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Erwin Kohl, 1961 in Alpen am Niederrhein geboren, wohnt in Wesels linksrheinischem Vorort Ginderich. Er arbeitet als freier Journalist für die Tageszeitungen NRZ/WAZ und Rheinische Post und hat bereits zwölf Kriminalromane verfasst.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Lookphotos/Wohner, Heinz

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Textsyndikat, Christiane Geldmacher, Bremberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-536-7

Niederrhein Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Autoren- und Verlagsagentur Peter Molden, Köln.

 

Wenn wir schon nicht die Wahrheit herausbringen,
dann wenigstens die Wirklichkeit.

Hanns Dieter Hüsch

Prolog

Auf der Wiese vor dem alten Pulverturm bolzt eine Horde Kinder. Messi dribbelt sich durch, spielt quer auf Reus, dessen Sprint endet am gestreckten Bein von Ramos. Freistoß. Ein schmächtiger Junge namens Ronaldo bringt sich breitbeinig in Pose, sieht plötzlich die Lücke und zieht aus zehn Metern ab. Das Leder streift die Latte und knallt von dort auf Emmas Windschutzscheibe.

Nach einer Schrecksekunde denke ich unweigerlich an Bastian. »Du bist jetzt Lukas, der Lokomotivführer, und das ist deine Emma«, sagte mein Junge, als ich den alten Daimler von meinem Vater bekam.

Ich lenke Emma über den alten Schulhof und fahre kurz darauf im Schritttempo über die Ritterstraße. Seit zwanzig Minuten bin ich jetzt schon auf der Suche nach einem freien Parkplatz in Rheinbergs Innenstadt. Warum muss meine Klientin ausgerechnet am Holzmarkt wohnen? Der Gedanke an die alte Schachtel lässt meine ohnehin miese Laune einen weiteren Tiefpunkt erreichen. Im Kaufhaus die Füße platt stehen, um einen Ladendieb zu erwischen, oder untreuen Ehemännern nachspionieren: okay. Das gehört dazu. Aber dieser Auftrag ist einfach würdelos. Die Alternative heißt Hartz IV und eine getrennt lebende Gattin, die mir einmal in der Woche aufs Brot schmiert, für meine Faulheit aufkommen zu müssen. Also Augen zu und durch. Eine weitere Ehrenrunde durch die aufgehübschte, aber parkplatzarme City nähert sich dem Ende, als sich eine Lücke in mein Sichtfeld schiebt.

Der Wirt vom Scheffel grüßt mich freundlich. Während der Türsummer brummt, denke ich darüber nach, wie teuer mich wohl ein halbes Stündchen auf dem Taxistand zu stehen kommt und wie ich den Betrag in der Spesenrechnung verstecken kann.

Josefine Bernadette Freifrau von Saalfeld öffnet mir mit geröteten Augen.

»Und?«

Ich lasse die Mundwinkel pietätvoll sacken. Sie neigt den Blick Richtung Parkettboden und bittet mich mit einer stummen Geste hinein. Ich hocke mich wie gewohnt ans polierte Biedermeiertischchen und starte mit einer respektvollen Pause.

»Ich vermisse ihn vor allem am Abend. Sobald ich im Bett lag, kam Manfred unter meine Decke gekrochen, und wir haben gekuschelt, bis ich eingeschlafen bin«, flüstert Frau von Saalfeld. »Ans Schlafen ist nicht mehr zu denken, seit er nicht mehr bei mir ist«, fügt sie bedeutungsschwer hinzu.

»Ich werde Manfred finden, ganz sicher.«

»Das sagen Sie mir schon seit einer Woche. Hat die Polizei inzwischen die Vermisstenanzeige aufgenommen?«

»Ähm …«

Ihr Blick wird streng, ich muss sie ablenken. Alleine schon wegen der üppigen Tagessätze. Mein Blick fällt auf das Sofa gegenüber.

»Hat er dort gelegen?«

Leicht irritiert folgt die Freifrau meinem ausgestreckten Arm.

»Ja. Das ist Manfreds Lieblingsplatz.«

»Wunderbar, darf ich die Decke mitnehmen?«

»Ja … aber wozu brauchen Sie die?«

»Meine Umfeldermittlungen haben ergeben, dass Manfred sich zuletzt in der Nähe eines Wäldchens bei Budberg aufgehalten hat. Ich habe einen Spürhund, den ich bei der weiteren Suche einsetzen möchte.«

Ihr Blick erhellt sich. Mit einem Ruck zieht sie sich hoch und holt die Decke.

»Kann ich Sie sonst noch irgendwie unterstützen? Soll ich die Belohnung erhöhen …«

»Nein, nicht nötig. Ich denke, tausend Euro genügen völlig.«

Sie geht an eines der drei Fenster, sieht nachdenklich auf den neu gestalteten Marktplatz.

»Sie glauben, ich spinne ein wenig, oder?«

Ich glaube, Sie haben einen veritablen Sockenschuss, hätte ich fast gesagt, beschränke mich aber auf ein »Nein, wie kommen Sie denn darauf?«.

Dürfte für heute reichen. Ich werfe einen auffälligen Blick auf meine Uhr.

»Oh, ich muss mich beeilen, das Tierheim schließt gleich.«

»Das Tierheim? Da würde Manfred niemals hingehen.«

»Frau von Saalfeld, ich halte es durchaus für möglich, dass jemand Ihren Kater gefunden und dort abgegeben hat.«

»Da würde er eingehen …«

»Deshalb möchte ich für den Fall der Fälle so schnell wie möglich zur Stelle sein. Ich fahre jeden Tag zum Tierheim, damit Manfred keine Nacht im Käfig verbringen muss.«

Auf ihre Augen legt sich ein hoffnungsvoller Glanz. Gute Gelegenheit, um die Rechnung zu überreichen.

Unter Emmas Scheibenwischer klemmt die Karte eines Altmetallhändlers. Unverschämt, aber immer noch besser als eine Knolle. Kurz hinter der vom Verkehr der vergangenen Jahrzehnte verschmutzten Fassade des Underberg-Palais fummelt sich ein Busfahrer mit dem Elan eines anästhesierten Yogalehrers an parkenden Autos und Lieferwagen vorbei. Drei Stunden später und hundert Meter weiter deuten die Bremslichter eines durchfallfarbenen Opels eine weitere Pause an. Der Fahrer, ein Mittsiebziger mit einem Hut, der bei jeder Kleidersammlung liegen bleibt, begutachtet mit prüfenden Blicken eine Parklücke. Einem ersten Impuls folgend möchte ich ihm einen Zollstock bringen, entscheide mich dann aber für einen beherzten Schlag auf die Hupe. Abgewürgt. Klar. Ich nutze eine Lücke im Gegenverkehr und verlasse mit einem für Emmas Verhältnisse rasanten Überholmanöver die verkehrsberuhigte Rheinstraße.

Die höhnisch lachende Sommersonne steht im krassen Gegensatz zu meiner Laune. Über meinem Gemüt schwebt seit einer Woche das Tief »Manfred«. Während ich Emma über die erfreulich freie Bundesstraße nageln lasse, suche ich im Internet nach den Öffnungszeiten des Weseler Tierheims. Frau Degenhardt erzählte mir während der Hinfahrt, einen neuen Schwung Miezen reinbekommen zu haben. Wäre doch gelacht, wenn da nicht ein Kater mit einer, nun, gewissen Ähnlichkeit zu Manfred dabei wäre. Kurz vor Haus Grünthal stecke ich mein Handy weg, um es im gleichen Schwung wieder hervorzuholen.

»Magdalena Jacobs. Spreche ich mit dem Privatdetektiv Lukas Born?«

Privatdetektiv Lukas Born. Das klingt so, als würde die vollbusige Wettertante aus den Abendnachrichten den sofortigen Beginn eines Jahrhundertsommers ankündigen. Begleitet von einem letzten kräftigen Windstoß, der selbst den hartnäckigsten Schnüffler-Blues wegfegt. Ich atme einmal tief durch und frage businessmäßig cool nach dem Anliegen.

»Es geht um eine Vermisstensache … Mein Mann ist spurlos verschwunden. Ich möchte Sie gerne mit der Suche beauftragen. Das heißt, falls Sie im Moment Kapazitäten frei haben.«

Ich muss mich stark zusammenreißen, um ihr nicht ein spontanes »Ja!« ins Ohr zu brüllen.

»Frau …?«

»Jacobs. Magdalena Jacobs.«

»Frau Jacobs, da müsste ich mal eben im Terminkalender nachsehen. Viel Hoffnung kann ich Ihnen allerdings nicht machen. Im Moment brummt der Bär, wissen Sie?«

»Wer?«

In der Türablage finde ich einen vergilbten Stadtplan, mit dem ich vor dem Handy raschle.

»Ah … Ja! Sie haben tatsächlich Glück, das sollte gehen. Ich habe zufällig sogar jetzt gleich ein Stündchen frei.«

Nachdem ich grob meinen Spesensatz aufgerufen habe, nennt sie mir die Adresse. Während sich hoch oben eine düstere Wolke vor die Sonne schiebt, geht selbige tief in mir drin auf. Der stante pede überwiesene Vorschuss der Katzenmutti konnte lediglich dazu beitragen, meinen Dispo-Pegel von knietief auf knöcheltief abzusenken.

1

Zwanzig Minuten später biege ich auf die RWE-Straße im Weseler Ortsteil Obrighoven ein. Ich überhole einen Pulk Radfahrer, die vermutlich auf dem Weg zum »Quertreiber« sind, um sich mit der kleinen Fähre über die Lippe zu ziehen. Dann stehe ich auch schon vor dem, nennen wir es mal, Anwesen der Familie Jacobs. Noch während sich auf meine mündliche Vorstellung hin das schmiedeeiserne Eingangstor behäbig beiseiteschiebt, betrete ich den durchaus großzügig bemessenen Vorgarten. Eine gefühlte Viertelstunde später erreiche ich die Haustür. Unterwegs erfährt mein Honorar mit Blick auf das mondäne Gebäude eine deutliche Anpassung nach oben. Individualität ist halt eine meiner Stärken. Aus dem Hausflur vernehme ich Schritte. Ich erwarte eine mit Edelklunkern behängte Dame mittleren Alters, die zwischen Tennisplatz und Visagist gerade noch die Zeit findet, ihr Haus- und Hofpersonal zu instruieren, während der Gatte alle Hände voll damit zu tun hat, seine Firma zu leiten.

Als sich die Tür öffnet, platzt meine Erwartung jedoch wie eine zu groß gewordene Seifenblase. Mit offenem Mund staune ich sie an wie ein Mittelstufenschüler die schärfste Braut aus der Obersekunda. Sie trägt ein schulterfreies Kleid, dessen Anschaffungspreis selbst dann mein Honorar übersteigen dürfte, wenn ich den gesamten Sommer für sie tätig wäre. Ein seidener Traum, der die Eigenschaft besitzt, jeden Millimeter ihres makellosen Körpers mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Lange blonde Haare fallen sanft herab und umrunden ihre …

»Möchten Sie nicht eintreten, Herr Born?«

Auch das, denke ich und folge ihren wiegenden Schritten in eine Halle, die sich auf den zweiten Blick als das Wohnzimmer der Jacobs entpuppt. Ich muss unweigerlich blinzeln. Der seinerzeit konsultierte Innenarchitekt dürfte sich inmitten einer Art weißen Schaffensperiode befunden haben. Weißer Marmorboden, weiße Wände, weiße Decke, weiße Vorhänge, weißes Mobiliar und zur Krönung des Ganzen die lebensgroße Nachbildung der Venus von Milo neben der kinoleinwandgroßen Fensterfront, natürlich in Weiß. Mittendrin zwei blutrote Lippen, die sich in diesem Augenblick voneinander entfernen, um einen dem Anlass meines Kommens angemessenen Seufzer zu entlassen.

»Manchmal stelle ich mir vor, dass alles nur ein Alptraum ist. Die Tür geht auf, mein Mann kommt herein und sagt: ›Geht es dir nicht gut, Liebling?‹«

»Seit wann vermissen Sie Ihren Mann, Frau Jacobs?«

»Seit dem 14. Mai.«

Ich bin gerade im Begriff, Block und Kugelschreiber hervorzuholen, als die Antwort mich innehalten lässt.

»Das ist sechs Wochen her«, stelle ich fest.

»Ja.«

Ja? Ich ermuntere sie mit einem fordernden Augenaufschlag zu einer Erklärung.

»Ich habe selbstverständlich sofort, also das heißt am nächsten Tag, eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Was die Polizisten alles wissen wollten! Wie es um unsere Ehe bestellt sei, ob wirtschaftlich alles in Ordnung sei und ob mein Mann schon mal von Suizid gesprochen habe. Es war furchtbar«, erzählt sie und fixiert dabei die weiße Obstschale auf dem Glastisch zwischen uns.

Ich erinnere mich an das erste halbe Jahr nach der Polizeiausbildung, in dem ich als Vermisstensachbearbeiter eingesetzt wurde. Solange nicht von einer Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person auszugehen war, wurden die persönlichen Daten aufgenommen und ab damit in die Kartei.

Meine Gesprächspartnerin nestelt wie geistesabwesend an ihren Haaren. Eines dürfte klar sein: »Mal eben Zigaretten holen und tschüss«, kann ich wohl als Grund streichen. Auf einer weißen Anrichte fällt mir das Foto eines älteren Mannes auf, vermutlich der Herr Papa. Mich beschäftigt die Frage, wo ich den Hebel ansetzen soll, als die Gastgeberin plötzlich erschreckt hochfährt.

»Entschuldigung, ich habe Ihnen noch gar nichts angeboten …«

Ich winke beruhigend ab.

»Frau Jacobs, hat es irgendeine Veränderung, irgendeinen Vorfall gegeben, bevor Ihr Mann …«

Ja, was eigentlich? Verschwunden? Entführt? Ermordet? Oder alles zusammen?

»Nein … eigentlich nicht.«

Ich lasse mich ins weiße Leder sacken und atme tief durch.

Eigentlich nicht. Herrgott. Sie rollt die Augen, verwirft einen ersten Ansatz und antwortet dann mit dem Tonfall einer Mutter, die dem Lehrer die missratene Mathearbeit ihres Sohnes erklären soll: »Es gab drei Tage, bevor Berthold … verschwunden ist, einen heftigen Streit mit einem Klienten, Jan Oblak. Worum es ging, weiß ich nicht. Mein Mann hat sein Büro im Flügel, ich habe bis ins Wohnzimmer gehört, wie sich die beiden angeschrien haben. Das heißt, eigentlich war es nur Herr Oblak, der geschrien hat.«

»Können Sie sich an einzelne Wörter erinnern?«

Sie nickt zögerlich.

»Er rannte aus dem Haus, mein Mann hinterher. Draußen drehte sich Oblak noch einmal um und schrie: ›Wenn du das machst, bringe ich dich um!‹«

»Und das ist für Sie ›eigentlich nicht‹?«

Sie schenkt mir einen naiven Augenaufschlag von der Sorte, mit der man seinem Fünfjährigen erklärt, dass es gar keinen Osterhasen gibt.

»Herr Oblak ist bei der Kripo. Der bringt niemanden um. Im Gegenteil, er fahndet nach Leuten, die das machen. Selbstverständlich war ich im ersten Moment erschrocken. Aber Berthold hat nur gegrinst, gesagt, ich solle das nicht so ernst nehmen. Und als er am Abend im Club war, hat Oblak hier angerufen und ganz freundlich nach ihm gefragt. Ich denke, die beiden hatten sich einfach gegenseitig hochgeschaukelt, das kommt vor.«

»Aber nicht immer verschwindet einer davon kurz danach spurlos«, gebe ich zu bedenken. »Sie sprachen von einem Klienten. Was macht Ihr Mann beruflich?«

»Er ist Notar.«

Ich lasse meinen Blick durch das gediegene Ambiente schweifen. Meine Eindrücke verbinden sich unweigerlich mit der Notarrechnung, die wir damals für den Hauskauf in Sevelen erhielten.

»Gab es öfter Ärger mit Klienten?«

»Immer wieder mal, wenn es um Vollmachten oder Testamente ging. Aber ich bitte Sie, deswegen …« Sie stockt mitten im Satz, als machte ihr der unausgesprochene Gedanke Angst. Ihre Augen glänzen feucht im Licht der einfallenden Sonne.

Am Anfang dominiert die Hoffnung, legt einen Schleier der Ablehnung über jeden Gedanken, der der rationalen Kälte der Logik folgen will. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Doch mit jedem Tag schwindet ein Fünkchen dieser Hoffnung, macht Platz für die Realität. Wenn ein erwachsener Mann seit sechs Wochen spurlos verschwunden ist, bleibt kaum noch Raum für Hoffnung. Nur in einem einzigen Fall und der tut weh.

»Frau Jacobs, bitte verstehen Sie mich jetzt nicht falsch: Fehlen persönliche Dinge Ihres Mannes?«

Beim Film werden Zeitraffer eingesetzt, um Wolken rasend schnell vorbeiziehen oder einen neuen Tag beginnen zu lassen. In einem ähnlichen Tempo verändert sich die Mimik meiner neuen Klientin von Trauer in blanke Wut.

»Mein Mann hat mich nicht verlassen!«, schreit sie mich an und springt mit einem Satz hoch, um sogleich wie ein Tiger im Käfig vor mir auf und ab zu laufen. Ich rechne damit, meine Konzentration in den nächsten Tagen uneingeschränkt dem entlaufenen Kater der Freifrau von Saalfeld zu gönnen, bis Frau Jacobs sich wieder hinsetzt, als wäre nichts geschehen.

»Entschuldigung …« Sie wischt sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel. »Sie müssen das fragen, ich weiß das. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass Sie damit richtigliegen. Dann hätte ich wenigstens die Gewissheit, dass es ihm gut geht.«

»Ich werde alles daransetzen, Ihren Mann zu finden. Das verspreche ich Ihnen.«

Mit diesem Satz als Basis gestalten sich die folgenden Honorarverhandlungen äußerst kurzweilig.

»Können Sie mir bitte ein Foto Ihres Mannes mitgeben?«

»Ja … natürlich.« Sie steht auf, geht zur Anrichte und kommt mit dem Bild des älteren Herrn zurück. Mit dem Ansatz eines Lächelns reicht sie es mir über den Tisch. Das Bemühen, meine Reflexe zu unterdrücken, scheitert kläglich. Ich grinse süffisant.

»Mein Mann ist dreißig Jahre älter als ich. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Auch wenn es abgedroschen klingt: Es war Liebe auf den ersten Blick. Daran hat sich bis heute nichts geändert.«

Ich sehe mir den Gatten näher an. Das Foto wurde in irgendeinem Hafen, vermutlich in Südeuropa, aufgenommen. Lässiges Freizeithemd, das sich leger über einen prominenten Bauch legt, hohe Stirn mit der Furchenvielfalt eines frisch gepflügten Ackers und ein opulentes Doppelkinn lassen zarte Zweifel an der immerwährenden Liebe aufkommen. Was soll’s, geht mich nichts an. Schließlich ist es ja nicht Frau Jacobs, die verschwunden ist.

»Ich möchte mich noch gerne im Büro Ihres Mannes umsehen. Außerdem brauche ich den Namen und die Anschrift des Polizisten, von dem Sie vorhin sprachen.«

Nach einem kürzeren Marsch durchs Gebäude betreten wir die Wirkungsstätte des Vermissten. Offensichtlich konnte Berthold Jacobs der Weißphase des Innenarchitekten wenig abgewinnen. Im Gegenteil. Aus einem Parkettboden der Tönung »Eiche Tobacco« erhebt sich ein mattschwarzer Schreibtisch vom Format – und wohl auch Preis – eines Kleinwagens. Deckenhohe Regalwände in derselben phantasielosen Farbgebung ersetzen die Wandverkleidung. Lediglich die ausladende Schreibtischlampe in Signalgrün fällt etwas aus dem düsteren Rahmen. Nach einem kurzen Spaziergang um den Arbeitsplatz des Notars lasse ich mich in den dahinter thronenden Ledersessel plumpsen. Mein Blick über den Schreibtisch wird, abgesehen von einem Füllfederhalter, wie ihn Staatsmänner benutzen, einem Laptop und einer Lampe, nicht weiter aufgehalten.

»Hat Ihr Mann einen Terminkalender?«, frage ich die unschlüssig vor mir stehende Hausherrin.

Sie deutet auf das Notebook vor mir. »Berthold hat alle Termine darauf gespeichert. Dann habe er sie auch auf dem Handy, sagte er.«

Der Rechner fährt erstaunlich schnell hoch. Nachdem meine Klientin mir das Passwort genannt hat, öffne ich das E-Mail-Programm mit dem implementierten Terminkalender und scrolle ihn etwa sechs Wochen zurück. Magdalena Jacobs beugt sich über mich und deutet auf einen Eintrag am 14. Mai.

»Das ist der letzte Termin, den er wahrgenommen hat.«

»17.00 Uhr, Treffen JO«.

Ich sehe ihr in die Augen, sie schüttelt den Kopf.

»Keine Ahnung, was das bedeutet. Mein Mann benutzt oft Abkürzungen.«

»Frau Jacobs! JO – Jan Oblak.«

Drei Sekunden sieht sie mich entgeistert an. Dann krallen sich ihre Hände zitternd an die Schreibtischplatte.

2

Oblak geht nicht ans Telefon. Ich nehme mir vor, ihm am späten Nachmittag einen Besuch abzustatten und mir erst mal bei Lissy ein Schnitzel zu gönnen.

Eine knappe halbe Stunde später stelle ich Emma auf dem Parkplatz vor den Toren von »Happy Eiland« ab. Mit der Namensgebung hatten die Campingplatzbetreiber in einem kreativen Anfall erster Güte dezent auf die fünfzehn Freilandhühner verweisen wollen, die es problemlos schaffen, die rund tausendzweihundert Sommergäste mit dem allmorgendlichen Bio-Freilauf-Frühstücksei zu versorgen.

Als ich aussteige, fallen mir grölende Kinder am Zaun zur Ziegenwiese auf. Die Kleinen verfüttern mal wieder Muttis gesunde Mehrkornbrötchen an die Paarhufer. Auf der anderen Seite des Zauns wedelt eine ungewöhnlich große Ziege aufgeregt mit dem Schwanz. Dort angekommen, muss ich feststellen, dass mein verfressener Köter für ein halbes Wurstbrötchen einen auf Ziegenbock macht. Ein kurzer Pfiff beendet das späte Frühstück und lässt Manolo mit einem Satz über den Zaun springen. Der Labrador-Border-Collie-Sonstwas-Mischling erfreut sich vor allem bei Fans der Gladbacher Borussia allergrößter Beliebtheit, immerhin war sein Namenspatron der wohl bekannteste Einpeitscher der Fußballbundesliga.

Kaum im Mobilheim angekommen, sitzt Manolo auch schon vor dem Kühlschrank. Essenszeit. Ich schmeiße ihm einen Markknochen vor die Füße und überdenke den nächsten Schritt. Während der Fahrt nach Labbeck zermarterte ich mir das Hirn in der Gewissheit, den Namen Berthold Jacobs schon einmal gehört zu haben. Manolo kommt in den Minivorgarten, und ich mache mich mit ihm auf den Weg zur Parzelle von Uwe. Wenn einer den Gatten meiner Klientin kennt, dann der Lokaljournalist. Der räkelt sich entspannt im Liegestuhl, Pott Kaffee in der einen und Zeitung in der anderen Hand. Als er mich bemerkt, deutet er auf sein Käseblatt und tut so, als würde er laut vorlesen.

»Rheinberg. Spektakuläre Kater-Entführung. Täter fordern fünfzig Dosen Frisskatz. Die Polizei tappt im Dunkeln, aber ein Labbecker Privatdetektiv hat eine erste heiße Spur …« Seine letzten Worte enden in lautem Gelächter. »Sollten wir nicht langsam mal unsere Campingplatz-SoKo mit dem Fall betrauen?«

»Geschenkt«, antworte ich trocken. »Kennst du einen Berthold Jacobs, Notar aus Wesel?«

Sein Lachen bricht ebenso schnell ab wie der Torjubel der Borussen-Fans, wenn der Schiri den Bildschirm des Videoassistenten in die Luft malt.

»Sag jetzt nicht, du sollst den suchen.«

Ich bilde mir ein, seiner Stimme einen Hauch von Anerkennung zu entnehmen, und nicke dementsprechend bedeutungsvoll.

Uwe atmet tief durch. »Wir hatten die Story ein paar Tage lang im Blatt, anfangs sogar überregional. Ich habe in dem Zusammenhang auch mal seine Frau befragt. Heißes Gerät übrigens.«

Ich nicke hastig.

»Zum Glück für sie hat die Polizei den Verdacht schnell fallen gelassen.«

»Welchen Verdacht?«

Uwe windet seine zweieinhalb Zentner umständlich aus der Gartenliege und setzt sich mir gegenüber an den Rattan-Tisch. Manolo fischt sich schmatzend ein Stück Käserinde vom Rasen, bevor er zu seiner Nachmittagsrunde über den Platz aufbricht.

»Hast du dir die Hütte der Jacobs mal angesehen?«

»Da komme ich gerade her.«

Einmal draufgestoßen, fällt mir das Versäumnis auf, meine Klientin nach dem Vermögen, sprich der Übertragung desselbigen im Falle eines Ablebens des Gatten, befragt zu haben. Denn sollte sie die Alleinerbin sein, gewinnt allein das mondäne Anwesen rasch den Rang eines Motivs.

Uwe verschwindet in sein Mobilheim. Kurz darauf kommt er mit einer Tasse in der Hand zurück, wischt sie noch schnell mit einem Spültuch aus und stellt sie auf den Tisch.

»Es gab da diese Aussage der alten Lamers nach unserem ersten Bericht. Sie ist im Wäldchen drüben bei Op den Hövel spazieren gegangen und hat gesehen, wie ein Auto in der Nähe einer alten Schrebergartenhütte gehalten hat. Ausgestiegen sind zwei Männer. Den einen kannte sie nicht, der andere war der Mann aus der Zeitung, meinte sie.«

Uwe schüttet mir Kaffee ein und schiebt ein Milchkännchen rüber.

»Am Ende ihrer Runde kam sie wieder dort vorbei. Der Mann, den sie nicht kannte, stieg ins Auto und fuhr mit durchdrehenden Reifen weg. Alleine.«

»Wann war das?«, will ich wissen.

»Mal am 14. Mai, dann am 16. oder doch am 17. Mai? Das ist ja das Problem. Die Alte ist ein wenig …« Uwe macht den Scheibenwischer. »Deshalb hat die Polizei die Sache auch nicht mit dem, sagen wir mal, nötigen Ehrgeiz verfolgt. Eine Streifenwagenbesatzung hat sich die Örtlichkeiten angesehen und nichts gefunden. Hinzu kommt, dass der Eigentümer der Hütte seit zwei Jahren aus beruflichen Gründen in der Nähe von London lebt und sich im fraglichen Zeitraum nachweislich im Urlaub auf Jamaika befand.«

»Hast du rausbekommen, um was für ein Fahrzeug es sich handelte?«

Uwe sieht mich entgeistert an. »So ein kleiner Bus«, äfft er die Stimme der Zeugin nach. »Wird ein SUV gewesen sein. Lukas, die Lady fährt einen Golf aus den Siebzigern. Mit Vier-Gang-Schaltung.«

Ich frage mich trotzdem, ob das ein erster Ermittlungsansatz sein könnte oder ob ich Gefahr laufe, auf die Hirngespinste einer offensichtlich senilen Zeugin hereinzufallen.

Das Lied der Elf vom Niederrhein durchbricht meine Gedanken. Ich ziehe das Handy aus der Hosentasche und bin einigermaßen überrascht.

»Oblak! Sie wollten mich sprechen, Herr Born?«

In einer halben Stunde erwartet mich der letzte Klient, mit dem Berthold Jacobs verabredet war. Auf dem Weg zum Parkplatz geht mir ein Detail nicht aus dem Kopf.

3

Oblak wohnt im Gelderner Ortsteil Veert. Ich zücke mein Handy und präge mir eine Route über Landstraßen ein. Klappt nur bis zu einer Umleitung in Winnekendonk, danach habe ich mich hoffnungslos verfahren. An einem Eiscafé mitten im Ort kurbele ich das Seitenfenster herunter und frage einen Jungen nach dem Weg. Der grinst mich amüsiert an und hilft mir schließlich weiter.

Die Siedlung in Veert macht auf mich den Eindruck einer dieser typischen Wohngegenden, in denen an jedem Samstagvormittag nach dem Frühstück zwanzig bis dreißig Rasenmäher zum Konzert aufspielen, im Bassbereich unterstützt von einem Dutzend brummender Heckenscheren.

Auf dem Heytgraben umkurve ich eine ausladende Sträucher- und Unkrautinsel der Sorte, mit der Städteplaner gerne, vorzugsweise mitten auf der Straße, ihre ökologische Kompetenz unterstreichen. Dafür mangelt es vor der angegebenen Adresse wie überall in dieser Straße an Parkplätzen. Ich lasse Emma kurzerhand als weiteren Beitrag zur Verkehrsberuhigung am Straßenrand stehen. In der Einfahrt parkt ein Touareg mit dem Kennzeichen-Kürzel »JO« wie Jan Oblak.

Als ich aussteige, werde ich vom Besitzer des Volkswagens schon in Empfang genommen. In Badehose und mit einem Handtuch um die Schultern. Nach einer kurzen Begrüßung leitet er mich durch einen schmalen Gang zwischen Garage und Hauswand in den Garten. Auf einer Terrasse aus edlem Tropenholz am Rande eines Pools nehmen wir Platz. Oblak dürfte weit über fünfzig sein, obwohl sein sonnengebräunter, muskulöser Körper nicht darauf hindeutet. Eher die grauen Strähnen in seinen nach hinten gekämmten Haaren. Die stahlblauen Augen verraten nicht die geringste Emotion.

»Woher kenne ich den Kerl bloß?«, greift er feixend meinen Gedanken auf.

»Das habe ich mich tatsächlich gefragt. Und auch, woher Sie meinen Namen kennen. Ich hatte ihn am Telefon nicht genannt.«

Oblak lacht. Er hält mir eine Karaffe mit Saft entgegen, auf dessen Oberfläche einige Eiswürfel klimpern. Ich nehme das Angebot an.

»Zunächst zum zweiten Teil der Frage: Magdalena, ich meine Frau Berthold, hat mich angerufen und mir gesagt, dass Sie von ihr engagiert worden sind. Da konnte ich mir denken, von wem der Anruf stammt.«

Magdalena? Ich hatte in dem Gespräch mit meiner Klientin nicht den Eindruck, dass sie Oblak näher kennt als irgendeinen anderen Klienten ihres Mannes. Warum hatte sie ihn angerufen?

»Und zu Teil eins: Wir haben uns 1998 in Essen kennengelernt. Sie waren Teilnehmer an den Lehrgang Vernehmungstechniken. Ich habe diesen Lehrgang geleitet.«

Kommt mir vor, als hätte jemand in meinem Hinterkopf das Licht eingeschaltet. Die Erinnerungen an dem Lehrgang füllen sich mit Leben. Oblak galt als absolute Koryphäe auf dem Gebiet Vernehmungstechniken, wurde von Polizeibehörden aus dem ganzen Land angefordert, wenn es darum ging, einen besonders harten Brocken zum Reden zu bringen. Mann, war ich damals stolz darauf, an diesem Lehrgang teilnehmen zu dürfen.

»Ich habe meinen Chef zwei Monate lang bequatscht, um dabei zu sein …«, erinnere ich mich.

Auf Oblaks Gesicht legt sich ein zufriedenes Lächeln.

»Ich kann mich noch sehr gut an den jungen Born erinnern, Sie gehörten damals zu den Besten. Jetzt sind Sie Privatdetektiv. Was ist schiefgelaufen?«

Die Frage gefällt mir nicht. Ich bilde mir ein, eine Spur Mitleid in Oblaks Mimik zu erkennen. Einem Polizisten die Vorzüge des Detektivjobs näherzubringen, gleicht dem Versuch, einem Politiker das Lügen abzugewöhnen. Also versuche ich es mit der Wahrheit.

»Die Vernehmung mit einem Kindesentführer ist aus dem Ruder gelaufen …«

»Stimmt«, er hebt den Zeigefinger zum Zeichen der Eingebung, »das habe ich mitbekommen. Mann, Born, jeder Bulle im Land stand damals hinter Ihnen. Es wäre ein Klacks gewesen, den Job zurückzukriegen.«

»Mag sein. Aber deswegen bin ich nicht hier«, würge ich das Thema ab. »Kurz bevor Berthold Jacobs verschwand, war es zu einem heftigen Streit zwischen Ihnen gekommen, richtig?«

Oblak steckt sich eine filterlose Gitanes an, lehnt sich lässig zurück und schiebt eine bläuliche Wolke über den Tisch.

»Ging um das ehemalige Elternhaus meiner Frau in Rheinberg, dessen Verkauf Berthold für mich notariell abgewickelt hatte. Die neuen Besitzer haben Risse im Keller gefunden und machten Berthold die Hölle heiß. Die entscheidende Frage war, ob ich vor dem Verkauf von den Bergschäden gewusst hatte oder nicht. Hatte ich, und Berthold wollte es denen stecken.«

»Von welcher Summe reden wir, die Sie hätten zurückzahlen müssen?«

»Zweihundertvierzig Mille.«

Mir kommen Zweifel. Oblak weiß genau, dass er im Begriff ist, sich ein Motiv zu stricken.

»Für ein Haus mit Bergschäden hätten Sie dann wohl nur noch die Hälfte bekommen, oder?«, nehme ich den Faden auf.

Oblak stößt einen trockenen Lacher aus.

»Wenn überhaupt.«

»Seine Frau sagt, Sie hätten gedroht, ihn umzubringen.«

»Hab ich. Aber das ist ja leider verboten. Zum Wohl.«

Oblak führt langsam sein Glas zum Mund. Er hält mir ein Stöckchen hin, über das ich springen soll. Warum eigentlich?

»Es gibt eine Zeugin, die gesehen hat, wie Berthold Jacobs in der Nähe eines Schrebergartens bei Sonsbeck in Begleitung eines anderen Herrn aus einem Pkw gestiegen ist. Kurz darauf ist er verschwunden. Bei dem Wagen handelt es sich um einen SUV. Vielleicht ein Touareg?«

»Möglich.« Oblak reibt sich gespielt nachdenklich das Kinn. »Ich würde der Spur auf alle Fälle mal nachgehen.«

Sein Blick wirkt wie der eines Pokerspielers mit vier Assen in der Hand. Kann sein, dass er blufft. Ich frage mich, warum er überhaupt mit mir spielt. Bin ich in seinen Augen immer noch der kleine Polizeischüler, dem er die Welt da draußen erklären möchte? Also schön, spielen wir dein Spiel.

»Haben Sie einen Schrebergarten?«

Oblak lächelt und lässt seinen Blick scheinbar gedankenverloren in einem weiten Bogen über das türkis schimmernde Wasser im Pool gleiten, um ihn abschließend auf meinem Gesicht zu parken.

»Born, so kommen Sie nicht weiter, wenn ich Ihnen das mal als alter Hase verraten darf. Ich fahre einen SUV, wie Millionen andere auch, ja. Einen Schrebergarten besitze ich allerdings nicht. Ich hatte Streit mit Jacobs, na und? Wenn ich jeden umgebracht hätte, mit dem ich Streit hatte, wäre längst ein Friedhof nach mir benannt worden. Und was das Motiv betrifft, das durch Ihren Hinterkopf geistert: Sehen Sie sich doch mal um. Sieht das hier aus, als würde ich am Hungertuch nagen, wenn mir beim Verkauf eines Hauses hundert Mille durch die Lappen gingen? Born, ich sag Ihnen mal was: Im Gegensatz zu Ihnen bin ich immer noch Polizist. Ich achte das Gesetz und übertrete es nicht.«

»Außer vielleicht, wenn es darum geht, eine Schrottimmobilie teuer zu verkaufen«, hake ich nach.

Oblak zieht noch mal kurz an seiner Gitanes, dann wirft er den Stummel in den Aschenbecher.

»Ja. Ich fahre auch mit achtzig durch die City, bescheiße das Finanzamt und setze den Besuch beim Italiener auf die Spesenrechnung. Wollen Sie daraus allen Ernstes ableiten, ich könnte einen Mord begehen? Ihr Eifer in allen Ehren, aber glauben Sie mir, Sie sind auf der falschen Fährte. Wenn ich Sie jetzt bitten dürfte, ich muss in einer halben Stunde zum Dienst …« Er deutet mit dem ausgestreckten Arm Richtung Straße.

Im Auto geht mir das Gespräch mit Oblak nicht mehr aus dem Kopf. Klang alles ganz logisch. Es ist eher das Gesamtbild, das mich hindert, den Ansatz gleich wieder aufzugeben. Die Vorstellung, Oblak wäre wutentbrannt aus dem Haus gelaufen und hätte damit gedroht, Jacobs umzubringen, deckt sich in keinster Weise mit dem Eindruck, den er mir vermittelt hat. Und noch etwas hält meine zaghaften Zweifel am Leben: Warum hat meine Klientin meinen Besuch angekündigt?

4

Unterwegs Richtung Sonsbeck überdenke ich meine weitere Vorgehensweise. Die Vermisstenakte einzusehen wäre nicht schlecht. Ich steuere Emma an eine Bushaltestelle und scrolle in meinem Handy die Kontaktliste durch. Den Fall dürften die Duisburger bearbeiten, da kenne ich kaum eine Handvoll ehemaliger Kollegen. Mir fällt ein, dass Uwe ausführlich über den Fall berichtet hatte. Ich erreiche ihn auf dem Weg zum Parkplatz von Happy Eiland.

»Das ist jetzt ganz schlecht. In Xanten ist mal wieder städtische Baumfällaktion. Die Grünen drehen am Rad und verlangen nach sofortiger medialer Aufmerksamkeit und …«

»Geht auch ganz schnell«, unterbreche ich ihn. »Wer hat damals den Vermisstenfall Jacobs bearbeitet?«

»Boah … war ’n Kommissar Steinhauer …klopper …«

»Berti Steinbrecher vielleicht?«

Eine Autotür fällt ins Schloss, die Geräusche spielender Kinder verstummen schlagartig.

»Genau. Ein absoluter Kotzbrocken, hat mich für jeden Pups an den Pressefuzzi der Duisburger verwiesen.«

Ein Motor startet, ich bedanke mich artig.

Glück muss man haben.

Berti war ein knüppelharter Verteidiger in unserer Bullen-Elf. »Wie das Original«, hatte er immer gesagt. Hatte damals schon eine ausgeprägte Journalisten-Allergie, unser Berti. Nur weil sie ihn mal so richtig niedergemacht hatten. Das war nach einem Benefizspiel gegen die Verwaltungsauswahl der Stadt. Berti hatte dem Leiter des Ordnungsamtes mit einer Eins-a-Grätsche das linke Wadenbein durchgeholzt. Ich mein ja immer noch, er hätte den Ball gespielt. Egal.

Ich fische mir die Nummer des Duisburger Präsidiums aus dem Netz und lass mich mit ihm verbinden.

»Lukas Born?«, schlägt mir eine froh gelaunte Stimme entgegen.

»Genau. Seit wann bist du in Duisburg?«

»Anfang des Jahres. Wir haben doch in Walsum gebaut, das ist einfach näher. Zumal hier gerade ’n A11er-Pöstchen frei wurde. Und du? Immer noch Privatschnüffler?«

Ich kläre ihn in knappen Sätzen auf, mir nichts Schöneres als das vorstellen zu können, und komme nach dem sich daraus ergebenden Small Talk zu meinem Anliegen.

»Die Jacobs hat dich engagiert?«

Es klingt so, als hätte die NASA mich beauftragt, zum nächsten Ersten die Leitung der Raumstation ISS zu übernehmen.

»Deine Wertschätzung ehrt mich.«

»Das meine ich nicht damit. Die Kollegen vom KK11 haben eine Weile mitgemischt.«

»Es gab eine Mordkommission?«

»Ja, aber nur für zwei Wochen. Die Hinweise auf ein Tötungsdelikt reichten denen am Ende nicht.«

»›Denen‹ heißt, du bist anderer Meinung?«

Aus dem Telefon klingt schwerfälliges Atmen.

»Drei Wochen vor seinem Verschwinden ist Berthold Jacobs’ Bruder gestorben, ein Rechtsanwalt aus Coesfeld. Krebs. Die beiden hatten sich gegenseitig zu Erben bestimmt. Nach der Beerdigung hat Jacobs sein Testament geändert, seine Frau Magdalena zur Alleinerbin auserkoren und sie nebenher mit allen Vollmachten ausgestattet. Vierzehn Tage später verschwindet er spurlos, und schlappe zweieinhalb Millionen Euronen warten auf einen neuen Besitzer. Klingt für mich nach einem Motiv.«

»Forciertes Erben.«

»Genau.«

Der Blick durch meine Heckscheibe fällt auf die Front eines Linienbusses mit hektisch blinkenden Scheinwerfern. Ich schmeiße den Motor an und lasse Emma bis auf den angrenzenden Grünstreifen rollen. Berti untermauert im Grunde das, was ich schon von Uwe erfahren habe.

»Privat scheint die Dame ebenfalls bestens vorgesorgt zu haben. Ich habe mir mal die Mühe gemacht, ihren Terminkalender durchzuarbeiten. Lauter Fakes. Im Tennisclub hatte man sie schon seit zwei Monaten nur noch sporadisch gesehen, obwohl sie laut Kalender jeden Dienstag und Freitag dort war, bei den Weseler Soroptimisten und dem Musikverein vermisste man sie ebenfalls schon länger. Stattdessen wurden mir überall hinter vorgehaltener Hand Andeutungen über einen Lover gemacht.«

»Wundert mich nicht.«

Ich erinnere mich an das Foto vom Notar auf der Anrichte.

»Schon, nur dass wir diesen Lover nicht ausfindig machen konnten.«

»Sie ist zwar blond, aber dass ihr sie observiert, dürfte ihr schon klar gewesen sein.«

»Eben nicht. Sie hat uns direkt zu einem Geschäftsmann in Schermbeck geführt, mit dem sie zwei Tage vor dem Verschwinden ihres Mannes über den Verkauf der heimischen Villa verhandelt hat. Der Kerl ist aus allen Wolken gefallen, als die lieben Kollegen vom KK11 dort aufgeschlagen sind. Lukas, wenn du mich fragst, fehlt uns nur noch die passende Leiche. Ich verwette meine Pension darauf, dass die Puppe Nägel mit Köpfen gemacht hat.«

Unweigerlich schiebt sich das Gesicht des überlegen grinsenden Oblaks vor mein geistiges Auge. Meine Klientin hat ein Faible für reifere Semester, und wenn man mal ehrlich ist, verfügt der sportliche und allem Anschein nach durchtrainierte Polizist durchaus über ein gewisses Maß an erotischer Ausstrahlung. Zumindest wenn man ihn in direktem Vergleich mit dem von den Lastern des Lebens gezeichneten Notar sieht, dessen Sexappeal sich auf das immense Vermögen beschränkt. Sollte meine Auftraggeberin etwa auf die Idee gekommen sein, dieses Vermögen umzuschichten? Oder umschichten zu lassen? Dann wäre der mit allen Wassern gewaschene Oblak die Idealbesetzung, und das gleich in zweierlei Hinsicht.

Ich erzähle Berti von meinem Besuch bei ihm und dem Verdacht, den mir Magdalena Jacobs mehr oder weniger gezielt untergeschoben hatte.

»Auf dieser Spur sind wir auch schon rumgetrampelt. Es gab da eine ältere Dame, die ihn mit Jacobs zusammen gesehen haben will …«

»Und sich an nichts Genaueres erinnern kann, ich weiß. Oblak streitet das ab«, unterbreche ich Berti.

»Würde ich auch. Wir haben ihn natürlich gründlich durchleuchtet, aber nichts gefunden. Den heftigen Streit zwischen ihm und Jacobs hat er zugegeben. Das allein reichte uns natürlich nicht. Zumal sein Handy bis zum 15. Mai in Wesel und Umgebung eingeloggt war. Danach konnten wir es nicht mehr orten. Du glaubst, Oblak ist der ominöse Liebhaber?«

»Wäre doch möglich.«

»Na ja, Magdalena Jacobs würde ich auch nicht aus dem Bett schmeißen und dazu noch zweieinhalb Millionen als Zugabe, wer weiß? Aber warum sollte sie dich dann engagieren? Wäre es in dem Fall nicht cleverer, die Füße still zu halten?«

Da ist was dran. Wenn ich einmal eine so schöne These entwickelt habe, trenne ich mich allerdings nur höchst ungern davon.

»Vielleicht ist die Blondine schlauer, als wir denken. Möglicherweise hat sie von Anfang an darauf geachtet, dass keine direkte Verbindung zwischen ihr und Oblak nachgewiesen werden kann …«

»Du meinst, sie hat ihn nur benutzt und will ihn jetzt ans Messer liefern?«

Kaum, dass Berti meine Theorie in letzter Konsequenz ausformuliert hat, kommen mir erhebliche Zweifel daran.

Bis meine Klientin ihren Gatten für tot erklären lassen kann und ihr das Erbe somit zufällt, vergehen mindestens zehn Jahre. Magdalena Jacobs dürfte das nichts ausmachen, kann sie doch jetzt schon, mit allen Vollmachten ausgestattet, über das gemeinsame Vermögen verfügen. Oblak würde nicht so blöd sein, einen Mord zu begehen, um sich für den Rest des Lebens in die Abhängigkeit dieser Frau zu begeben.

Das lenkt meine Gedanken fast zwangsläufig auf die Frage: Was ist der wahre Grund für meine Klientin, mich auf Jan Oblak anzusetzen?

5

Am liebsten wäre ich direkt zu meiner Klientin durchgefahren und hätte mich mit ihr mal ganz intensiv über den Themenkomplex Liebe und Erbe ausgetauscht. Aber Linda hatte mich zum Essen eingeladen, und das Szegediner Gulasch meiner Freundin ist ein kulinarisches Vergnügen erster Güte. Also erst mal nach Happy Eiland. Mit wässrigem Mund quetsche ich Emma in die nächstbeste Lücke und laufe schnellen Schrittes auf Lissys Bistro zu, hinter dem der großräumige Bereich der Dauercamper beginnt. Zu meiner Überraschung sitzt Linda an einem der Außentische und winkt mich mit schmalen Lippen heran.

»Was ist los, bin ich zu spät?«

»Stehst du auf zuckersüßes Gulasch mit einer aufdringlichen Currynote?«

»Deine Mutter …«

»… hat mal eben nachgewürzt. Ich war nur kurz zur Toilette, und Vater hat nicht schnell genug reagiert«, entgegnet sie mit einer gehörigen Portion Resignation in der Stimme.

Lindas Mutter ist demenzkrank. Die Familie wollte vor zwei Jahren eigentlich nur für drei Wochen auf Happy Eiland bleiben, aber nachdem sie gesehen hat, wie liebevoll sich die Platzgemeinschaft um Franziska kümmert, haben sie ihren Lebensmittelpunkt hierher verlegt. Linda hat inzwischen eine Halbtagsstelle als Krankenschwester in der Xantener Heeswaldklinik angenommen.

Lissy serviert uns Zigeunerschnitzel mit Pommes und Salat.

»Gulasch haben sie leider nicht«, erklärt Linda, und zum ersten Mal heben sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. Während des Essens berichte ich ihr ausführlich von meinem neuen Auftrag und dem Plan, meiner Klientin heute noch einen Besuch abzustatten.

»Mag sein, dass sie einen Lover hat. Aber ich bezweifle, dass sie dir das sagen wird. Ich frage mich eher, warum sie dich erst sechs Wochen nach dem Verschwinden ihres Mannes beauftragt hat.«

»Und mich dann direkt auf Oblak ansetzt …«

»… der den Gatten aus dem Weg geräumt hat und jetzt nicht mehr benötigt wird«, vollendet Linda meinen Satz.

Diesen auf den ersten Blick durchaus plausiblen Ansatz hatte ich ja auch schon. Je länger ich jedoch darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint mir meine erste These. Oblak verfügt als Vernehmungsspezialist über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Einer wie er fällt nicht auf die verlangenden Blicke einer Blondine herein. Da kann ihr Dekolleté noch so viel versprechen.