Umschlag

Kordula Kühlem, geboren 1975, aufgewachsen in Bayern und im Rhein-Sieg-Kreis, promovierte in Bonn und arbeitet für eine politische Stiftung. Mit ihrer Familie wohnte sie lange in Deutz, inzwischen etwas außerhalb der Stadt im Grünen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

image

Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/rclassenlayouts
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-539-8
Köln Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

 

Meinem Mann Willi

MONTAG, 11:15 UHR

»Jetzt hören Sie endlich damit auf!«

Hier stehe ich in dieser eindrucksvollen Umgebung dieser wenig eindrucksvollen Frau gegenüber und versuche, meine Beherrschung nicht zu verlieren. Das ist mir zugegebenermaßen mit meinem Ausruf nur mäßig geglückt, was ich auf ihrem Gesicht sehr gut ablesen kann, dessen leicht gräuliche Farbe perfekt zum mattgrauen, altmodischen Haarknoten passt.

Um meiner Zurückweisung Nachdruck zu verleihen, lasse ich demonstrativ meinen Blick über die Frau hinweg durch den Hof gleiten. Obwohl, Hof ist natürlich der falsche Ausdruck, es handelt sich schließlich um einen Kreuzgang. Beeindruckend: ein Stück Mittelalter – echtes Mittelalter? – mitten in Köln.

»Da bin ich!« Ursulas Auftritt schafft eine willkommene Ablenkung. Weil ich meiner Kollegin dafür dankbar bin, spare ich mir die Frage, wo sie so lange gesteckt hat. Auch wenn der Kreuzgang von St. Maria im Kapitol, in dem wir gerade stehen, mitten in der Innenstadt liegt, kann es doch nicht so lange dauern, einen Parkplatz zu finden.

»Der Tote«, ich mache mit dem Daumen eine vage Bewegung über meine Schulter, »ist Professor Dr. Klaus-Dieter Vogelstein. Seine Personendaten waren in seiner Brieftasche. Er ist …«

Doch Ursula hört mir schon gar nicht mehr zu, ihr Blick zielt auf jemanden hinter mir – und offensichtlich auch ihre Frage: »Was wissen wir schon?«

Etwas befremdet drehe ich mich ebenfalls um und sehe Dr. Ulrich Freude auf uns zukommen. Er wartet nicht, bis er bei uns ist, sondern beginnt seinen Bericht schon während der letzten Meter. »Das Opfer ist seit ungefähr einer Stunde tot. Die Kopfwunde stammt von dem Aufprall auf dem Boden. Interessant ist jedoch, dass diese nach meinem ersten Eindruck nicht tödlich gewesen sein kann. Werde mich um dieses Problem noch kümmern, wenn Nummer zweiundsiebzig auf meinem Tisch liegt. Sonst noch Fragen?«

Jetzt müssen wir schnell sein, das habe ich inzwischen gelernt. Der kleine, drahtige Gerichtsmediziner ist immer auf dem Sprung.

»Gibt es nicht vom Sturz hervorgerufene Verletzungen?«, fragt Ursula schon, als ich gerade den Mund zum Sprechen öffne. Allerdings hat sie genau dieselbe Frage gestellt, die auch mir auf der Zunge gelegen hat – oder sagen wir mal die gleiche, denn ich hätte es vermutlich nicht ganz so knapp formuliert. Aber sie kennt Dr. Freude ja auch schon länger. Keine Kunst, da ich erst seit ein paar Monaten hier bin, während sie schon ihr gesamtes Leben in Köln verbracht hat.

Etwas missmutig fährt Freude sich über die nur noch spärlich vorhandenen hellen Haare, während seine blauen Augen in die Ferne starren. »Ich bin mir nicht sicher, auf den ersten Blick eher nicht.« Irgendetwas scheint ihn an dem Toten zu stören beziehungsweise an der Art, wie dieser zu Tode gekommen ist. Doch schließlich gibt er sich einen Ruck, murmelt: »Wir sehen uns bei der Leichenfledderei«, und ist verschwunden.

Ursula macht gerade den ersten Schritt in Richtung Tatort, als aus dem Schatten, in den sie sich zwischenzeitlich zurückgezogen hat, wieder die graue Nervensäge auftaucht.

»Ich habe noch keine Antwort auf meine Frage erhalten. Was ist jetzt mit den Flecken?«

Ursula schaut erst mich, dann die Sprecherin verständnislos an. »Und Sie sind?«

»Ich dachte, Ihre Kollegin« – die Graue deutet auf mich – »informiert Sie!«

Was für eine Frechheit! Wann bitte hätte ich Ursula denn informieren sollen? Doch die Frau hält sich mit ihrem Vorwurf nicht lange auf und redet einfach weiter. Sie will wahrscheinlich nicht riskieren, dass ich tatsächlich die Informationen an meine Kollegin weitergebe. Dafür genießt sie die ganze Situation viel zu sehr.

»Ich«, sie zeigt überflüssigerweise dabei auch noch auf die eigene Brust, »bin Frau Gertrud Horn. Ich«, sie macht eine bedeutungsschwere Pause, »habe gesehen, wie der Herr Professor sich von da oben, aus dem zweiten Stock, in den Tod gestürzt hat.«

Unwillkürlich hebe ich meine Augen zu den Kollegen von der Spurensicherung auf dem Laubengang zwei Stockwerke über uns. Währenddessen besteht Ursulas Antwort allein in dem leichten Anheben einer Augenbraue.

Etwas pikiert über diese unbeeindruckte Reaktion rümpft Frau Horn ihre schmale Nase, fährt aber direkt fort: »Ich kümmere mich hier um die Kirche, sehe nach dem Rechten und sorge für Ordnung. Letztens«, sie senkt leicht die Stimme, »saß hier sogar ein Penner in der hintersten Bank und hat geschlafen. Ich habe ihn direkt des Hauses verwiesen.«

»Das Haus Gottes sollte doch eigentlich jedem offen stehen.«

Ursula bedenkt meinen Einwurf mit einem leichten Schmunzeln, was Frau Horn aber nicht sehen kann, da sie gerade – erneut – einen empörten Blick in meine Richtung wirft. Die Rüschen ihrer gestärkten Bluse zittern dabei ebenso wie ihre Nasenflügel.

»Ich bin jedenfalls dort aus der Kirche gekommen«, sie unterstreicht ihre Ausführungen mit den passenden Handbewegungen, »da fiel der Herr Professor gerade über das Geländer. Als ich bei ihm ankam, lag er da – tot! Ich hab direkt die Polizei verständigt.« Ihrer Stimme ist keinerlei Gefühlsregung anzumerken.

»Sie kannten den Toten?« Ursula hat inzwischen ein kleines Notizbuch hervorgezogen.

»Ich kannte ihn, natürlich, sehr gut sogar. Schließlich wohnten wir zusammen.«

»Sie sind ein Paar?«

»Ich habe gesagt, wir wohnten zusammen, in einem Haus nicht weit von hier im Pantaleonsviertel, in der Nähe von St. Maria vom Frieden.«

»Dann können Sie uns eventuell sagen, was Herr Professor …«

»Vogelstein«, helfe ich ihr weiter.

»Was Herr Professor Vogelstein hier gemacht hat?«, vollendet Ursula ihre Frage.

»Ich weiß das, natürlich. Da oben«, sie senkt die Stimme, »befindet sich eine betreute Wohngemeinschaft. Alles Jugendliche, die … Na ja, auf jeden Fall gab der Herr Professor einigen von ihnen Nachhilfe.«

Etwas ungläubig schaue ich Frau Horn an. »Beeindruckend, wie schnell Sie von dem Toten in der Vergangenheit sprechen.« Doch Frau Horn hat wohl entschieden, sich an Ursula zu halten, und ignoriert meinen Kommentar, nur ihre farblosen Lippen werden noch eine Spur schmaler.

»Ich würde jetzt noch gerne auf die Frage zurückkommen, die ich mit Ihrer Kollegin«, sie stößt ihren knochigen Zeigefinger in meine Richtung, »gerade besprechen wollte, als Sie angekommen sind. Wer bitte wird diese Schweinerei dort wegmachen?« Jetzt fährt der Zeigefinger knapp an meinem Arm vorbei Richtung Innenhof.

»Als Sie in der Kirche waren, haben Sie da nichts gehört? Kampfgeräusche vielleicht? Oder haben Sie noch irgendjemanden oben auf der Galerie gesehen?« Ursula sieht wirklich so aus, als hätte sie gar nicht mitbekommen, was Frau Horn gesagt hat.

»Ich war in der Kirche, die ist groß – waren Sie überhaupt schon mal drin? – und das Tor aus massivem Holz. Ich konnte also gar nichts hören. Um aber auf meine Frage zurückzukommen: Ich möchte wissen, wer sich um die Flecken auf dem Boden kümmert.«

»Haben wir ihre Adresse?« Ursulas Frage ist an mich gerichtet, also nicke ich.

Daraufhin klappt sie ihr Notizbuch zu und wendet sich an Frau Horn: »Dann haben wir erst einmal keine weiteren Fragen.«

»Ich … Aber was ist jetzt mit den Flecken?«

Ursula, die mich schon ein paar Meter in die Richtung unserer Kollegen von der Spurensicherung gezogen hat, dreht sich noch einmal um: »Jetzt hören Sie endlich damit auf!«

MONTAG, 13:33 UHR

»Wir hätten es ihr sagen können, also dass die Tatorte immer von Spezialreinigungskräften gesäubert werden.«

»Hätten wir, verpflichtet waren wir aber nicht.« Ursula genehmigt sich ein schelmisches Grinsen, stellt, ohne einen Schluck genommen zu haben, ihre dampfende Teetasse ab und greift zu dem kleinen schwarzen Lederbuch auf ihrem Schreibtisch.

Während sie sich mit der anderen Hand eine blonde Locke, die ihrer ansonsten perfekt sitzenden Hochsteckfrisur entkommen ist, hinters Ohr steckt, wirft sie mir einen kurzen Blick aus ihren hellblauen Augen zu. »Also, Kerstin, dann wollen wir mal anfangen.«

Leicht seufze ich, da ich in den wenigen Monaten unserer Zusammenarbeit gelernt habe: Für meine Kollegin Ursula kommt es nicht in Frage, nur mal Kaffee respektive Tee zu trinken, sie macht in der Regel immer mindestens zwei Dinge gleichzeitig. Und wenn sie mich wie gerade mit Namen anspricht, ist ihr Aktionismus besonders groß.

Trotzdem gönne ich mir noch einige Genussmomente, atme erst tief in den Duft meiner Tasse und trinke dann langsam einige Schlucke des aromatischen tiefschwarzen Kaffees. Das tut gut! Erst danach wische ich mir meine schulterlangen, leider sehr dunkelblonden und recht platten Haare aus dem Gesicht und wende mich meiner Kollegin zu.

»Wer steht denn da so drin?« Dabei mache ich eine vage Handbewegung hin zu dem kleinen Büchlein, das wir als einzigen Gegenstand aus dem Chaos der Wohnung von Professor Vogelstein in der Steinstraße mitgenommen haben.

Zusammen mit den ersten Kollegen der Kriminaltechnik, die vom Tatort abgezogen werden konnten, haben wir uns das Heim des Opfers angesehen. Aber schon nach einem flüchtigen Blick das Feld gern den Spezialisten überlassen. Ob diese in den Stapeln von Zeitungen, den Bergen von Büchern und dem Haufen verstreuter Papiere sinnvolle Spuren finden werden, steht für mich mehr als in den Sternen.

Ursula blättert durch die dünnen Seiten und zuckt mit den Schultern. »Das meiste sind archäologische Institute, Archive und Museen. Allerdings dazwischen auch relativ viele Handynummern nur mit weiblichen Vornamen, teilweise durchgestrichen. Ich glaube, das überlassen wir Heiwi.«

»Was überlasst ihr mir, meine Engel?« Wie ein Trompetenstoß durchbricht die Frage unseres Kollegen die Ruhe in unserem Büro. Ob der an der Tür gehorcht hat? Das würde mich nicht komplett verwundern.

Heiwi hat inzwischen Ursula ungefragt das Notizbuch aus der Hand genommen und angefangen zu blättern. »Lass mich raten.« Das meint er allerdings streng rhetorisch, denn auch wenn er uns und alle anderen Kollegen gerne mal raten lässt, hasst er nichts mehr als solche Spielchen mit ihm. »Ich soll die Adressen abklappern nach Informationen über unseren neuen Toten?« Er strahlt uns an, als hätte er gerade den Fall gelöst – schön wär’s. »Und, was bekomme ich dafür?«

Ursula und ich grinsen uns über unsere Schreibtische hinweg an und öffnen dann synchron unsere Schubladen. Meine Kollegin hält Heiwi einen Bio-Müsliriegel hin, und ich krame eine etwas mitgenommene Tafel Schokolade hervor, deren Existenz ich bereits vergessen hatte. Wie lange die wohl schon unter dem Schmierpapier liegt?

Unser Kollege nimmt beides begeistert entgegen und genehmigt sich gleich den ersten Riegel Schokolade. Vor einiger Zeit hat er beschlossen, nunmehr die »besten Jahre« erreicht zu haben und sich deshalb in Bezug auf Nahrungszufuhr keine Beschränkungen mehr auferlegen zu müssen. Da das vor meiner Zeit im Kölner Präsidium war, muss ich den Berichten der Kollegen glauben, dass Heiwi seitdem tatsächlich ein paar Kilo zugelegt hat, dafür aber immer bester Laune ist. Ich persönlich kann ihn mir gar nicht schlecht gelaunt vorstellen. Außerdem passt seine etwas zu kurz geratene korpulente Figur irgendwie zu den vollen braun-grau melierten Haaren und den gutmütigen Fältchen um die hellbraunen Augen.

Noch mit vollem Mund verkündet mein Kollege, dessen eigentlicher Vorname Heinz-Wilhelm nach amerikanischer Manier durch Zusammenziehen der Anfangsbuchstaben irgendwann zu Heiwi geworden ist: »Für so viel Gutes gibt es noch eine Topinformation obendrauf. Was meint ihr, was für ein Professor der Tote gewesen ist?«

»Archäologie!« Unsere Antwort kommt wie aus einem Munde und ist offensichtlich ein Tiefschlag für unseren Kollegen. Noch mehr, als selbst raten zu müssen, hasst er es, wenn seine Fragen gleich richtig beantwortet werden.

»Woher wischt ihr dasch?« Trotz eines weiteren Riegels Schokolade, der seine Aussprache nicht unwesentlich beeinträchtigt, kann man Heiwis Enttäuschung gut heraushören.

Ursula macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Wir haben eben schon im Notizbuch geblättert.«

»Mmh.« Das klingt schon besänftigt, aber noch nicht ganz versöhnt. »Ihr seid ja nicht umsonst bei der Kripo, oder? Also, zurück zum Thema. Habe euch per Mail den Lebenslauf des Toten zugesandt. Findet sich alles im Internet. Ja, er war Archäologe und, soweit ich das beurteilen kann, offensichtlich einer der bekanntesten in Deutschland. Die Anzahl seiner Publikationen und Vorträge ist beeindruckend, sogar noch in den letzten Jahren, obwohl er schon einige Zeit in Rente ist.«

»Bei welcher Universität war er denn? Köln?« Während ich spreche, öffne ich meine Mails und habe die Antwort schon gefunden.

»Ja«, Heiwi lässt sich die Gelegenheit zur Belehrung dennoch nicht entgehen, »es ist schon wieder ein Kölner Professor, den es erwischt hat.« Er fixiert mich mit kritischem Blick. »Nun mal ehrlich, bist du aus Bonn geschickt worden, um hier in Köln nach und nach die Universität zu zerstören? Erst die Literaturprofessorin, jetzt einer von der Archäologie. Wo du hinkommst, stürzt ein Kölner Professor in den Tod.«

Was bei mir nur ein gequältes Lächeln hervorruft, führt bei Heiwi zu einem lauten und langen Lachanfall. Schön, wenn Menschen über ihre eigenen Scherze so begeistert lachen können! Dabei bin ich zwar in Bonn aufgewachsen und habe dort bis vor wenigen Monaten auch gearbeitet, aber studiert habe ich tatsächlich – wenn auch nur sehr kurz – hier in Köln. Aber das will ich nicht vertiefen, abgesehen davon, dass meine Kollegen das theoretisch schon wissen.

Ursula hat unserem Wortwechsel nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt und sich stattdessen die per Mail gesandten Informationen näher angesehen. »Ich würde sagen, wir beginnen in der Uni, dort scheint er ja immer noch ein Büro zu haben.« Und schon erhebt sie sich und greift nach ihrer Jacke. Meine Meinung dazu scheint sie – mal wieder – nicht zu interessieren. In Momenten wie diesen, zwischen herrischen und albernen Kollegen, wünsche ich mich zurück an meine alte Bonner Dienststelle. Nicht dass ich dort mit allen Kollegen zurechtgekommen wäre, aber im Rückblick kommt es mir manchmal so vor.

Mit einem tiefen Seufzen erhebe ich mich ebenfalls von meinem Bürostuhl und folge meiner Kollegin, die schon fast auf dem Flur ist. Allerdings rufe ich ihr in einem Anfall von Trotz hinterher: »Wir nehmen mein Auto. Und ich fahre!«

MONTAG, 14:24 UHR

»Jetzt lass mich mal, sonst verlaufen wir uns auch noch!« Ursula sieht mich vorwurfsvoll an, bevor sie sich zum Gehen wendet.

Was kann ich dafür, dass ich das Archäologische Institut nicht sofort gefunden habe – geschweige denn einen Parkplatz in der Nähe? Es kann doch nicht sein, dass ich sie immer weiter mit meinem Auto fahren lasse, nur weil sie sich in Köln besser auskennt? Ich habe es satt, immer auf den Beifahrersitz verbannt zu werden, ganz abgesehen von ihrem Fahrstil, der bei mir entweder zu Angst- oder Übelkeitsattacken führt.

»Hier ist es.« Während ich mit meinen Grübeleien beschäftigt gewesen bin, hat Ursula tatsächlich in kürzester Zeit den Weg von unserem Parkplatz zum Institut gefunden. »Dachte, du hast hier studiert. Dann solltest du dich doch eigentlich auskennen.«

Soll ich ihr – zum wiederholten Male – auseinandersetzen, dass mein Studium hier in Köln nur kurz war? Außerdem habe ich Geschichte und nicht Archäologie studiert, das sind doch ganz unterschiedliche Fächer – und auch unterschiedliche Institute. Doch bevor ich mich entschließen kann zu antworten, hat sie schon die eindrucksvolle Holztür geöffnet, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich ihr anzuschließen.

Zielsicher folgt Ursula den Schildern Richtung »Sekretariat« und betritt dieses nach kurzem Anklopfen ohne Zögern – und ohne abzuwarten, dass jemand »Herein« ruft. Ich folge ihr auf dem Fuße, und wir stehen einem Mann gegenüber – übrigens sehr nah gegenüber, da der Raum nicht nur klein, sondern auch mit Möbeln überladen ist. Dieser bleibt ruhig auf seinem Bürostuhl sitzen, während er uns mit seinen tiefdunklen Augen durchdringend und etwas abschätzig mustert.

»Guten Tag, ich bin Hauptkommissarin Ursula Hohmann, und das ist meine Kollegin Kerstin Heller. Wir hätten ein paar Fragen. Sind Sie für die Verwaltung des Instituts zuständig?«

»Im Moment schon.« Offensichtlich irritiert wirft unser Gegenüber einen kurzen Blick auf die Ausweise, die wir ihm unter die Nase halten – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn unsere ausgestreckten Arme reichen ohne Probleme bis zu ihm, obwohl wir immer noch an der Tür stehen.

»Was heißt ›im Moment schon‹?« Ursula ist mit der Auskunft des Schwarzhaarigen erkennbar unzufrieden. Auch ich habe im Sekretariat, zugegeben, eher mit einer älteren Frau als mit einem relativ jungen Mann gerechnet – und mit ein bisschen mehr Entgegenkommen.

»Was wollen Sie denn von mir?«, fragt er und verschränkt seine Arme.

»Na ja, vielleicht fangen wir mal mit Namen und Funktion an.« Ursula lässt sich so leicht nicht von ihrem Ziel abbringen, während ich erst den Mann in Jeans und Pullover, dann das mit Schränken und Ordnern vollgestellte Büro und schließlich die herbstlich gefärbten Blätter einer Eiche vor dem Fenster betrachte.

»Mein Name ist Alexis Streit, Dr. habil. Alexis Streit, um genau zu sein. ›Im Moment schon‹ bedeutet, dass ich zurzeit für die Verwaltung des Instituts verantwortlich bin, denn ich besetze heute das Sekretariat. Bis wir eine neue Sekretärin haben, müssen das alle Mitarbeiter mal machen – genügt Ihnen das fürs Erste?« Mit weiterhin verschränkten Armen hat er sich auf dem Stuhl etwas aufgerichtet, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen.

»Warum habilitiert und kein Professor?«, fragt Ursula. Mir ist zwar nicht klar, inwiefern das für uns wichtig sein sollte, aber interessieren tut es mich auch.

Streit zögert kurz, als wollte er nicht antworten, erklärt dann aber mit einem scharfen Unterton: »Weil ich meine Habilitation zwar abgeschlossen, aber noch keinen Ruf auf eine Professorenstelle erhalten habe.«

»Sehr schön, dann haben wir das ja geklärt.« Ursula scheint weder von den Ausführungen noch von deren Tonfall beeindruckt zu sein. »Und wir können zu unserem eigentlichen Anliegen kommen: Kennen Sie Professor Vogelstein?«

Ein zynischer Zug legt sich um Herrn Streits Mund. »Mal abgesehen von der vielleicht nicht ganz nebensächlichen Tatsache, dass Sie hier in dem Institut stehen, das Herr Vogelstein, äh, Professor Vogelstein lange Jahre geleitet hat, werden Sie in Deutschland, vielleicht auf der ganzen Welt keinen Archäologen finden, der ihn nicht kennt. Er war sogar bei Olympia dabei.«

»In welcher Disziplin?« Ich bin wirklich beeindruckt. Wie ein ehemaliger Spitzenathlet sah der Tote wirklich nicht aus. Vielleicht Tischtennis, da darf man doch nicht zu groß sein, oder? Möglicherweise auch Turnen, und die Muskeln waren eben alle schon wieder weg.

»Er war kein Sportler.« Die Arroganz im Ton unseres Gegenübers schlägt das, was Ursula manchmal draufhat, noch um Längen. »Natürlich meinte ich die Ausgrabungen des antiken Olympia.«

Meine Güte, dann soll er das doch sagen.

Ursula lächelt nur überlegen, was wahrscheinlich heißen soll, dass sie natürlich die ganze Zeit gewusst hat, wovon die Rede ist. »Kannten Sie Herrn Vogelstein denn auch privat?«

»Nein!« Die Antwort von Herrn Streit enthält trotz ihrer Kürze eine Kälte, die ich fast körperlich zu spüren meine. »Ich nicht! Wenn Sie etwas über seine privaten Vorlieben erfahren wollen, sollten Sie sich an seine Studenten oder besser Studentinnen wenden.« Er hält kurz inne und fragt dann: »Warum wollen Sie das alles denn von mir wissen?«

Was heißt denn »das alles«? Noch hast du nicht viel von dir gegeben außer heiße Luft, schießt es mir durch den Kopf, aber ich kann mich bremsen, das oder etwas Ähnliches laut zu sagen. Im Gegenteil, ich bleibe ruhig und professionell: »Also, Professor Vogelstein ist heute im Kreuzgang der Kirche St. Maria im Kapitol ums Leben gekommen. Wir können einen gewaltsamen Tod nicht ausschließen und stellen deshalb einige Nachforschungen an.«

»In einer Kirche!« Streit lacht kurz und trocken auf.

»Das finden Sie lustig?«, frage ich, obwohl sein Lachen eher abwertend als amüsiert geklungen hat.

»Vogelstein interessieren Kirchen nur in Trümmern und dann auch nur marginal.« Dann plötzlich scheint ihm erst bewusst zu werden, was unsere Aussage bedeutet. »Er ist tot?« Das Lachen ist völlig aus seiner Stimme verschwunden. »Wirklich tot? Wie tragisch!« Und nach einer Pause fügt er wie zu sich selbst hinzu: »Schon wieder einer.«

»Einer was?« Ursulas Frage kommt so schnell, dass Streit überhaupt keine Zeit zum Nachdenken findet.

»Na ja, wieder ein Todesfall. Zuerst Luise, dann Jenni und jetzt der Professor …« Sein Blick schweift über die Aktenschränke an den Wänden und bleibt schließlich an unseren ahnungslosen Gesichtern hängen. »In den letzten Tagen ist zuerst unsere Institutssekretärin Luise Hagemann, dann eine unserer Doktorandinnen, Jennifer Klein, zu Tode gekommen – und jetzt Vogelstein. Das sind schon ziemlich viele, finden Sie nicht?«

DIENSTAG, 8:38 UHR

»Das sind aber ziemlich viele, oder?« Missbilligend lässt der Rechtsmediziner den Blick seiner hellen Augen über uns hinwegschweifen, die wir relativ eng gedrängt um den Seziertisch herumstehen. Während ich seinem Blick über die gekachelten Wände und den sterilen Fußboden folge, ziehe ich fröstelnd die Schultern hoch.

»Sie ham doch gesagt, es is besser, wenn aus jeder Gruppe einer kommt.« Lars Pawlowski, der Leiter der anderen – Heiwi sagt auch gerne gegnerischen – Gruppe in der Mordkommission, lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht bereit ist, diese oder überhaupt irgendeine Kritik auf sich sitzen zu lassen. Er wirft seine blond gewellten Haare leicht nach hinten und verschränkt die braun gebrannten Arme vor der Brust, die sich deutlich unter dem etwas stramm sitzenden T-Shirt abzeichnet.

Dr. Freude lässt sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen: »Ja, aber jeweils ein Vertreter hätte auch gereicht, oder?«

Da hat er nicht so ganz unrecht, wobei ich es vorziehe, mich in die Auseinandersetzung nicht einzumischen. Wir gehen immer überall mindestens zu zweit hin, sodass es für mich völlig selbstverständlich gewesen ist, einen meiner Kollegen mitzunehmen. Da Heiwi mal wieder in den Gängen des Präsidiums verschwunden war, wahrscheinlich um den neuesten Flurfunk auszutauschen, fiel meine Wahl auf Matthias. Ursula steht heute den ganzen Tag nicht zur Verfügung, da sie in der Schule ihrer Kinder im Einsatz ist.

»Laterne basteln?«, hatte ich gestern sehr unwillig auf die Ankündigung meiner Kollegin reagiert. »Wo gibt’s denn so was noch?«

»Basteln ist immer noch besser als Plätzchen backen, und ich muss mich auch mal bei solchen Sachen sehen lassen«, kam die ebenfalls unwillige Erklärung von Ursula, bevor sie aus meinem Auto Richtung Bahnhof hechtete, um ihren Zug nicht zu verpassen.

Jetzt stehen also Matthias und ich hier im kalten Sezierraum unseren Kollegen von Gruppe zwei gegenüber, denn offensichtlich hat auch Lars die Mitnahme eines weiteren Gruppenangehörigen für selbstverständlich oder sinnvoll gehalten. Neben ihm auf der anderen Seite der Stahlpritsche steht sein Partner Joe, der beim Hereinkommen im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten wenigstens freundlich gegrüßt hat.

»Ich hoffe, wir können das hier trotz des Massenansturms zügig durchziehen, schließlich haben wir alle heute noch etwas anderes zu tun.« Dr. Freude schaut erst zu unserer Seite, wobei er seinen Blick etwas nach oben wenden muss. Zwar bin ich nur wenig größer als er, aber Matthias überragt uns alle um einen guten Kopf. Dann nickt er kurz den beiden Kollegen gegenüber zu, streicht sich über seine sehr hohe Stirn und dreht sich zur Leiche vor ihm.

Die sterblichen Überreste von Professor Vogelstein sind durch ein weißes Tuch verhüllt, aber mir fällt es schwer, meine Augen ebenfalls in diese Richtung zu wenden. Ich weiß nicht, warum, aber sobald jemand auf dem Seziertisch liegt, habe ich mit dem leblosen Körper ein Problem. Am Tatort ist die Leiche für mich nur ein Arbeitsobjekt, doch jetzt, verborgen unter dem Tuch, wird sie wieder zu dem, was sie ist – oder war –, ein Mensch wie ich.

»Hoffentlich bin ich nicht zu spät.« Etwas abgehetzt stürmt Bernbacher durch die Tür und das Halbdunkel des großen Raums in den Schein der Lampe, die den bedeckten Körper in unserer Mitte in einen Lichtkegel taucht. Mit dem Kommissariatsleiter hat hier, den Blicken nach zu urteilen, offensichtlich keiner gerechnet. Geübt sichert er sich einen Platz direkt am Seziertisch, indem er mich einfach etwas zur Seite schiebt.

»Herr Dr. Freude, ich wollte Sie nicht unterbrechen.« Mit einer Geste fordert Bernbacher den Rechtsmediziner auf, fortzufahren, während er mit der anderen Hand den Knoten seiner perfekt sitzenden Krawatte kontrolliert, die für sein schmales Gesicht etwas zu groß geratene Brille zurechtschiebt und kurz überprüft, ob seine im Nacken etwas zu langen grauen Haare noch ordentlich liegen.

»Wie Sie alle wissen, haben wir uns heute in so großer Runde«, die letzten Worte betont Freude besonders, »hier versammelt, da der Tod von Nummer zweiundsiebzig«, er deutet auf den Körper vor sich, »gewisse Fragen aufwirft.«

Er holt kurz Luft und schiebt das Laken ein wenig zurück, sodass man das Gesicht Professor Vogelsteins sehen kann, das im Tod fast schon so bleich geworden ist wie die dichten weißen Haare, die es umgeben. Ich wende mich ab und betrachte das Bild an der Wand gegenüber, das mit der Darstellung des Doms in grell bunten Farben einen heiteren Gegensatz zu dem ansonsten eher öden Raum darstellt.

Dass Dr. Freude eine Pause eingelegt hat, rächt sich umgehend, denn sofort fällt ihm Bernbacher ins Wort: »Ich möchte Sie ja nicht unterbrechen, aber …«

Oh nein, ich hasse solche Plattitüden, die inhaltlich der Aktion der sie äußernden Person völlig widersprechen – »ich will ja nichts sagen, aber …«, »ich möchte dich nicht kritisieren, aber …«. Außerdem bin ich inzwischen lange genug in diesem Präsidium, um zu wissen, was jetzt kommt.

»… aber ich möchte kurz ein paar einleitende Worte sagen, um uns alle auf den Stand der Dinge zu bringen.«

Warum? Alle Beteiligten kennen den Sachstand, und »kurz« ist für Bernbacher sowieso ein Fremdwort. Warum sagt denn keiner etwas?

»Entschuldigung, Herr Bernbacher, aber ich denke, die hier Versammelten wissen Bescheid.« Alle schauen zu Matthias, der sich zu seiner ganzen Größe aufgerichtet hat, sodass sein Kopf schon oberhalb des Lampenlichts im Schatten liegt und seine kastanienfarbenen Haare und hellbraunen Augen fast schwarz wirken. In meinen und Freudes Blicken liegt dabei Dankbarkeit, während sich in Lars’ hellen Augen Unverständnis und in den dunklen von Joe Belustigung spiegelt.

»Ja natürlich, Herr Brinkmann, da bin ich ganz bei Ihnen, ich möchte ja auch nicht viel sagen, aber …« Gut, mehr kann man nicht tun. Matthias hat es heldenhaft versucht, jetzt hilft nur noch abwarten.

»Ich finde es unheimlich wichtig, dass durch die Anwesenheit zweier Gruppen eindrucksvoll demonstriert wird, dass Kooperation in unserem Präsidium nicht nur großgeschrieben, sondern auch gelebt wird. Als Dr. Freude heute Morgen anrief, um seine sensationellen Ergebnisse – keine Angst, Dr. Freude, ich nehme hier nichts vorweg – anzukündigen, habe ich direkt entschieden, dass die Leiter beider beteiligten Gruppen informiert werden, Herr Pawlowski«, er bedenkt Lars mit einem kurzen Nicken, »und Frau Hohmann, die leider hier durch Frau Heller vertreten wird …«

Ich atme tief ein. Was heißt denn jetzt bitte »leider«? Hätte er lieber Ursula hier gehabt, mit der er doch sowieso nur im Dauerstreit liegt? Eigentlich sollte er dankbar sein. Und warum muss er noch einmal herausstellen, dass er nur mit den Leitern der Gruppen kommuniziert, sein Hang zu hierarchischem Denken ist uns schließlich zur Genüge bekannt. Man sollte ihm wirklich mal 

»Frau Heller?« Alle Augen sind auf mich gerichtet, und besonders Bernbacher sieht mich auffordernd an. Ich komme mir vor wie früher im Biologieunterricht, wenn ich dem recht eintönigen Vortrag unseres Lehrers über so spannende Themen wie das Verdauungssystem der Kühe durch Tagträume entflohen bin. Aus denen haben mich unerwartete Nachfragen leider hie und da gewaltsam herausgerissen, und auf diese wusste ich damals genauso wenig eine Antwort, wie ich jetzt weiß, wovon die Rede ist.

Doch wie ich früher meistens einen netten Banknachbarn hatte, habe ich jetzt Matthias, der – so mein Eindruck – die Frage von Bernbacher einfach wiederholt: »Die Auffindesituation von Professor Vogelstein, du warst doch mit Ursula am Tatort, oder?«

Wie ist Bernbacher denn jetzt so schnell von den hierarchischen Strukturen unseres Präsidiums zum Mord an dem Professor gekommen? Egal. »Der Tote«, ich mache eine recht vage Handbewegung zum weißen Laken vor mir, »lag im Hof des Kreuzgangs der Kirche St. Maria im Kapitol. Offensichtlich war er vorher über das Geländer des Laubengangs im zweiten Stock gefallen.«

»Was heißt’n offensichtlich?« Obwohl die Frage an mich gerichtet ist, schaut Lars dabei Bernbacher an, ganz klar um Schleimpunkte bemüht.

»Eine gute Frage.« Da springt unser Kommissariatsleiter natürlich direkt drauf an. »Wie genau sind Sie zu Ihrer Auffassung gekommen? Sie wissen ja, die Auffindesituation kann täuschen. Ich habe darüber erst vor wenigen Wochen einen Vortrag in –«

Glücklicherweise habe nicht nur ich inzwischen die Geduld verloren, sondern auch Dr. Freude. »Herr Bernbacher, das ist wirklich sehr interessant«, die Ironie in seiner Stimme ist gegenüber dem Kommissariatsleiter allerdings völlig verschwendet, »aber ich habe eine schlaflose Nacht hinter mir und einen arbeitsreichen Tag vor mir, deshalb würde ich jetzt gerne tatsächlich zur Sache kommen.«

So, der Halbgott in Weiß hat gesprochen, oder besser der Halbgott in Grasgrün, also wenn das Gras von der Kuh schon mal vorverdaut worden ist – wie komme ich jetzt nur auf diesen komischen Vergleich?

»Dieser Mann«, fährt der Halbgott inzwischen fort, während er zentimeterweise das weiße Tuch nach unten zieht, wodurch immer mehr von dem Toten auf dem Tisch sichtbar wird, »ist nicht durch einen Sturz gestorben. Zwar weist er zahlreiche Brüche und weitere Verletzungen, unter anderem am Kopf, auf, die sturzbedingt hervorgerufen worden sein können. Aber nach meiner ersten Einschätzung war keine davon tödlich. Glücklicherweise profitiert unser Institut zurzeit von einem DFG-Projekt, das es uns finanziell erlaubt, hie und da bei ungeklärten Todesfällen auch CT- und MRT-Untersuchungen durchzuführen. Das haben wir gestern Abend bei Nummer zweiundsiebzig getan. Das Ergebnis: Der Sturz hat tatsächlich zu keiner tödlichen Verletzung geführt. Also haben wir uns die Nacht um die Ohren geschlagen, um die wahre TU zu finden. Und wir hatten Erfolg. Es war SUX

»Wie bitte?« Ich lege direkt die Hand auf meinen Mund, aber meine Frage ist schon herausgerutscht. Alle Augen sind auf mich gerichtet, weshalb ich mit leiser Stimme hinzufüge: »Die Abkürzungen habe ich nicht alle verstanden. Was bedeuten denn SUX und DFG

Lars verdreht nicht nur die Augen, sondern lässt auch ein Schnauben hören, woraufhin Matthias mit einem bösen Lächeln vorschlägt: »Das kann uns wohl am besten Lars erklären.«

Wie beim Tennis wenden sich jetzt alle Blicke Lars zu, der nur einen Augenblick zögert: »DFG ist die Deutsche Forensische Genossenschaft.« Vielleicht wäre er bei uns Kommissaren damit noch durchgekommen, aber natürlich nicht beim Hausherrn.

»DFG bedeutet Deutsche Forschungsgemeinschaft.« Dr. Freudes Stimme ist ausdruckslos. »Und bevor noch weitere fachmännische Antworten kommen: TU steht für Todesursache, und SUX ist die Abkürzung für Succinylcholin, ein Stoff, der zur Anästhesie eingesetzt wird und bei zu hoher Dosierung zu Herz-Kreislauf-Versagen oder Atemstillstand führen kann. Im Blut ist es nur sehr kurz nachweisbar, aber im Urin –«

»Schön, schön!« Bernbacher steckt sein Handy, auf dem er in der erzwungenen Redepause herumgetippt hat, wieder in die Jackettasche. »Ihr Untersuchungserfolg in allen Ehren, aber das ist doch nicht der Grund dafür, dass Sie uns hier alle haben antanzen lassen.«

»Das SUX ist durch einen kleinen Schnitt in den Handrücken injiziert worden.« Dr. Freude entblößt die Hand des Toten, um uns die kleine Wunde zu zeigen. »Dabei ist mir eingefallen, dass ich genau so einen Schnitt vor drei Tagen schon einmal auf einem Handrücken gesehen habe, ohne dass das damals einen Sinn ergab, denn die Tote war fraglos ertrunken. Der Fall ist von Herrn Pawlowski bearbeitet worden, weshalb ich seine Gruppe heute ebenfalls herbestellt habe.«

Von einem kleinen Tischchen hinter sich nimmt er eine Akte. Wie gebannt starre ich auf den Namen auf der Vorderseite: »Jennifer Klein.«

DIENSTAG, 11:31 UHR

»Wer ist denn Jennifer Klein?«

Ursulas Frage irritiert mich. Sonst ist doch immer sie es, die alle Namen, Daten und Fakten parat hat. Vielleicht hat ihre verminderte Konzentrationsfähigkeit etwas mit dem Lärm in ihrer Umgebung zu tun, an dem ich durchs Telefon noch sehr gut teilhaben kann.

»Jennifer Klein ist die Doktorandin von Professor Vogelstein, also die, die vor einigen Tagen ebenfalls ums Leben gekommen ist.«

»Und wie? Von einer Mordermittlung habe ich nichts mitbekommen.«

»War es auch nicht. Zwar ist Gruppe zwei mit der Untersuchung beauftragt worden, hat die Nachforschungen aber eingestellt. Lars und Co. sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Frau Klein bei dem Versuch, ein Kind aus dem Rhein zu retten, selbst darin ertrunken ist.«

»Das kann doch sein, oder?«

»Im Prinzip kann das sein, natürlich. Aber nach intensivem Studium der Akten …« Kurz lege ich eine Pause ein und überlege, ob ich diesen Punkt noch mehr herausheben sollte. Immerhin habe ich mir fast zwei Stunden mit dem stupiden Papierkram um die Ohren geschlagen. Aber ich habe so ein Gefühl, im Moment schlechte Chancen auf ein Lob von Ursula zu haben. Also fahre ich einfach fort. »… habe ich zwei interessante Fakten herausgefiltert: Erstens gibt es – zum Glück – keinerlei Hinweise darauf, dass tatsächlich ein Kind in den Rhein gefallen wäre. Es ist keins angespült worden, und es wird keins vermisst. Zum anderen hat keiner der befragten Zeugen den Sprung von Frau Klein in den Rhein wirklich gesehen. Also, sie berufen sich teilweise auf Angaben eines weiteren Zeugen, dessen Aussage aber fehlt, oder sprechen nur von einem im Rhein treibenden Menschen.«

»Und wann kommt jetzt Dr. Freudes Entdeckung ins Spiel?« Man merkt Ursulas Stimme die Mühe an, die es sie kostet, meinen Ausführungen zu folgen. Inzwischen ist es bei ihr im Hintergrund allerdings etwas leiser geworden.

»Wo bist du hingegangen?«, frage ich deshalb wirklich interessiert.

»Ich sitze auf der Schultoilette und halte mit dem einen Fuß die Tür zu, die leider keine Schließvorrichtung hat. Übrigens eine Toilette in Miniaturformat. Ein gut gewachsener Viertklässler dürfte hier schon Probleme bekommen.« Ihrem Ton entnehme ich ein halbes Lächeln, bevor die knappe Aufforderung kommt: »Zurück zu Dr. Freude.«

»Dr. Freude konnte also, wie er uns heute Morgen in unserer Seziertischrunde sehr stolz verkündet hat, nachweisen, dass Professor Vogelstein an einer SUX-Vergiftung gestorben ist. Das Gift ist ihm durch eine Injektion in den Handrücken verabreicht worden. Umgehend und aufgrund seines – nach eigener Aussage – genialen Gedächtnisses ist Dr. Freude dabei eingefallen, dass er so eine Injektionswunde wie auf dem Handrücken des Opfers Vogelstein kurz vorher auf einem anderen Leichenhandrücken gesehen hatte. Ein kurzes Stöbern in den Tiefen des Computers führte ihn zu dem konservierten Urin der Leiche von Jennifer Klein. In diesem konnte Dr. Freude ebenfalls SUX – oder besser dessen Wandlungsprodukte – nachweisen.«

Ich mache eine Pause, aber von der anderen Seite der Leitung kommt keine Reaktion, nur leises Gemurmel, das in dem lauten Schrei »Ich muss aber jetzt!« endet. Nach einigem Hin und Her und Türklappern dringt wieder Ursulas Stimme an mein Ohr.

»Nichts gegen Freude, aber soweit ich weiß, ist ein eindeutiger Nachweis einer SUX-Vergiftung kaum möglich. Und ein Zusammenhang doch recht weit hergeholt, oder?« Im Hintergrund höre ich dabei die Schritte meiner Kollegin in einem Flur hallen. Offensichtlich sucht sie nach einem neuen stillen Örtchen zum Telefonieren.

»Na ja, immerhin hat der Zusammenhang für Bernbacher gereicht, uns den Fall Jennifer Klein ebenfalls zu übertragen.«

»Was?« Ursulas Schrei ist so laut, dass ich erschreckt den Hörer vom Ohr nehme. »Er hat den Fall tatsächlich Lars und Konsorten entzogen? Wie hast du das denn erreicht?«

In ihrer Stimme meine ich leichte Bewunderung zu hören, weshalb ich krampfhaft überlege, welche möglichst positiv klingende Antwort ich ihr geben kann. Einfach die Wahrheit zu sagen, dass Bernbacher nur kurz vom Handy aufblickend mit einer vagen Handbewegung und einem »Dann machen Sie das jetzt eben mit« die Zuständigkeit entschieden hat, klingt mir rückblickend einfach zu banal.

»Offensichtlich hatte ich die besseren Argumente«, erkläre ich also recht oberflächlich ins Telefon und erwarte umgehende Nachfragen von Ursula.

Doch stattdessen höre ich nur eine Kinderstimme über den Flur rufen: »Mama, kommst du endlich wieder?« Und meine Kollegin, die mit einer mir unbekannten Stimme »Gleich, Maus!« antwortet.

Wieder an mich gerichtet, folgt die knappe Anweisung: »Gut, der Mordfall Jennifer Klein bleibt natürlich bei uns, aber wir sollten ergebnisoffen an beide Fälle herangehen. Wie macht ihr weiter?«

»Wie erwähnt schauen wir uns gerade noch einmal die Akte über Jennifer Klein an. Während du dich beim Basteln vergnügst.«

»Welche von uns das größere Vergnügen hat, lasse ich mal dahingestellt.« Und angesichts der Lautstärke, die kurz darauf erneut durchs Telefon schallt, bin ich mir tatsächlich nicht ganz sicher.

DIENSTAG, 16:03 UHR

»Also wirklich! Ich schneide mich andauernd an den Händen – mit einer Papierseite, beim Kochen, beim Dosenöffnen. Das ist doch nichts Ungewöhnliches.«

Heiwi klingt etwas quengelig. Wahrscheinlich passt es ihm nicht, dass ich ihn genötigt habe, mit mir zu dieser Befragung zu fahren. Aber da er sich schon vor dem Ausflug in die Rechtsmedizin gedrückt hat und Matthias dringend nach Hause wollte, blieb uns beiden nichts anderes übrig.

Obwohl auch mir für Matthias’ Eile ein wenig das Verständnis fehlt. Gut, er will mit seinem Mann noch nach irgendwelchen Möbeln schauen, aber muss das unbedingt heute sein?

»Aber dann schneidet man sich doch eher auf der Handinnenseite, oder? Nicht auf der Rückseite, ich zumindest«, entgegne ich Heiwi jetzt ebenfalls etwas patzig.

Mich zieht es im Moment allerdings nicht wirklich nach Hause, wo ich meine Zeit wahrscheinlich wieder damit verbringen würde, um Telefon und Handy zu schleichen, um alternierend darüber nachzudenken, warum Cristian nicht anruft oder ob ich ihn anrufen sollte.

»Auf jeden Fall müssen wir nach den Ergebnissen von Dr. Freude von einem Zusammenhang ausgehen – oder ihn zumindest in Betracht ziehen.« Diese Einschränkung erscheint mir nach der Reaktion von Ursula notwendig. »Also, die Ader auf dem Handrücken, in die der Schnitt bei beiden ging, wird auch gerne im Krankenhaus für Infusionen genutzt.« Ich nehme kurz meine rechte Hand vom Lenkrad, um sie Heiwi unter die Nase zu halten.

»Mmh, mein Engel, welche Handcreme benutzt du?«

»Äh, keine Ahnung. Diese hier hat irgendjemand auf der Damentoilette deponiert, und ich war so frei und habe mir etwas davon genommen.«

»Dreimal darfst du raten, wem die gehört!«

»Woher weißt du das denn, du gehst doch nicht bei uns aufs Klo, oder etwa doch?« Zutrauen würde ich das meinem Kollegen durchaus.

»Nein, natürlich nicht. Aber man erfährt ja immer so einiges, also rate!«

»Ursula?«

»Nein, die hat eine Handcreme in ihrer Schreibtischschublade.«

Und das weiß Heiwi woher? Ich frage mal lieber nicht nach. »Xenia?« Unsere Gruppenassistentin, so die Bezeichnung, auf die wir uns mit ihr geeinigt haben, da Sekretärin ihr nicht passte und heutzutage auch kaum noch gebraucht wird, ist auch die Schönheitsbeauftragte in unserem Team.

»Nein, die ist noch so jung, die braucht keine Handcreme.«

Vielen Dank, das war indirekt nicht unbedingt ein Kompliment für mich. »Jetzt sag schon!«

»Frau Gänsewein!«

Oh, dann werde ich die wohl in Zukunft nicht mehr benutzen. Die Sekretärin der Gruppe zwei wirkt auf mich immer ein bisschen furchteinflößend – übrigens sogar auf Lars, der sich als Leiter der Gruppe ansonsten von nichts und niemandem etwas sagen lässt. Die Schleimerei bei Bernbacher lasse ich jetzt mal außen vor, da die ganz sicher anderen Motiven entspringt.

Glücklicherweise wird im Moment kein Kommentar von mir erwartet, da ich mich auf die Straße konzentrieren muss. Die Überquerung des Barbarossaplatzes fordert bei mir immer höchste Aufmerksamkeit, denn obwohl der nicht mehr ganz neu für mich ist, finde ich die Spurenführung überaus verwirrend.

»Vielleicht könntest du mir kurz eure Nachforschungen zum Opfer Vogelstein zusammenfassen«, schlage ich vor, nachdem ich sicher auf der Luxemburger Straße gelandet bin und Richtung Sülz fahre.

»Dachte schon, du würdest nie fragen.« Heiwi holt begeistert Luft. Warum muss er sich immer bitten lassen? »Der Herr Professor hatte im Prinzip niemanden: keine Familie, keine Freunde, keine Feinde.«

Ich schaue meinen Kollegen verwundert an, um mich dann aber wieder schnell der Straße zuzuwenden. Auf der rechten Spur muss man jederzeit mit einem parkenden Wagen rechnen.

Heiwi reicht dieser Blick aber schon aus, ihm selbst dürfte wohl auch klar sein, dass mir seine Ausführungen nicht genügen.

»Keine Familie heißt: nicht verheiratet, keine Kinder, Eltern und Geschwister, er hatte einen Bruder, der ist tot. Keine Freunde ist natürlich eine Interpretation, da wir in seinem Adressbuch, auf seinem Computer, den uns die Spurensicherung aus seiner Wohnung gebracht hat, sowie auf seinem Handy keine privaten Nummern gefunden haben. Dafür Tausende« – typische Heiwi-Übertreibung – »Einträge beruflicher Natur, denn alle haben irgendwas mit Archäologie zu tun. Das mit den Feinden ist auch eher eine Vermutung. Tatsächlich hatte er beruflich wirklich mal ein paar. Vor Jahrzehnten war er in den sogenannten Archäologen-Streit über die richtige – oder eben auch falsche – Rekonstruktion von Bauten des antiken Olympia verwickelt. Im Internet habe ich mir ein Filmchen einer damaligen Fernsehdiskussion angesehen. Meine Güte, man glaubt nicht, was die Herren sich da an den Kopf geworfen haben. Aber das ist eben schon lange her und die Beteiligten in Rente, schwer krank oder auch schon tot.«

»Hm.« Kurz muss ich darauf achten, links in die richtige Straße einzubiegen. »Und was ist mit möglichen Erben?«

»Auch Fehlanzeige. Von seinem Tod profitiert eigentlich nur Vater Staat, weil er die recht üppige Pension nicht mehr zahlen muss. Der Herr Professor hat nämlich sein ganz nettes Vermögen schon vor Jahren einer Stiftung übertragen, die Jugendprojekte – übrigens auch unsere Jugendlichen-Wohngemeinschaft neben St. Maria im Kapitol – unterstützt. Alle seine Überschüsse gingen da hinein. Außerdem hat er zusätzlich nicht unbeträchtliche Beträge bei Firmen eingeworben. Er selbst war Stiftungsvorsitzender und für die Verwaltung des Geldes zuständig.«

»Also gibt es eigentlich kein Motiv, Vogelstein zu töten?«

»Na ja, etwas Interessantes gibt es schon.« Typisch Heiwi, mit den spannenden Details bis zum Schluss zu warten – und dann auch noch eine Kunstpause einzulegen. »Ihr habt ja schon die vielen weiblichen Vornamen mit Handynummern in seinem Adressbuch gesehen. Ich habe einige davon erreicht, und was meinst du, was die alle sind? Studentinnen des Herrn Professor.«

»So, so, und warum hatte der ihre privaten Handynummern?«

»Angeblich, weil er so hilfsbereit war und für Rückfragen jederzeit zur Verfügung stand. Das haben mir die jungen Damen auf jeden Fall erzählt.«

»Und du glaubst das nicht?« Meine Frage ist eher rhetorisch, da Heiwis Zweifel sehr deutlich herauszuhören gewesen sind.

»Sagen wir mal, es gibt Unklarheiten: Erstens, warum hat der Professor dann die Nummern der Studentinnen gespeichert? Es hätte doch gereicht, wenn sie seine haben. Zweitens haben alle das Gleiche gesagt, fast schon mit denselben Worten. Das klingt nicht überzeugend.«

»Gibt es denn nichts Schriftliches zwischen dem Professor und den jungen Frauen?«

»Auf jeden Fall nichts, was auf dem Handy gespeichert ist: keine Mails, keine Nachrichten, keine anderen Texte, auch nicht über soziale Netzwerke. Aber Telefonate hat es gegeben, laut Verbindungsnachweis teilweise recht lang, und der Anrufer war auch öfters mal der Professor. Wir sollten das im Auge behalten.«

Ich nicke nur, da ich mich aufs Einparken konzentriere, um dann überflüssigerweise zu verkünden: »Wir sind da!« Tatsächlich habe ich nicht nur die Adresse ohne Probleme, sondern auch noch gleich einen passenden Parkplatz gefunden. Warum kann mir das nicht auch mal in Anwesenheit von Ursula gelingen?

Heiwi ist schon ausgestiegen, und gemeinsam gehen wir zu dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite der Königswinterstraße, wo wir uns telefonisch angekündigt haben. Auf unser Klingeln wird die Tür ohne Nachfragen aufgedrückt. Offensichtlich erwartet uns der Lebensgefährte von Jennifer Klein schon.

Der junge Mann in dem dunklen, langen Wohnungsflur nickt nur kurz, als wir ihm unsere Ausweise zeigen und unsere Namen nennen, murmelt etwas, aus dem ich »Sebastian« heraushöre, und winkt uns dann in eine große Wohnküche am Ende des Gangs.

»Wollen Sie auch einen Kaffee?« Er deutet auf eine dampfende Tasse auf dem Tisch in der Mitte des Raums. Da wir beide den Kopf schütteln, lässt er sich auf einen Stuhl plumpsen, und wir setzen uns ebenfalls. Der Blick unseres Gegenübers ist dabei fest auf seine Hände gerichtet, die die Kaffeetasse umschließen.

»Wohnen Sie hier alleine?«, versuche ich, durch eine unbefangene Eingangsfrage die Stimmung etwas aufzulockern.

»Wir sind zu viert in der WG.« Er stockt kurz. »Wir waren vier, jetzt sind wir nur noch drei.« Sein Mund verzieht sich schmerzhaft.

»Herr …« Ich habe vergessen, dass ich den Nachnamen des jungen Mannes gar nicht kenne, also noch einmal: »Sebastian, ich weiß, Sie haben schon mit unseren Kollegen gesprochen, aber wir haben noch ein paar Fragen zum Tod Ihrer Freundin. Jennifer Klein war doch Ihre Freundin?«

»Verlobte!« Er nickt.

Verlobte? Wusste gar nicht, dass man sich heutzutage überhaupt noch verlobt, vom Heiraten mal ganz abgesehen.

»Wir haben neue Erkenntnisse und gehen davon aus, dass der Tod Ihrer Verlobten kein Unfall war.« Ich halte kurz inne, aber der junge Mann regt sich nicht. »Außerdem könnte er mit dem Tod einer anderen Person zusammenhängen: Professor Vogelstein.« Noch immer keine Reaktion. »In welchem Verhältnis stand Frau Klein zu Herrn Vogelstein?«

Sebastian hebt zum ersten Mal den Kopf, schaut aber zwischen Heiwi und mir hindurch zur Tür, sodass ich mich unwillkürlich umwende. Aber dort ist nichts anderes zu sehen als die Dunkelheit des Flurs.

»Vogelstein war der Betreuer ihrer Doktorarbeit.«

»Privat hatte Ihre Verlobte keine Beziehung zu ihm?« Das klingt jetzt zweideutig, obwohl ich es gar nicht so gemeint habe. Wobei es angesichts der vielen Studentinnenkontakte des Professors vielleicht gar nicht so abwegig ist.

Die Frage scheint jedoch bei Sebastian gar nicht angekommen zu sein. Der starrt weiter auf seine inzwischen nicht mehr dampfende Tasse, macht aber keinerlei Anstalten, daraus zu trinken.

»Sie sind kein Archäologe?«

»Sehe ich so aus?«

Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich darauf antworten soll, wie sieht denn der typische Archäologe aus? Sebastian würde ich mit seinem langen, strähnigen aschblonden Pferdeschwanz und der langen, dünnen, etwas gebeugten Gestalt am ehesten bei den Mathematikern verorten. Nicht dass ich irgendwelche Vorurteile hätte.

»Ich bin Biologe.«