überwand Arielle die letzten Stufen und stellte sich am Rand der Plattform in Pose, die Kamera hielt sie im steilstmöglichen Winkel. Klick. Als sie das Foto kontrollierte, stachen Arielle die blassen Fingernägel ins Auge. Ignorieren? Nein, dazu war sie zu perfekt. Was aussah wie ein Schnappschuss, war eine ausgefeilte Komposition. Aus Liebe zu ihrer Community.

Schon schraubte Arielle die Flasche mit dem Lack auf, pinselte Metallica über den Nagel des Zeigfingers.

«Arielle?»

Ihre Hand rutschte aus, der Farbrand zerfranste.

«Easy. Ich komme gleich.» Wer auch immer sie zur Probe rufen wollte, er musste warten, bis sie das Bild gemacht hatte. Arielle holte den Nagellackentferner heraus, ihre Tasche war ein ganzes Überlebenscamp. Plötzlich fiel ein Schatten auf ihre Hand.

«Ich bin gleich da.» Sie lächelte.

Dieses Selfie musste einfach sein. Es war das letzte. Das perfekte.

***

Instagram-Account von WinWinny/Story

Helles Phosphorlicht auf Stirn und Wangen. Die Augen zwei glitzernde Neonsterne. Der Hals lang, ein ärmelloses Neoprendress, mit Löchern an Brust, Bauch und Beinen

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WinWinny Hello Instagram. Ich bin Winny und freu mich, wenn du mein Profil besuchst. #whodareswins #folgtmir #followme

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«Fertig.» Zufrieden sah sich Werner Meier um. Seit dem frühen Morgen hatte er sein kleines Büro in der Kantonspolizei Uster aufgeräumt. Nachdem er mit Zita und den Kindern aus dem Piemont-Urlaub zurückgekommen war, nutzte er den Umstand, dass er noch einige Tage Ferien hatte. Es war ein gutes Gefühl. Alle Akten waren eingeordnet, ein ganzes Regal voll abgeschlossener Fälle, die er auf Papier haben wollte; Digitalisieren war nicht seine Sache.

«Danke, Rahmadini, gut gemacht», wandte er sich an den jungen Mann mit dem Hip-Hop-T-Shirt und den Tattoos auf den Armen, der gerade das Fenster öffnete, um den Staublappen auszuschütteln und frische Luft hereinzulassen.

Miro Rahmadini, Meiers Praktikant. Oder Assistent. Eine genaue Bezeichnung gab es nicht, das Organigramm der Kantonspolizei sah eine solche Position nicht vor. Er hatte seine Lehre abgeschlossen und liebäugelte nun mit dem Polizeiberuf. Meier kannte ihn aus einem früheren Fall, Rahmadini war eine Art Projekt von ihm. Als Teenager war er einmal haarscharf an einer Verurteilung vorbeigeschrammt, jugendlicher Blödsinn. Für einen jungen Albaner schien es besonders schwierig, diesen Ruf wieder loszuwerden. Umso stolzer war Meier, dass Rahmadini es geschafft hatte. Der Antrag auf Schweizer Staatsbürgerschaft lief, und dann stünde dem Eintritt in die Polizeischule kaum etwas im Wege.

«Voll viel Platz», sagte Rahmadini.

Das stimmte, Meiers Kabuff wirkte aufgeräumt viel grösser. Es fühlte sich gut an, etwas vollbracht zu haben, das er seit vielen Jahren vor sich herschob. Meier sah in den strahlenden Nachmittag hinaus. Es hätte auch Juni sein können, nur die leicht verfärbten Blätter der Linde zeigten, dass der Sommer bald vorbei sein würde.

Es klopfte. Im Türrahmen stand Regierungsrat Mike König, in Anzug und Krawatte, adrett und hellwach. Wieso wusste er, dass Meier hier war? Offiziell hatte er noch Ferien. König war ein unermüdlicher Schaffer und mediensüchtig. Es war ein offenes Geheimnis, dass er jeden Morgen um vier aufstand, um sämtliche Netzwerke auf den neuesten Stand zu bringen.

«Meier, ein Wort», sagte er mit seiner voluminösen Stimme und zu Rahmadini: «Holen Sie uns Espresso, zweimal schwarz.»

Rahmadini zupfte sein T-Shirt lang, wippte auf den Fussballen und wiederholte gewissenhaft, was der Regierungsrat für Justiz und Inneres gefordert hatte. Und jetzt geh, signalisierte ihm Meier, der Rahmadinis Eigenheit, Aufträge mehrfach zu wiederholen, kannte.

«Ich brauche nichts, danke, Rahmadini.»

Als er weg war, betrat König das Zimmer. «Haben Sie noch nicht gepackt?», fragte er mit einer Handbewegung zum Regal.

«Gepackt?»

«Ab nächster Woche sind Sie im Aquarium.»

Was meinte König?

«Steht im Vertrag.» Er deutete auf die gehefteten weissen Blätter in der Mitte der ansonsten leeren Schreibtischplatte. «Ist er unterschrieben?»

Das hatte Meier verdrängt, obwohl er die Stelle noch vor den Ferien zugesagt hatte. Der demografischen Entwicklung geschuldet, wurde die Kantonspolizei See/Oberland in zwei eigenständige Teile aufgesplittet, und Meier war angefragt worden, das Oberland zu übernehmen. Irgendwie war es ihm nicht geglückt, mit Zita darüber zu reden, obwohl sie in den drei Wochen Ferien ununterbrochen zusammen gewesen waren. Es hatte sich einfach nicht ergeben.

König zückte einen Stift, golden und schmal. «Erledigen Sie das doch gleich. Übermorgen ist die offizielle Feier, wie Sie wissen. Da wäre es nett, wenn wir einen Vertrag hätten.»

Meier zögerte. Er hatte sich das Papier nicht genau angesehen. Das Einzige, das ihn interessiert hatte, war die Zahl. Ein sechsstelliger Jahreslohn, so viel hatte er noch nie verdient. Damit würde er seine Familie locker alleine ernähren können. Zum ersten Mal wären sie nicht mehr auf Zitas Gehalt angewiesen. Dies erfüllte Meier mit tiefer Befriedigung. Woher kam dieses absolut archaische Gefühl? Es musste etwas mit Jagen zu tun haben, mit Beschützen, mit Verteidigen. Verrückt vielleicht und aus der Zeit gefallen, aber es fühlte sich richtig an. Dafür würde er sein geliebtes Büro gegen das Aquarium mit den zehn Arbeitsplätzen und den minergetisch versiegelten Fenstern eintauschen.

Der Stift rutschte Meier aus den verschwitzten Fingern, er musste ein zweites Mal ansetzen. Seine Unterschrift wirkte eckig.

«Spielt keine Rolle, es gilt auch so.» König lächelte und nahm Meier das Papier aus den Händen. «Wer war der Junge?»

Genau das hatte Meier vermeiden wollen. «Rahmadini? Er schnuppert hier.»

«Seit wann? Mir scheint, ich hätte ihn schon mal gesehen.»

«Das war vor meinen Sommerferien. Als er sich vorgestellt hat.»

«So ein Einsatz dauert bei uns normalerweise einen Tag, im besten Fall eine Woche.» König nahm Meier ins Visier. «Klar, Herr Meier?»

Damit ging er hinaus, nur um im Türrahmen fast mit Rahmadini zusammenzuprallen. Ein paar Tropfen Kaffee landeten auf Königs polierter Schuhspitze. «Für mich nicht mehr, ich muss weiter», sagte er und verschwand.

Meier klopfte dem verdatterten Rahmadini auf die Schultern. «Geben Sie her, mein Junge. Ich habe ihn überredet, dass er mir seinen Kaffee abtritt. Schliesslich bin ich bald Chef hier.»

«Okay, Chef. Übrigens soll ich Sie daran erinnern, dass Sie die Kinder in der Kita abholen. Dienstag ist Papa-Tag, eigentlich sollten Sie gar nicht hier sein, weil Sie noch Ferien haben.»

Gleich darauf stand Meier am Bahnhof Uster, die Lederjacke, die früh am Morgen noch knapp vertretbar gewesen war, über der Schulter gelegt und rechnete aus, ob er es rechtzeitig schaffen würde. Als die Abfahrtszeit der S-Bahn erneut nach hinten korrigiert wurde, musste er sich etwas einfallen lassen. Nur, wen sollte er um Hilfe bitten? Den Kontakt zu anderen Spielplatzvätern hatte er vermieden, seit einer von ihnen, so einer mit Dreitagebärtchen, Schirmmütze und karierter Hose, zum brüllenden Theo gesagt hatte: «Suchst du deinen Grosspapi? Der steht da hinten und isst ein ungesundes Fleischkäsesandwich.»

Nein, danke. Dann lieber … schtärnesiech. Es musste doch jemanden geben, der ihm helfen konnte.

«Barras, wo sind Sie?», sagte Meier in den Hörer und entschuldigte sich sogleich für den ruppigen Tonfall.

Seine ehemalige Assistentin Beanie Barras, seit einiger Zeit erfolgreiche Ermittlerin bei Leib und Leben der Kriminalpolizei Zürich, hatte gerade ihre Schicht hinter sich.

«Andi und ich schauen uns die Location an, Sie wissen schon, für die Hochzeit.»

Musste Barras Meier unter die Nase reiben, dass sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren weiter war als er mit seinen knapp fünfzig?

«Taugt sie was? Die … Location?» Wie Meier diese englischen Worthülsen hasste.

«Es ist ein Kajak.»

«Sie wollen auf einem Kajak heiraten? Und wo sind die Gäste?»

«In den Beibooten. Es ist toll. Auf dem Wasser weht ’ne leichte Brise.»

«Ist eigentlich ein Meereswind.»

«Seien Sie nicht so pingelig, Herr Meier. Hauptsache kühl.»

Auch das noch. Meier hasste Bootsfahren fast so sehr wie hohe Berge. Er sah sich nächsten Sonntag schon ins Wasser reihern, während Barras und IT-Andi, sein Mitarbeiter von der Datenabteilung, sich das Jawort gaben.

«Hören Sie, ist dort, wo Sie jetzt sind, weit entfernt vom Kreuzplatz?»

Falls sich Barras über die Frage wunderte, sagte sie keinen Ton. «Nö. Warum?»

Gleich darauf war sie instruiert. Sie würde die Kinder abholen und mit ihnen auf den Spielplatz gehen. Ein Abschiedsgeschenk, weil sie ab nächster Woche für drei Monate in die Flitterwochen verschwinden würde.

Dass die Zeitangabe der Zugsabfahrt erneut verschoben wurde, kostete Meier nur noch ein Lächeln. Er ging zum Bahnhofskiosk, um sich ein Feierabendbier zu gönnen.

Da summte sein Handy.

«Ciao, amore mio», sagte Meier.

Aber es war nicht Zita. Es war Gritli Gut, die Empfangsfrau der Kantonspolizei Uster, sehr aufgeregt. «Werner. Am See wurde eine Leiche gefunden.»

Meier zögerte. «Eine Leiche? Ich habe noch Ferien.»

Ohne darauf einzugehen, fuhr Gritli fort: «Es ist bei den Greifensee-Festspielen passiert, du weisst schon, seit Wochen spricht man von nichts anderem.»

«Nicht schon wieder ein Fall im Theater, einmal hat mir gereicht.»

Nun kam ein Wortschwall. «Es handelt sich um ein Mitglied des Ensembles. Ich hoffe sehr, dass sie weitermachen, ich habe mich so darauf gefreut. Theater wie zu Shakespeares Zeiten. Du weisst ja, dass ich Mitglied des Theaterclubs bin. Meist sehen wir nur Kleinkunst aus der Region. Mit den Festspielen kommt endlich mal was Rechtes. Simon Perron, der Regisseur, ist ein ganz Grosser. Und die Kolb ist dabei, Grete Kolb. Nach der Premiere hat unser Club ein Gespräch mit ihr arrangiert. Es wäre eine Katastrophe, wenn das nicht stattfinden würde.»

Als Meier aus dem Bus stieg, traf er als Erstes seinen Mitarbeiter Heinz Lips, der unter dem Seehundschnauz das übliche Süssholz kaute.

«Du hier? Du hast doch Ferien?», sagte Lips.

Meier winkte ab. «Ich war im Büro, um aufzuräumen. Gritli hat mich aufgescheucht. Sie hat Angst, dass ihre Eintrittskarten verfallen. Soll ich wieder gehen?»

Lips zuckte die Achseln. «Wenn du schon hier bist, vier Augen sehen mehr als zwei. Ausserdem könnte es dein letztes Mal sein.»

«Wieso?»

«Du wirst ja unser Oberchef. Gratuliere übrigens, wir sind stolz auf dich. Obwohl …» Die Sorge über die Veränderung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Keine Angst, es bleibt alles beim Alten, wollte Meier entgegnen. Nur, das würde es natürlich nicht. «Noch ist es nicht offiziell. Also …» Er klopfte Lips auf die Schulter. «Instruier mich mal.»

«Routine. Schräge Kulisse. Coppola hat Stalldrang. Und Kneubi muss das Donnerwetter austricksen.»

Er ging voraus, während Meier im Kopf Lips kryptischen Satz auf das Wesentliche analysierte. Die Notfallärztin, die hiess wie der amerikanische Filmregisseur, war auf dem Sprung, und der Spurensicherungschef Kneubühler befürchtete ein Gewitter.

Eine Aussage, die sich bestätigte, als Meier hinter Lips um die Ecke bog. Die Nachmittagssonne über dem Pfannenstiel verschwand hinter einer dunklen Wolke, und die verbleibenden Strahlen tauchten die Umgebung in ein magisches Licht, untermalt von der Sturmwarnung am anderen Ufer, obwohl der See so glatt war wie eine Scheibe. Die Szenerie vor dem Schloss, einem turmartigen Gebäude aus dem Mittelalter mit einem Satteldach und Mauern aus Bollersteinen, war atemberaubend. Auf der rechten Seite war eine überdachte Tribüne aufgebaut, fast gleich hoch wie die Birke mit dem efeuumhüllten Stamm. Ihr gegenüber lag die Bühne, eine Holzfläche, umgeben von einem Metallgerüst, an dem Stoffbahnen hingen.

Dort standen und sassen eine ganze Reihe von Menschen in historischen Kostümen und Halbmasken, die Meier von den auffälligen Plakaten her kannte, die ganz Uster pflasterten. Alle waren still, erstarrt geradezu, und die Art, wie ihre Körper zueinanderstanden, sagte mehr als tausend Worte. Die Männer hatten sich auf der einen Seite zusammengerottet. Sie trugen Anzüge, deren Farbe sich in den Oberteilen der Frauen spiegelte, welche auf der rechten Seite standen. Dazwischen, Zita würde es als echten Gender-Graben bezeichnen, sass eine ältere Dame im Männeranzug auf einem thronartigen Stuhl. Sie stützte sich auf einen Stock und überstrahlte alle mit ihrer schieren physischen Präsenz. Im Hintergrund lümmelten die Bühnenarbeiter, angeführt von einem bulligen Typen. Vorne links ein Mädchen in einem Overall, ihre Rastafrisur zu einem Turban geschlungen. Als Einzige sah sie nicht zu einem Mann, der vor der Bühne stand. Er musste der Regisseur sein. Mittelgross, mit dunkelgrau gelocktem Haar, einer schwarzen Brille, einem zerknitterten Sommerhemd, das sich über seinem Bauchansatz wölbte, einer Plastiktüte neben sich, ganz offensichtlich verschwitzt und genauso schockiert wie das Ensemble.

«Chef», zischte es plötzlich neben Meier. «Hat es dir ins Hirn geschissen? Machst du hier einen auf Statue?»

Bevor Meier den nächsten Schritt tun konnte, kam die Notfallärztin auf ihn zu. Zuletzt hatten sie sich bei einem Skelett in einem verschneiten Garten gesehen. Damals hatte er noch keine Ahnung gehabt von der Existenz seiner kleinen Tochter. Einen Moment lang wurde Meier übermannt vor Sehnsucht nach Lily und ihrer Art, sich in seinen Nacken zu schmiegen. Wie verletzlich er doch geworden war, mit jedem Kind ein wenig mehr.

«Hallo, Frau …» Meier stockte. Lips hatte den Namen doch eben erwähnt. Hiess sie nun Ford oder Coppola?

«Kommen Sie bitte mit», unterbrach ihn die Ärztin, bevor es peinlich werden konnte. Sie führte ihn auf die Seite der Tribüne, ganz nach hinten zur Birke, wo Kollege Kneubühler von der Kriminaltechnik gerade die 3D-Kamera ein- und das weisse Spurensicherungszelt auspackte.

Er musterte Meier. «Bist du nicht in den Ferien?»

Erklärung, Brummen, Achselzucken. So lief das mit Leuten, die seit Jahren zusammenarbeiteten.

«Sie ist gefallen.» Kneubühler deutete nach oben zur Tribüne, die von hier aus schwindelerregend aussah. «Da fehlt das Geländer. Sollte morgen montiert werden. Grob fahrlässig. Tribüne betreten ist streng verboten.»

In der Tat, ein handschriftliches Schild wies darauf hin.

«Darf ich?» Meier trat zur Leiche. Ein makelloses Gesicht, die Lippen leicht geöffnet, die Augen zu; sehr, sehr jung. Sie sah aus, als ob sie schliefe. Dornröschen, dachte Meier, man möchte ihr Prinz sein und sie wach küssen. In achtzehn Jahren könnte es Lily sein. Meier unterdrückte einen Laut.

«Wer ist sie?», fragte er.

«Arielle Bergmann, eine bekannte Influencerin», sagte die Ärztin. Meiers Gefühlsausbruch schien sie nicht wahrzunehmen. «Ihre Freundin hat die Tote gefunden.»

Bevor Meier nachfragen konnte, kam eine Gestalt vom Schlosscafé her über den Platz geeilt. Lilo Lienert, Kräuterhexe, Leiterin des Naturschutzgebiets «Silberbirke», Bierbrauerin und Kinderhüterin von Finn, Theo und Lily … was um Himmels willen machte sie hier?

«Grüezi, Werner. Ich musste schnell auf die Toilette im Schlosscafé oben. Ist das nicht tragisch?», sagte sie. Ihre Handbewegung umfasste die Szenerie, bevor sie auf die Tote deutete. «Sie spielt die Hauptrolle. Offenbar hat sie tüchtig gebechert.»

Auf dem Tisch, der unter einem Sonnenschirm stand, bemerkte Meier Gläser, eine Weinflasche und ein Textbuch.

«Alkohol», fuhr Lilo fort. «Ich hab die Fahne gerochen, als ich mich über sie beugte. Es war nicht unser Waldbacher-Weizen, das kann ich dir sagen. Und dabei führen sie es hier ganz offiziell als ‹Shakes-Bier›.»

Shakes-Bier?

«Meier, wir sollten Gas geben, das Gewitter …», unterbrach Kneubühler.

«Gib mir noch eine Minute», sagte Meier.

Lilo war als Erste am Tatort gewesen, und ihre Eindrücke waren wertvoll. Zumal sie an unberechenbarer Vergesslichkeit litt. «Was ist dir sonst noch aufgefallen, Lilo?»

«Ich habe den Schluss der Probe angeschaut. Die Souffleuse hat den Text der Schauspielerin eingelesen, weil sie nicht hier war. Alle waren ziemlich genervt darüber, schien es mir. Als ich heimgehen wollte, habe ich das Mädchen zufällig gefunden. Es lag verdeckt hinter dem Baumstamm und der Tribüne. Ich wette, dass sie herausfinden wollte, wo die beste Stelle für ihren Auftritt ist. Und dann ist sie gefallen, aus Eitelkeit. Typisch für die jungen Menschen von heute.»

Die Sonne verschwand hinter einer Wolkenwand, die gleich darauf von einem Blitz zerrissen wurde, ein Windstoss fegte die Vorhänge in die Luft. In der Stille nach dem Donner hörte Meier das Geräusch der aneinanderprallenden Boote am Steg. Bevor jemand reagieren konnte, ging es los. Blitz, Donner, Windböen, alles gleichzeitig. Während Leben in die Menschengruppe kam und alle zum Schloss hochrannten, versuchte Kneubühler, eine Abdeckplane über die Leiche zu zerren. Meier griff sich zwei Ecken, aber der Wind riss sie ihm aus den Fingern. Er rannte der Plane hinterher bis zur Bühne, wo ihm eine Stange samt Vorhang entgegengeweht wurde, knapp an seinem Kopf vorbei.

«Ich hab sie, Kneubi», brüllte Meier und lief zurück, um die Leiche zu bedecken.

«Wir müssen zum Schloss», rief Kneubühler.

Der Wind legte noch mehr zu. Dann ein Blitz. Unheimlich nah. Unheimlich schön. Meier wurde zu Boden geschleudert. Sofort sprang er wieder auf, taumelte, brachte sich unter der Tribüne in Sicherheit, wo das Toben weniger wurde und er in seine Lederjacke griff, um das Taschentuch, ein Requisit aus längst vergangener Zeit, hervorzuholen. Er wischte das Gesicht ab, seine Hände zitterten. War er eben dem Tod nur knapp entronnen? Als er wieder klar sah, fiel sein Blick auf ein Handy am Boden. Auf dem Bildschirm lachte Arielle Bergmann, die Tote, direkt in die Kamera, im Hintergrund der Greifensee in seiner ganzen Pracht. Hier ist ein brutales Verbrechen passiert. Dieser absurde Gedanke packte Meier unvermittelt, unmotiviert und mit grosser Wucht.

***

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Schmales Gesicht, weinrote Lippen, blondes, flatterndes Haar

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AriellesWelt #Morgenstimmung #prerehearsal #VielLärmumnichts #Beatrice #Hauptrolle #ichliebedasLeben #seidachtsam

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Kommentare: 462

Kommentar @WinWinny: Bitch. Spielt die Hauptrolle und ist völlig unbegabt. Kennt den Regisseur, wenn ihr wisst, was ich meine.

Kommentar @poisonlulu: Selber Bitch. Arielle ist gross.

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Allan Äbischer hatte einen der wenigen Stühle ergattert, die auf dem Sechseläutenplatz im Schatten standen, trank in grossen Schlucken das Industriebier und starrte auf die Wurst in seiner Hand. Schlechte Gewohnheit, dass er sich die gekauft hatte, wo er doch zum Essen verabredet war und ohnehin keinen Hunger hatte. Allan hatte den ganzen Tag im Büro seiner Firma Strahland verbracht und eine schlimme Botschaft nach der anderen erhalten: eine Betreibung, das Problem mit dem Getränkelieferanten und die Dauerbaustelle des Ticketvorverkaufs. Allan war sich einiges gewöhnt, aber die Taktzahl, mit der die Nachrichten einschlugen, hatte ihn auf die Strasse getrieben. Eine ganze Stunde lang war er durch die Hitze gegangen, ohne Handy- und Mailkontakt. Normalerweise ein probates Mittel, um den Kopf freizubekommen, doch diesmal hatte es nicht gewirkt. Als ein kleiner Mops vor Allan stehen blieb, liess er die Wurst fallen und suchte in seiner Jacketttasche nach einem Paracetamol. Ich muss es verdrängen, einfach weg damit. Probleme in Schubladen packen, anschreiben und erst wieder hervorkramen, wenn sich eine Lösung offenbarte; darin war er gut. Noch einen Schluck, noch ein Paracetamol. Alkohol und Medikamente zeigten Wirkung, die Konturen wurden weniger scharf, das Licht sanfter, sein Herzschlag beruhigte sich.

Allan sah zum Hotel Conti, wo das Business-Abendessen stattfinden würde. Für Tosca Badovic, die junge Bankerin der Usterner Regiobank, war es offenbar ein Leichtes gewesen, einen Platz zu bekommen, im Gegensatz zu Allan, der am Oberkellner gescheitert war. Ob es sich bereits herumgesprochen hatte, wie es um Strahland stand? Dabei würde Allan den Kurs korrigieren. Schon oft hatten sie Durststrecken erlebt und waren jedes Mal wiederauferstanden. Wie Phönix aus der Asche. Warum sollte es diesmal anders sein?

Noch einen letzten Schluck, dann gab Allan den Stuhl frei an zwei junge Mädchen, die sich zusammen daraufquetschten. Gott, waren die süss, trotz der Zahnspangen, zumindest die eine. Allan deutete eine kleine Verbeugung an, legte sich das Sakko aus Schurwolle über die Schulter und ging davon. Mit einem Plopp klatschte die Aludose am Schlitz des Abfallkübels vorbei und landete auf dem Boden. Als Allan sich bückte, um sie aufzuheben, entdeckte er aus dem Augenwinkel Badovic auf der anderen Strassenseite.

Die Bankerin stand vor der Mövenpick-Bar und leckte an einem Schokoladenglacé. Brauchte sie eine Ladung Zucker vor dem Kalbsschnitzel? Und dabei war sie rank und schlank.

Dass Allan für die Greifensee-Festspiele mit der Vertreterin einer Regionalbank zusammenarbeiten musste, war eine Blamage. Mit der ganz grossen Kelle hatten sie anrühren wollen. Für die Rolle des Urvaters Leonato, dem Gastgeber in «Viel Lärm um nichts», hatten sie vom Schweizer Schauspieler Stefan Kurt geträumt oder vom Deutschen Udo Samel, sogar vom Briten Michael Caine. Dessen Agent war ein Bekannter von Allans Kompagnon Simon Perron, zumindest hatte er das behauptet. Ein Superstar in der Besetzung, besser zwei, war die Auflage der Grossbank gewesen. Nachdem alle abgesagt hatten, war die Bank ausgestiegen. Beim Gedanken an die demütigenden E-Mails verspürte Allan wieder das Brennen im Bauch.

Dass der Star des Stücks – neben Simon Perron und Grete Kolb – nun diese zwar ausserordentlich sympathische, aber leider vollkommen unbegabte Schauspielerin Arielle Bergmann war, war für Allan ein Alptraum. Ein künstlerischer Tiefschlag, entstanden im Kopf von Tosca Badovic und ihrer Regiobank, dem einzigen Sponsor, der sich hatte finden lassen. Zu erschütternden Bedingungen: kaum Werbung, dafür Dauerberichterstattung von den Proben per Instagram und Livestream. Diese neue Art der Öffentlichkeit war Allan zuwider. Doch er hatte keine Wahl gehabt. Eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als ob sich das Ganze dennoch lohnen würde, der Vorkauf war gut angelaufen. Leider hatte sich der Partner in Süddeutschland als unzuverlässig erwiesen. Einen Moment nur, einen kleinen Moment, war Allan nicht aufmerksam gewesen, und gleich erhielt er die Quittung.

Allan lief der Schweiss in Strömen, und sein Herz klopfte unregelmässig, während er zusah, wie die Bankerin auf ihren hohen Schuhen auf und ab wippte. Natürlich, er, Allan, war zu spät. Ein Text brummte. Bevor er den Platz überquerte, zog Allan sein Handy hervor. «Allan, du musst sofort kommen. Arielle Bergmann ist tot.»

***

«Eine Cola Zero, bitte», sagte Zita zu Georgis, dem Koch von Malous Café an der Chorgasse in der Zürcher Altstadt. Sie liess sich auf den freien Stuhl im Schatten eines gestreiften Sonnenschirms fallen, schlüpfte aus den Sandalen und genoss einen Moment die Kühle des Kopfsteinpflasters. «Kannst du Malou Bescheid geben? Ich muss sie sprechen.»

Der erste Arbeitstag nach den Ferien war immer anstrengend. Und bei der Hitze ganz besonders. Seit dem frühen Morgen war Zita an der Uni unterwegs gewesen, und bevor sie in den täglichen Familienwahnsinn tauchte, musste sie noch eine Sache erledigen.

«Hi, Zita.» Auf die Art strahlen wie Malou Apt, die Besitzerin des Cafés, konnte niemand sonst auf der Welt. Sie stellte das eisgekühlte Getränk und einen veganen Döner auf den Tisch, während sie sich neben Zita setzte.

«Wieso weisst du, dass ich fast verhungere?», fragte Zita und biss zu, den Gedanken an den Ex-Schwangerschaftsspeck verdrängend.

«Hmm», stöhnte sie auf. Es schmeckte unbeschreiblich. Keine Ahnung, woraus der Fleischersatz war, Zita war süchtig danach. Sie und viele hundert Studierende mit ihr. Malous Café war immer voll, selbst jetzt, kurz vor Ladenschluss.

«Du hast da was.» Malou deutete auf Zitas Mundwinkel.

Die tropfende Sauce, die absolute Krönung. «Wie macht Georgis die bloss?»

«Das fragst du jedes Mal, meine Liebe», sagte Malou.

«Und du verrätst es mir nicht, weil du es selbst nicht weisst. Was ich für einen Schwindel halte.»

Malou zog ihr Tanktop zurecht und nahm einen Schluck vom Espresso, den sie sich mitgebracht hatte. «Wie waren deine Ferien?»

Das richtige Stichwort für Zita. «Es war ein Actioncamp, mit zu wenig Schlaf, zu vielen Mücken und zu viel Pasta.»

Wenn Malou kicherte, klang sie wie ein Kind. «Gibt’s auch etwas Positives zu berichten?»

«Klar.» Zita erzählte von ihrer Mutter Nora, die nach dem Tod von Zitas Papa den heissgeliebten Weinberg aufgeben wollte – «eine typische Männerarbeit, Zita, ich will das nicht allein machen» –, von Lily, die sich mit ihren zehn Monaten unsterblich in eine Barbiepuppe, Typ italienisches Model, verliebt hatte, von Finns Leidenschaft für Automarken mit Fokus auf Luxuswagen, von Theos Fussball-Gen, wie er am Strand einem Mädchen einen Schuss voll ins Gesicht gepfeffert hatte, und von dem beschämenden Schlichtungsgespräch mit den Gegeneltern.

Malou lachte. «Puppen für Lily, Autos und Fussball für die Jungs, durch eure Familie geht ein echter Gender-Graben. Was hat dein …» Sie suchte nach dem passenden Ausdruck, sie wusste um Zitas Spitzfindigkeit, wenn es um Meiers Bezeichnung ging. «… Partner dazu gesagt?»

«Ist ausgeflippt über Theos Treffsicherheit. Er sieht ihn schon als Profifussballer. Ein richtiger Klischee-Vater, ich weiss auch nicht, was da schiefgelaufen ist.»

«Oh, Zita, das tut mir leid», sagte Malou. «Aber sonst ist dein Werner doch klasse. Ich könnte wetten, dass er jetzt gerade die Kinder von der Kita abholt.»

Darauf hätte Zita alles Mögliche zu erwidern gewusst, aber sie liess es bleiben. Ihre Laune war viel zu gut.

«Stell dir vor, eine private Stiftung hat für meine Dissertation ein Forschungssemester bewilligt. Du weisst, mein Thema ist Postmodernismus in der englischen Literatur. Das Schreiben war das Erste, das ich heute Morgen gesehen habe.» Auf ihr Nachfragen erklärte Zita der Freundin, wie kompetitiv die universitären Forschungskreise seien, gerade im Mittelbau, da, wo sie sich betätigte, und wie viel ihr dieses Stipendium bedeute. «Ich darf zum Recherchieren nach London. Ein ganzes halbes Jahr», schloss sie. «Und wohnen, das habe ich bereits abgeklärt, kann ich bei Beth Weisz.»

Schweigen.

«Wann soll das stattfinden?», fragte Malou nach einer Weile, in der Zita wie auf Nadeln sass.

«In vier Wochen.»

Malou zögerte. «Das ist sehr bald.»

«Typisch Universität. Du wartest monatelang auf eine Zusage, und dann geht alles blitzschnell.»

Als ob Malou fühlte, wie sich in Zitas Bauch ein kleiner Taifun erhob, wie immer, wenn sie in Zugzwang geriet, ihre Arbeit, ihr Liebstes auf der Welt, der Ort, wo sie am meisten Befriedigung verspürte, zu verteidigen, wog Malou ihre nächsten Worte sorgfältig ab. «Was machst du denn ein ganzes halbes Jahr lang mit deinen Kindern?»

«Ich sperre sie in den Putzschrank, zusammen mit einer Puppe, einem Blechauto und einem Fussball.» Zita legte den Döner auf den Teller und putzte sich die Finger an der Serviette ab. «Eigentlich sind es nur vierzehn Wochen. Ich habe meine Mutter gefragt, ob sie zu uns kommen kann.»

«Und?»

Zita gab keine Antwort, schämte sich für ihre Irritation über Noras Reaktion. «Es wäre eine ziemliche Aufgabe», hatte sie gesagt. «Und ich hatte Pläne für den Herbst, weisst du.»

Seit wann hatte Zitas Mutter Pläne, die nicht ihre heissgeliebten Enkelkinder einschlossen? Bei dem Gedanken hatte Zita sich ertappt.

«Meine Mutter überlegt es sich», sagte Zita, als das Schweigen unangenehm wurde. «Aber ich habe einen Plan B. Der Commissario kann seine Prozente reduzieren, ich fliege jedes zweite Wochenende nach Hause, und in den Ferien besuchen sie mich.»

«Ich würde nur schon bei der Vorstellung zusammenbrechen, so was zu organisieren», sagte Malou. «Und ich frage mich … ich meine, Lily ist noch –»

«Wenn der Commissario eine solche Chance hätte, würdest du dann auch Lilys Alter ins Spiel bringen?», unterbrach Zita sie, nur um gleich darauf mit einem Scherz den Ton zu mildern. «Lily läuft bald ihren ersten Marathon. Ausserdem bin ich genau deswegen hier. Ich wollte deine Tochter fragen, ob sie einen Teil ihres Zwischenjahrs bei uns verbringen will. Letztes Mal hat sie mir gesagt, dass sie einen Job sucht.»

«Winny?» Das Leuchten in Malous Augen erlosch. «Sie hat keine Zeit.»

Winny Apt. Wunderschön, blitzgescheit und voller Energie, wenn sie loslegte und einen Popsong rappte, sodass Finn, Theo und Lily die Ohren schlackerten. Als Meier für ein paar Tage zu einer Weiterbildung wegfahren musste und Zita in echte Not gestürzt hatte, hatte Winny als Babysitterin bei Schnyder und Meiers ausgeholfen – über eine Anzeige an der Uni hatte Zita beide, Mutter und Tochter, im Frühjahr kennengelernt. Seither hatte Zita die junge Frau nicht mehr gesehen, dafür hatte sie sich mit Marie-Louise Apt, genannt Malou, befreundet. Malou kannte mittlerweile Zitas halbes Leben, während Zita nur wusste, dass Malou Winny jung bekommen hatte und dass Georgis, der gerade im Schwung einer Spotify-Playlist die Kochplatten schrubbte, nicht der Papa war.

«Ich versuche schon den ganzen Tag, sie zu erreichen», sagte Zita, «aber ich erwische sie nicht. Ist sie zu Hause?»

«Sie ist vor einigen Wochen ausgezogen.» Malous Augen verfolgten Georgis durch die Scheibe. «Ich habe keinen Kontakt mit ihr.»

Das erstaunte Zita. «Und wo wohnt sie?»

«Keine Ahnung.» Malou schob die Hände in ihre Jackenärmel, als ob sie frieren würde.

«So kenn ich dich gar nicht. Du bist doch eine Gluckenmutter.»

«Man muss loslassen können.» Sie klang wie aus dem Lehrbuch. «Eine Zeit lang hat sie bei ihrer Freundin gewohnt. Lara. Die jobbt auch als Babysitterin. Aber da ist sie nicht mehr.»

Zita wollte nicht weiter nachbohren. «Sollte Winny anrufen, gib ihr doch Bescheid bitte. Dass ich einen Job für sie hätte.»

Malou stand auf. «Sie hat eine Kontaktsperre verhängt. Was sie tut, weiss ich nur über Instagram.»

«Du folgst deiner Tochter auf Instagram?»

Zita sah wohl so schockiert aus, dass Malou sich zu einer Erklärung gezwungen sah.

«Warum nicht? Das machen viele Eltern. Sie postet politische Dinge, sehr interessant. Über Women’s March Global und solche Sachen. Wenn ich das lese, bin ich immer stolz», sagte sie und fügte in übertrieben scherzendem Ton an: «Wart’s ab, bis Lily gross ist, dann wirst du es auch tun.»

Zita hatte sich Social Media bislang immer verweigert, kürzlich sogar ihren Facebook-Account gelöscht.

«Kannst du Winny über Instagram kontaktieren und ihr Bescheid geben, dass ich sie brauchen könnte?»

«Nein», antwortete Malou. «Das musst du schon selber machen.»

Georgis kam heraus. «Malouschka, die Spitex-Frau hat angerufen, sie will heute früher gehen.» Er gab Malou einen Klaps auf den Hintern. «Los, geh hoch zu deiner Oma, Weib.»

Zita fielen fast die Augen aus dem Kopf. Dennoch schluckte sie einen Kommentar hinunter – Georgis war ein netter Typ, seine Hilfsbereitschaft wog das Machotum ein wenig auf – und stopfte ihr Handy in die Freitagtasche.

Plötzlich hielt Malou ihre Hand fest. «Wenn du Winny gefunden hast, gibst du mir Bescheid, bitte?»

4

Im Schlosscafé Greifensee herrschte eine bedrückte Stimmung. Die Luft im Raum stand. Da es nicht geregnet hatte, war die Abkühlung ausgeblieben. Die Leute sassen entweder an den Bistrotischen oder auf dem Boden, denn es gab beileibe nicht genug Stühle. Meier hatte die Befragungen zusammen mit seinen Kollegen durchgeführt, undenkbar, jetzt auf seinen Ferien zu beharren. Er hatte sich dabei ganz auf den kaufmännischen Leiter, Allan Äbischer, konzentriert