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Anja Mäderer wurde 1991 in Gunzenhausen, Mittelfranken, geboren. Über Kurzgeschichten kam sie zum Schreiben und erhielt mehrere Auszeichnungen für ihre Texte. Sie studierte in Würzburg Geschichte und Germanistik und arbeitete nebenbei als Tutorin an der Universität und als Deutschlehrerin für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Inzwischen ist sie verheiratet und in einer Flüchtlingsunterkunft in München tätig.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Bernard Jaubert/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-543-5

Franken Krimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

 

Für Sarah, Mareike, Dominik, Natalie, Tobi, Markus,
Bettina, Caspar, Klaus, Nicolas, Oliver und Fabi,
ohne die es dieses Buch nie gegeben hätte.
Und für Helmut, der jetzt über Wolken joggt.

 

Angie, Angie, when will those clouds all disappear?
Oh Angie, don’t you weep, all your kisses still taste sweet.
I hate that sadness in your eyes.
But Angie, Angie, ain’t it good to be alive?
They can’t say we never tried.

Rolling Stones

Die Vogelsburg, unweit Volkach auf einer beträchtlichen
Anhöhe gelegen und auf zwei Seiten vom Maine umströmt,
gewährt eine der schönsten Fernsichten in Franken auf eine
reizende, von dem mannigfaltigsten Wechsel von Wiesen,
Wäldern, Weinbergen und Feldern unterbrochene Gegend.

Aus: »Erinnerung an die Vogelsburg«, 1844

1
MAN MUSS DA DURCH. MAN WEISS NUR NICHT, WO.

Wills Tagebuch

Auf der Vogelsburg angekommen. Küchenchef bemüht, Patienten seltsam, Wetter schrecklich. Habe beschlossen, mich erst mal in meinem Zimmer zu verkriechen und mich an die neue Situation zu gewöhnen. In kleinen Schritten (in gaaaanz kleinen).

Erstgespräch mit meinem Bezugstherapeuten, einem gewissen Herrn L. Brunner (Lukas? Lorenz? Leopold?), verlief anständig. Er hat mir geraten, Tagebuch zu führen, damit ich meine eigenen Fortschritte klarer wahrnehme. Fortschritte, ha!

Ansonsten scheint er aber okay zu sein. Bart, dem man ansieht, dass er ihn schon trug, als er noch nicht in Mode war. Cordhosen. Brille mit Halbmondgläsern im Dumbledore-Style. Riecht nach Tabak. Er hat lange meine Hände angeschaut. Die kaputte Haut, die blutigen Stellen, die Narben vom Waschen. Seine Stimme war ganz sanft. »Ich bin froh, dass Sie jetzt hier sind.«

Das war nett von ihm, also führe ich jetzt eben dieses blöde Tagebuch.

Beim Kofferauspacken absurder Gedanke, dass von der Begrüßungsrose ein Blatt abgefallen und zwischen meine Wäsche gerutscht sein könnte, wo es anfangen würde zu schimmeln. Ich weiß, dass das unwahrscheinlich ist. Konnte mich von der Vorstellung aber nicht befreien. Habe alles fünfmal durchgeschaut, nichts gefunden. Ich versuche, mir einzureden, dass da wirklich nichts sein kann. Bin müde.

Für heute Ende im Gelände. Over and out.

Früher tauschte man Neuigkeiten beim gemeinsamen Gang zum Brunnen aus. Männer gratulierten sich bei der Jagd mit einem Grunzen zum siebzehnten Kind. Frauen bestickten Teppiche mit den neuesten Storys und schickten sie auf Kamelen um die halbe Welt.

Bei uns verbreiten sich Neuigkeiten am schnellsten im Speisesaal. Morgens, mittags und abends, wenn die Patienten alle zusammenkommen, sich um ihre jeweiligen Tische scharen, ihre Stühle zurechtrücken und anfangen, im Salat zu stochern. Dann wird nach der obligatorischen Frage nach dem Befinden und dem Stand der aktuellen Gruppen-, Einzel-, Kunst-, Sporttherapie der neueste Klatsch und Tratsch brühwarm zeitgleich mit der Suppe serviert. Und er wird ebenso gierig aufgesogen.

Alle Zwangspatienten sitzen gemeinsam an einem Tisch. Momentan sind wir zum Glück nicht viele, nur fünf. Ich mag Menschen nicht übermäßig. Vor allem keine verrückten. Und wir Zwängler kommen dem relativ nahe, was normale Menschen als verrückt empfinden. Trotzdem wären an diesem Tag sicherlich die meisten der anderen Depressiven, Essgestörten und Traumatisierten gern Teil unserer illustren Runde gewesen. Denn an diesem Tag erfuhren wir etwas, das den Klinikalltag vieler Patienten kurz darauf aus den normalen Bahnen warf. Wir waren die Ersten. Bei uns war die Neuigkeit sozusagen noch fangfrisch, blutig, körperwarm. Als die anderen davon erfuhren, war sie fast erkaltet. Und sie verbreitete einen Geruch. Den Geruch des Todes.

Als ich in den Speisesaal kam, waren die anderen bereits vollständig versammelt. Auch an meinem Platz stand schon ein Glas Wasser, ohne Kohlensäure und nicht zu kalt, wie ich es am liebsten mochte. Wahrscheinlich hatte Irmela es mir mitgebracht. Sie achtete auf solche Dinge, sorgte gern für andere. Als ich mich setzte, nachdem ich meinen Stuhl auf etwaige Krümel vom Frühstück kontrolliert hatte, lächelte sie mir zu.

»Hallo, Will.«

»Hallo.«

Ich lächelte zurück. Irmela hatte sich lange schwergetan, zu akzeptieren, dass ich nicht mit meinem vollen Namen angesprochen werden wollte. Sie fand Willibald ebenso hübsch, wie ich ihn scheußlich fand. Wenn sie jetzt die Kurzform benutzte, musste ich das zumindest mit einem Lächeln honorieren. Positive Verstärkung erleichtert einen Lernvorgang. Wenn man lange genug in Therapie ist, lernt man so etwas.

Die Serviererin kam vorbei und bot mir einen Teller Suppe an, den ich ablehnte. Ich aß meist gleich den Hauptgang, heute marokkanische Hackbällchen auf Bulgur. Dabei beobachtete ich Irmela, die eine Serviette über ihre große Oberweite gebreitet hatte, um nichts auf ihre Bluse zu verkleckern. Mit ihrer grauen dauergewellten Kurzhaarfrisur und den altmodischen Clips-Ohrringen sah sie meiner Oma ähnlich. Allerdings verhielt sie sich ganz anders als die mir Anverwandte. Eine herzensgute Seele nannten es die einen, zwanghaftes Harmoniestreben die anderen, meist therapeutisch geschulten Menschen.

Holger, der neben mir saß, war immer noch bei der Vorspeise, obwohl er jedes Mal der Erste im Speisesaal war. Er kaute jeden Bissen gewissenhaft fünfzehnmal, bevor er ihn hinunterschluckte. Angeblich bekam er sonst Bauchkrämpfe, oder – mit noch größerer Angst behaftet – er konnte sich verschlucken. Es war mir ein Rätsel, wie er es trotz dieses Esstempos geschafft hatte, sich ein beträchtliches Übergewicht zuzulegen.

»Na, freut ihr euch auf die Gruppentherapie heute?« Irmela war es ein Bedürfnis, dass alle gern Zeit miteinander verbrachten. Leider reichte ihr ein stummes Nicken nur selten. »Warum sagt denn keiner was? Habt ihr schlechte Laune?«

»Nein«, sagte ich.

»Nein, du hast keine schlechte Laune, oder nein, du freust dich nicht?«

Irmelas Therapeutin hatte ihr geraten, auf präzise Antworten zu bestehen. Damit sollten Missverständnisse vermieden werden. Bei unserer Tischrunde führte es mittlerweile aber nur noch zu genervtem Augenrollen. Nur ich war mal wieder zu gut erzogen, um die Antwort zu verweigern.

»Das Nein bezog sich auf beide Fragen. Aber bevor du fragst: Nein, du kannst nichts daran ändern, dass ich mich nicht auf die Gruppe freue, denn es liegt nicht an dir, sondern daran, dass ich erklärter Misanthrop bin.«

Holger blickte von seinem Teller auf. Er war mittlerweile zu Gemüseauflauf übergegangen. »Ein was?«

Anne seufzte. Sie hatte ihre schwarz gefärbten Haare zu einem Dutt hochgesteckt und sah mit ihrer kantigen Brille nun aus wie eine strenge Oberlehrerin. »Will hält sich für einen Menschenhasser.«

Holger gluckste. Sein Lachen klang immer wie das eines kleinen Kindes. »Hat das dein Selbstbeobachtungsbogen diese Wochen ergeben, Will?«

Ich starrte ihn an. »Da ist ein Fleck auf deinem Hemd.«

»Was?«

»Ein Fleck!«

Holger blickte an sich hinab. Seine Augen weiteten sich erschreckt, als er bemerkte, dass es sich um einen Klecks Tomatensuppe handelte.

»Ich habe Suppe über mich verschüttet! Bestimmt habe ich mich verbrannt!« Panisch knöpfte er sein Hemd ein Stück auf, sodass wir alle einen Teil seines weißen behaarten Oberkörpers sehen konnten. Er untersuchte die Stelle. »Da ist es doch rot, oder? Ist das eine Verbrennung?«

»Nein, das ist keine Verbrennung.«

»Doch!«

»Nein!«

»Bitte nicht streiten!«

Irmela blickte beunruhigt von einem zum anderen. Ihre Schultern waren so verspannt, dass sie nachmittags wahrscheinlich wieder einen Termin bei der Physiotherapeutin ausmachen musste.

Holger klang ängstlich. »Aber ich habe heiße Suppe auf meine Haut geschüttet. Davon bekommt man Verbrennungen. Ich glaube, es tut auch weh.«

Anne mischte sich ein. Sie besaß – für eine Frau ja bekanntermaßen ungewöhnlich – einen analytisch arbeitenden Verstand und konnte Holgers hypochondrische Zwangsgedanken am ehesten in ruhigere Bahnen lenken. »Erstens hast du gar nicht selbst gemerkt, dass du Suppe verschüttet hast. Es kann also gar nicht wehgetan haben. Und zweitens ist die Haut höchstens deshalb etwas rot, weil es sich um Tomatensuppe handelt. Rote Suppe hinterlässt rote Spuren, klar?«

»Bist du sicher?« Holger wirkte nicht zur Gänze überzeugt. Unschlüssig betrachtete er seine Brust.

»Ich bin sicher. Geh nach dem Essen doch einfach auf dein Zimmer und wasch es ab. Dann wirst du es schon sehen.«

»… und wasch das Hemd bitte auch gleich mit«, warf ich ein. »Wenn der Fleck überhaupt noch mal rausgeht. So was ist hartnäckig.«

Düster musterte ich meinen Joghurt mit Kirschkompott. Der Gedanke, etwas davon könnte auf mein T-Shirt tropfen, machte mich nervös. Hastig überprüfte ich, ob in meiner Nähe alles sauber war. Vielleicht sollte ich lieber gar nicht mehr weiteressen, nicht dass noch was passierte.

Irmela unterbrach meine Grübelei. »Vor lauter Suppenstreiterei hätte ich fast vergessen, was ich euch Spannendes erzählen wollte …«

Sie legte eine Pause ein. Da Holger immer noch seine Haut untersuchte und ich mich auf den Nachtisch konzentrierte, sagte niemand etwas dazu. Nur Anne, die schon fertig gegessen hatte und zu ihrem Strickzeug gegriffen hatte, betrachtete Irmela neugierig über den Rand ihrer Brille hinweg.

»Ich habe heute gesehen, wie sie eine Wasserleiche aus dem Altmain gezogen haben.«

Diese Nachricht war ungewöhnlich genug, um uns alle von unseren jeweiligen Beschäftigungen abzulenken. Auch Mäuschen, die Holger bislang atemlos beobachtet hatte, blickte auf und gab ein erschrecktes Geräusch von sich. Sie war die Jüngste in unserer Runde. Laute Geräusche machten ihr Angst. Schnelle Bewegungen ebenfalls. Viele Menschen, große Plätze und enge Räume sowieso. Mäuschen hatte sogar Angst vor der Angst. Ihren Spitznamen hatte sie trotzdem eher wegen ihres Aussehens erhalten. Sie war klein und mager, mit unglaublich spitzen Ellbogen, die sich förmlich durch ihre graubräunlich-beigefarbenen Pullis zu bohren schienen. Ihr richtiger Name war in Vergessenheit geraten, vielleicht hatte sie sich auch nie getraut, ihn uns zu verraten. Selbst die Therapeuten sprachen sie immer nur mit »Sie, Frau …« an, um dann verlegen abzubrechen, in ihren Unterlagen zu wühlen und den Satz schließlich ohne konkrete Namensnennung zu beenden.

»Eine richtige Leiche?«

Ich versuchte, mir einen Körper vorzustellen, der längere Zeit im Wasser gelegen hatte. Vermutlich war er aufgequollen und bleich. Irgendwie glitschig. Und vielleicht hatten die Fische daran genagt. Das war entschieden widerlich.

»Was hast du denn unten am Main gemacht?«, fragte Anne.

»Ich sollte die Leute beobachten und Konflikte provozieren.«

Irmela seufzte. Sie war gerade im Flooding, einer Therapieform, bei der der Patient auf verschiedenste Art und Weise mit seinen Ängsten konfrontiert wird. Herr Brunner hatte mir bereits angekündigt, dass ich nächste Woche einen ganzen Tag lang mit einem Zahnpastafleck im Gesicht herumlaufen durfte. Mir graute schon jetzt davor. Allerdings musste ich zugeben, dass Irmelas Wasserleiche doch noch eine Spur beängstigender war.

»Ich musste jemanden anrempeln, im Café mein Wasserglas umschütten und dann kein Trinkgeld geben. Solche Sachen eben. Frau Hempel hat mir eine ganze Liste gegeben, was ich in den nächsten Tagen abarbeiten muss«, fuhr Irmela fort, »deshalb bin ich runter nach Escherndorf gelaufen, in Richtung dieses süßen kleinen Cafés. Aber dabei ist mir etwas anderes aufgefallen. Ich bin am Altmain entlangspaziert. Da gibt es doch diese kleinen Buchten, in denen das Wasser steht, fast wie Mini-Seen, mit einer Öffnung zum Main hin. Am Rand einer solchen Bucht lag ein Boot der Wasserwacht. Drei Männer standen halb im Wasser, halb am Ufer und hielten eine Rettungsplane, also so eine, die auf der einen Seite golden glitzert, in die Höhe. Ich habe nur deshalb darauf geachtet, weil die Sonne darauf reflektiert hat. Sie haben damit einen Sichtschutz gebildet. Einen Sichtschutz für etwas, das da im seichten Wasser vor ihnen lag.«

Die Härchen auf meinem Arm stellten sich auf. Irmelas Stimme war beim Erzählen immer leiser geworden. Leiser und tiefer.

»Ich konnte nicht sehen, was es war, und ich wollte nicht zu neugierig erscheinen. Deshalb ging ich weiter. Aber nach ein paar Minuten habe ich kehrtgemacht und bin wieder zurück. Und da haben sie sie gerade abtransportiert. Zwei Männer im Anzug mit schwarzer Krawatte trugen eine Bahre, auf der ein Sack lag, so ein Leichensack, wie man das manchmal im Fernsehen sieht. Er war natürlich zu, aber ich konnte die Umrisse des Körpers erahnen. Mir ist richtig übel geworden dabei. Also bin ich schnell weitergelaufen, und dann kam mir auf dem Weg direkt ein schwarzes Auto entgegen. Wird wohl der Leichenwagen gewesen sein, sonst darf da ja niemand fahren.«

»Das gibt’s ja nicht!« Anne legte ihr Strickzeug zur Seite. Sie trug es immer mit sich herum und behauptete, solange sie stricke, hätte sie zumindest keine Hand frei, um die Nummer des Teleshoppingcenters zu wählen. Anne bestellte nämlich täglich neue Küchengeräte. Nicht weil sie diese brauchte oder das gern tat, sondern weil sie nicht anders konnte. Sie hatte ein ganzes Haus voller Mixer, Salatschleudern, Spätzlehobel, Dampfkochtöpfe und Eierschneider.

»Wie schrecklich«, sagte Mäuschen. »Hattest du denn gar keine Angst?«

Irmela schüttelte den Kopf. »Nein, Tote tun einem ja nichts. Ich fand es nur irgendwie unheimlich. Sich vorzustellen, wie dieser Mensch da vielleicht um sein Leben gekämpft hat, bevor er ertrunken ist – und jetzt lag er da im Sack.«

Holger unterbrach sie. »Moment mal. Ich war doch gestern auch am Main. Und ich habe sogar die Fußspitzen hineingetaucht. Was, wenn die Leiche dann schon drin herumschwamm? An so einer Leiche sind doch lauter Bakterien, und die sind dann auch im Wasser. Und meine Zehen …« Seine Gesichtsfarbe nahm eine ungesund grünliche Färbung an.

»Das ist doch viel zu sehr verdünnt, als dass du dir davon irgendeine Krankheit holen könntest«, beruhigte Anne ihn. »Da fließen Hunderte Kubikliter Wasser in so einem Fluss.«

»Und wenn die Leiche ganz in der Nähe war? Ich habe meine Zehen in Leichenwasser getunkt, das könnte alles Mögliche auslösen.«

»Da passiert nichts.«

»Und wenn doch?«

Anne wandte sich zu mir. »Will, sag du doch auch mal was.«

Durch die alberne Diskussion fiel die unruhige Spannung von mir ab. Plötzlich nahm ich die Geräusche des Speisesaales wieder wahr. Das Tellerklappern, das Lachen und Murmeln und das Brummen des Wasserspenders.

»Dann faulen deine Zehen ab. Das ist wie bei Lepra«, sagte ich lässig und schob meinen Stuhl zurück.

Ich musste in mein Zimmer und meine Bettdecke noch einmal richtig falten und auf Staub oder verlorene Haare kontrollieren. Sonst konnte ich den Mittagsschlaf vergessen. Was gingen mich Irmelas Leiche und Holgers Spinnereien an? Ich hatte ganz andere Probleme.

Ich war der Letzte, als ich zwei Stunden später auf die Minute pünktlich den Gruppenraum betrat und mich neben Anne setzte. Die anderen unterhielten sich gerade über ihre Therapieerfahrungen. Zwangsstörungen begleiten einen oft jahrelang. Wenn man Pech hat, das ganze restliche Leben. Entsprechend waren die meisten nicht zum ersten Mal hier.

Wie sehnte ich mich seit meiner Ankunft nach meiner Bibliothek. Nach den ordentlichen Buchreihen, dem Katalogsystem, den unendlich langen Regalmetern. Ich sehnte mich nach dem Duft, der einem Buch beim Aufschlagen entströmt, danach, mit der Fingerspitze über das Etikett zu streichen, das Lesebändchen gerade zu richten.

Natürlich gab es auch hier in der Klinik Bücher, genau vier Regale voll im Atrium der Privatpatienten. Dort hätte ich viel Zeit verbringen können, aber ich fühlte mich zwischen ihnen nicht wohl. Sie hatten keine Nummern, keine Ordnung. Es waren zu wenige auf zu viel Raum.

Bücher sind Herdentiere. Sie brauchen Struktur, sie brauchen Pflege, sie brauchen Liebe. Ein Kochbuch kann nicht neben einer Abhandlung über die attische Demokratie stehen. Das geht einfach nicht. Da fühlen sich beide unwohl. Die Seiten werden spröde, es knistert beim Aufschlagen. Müde, unwillig.

Ich war immer gut zu den Büchern, weil sie auch gut zu mir waren. Kurz hatte ich überlegt, die Regale hier zu ordnen, vielleicht sogar eine Verleihliste anzufertigen und den Büchern Kürzel zu geben, um die Systematisierung und Wiedereinordnung zu vereinfachen. Aber das wäre zu viel Mühe gewesen. Mühe, die sich nicht lohnte, da sich niemand an mein System halten würde. Inzwischen hatte ich die Menschen hier durchschaut. Sie waren unachtsam, ganz und gar auf sich fixiert. Wen kümmerte es da schon, wenn ein Liebesroman neben einem Wanderführer stand?

Oh ja, ich sehnte mich nach meiner Bibliothek. Dem einzigen Ort, an dem ich je so etwas wie Glück verspürt habe.

Ohne etwas von meiner Wehmut mitzubekommen, diskutierten die anderen eifrig weiter.

»Erinnert ihr euch noch an diese Sabrina im letzten Sommer? Die Frau, die ihr Baby nicht stillen konnte, weil sie immer Angst hatte, die Milch würde nicht im Mund ihrer Tochter landen, sondern tröpfchenweise ins Universum hinaufspritzen, dort gefrieren und Raumschiffe zum Abschuss bringen?« Irmela schüttelte den Kopf. »Wie kann man sich nur so was einbilden?«

Mäuschen kicherte hinter vorgehaltener Hand. Ich dagegen hatte die Geschichte schon öfter gehört und fand sie weniger witzig. Mystisch-halluzinoide Zwangsvorstellungen nannte man das. Eine besonders schräge Spielerei des Gehirns. Allerdings mit fast ebenso hohem Leidensdruck verbunden wie mein Putzzwang oder Holgers Hypochondrie. Eine Zwangserkrankung konnte ein Leben ganz ordentlich ruinieren. Niemand wusste das besser als ich.

Frau Hempel betrat den Raum und schloss die Tür geräuschvoll hinter sich. Ihre ganze Person strahlte Tatkraft aus. Die kurzen rötlich gefärbten Haare wippten bei jedem Schritt, und da sie stets Kleidung mit hohem Stretchanteil trug, schienen selbst ihre Hosen und Blusen kaum mit ihr fertigzuwerden. Immer zeichneten sich Fettröllchen und wogende Fleischmassen unter dem Stoff ab. In ihrer Nähe konnte es ganz schön anstrengend sein. Ich hatte immer das Gefühl, ihr üppiger Körper sauge wie von selbst die Energie aus dem Raum und lasse für uns andere kaum etwas übrig. Deshalb war ich froh, dass sie nicht meine Bezugstherapeutin war. Irmela schien jedoch zufrieden mit ihr zu sein.

»Guten Mittag, guten Mittag! Willkommen zur ersten Gruppensitzung in dieser Woche. Moment mal …« Frau Hempel drehte sich im Kreis und zählte die Anwesenden. »Wo ist denn Herr Brunner?«

Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Therapeut nicht wie sonst auf seinem Stuhl direkt neben dem Fenster saß. Normalerweise beobachtete er von dort unsere Übungen. Wenn er etwas zu sagen hatte, dann in ruhigem, bedächtigem Ton. Ohne seine stille Präsenz wirkte der Raum merkwürdig leer.

»Soll ich ihn suchen gehen? Ich könnte an seinem Büro klopfen oder ihn am Empfang ausrufen lassen.«

Irmela natürlich. Hilfsbereit und überengagiert wie immer.

Frau Hempel runzelte die Stirn. »Nein, nein. Er wird schon einen guten Grund haben, weshalb er nicht da ist. Ich bespreche das später mit ihm.« Sie zog sich einen Stuhl heran, und wir rückten alle zusammen, damit wir für die anfängliche Befindlichkeitsrunde in einem ordentlichen Kreis saßen. Herrn Brunners Stuhl blieb außerhalb stehen. Ein stummer Zeuge unserer Gespräche. Stumm und irgendwie beunruhigend.

Nach der Gruppentherapie und einem kurzen Abstecher in mein Zimmer betrat ich in Bademantel und Saunaschlappen die Schwimmhalle. Sofort umfing mich warme, nach Chlor riechende Luft, die ich tief einatmete. Ich war gern im Wasser. Das Wasser in einem Schwimmbad war sauber und wurde regelmäßig gewechselt. Außerdem gab es hier keine Kinder, die ich fortwährend hätte beobachten müssen, ob sie nicht vielleicht im Begriff waren, hineinzupinkeln. In der Klinik gab es nur erwachsene Menschen. Na ja, manche waren vielleicht nicht ganz so erwachsen. Aber zumindest erweckte niemand den Anschein, ein Beckenpinkler zu sein.

Sorgfältig faltete ich mein Badetuch zusammen und legte es auf eine der Liegen. Den Bademantel hängte ich über die Lehne. Nun war mir doch etwas kühl. Ich blickte an meinem hellhäutigen, knochigen Körper hinunter. Gänsehaut zog sich über die Arme, sodass die Härchen Spalier standen. Besonders männlich sah ich ja nicht aus. Aber die Badehose machte einiges wett. Sie war dunkellila mit einem sonnenbebrillten, wellenreitenden Surfer am linken Hosenbein. Meine Schwester hatte sie mir vor der Abreise in die Klinik geschenkt. »Du bist ein cooler Typ, Will. Ein cooler Typ braucht coole Badeshorts«, hatte sie gesagt und mir das Päckchen in die Hand gedrückt.

Der coole Typ machte sich auf den Weg zu den Duschen. Ich versuchte mich dabei an einem möglichst männlichen, breitbeinigen Gang, aber die Badeschlappen, die ich zum Schutz vor Fußpilz trug, minderten mein Erscheinungsbild etwas. Trotzdem bildete ich mir ein, dass die Neue, Angelika, mit einer Spur Bewunderung grüßte, als sie an mir vorbei zum Becken tänzelte. Angie, wie ich sie in Gedanken bisweilen in Anspielung auf das Lied der Stones nannte, sah aus wie Lara Croft. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, wie man mit solchen Haaren und einer solchen Figur Depressionen entwickeln konnte. Der Wassergymnastikkurs am Mittwoch war immer proppenvoll, weil sich unter den Herren der Schöpfung herumgesprochen hatte, dass Angelika daran teilnahm. Sie trug zwar einen olivgrünen Tarnbadeanzug, aber ihre Formen hätten selbst einen Kartoffelsack in Haute Couture verwandelt. Ich war natürlich nur deshalb im Mittwochskurs, weil das terminmäßig am besten passte. Aber Holger traute ich solche niederen Motive durchaus zu. Der kleine Spanner.

Ich scannte die Halle. Holgers kleine, kugelige Gestalt war eigentlich schwer zu übersehen, aber heute hatte er seinen Schönheitsschlaf Angelikas Rundungen anscheinend vorgezogen. Zufrieden duschte ich und schwamm einige Bahnen, bevor die Therapeutin auftauchte und uns einen Wasserball zuwarf, damit wir uns warm spielen konnten. Dann begannen wir mit den Übungen. Aquajogging und anschließend Gymnastik.

Plötzlich geriet das Wasser hinter mir in Bewegung. Ein planschendes und schnaufendes Etwas paddelte näher.

»Will! Hey, Will!«

Ich blickte angestrengt in eine andere Richtung und tat, als würde ich mich auf die Anweisungen der Sporttherapeutin konzentrieren. Holger war zu klein, um im Becken den Kopf über Wasser halten zu können. Deswegen band er zur Wassergymnastik immer einen blauen Schwimmring um seinen beträchtlichen Bauch. Normalerweise blieb er am Rand, wo für die kleinen Patienten eine Art erhöhte Stehhilfe eingebaut worden war. Aber heute hatte er offenbar beschlossen, mich zu nerven. Wahrscheinlich wollte er mir noch einmal seine angebliche Verbrennung auf der Brust zeigen oder seine Lepra-Zehen.

»Und wir kreisen die Arme im Wasser«, rief die Therapeutin. Ich kreiste mit Armen und Beinen fleißig nach links und brachte so wieder mehr Abstand zwischen Holger und mich.

»Jetzt gegen den Uhrzeigersinn«, jubelte die Frau.

Das war blöd. Ich blieb, wo ich war.

»Will, bleib doch mal stehen!«, blubberte der blaue Schwimmring.

Ich tat, als hätte ich nichts gehört. Er sollte sich lieber auf die Übungen konzentrieren, wenn er schon zu spät kam.

»Wir kreisen immer SCHNELLER!« Die Stimme der Therapeutin klang wie die einer begeisterten Mutter, die ihr Kleinkind beim ersten Krabbeln beobachtet.

Soweit ich sehen konnte, erzeugte sie bei den anderen Patienten damit auch einen gewissen Enthusiasmus. Ein alter Herr schräg hinter mir gebärdete sich wie ein Schaufelraddampfer. Unter diesen Bedingungen hatte Holger keine Chance auf Annäherung. Und vielleicht rückte die Therapeutin ja gleich die Poolnudeln raus. Dann konnte ich Holger damit auf Abstand halten oder ihm eins überbraten, wenn er mir mit seinen Käsefüßen zu nahe kam.

»Und jetzt nach vorne boxen und dann gleich ein Kick nach hinten. Achtung: Box, Kick, Box, Kick.«

Ich versuchte, beim Boxen möglichst starke Wellen zu erzeugen. Vielleicht würde das reichen, um Holger hinwegzuschwemmen. Tatsächlich schaukelte er wild hin und her. Gleich würde er seekrank werden. Hoffentlich kotzte er dann nicht ins Wasser.

Trotzdem gab er sich nicht geschlagen, sondern paddelte mit Händen und Füßen sogar noch näher an mich heran. »Ich muss dir was erzählen, was Wichtiges!«, keuchte er.

Ich boxte etwas weniger kraftvoll. Normalerweise war Holger nicht so beharrlich und wagte es auch nicht, sich den Anweisungen der Therapeuten zu widersetzen. Etwas schien ihn tatsächlich zu beunruhigen.

»Uuuund stopp.«

Die Sporttherapeutin ging zum Geräteraum, um Poolnudeln für uns herauszuholen. Ich nutzte die Pause, um mich Holger zuzuwenden.

»Okay, was ist los?«

»Ich habe vorhin etwas Seltsames gehört.« Er war blass und blickte mich aus großen, verschreckten Augen an. Auf seiner Stirn perlten Wassertröpfchen. Ich konnte nicht unterscheiden, ob es sich um Reste meiner Wellen handelte oder ob er trotz des kühlen Wassers schwitzte.

»Ich glaube … ich glaube, es ist Herr Brunner, den sie heute aus dem Main gezogen haben.«

2
DAS ENDE IST IMMER GUT. WENN ES NICHT GUT IST, DANN IST ES NICHT DAS ENDE.

Unvollständige Liste von Mäuschens Ängsten – und wie die Ärzte das nennen

– Angst, von Enten beobachtet zu werden (Anatidaephobie)

– Angst davor, seine eigene Meinung zu äußern (Allodoxaphobie)

– Angst, dass Erdnussbutter am Gaumen kleben bleibt (Arachibutyrophobie)

– Angst vor Spiegeln (Catoptrophobie)

– Angst vor Clowns (Clownstrophobie) (ätsch, nein, es heißt Coulrophobie)

– Angst vor Milchhaut (Glucodermaphobie)

– Angst, eine Erektion zu sehen (Ithyphallophobie)

– Angst vor der Zahl 666 (Hexakosioihexekontahexaphobie)

– Angst vor Geburten/schwangeren Frauen (Maieusiophobie)

– Angst vor der neuen deutschen Rechtschreibung (Neoorthographogermanophobie)

Was ich im Schwimmbad erfuhr, genügte, um auch mir Sorgen zu bereiten. Holger hatte ein Gespräch belauscht, als er vor der medizinischen Zentrale wartete. Seine Augen juckten, und er benötigte antiallergische Augentropfen. Zur Sicherheit. Schließlich war Heuschnupfenzeit. Die Natur rüstete sich zur Fortpflanzung und benutzte dafür fliegende Einheiten. Es war also gut möglich, dass sich Holgers Pollenallergie ausdehnte.

Das Schiebefenster der Medikamentenausgabe schloss nicht ganz dicht. So hörte er alles mit: ein klingelndes Telefon. Die Frau, die unter der Woche immer die Tablettenkästchen befüllte und morgens die Blutabnahme organisierte, nahm ab. Meldete sich vorschriftsmäßig. »Klinikum Vogelsburg, medizinische Zentrale, Frau Borifur am Apparat.« Sie war verlässlich, stabil, mit stets sorgfältig gebügelten Blusen.

»Herr Brunner arbeitet hier, ja.« Konzentriertes Zuhören.

»Nein, heute nicht erschienen, nicht erreichbar.« Schweigen.

»Im Altmain?« Ungläubiges Nachfragen. Bestürzung.

»Das kann doch nicht sein. Sind Sie sicher …?«

»Mein Gott.«

Nach dem Niederlegen des Telefons ein langes Schweigen. Holger hatte sich ohne Augentropfen davongeschlichen. Mein Gott, hatte auch er gedacht, oh mein Gott.

Das alles erzählte uns Holger unter vielem Stottern und Stocken, nachdem wir beim Abendessen die anderen informiert hatten, dass es etwas zu besprechen gäbe. Wir hatten beschlossen, uns danach im Gruppenraum zu treffen. Draußen war es noch hell. Ein Rasenmäher dröhnte am geschrägten Fenster vorbei.

Elektrische Geräte hier oben wirkten auf mich immer noch wie Fremdkörper, wie Anachronismen, die es in den alten Gemäuern gar nicht geben dürfte. Ich hatte von Herrn Brunner erfahren, dass die Vogelsburg – oder »Fugalespurc«, wie sie damals hieß – vor unglaublichen tausendeinhundertdreizehn Jahren zum ersten Mal urkundlich erwähnt worden war, hier aber wahrscheinlich schon zur Altsteinzeit das erste Bauwerk entstanden war. Ich fand es immer noch höchst bemerkenswert, dass wir unsere jeweiligen psychischen Problemchen an einem derart altehrwürdigen Ort ausleben durften.

Und die Mehrheit meiner Mitpatienten wusste das noch nicht mal zu würdigen! Ich hatte beim Abendessen einmal einen kurzen Vortrag über die reiche Geschichte der Vogelsburg gehalten. Dabei hatte ich erzählt, wie sie im 11. Jahrhundert zunächst in den Besitz der Adelsfamilie Castell gekommen war, um anschließend als »Berg Gottes« von Karmelitern bewohnt zu werden, bis der wütende Mob die Burg während des Bauernkriegs plünderte, verwüstete und dann in Brand setzte. Meine Tischnachbarn hatten mich zwar höflich reden lassen, doch Irmela hatte währenddessen den Tisch abgeräumt, und Holger hatte sich an einem Wurstzipfel verschluckt und Fleischbröckchen über den Tisch gehustet. Banausen, allesamt!

Doch der Gedanke an Herrn Brunner brachte mich schneller, als mir lieb war, wieder ins Hier und Jetzt.

»Das hätte ich niemals gedacht, niemals!« Irmela war sehr blass geworden.

Wir saßen im Kreis auf Holzstühlen. Nur Mäuschen hatte sich mit den Polstern und Meditationskissen, die für die Entspannungsübungen im Schrank lagerten, auf dem Boden ein Nest gebaut. Sie kauerten darin, als wolle sie sich vor der Welt verstecken.

»Ich gebe zu, dass das stark so klingt, als sei Herrn Brunner etwas passiert. Aber denkt bitte daran, dass wir keinen endgültigen Beweis haben«, versuchte Anne uns zu beruhigen. »Es könnte auch andere Erklärungen geben.«

»Welche denn?«, fragte ich düster. »Herr Brunner fehlt unentschuldigt, und ein Telefonanruf, der mit ihm und dem Main zu tun hat, erschreckt die Angestellte in der MZ. Dann wird aus der Mainschleife auch noch eine Wasserleiche abtransportiert. Da liegt der Zusammenhang doch recht klar auf der Hand.«

Irmela begann zu schluchzen. »Und ich war fast ein wenig stolz darauf, dass ich so etwas Interessantes beobachtet hatte und euch erzählen konnte. Wie krank ist das eigentlich?«

»Du kannst doch nichts dafür«, tröstete Holger sie. »Wir fanden das anfangs ja auch spannend. Es ist eben immer was ganz anderes, wenn man persönlich betroffen ist und den Menschen kennt.«

Mäuschen wischte sich verstohlen über die Augen und reichte auch Irmela ein Taschentuch. »Ich ha-habe ihn sehr gemocht. Er war ein toller Therapeut.«

»Allerdings.« Auch ich musste mich jetzt zusammenreißen, damit mir nicht die Tränen kamen. Mein kariertes Baumfällerhemd sollte auf keinen Fall etwas abbekommen. Ich liebte den weichen Baumwollstoff und trug das Hemd, sooft die Waschzwänge es erlaubten. Außerdem fand ich, dass das Grün und Goldbraun gut mit meiner Augenfarbe harmonierte. Die kleine Eitelkeit leistete ich mir, obwohl den meisten Leuten wegen der Brille die ungewöhnliche Farbe der Iris sowieso nicht auffiel.

»Nicht war! Er ist ein toller Therapeut!« Anne schüttelte den Kopf. »Ich weigere mich, einfach so von seinem Tod auszugehen, wenn wir nichts Konkretes wissen.«

»Vielleicht hat Anne ja recht«, sagte Irmela mit einem Funken Hoffnung. »Vielleicht war alles nur ein Irrtum, und er liegt daheim im Bett und konnte nicht anrufen, weil er eine Stimmbandentzündung hat.«

»Oh, oh, das kann aber auch aufs Herz gehen. Damit ist nicht zu spaßen.« Im Vergleich mit einer Stimmbandentzündung war der Tod für Holger natürlich ein Kinkerlitzchen.

»Dann halt etwas anders, ist doch egal!« Irmela klang fast etwas sauer.

Holger öffnete den Mund, wahrscheinlich, um andere in Frage kommende Krankheiten aufzuzählen, schloss ihn mit einem Blick auf Irmela dann aber wieder.

»Was sollen wir denn jetzt machen?«, piepste Mäuschen.

»Wir können gar nichts machen«, sagte ich bitter, »allenfalls hoffen, dass uns irgendwann irgendwer informiert.«

»Mit so was rücken die von sich aus bestimmt nicht raus. Da heißt es höchstens: Herr Brunner hat Urlaub. Oder: Herr Brunner ist krank«, wandte Anne ein.

Für eine Weile herrschte Schweigen. Ich blickte aus dem Fenster, nahm das frische Grün des Rasens und der Bäume aber nur am Rande meines Bewusstseins wahr. In mir stritten die verschiedensten Gefühle um den Vorrang. Ein Chaos aus Niedergeschlagenheit, Trauer und auch Angst. Ich wusste, welches davon bleiben würde. Es war immer die Angst. Die Angst davor, dass mich die Zwänge wieder fest in den Griff nehmen würden, dass ich ihnen ohne meinen Therapeuten ausgeliefert war. Dass ich es allein nicht schaffen konnte.

Plötzlich spürte ich eine federleichte Hand auf meinem Arm. Mäuschen hatte ihr Nest verlassen und streichelte mich nun vorsichtig und etwas unbeholfen.

»Mach dich nicht kaputt, Will. Ich habe auch Angst. Das ist normal.«

Sie murmelte das so leise, dass nur ich es verstehen konnte. Überrascht blickte ich sie an. Dieses blasse Wesen mit der durchscheinenden Haut, unter der man an Schläfen und Händen die Adern pochen sah, wusste ganz genau, was ich empfand.

Ich nickte und versuchte mich an einem Lächeln. »Danke.«

Anne räusperte sich. »Ich schlage vor, dass wir morgen während der Gruppentherapie auf Frau Hempel zugehen, ihr von unserer Vermutung erzählen und fragen, was wirklich passiert ist. Nur so können wir Klarheit bekommen.«

»Ja, das ist gut.« Irmela klang erleichtert. »Ich hätte sowieso ein schlechtes Gewissen, wenn wir ihr was verheimlichen würden.«

»Gibt es Einwände dagegen? Ansonsten würde ich das Thema morgen direkt ansprechen.« Anne blickte in die Runde.

Wieder einmal war ich froh, dass sie Gruppensprecherin war und die Dinge mit der ihr eigenen Stringenz anging. Gegenstimmen gab es keine. Wir alle wollten etwas Konkretes erfahren. Denn die Angst wird allzu oft aus Ungewissheit geboren.

***

Es begann mit einem Klopfen an der Tür. Später sollte Dr. Lars Jacobi sich ausmalen, dass es das Schicksal war, dass da Eintritt in sein Büro forderte, um sein Leben auf den Kopf zu stellen. Zum betreffenden Zeitpunkt, Mittwochnachmittag, fünfzehn Uhr dreißig, fiel ihm jedoch nur auf, dass es ein ungewöhnlich harmonisches Klopfen war. Nicht zu laut, nicht zu leise und mit einer gewissen Rhythmik. Er ging zur Tür, öffnete sie, und schaute in zwei große grüne Augen, Augen, von denen man sich nur schwer lösen konnte. So musste sich Mowgli gefühlt haben, als er von der Schlange Kaa hypnotisiert, oder Hermine, als sie vom Basilisken versteinert wurde. Angesichts solcher Augen fühlte auch Jacobi seine Glieder erstarren und war erst entsetzt und dann froh, dass er nicht die enge Jeans trug. Diese Augen! Nicht wegen ihrer ungewöhnlichen Farbe, der leichten Schrägstellung, die dem Gesicht etwas Katzenhaftes gaben, oder der dichten Wimpern, deren Schwung ihn an die Schreibschrift vorheriger Generationen erinnerte. Er konnte nicht wegsehen, weil ihre Augen direkt mit der Seele verbunden zu sein schienen und mit einem Blick Nervosität und Sanftheit, Müdigkeit und Lebenslust, Trauer und eine gewisse Erwartung auf den Betrachter projizierten.

Dr. Jacobi trat einen Schritt zurück, um unter diesem Ansturm nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mechanisch streckte er eine Hand aus, schüttelte die der Frau, nannte seinen Namen, bat sie ins Büro. Dann saß sie plötzlich auf dem Stuhl, und Jacobi fragte sich, wie sie so schnell dorthin gekommen war. Er war noch damit beschäftigt gewesen, die Strähnen ihres dunklen Haares mit Blicken zu sortieren und die weiche Linie ihres Körpers zu verarbeiten.

Sie saß dort, wo er die Therapiegespräche immer führte. An einem kleinen, niedrigen Tischchen, auf dem außer einer Schachtel Kleenex nur ein Becher mit Stiften stand. An der Wand hing ein mit Tusche gezeichneter Elefant, der in den Sonnenuntergang hineinmarschierte. Ein früherer Patient hatte ihn Jacobi geschenkt. Jacobi gefiel er sehr. Bei langweiligen Gesprächen stellte er sich vor, auf dem Rücken dieses Elefanten zu sitzen und in die weite Welt zu reiten. Auch die Frau lächelte, als sie das Bild betrachtete.

»Das ist sehr schön«, sagte sie mit ein wenig heiserer Stimme.

»Äh.« In seinem Gehirn schien nicht mehr genug Blut übrig zu sein, um vollständige Sätze bilden zu können.

Sie blickte ihn abwartend an. Vorsichtshalber hielt Jacobi sein Klemmbrett vor seinen Schoß.

»Das ist – wie schön, sehr schön. Also, dass Ihnen das Bild gefällt.« Oh Gott, sie musste ihn für einen kompletten Idioten halten.

Tatsächlich lächelte sie ihn nun an. Das Grübchen in ihrem Kinn sah so niedlich aus, dass es jedem Korb voll neugeborener Kätzchen Konkurrenz gemacht hätte.

Er musste sich jetzt wirklich zusammenreißen. So ging das nicht. »Entschuldigen Sie, normalerweise spreche ich in ganzen Sätzen.« Verlegen fuhr er sich durchs Haar. »Anscheinend habe ich heute Morgen einen Kaffee zu viel erwischt.«

»Ich habe es nicht eilig. Sie können vor dem Gespräch ruhig noch ein paar Kekse essen, vielleicht hilft das ein wenig.«

Nein, aufstehen konnte er jetzt auf keinen Fall.

»Sehr freundlich, äh, aber es geht schon.«

Jacobi verfolgte den Verlauf einer mahagonibraunen Haarsträhne an ihrem Hals entlang, über die Mulde über den Schlüsselbeinen, die aussahen, als seien sie nur dafür gemacht, mit Küssen bedeckt zu werden, bis kurz oberhalb des sanften Hügelanstiegs, der in ihre Brüste übergehen würde. Weiter hinunter traute er sich erst gar nicht zu schauen. So etwas war ihm noch nie passiert. Eine spontane Erektion hatte er zuletzt als Fünfzehnjähriger gehabt, als er zusah, wie die Nachbarin ihren Rasen besprengte. Allerdings nicht mit Wasser.

»Sie wollten mich sicherlich fragen, warum ich das Bild mag«, schlug sie vor, als er sie weiterhin schweigend anstarrte.

»Gute Idee. Ja, verraten Sie mir doch bitte, warum Sie das Bild mögen.«

»Ich möchte am liebsten zusammen mit dem Elefanten weit weggehen. Er strahlt so viel Sicherheit aus, so viel Energie. Ich glaube, er wäre ein guter Reisepartner.«

»Fehlt es Ihnen selbst denn an Energie?«

Jacobi gab sich Mühe, ihren Augen nicht zu begegnen. Er musste diese Stunde irgendwie würdevoll hinter sich bringen. Zum Glück hatte er sich an seinen Fragenkatalog erinnert, an den er sich halten konnte. Die Fragen würden heute sein Elefant sein müssen.

»Keine Energie, keine Lust, etwas zu unternehmen, nicht einmal schöne Sachen, immer nur diese Müdigkeit und gleichzeitig die Anspannung.«

»Wie lange geht das schon so?«

Ihre Lippen in dem pastellfarbenen Rosaton ruhten aufeinander wie zwei aneinandergeschmiegte Seepferdchen. Das Perlmutt der Zähne schimmerte hindurch, wenn sie sprach. Kurz fragte sich Jacobi, wie all diese absurd kitschigen Bilder in seinen Kopf kamen. Er musste diese Gedanken um Gottes willen aus seinem Gehirn vertreiben. Aber dieser Mund! Es sah nicht aus, als hätte sie Lippenstift verwendet. Wahrscheinlich war sie überhaupt nicht geschminkt. Auch die kleinen Unreinheiten am Kinn hatte sie nicht übergepudert. Der Rest des Teints strahlte dafür umso makelloser. Im orangestichigen Zimmerlicht leuchtete er mit den Augen um die Wette. Nur die Haare schienen das Licht zu schlucken.

Jetzt hatte er wieder nicht aufgepasst. »Entschuldigung, können Sie das noch einmal wiederholen?«

Er würde ab jetzt überhaupt nirgends mehr hinschauen außer auf sein Klemmbrett. Sollte sie ihn doch für einen Oberfreak halten, es ging nicht anders. Schließlich dienten seine Aufzeichnungen später als Grundlage für die Besprechung mit dem Oberarzt. Sie würde zwar trotzdem noch einmal von einer Gruppe aus Ärzten und Psychologen interviewt werden, aber dabei sollten sich keine Abweichungen zu seinem Erstgespräch ergeben.

»Es hat stufenweise begonnen, etwa vor einem Jahr. Zuerst nur Unruhe und Erschöpfung. Dann kamen immer mehr Symptome dazu.« Sie legte den Kopf schräg und blickte ihn an. »Sie haben ein schönes Büro, Dr. Jacobi.«

Das klang nach Spott, außerdem lenkte sie vom Thema ab.

»Danke«, sagte er deshalb nur. »Können Sie die ersten Symptome an einem Auslöser festmachen?«

»Das war durchaus ernst gemeint. Es ist ein sehr angenehmer Raum, ich fühle mich wohl, obwohl ich zum ersten Mal hier bin.« Sie schlug die Beine übereinander und lächelte ihn an. »Aber zurück zu den Symptomen: Ich denke, das kam von der beruflichen Überforderung. Ich habe sehr viel gearbeitet, musste die Aufgaben einer Kollegin im Mutterschutz mit übernehmen. Aber ich habe nicht darauf geachtet, wie es mir damit ging. Ich meine, wenn man viel arbeitet, ist es doch klar, dass man müde ist.«

Jacobi nickte und schrieb und fragte und hörte zu. Kein einziges Mal begegneten sich ihre Blicke. Schließlich überreichte er ihr einen Fragebogen, den sie in ihrem Zimmer in Ruhe ausfüllen sollte.

»Da geht es um Lernvorgänge in Ihrer Kindheit und Jugend und Ihren Umgang mit verschiedensten Erfahrungen. Das hilft uns, die Hintergründe besser durchleuchten zu können.« Er räusperte sich. »Wir sind hier ja eine verhaltenstherapeutische Klinik. Das bedeutet, dass wir eigentlich keinen psychoanalytischen Ansatz verfolgen, sondern negative Handlungs- und Denkmuster identifizieren und zu ändern versuchen. Unsere Arbeit ist sehr lösungsorientiert. Wir werden Sie verschiedenen Therapiegruppen zuteilen, und zweimal die Woche sind Sie auch bei mir zur Einzeltherapie.«

Die Frau stand auf. Sie schüttelten Hände. Jacobi ärgerte sich, dass seine Hand so heiß und schwitzig war, ihre dagegen so kühl. Er begleitete sie zur Tür. Sie blickte zu dem Bild hin und lächelte. »Dann sehen wir zwei uns ja bald wieder.«

Erst als sie gegangen war, wurde ihm klar, dass sie nicht ihn, sondern den Elefanten gemeint hatte.

***

Der Tag nach dieser schlimmen Nacht begann für mich mit einem schweigsamen, von mürrischer Anspannung geprägten Frühstück. Irmela zog ihren Teebeutel etwas zu heftig aus der Tasse, sodass einige Tropfen über den Tisch spritzten. Ich wusste, dass ich eigentlich zu weit von ihr entfernt saß, um etwas abbekommen zu haben. Dennoch musste ich das Essen unterbrechen und mehrmals mein T-Shirt, meine Hose und meine Arme auf Flecken absuchen.

Anne, die mich mit gerunzelter Stirn beobachtet hatte, erbarmte sich schließlich und bestätigte mir, dass ich und meine Kleidung komplett sauber geblieben waren und der Tee gar nicht bis zu mir gespritzt war. Irmela entschuldigte sich trotzdem so lange, bis ich schließlich »Ja, ja, ist schon gut jetzt!« brummte und mein Käsebrot wieder aufnahm.

Als ich wenig später den Gruppenraum betrat, sah ich sofort, dass etwas anders war als sonst. Frau Hempel kniete in der Mitte unseres üblichen Stuhlkreises vor einem brennenden Teelicht und hatte die Hände gefaltet. Ich tauschte einen Blick mit Anne, die hinter mir hereingekommen war und stumm nickte. Es sah ganz danach aus, als müsste sie gar nicht von sich aus auf Herrn Brunner zu sprechen kommen.

Die Therapeutin wartete, bis wir alle schweigend unsere Plätze bezogen hatten. Erst dann begann sie zu sprechen, in leisem Ton, den Blick noch immer auf das Flämmchen gerichtet.

»Ich muss Ihnen leider eine traurige Mitteilung machen: Herr Brunner, den wir gut kennen und sehr schätzen, ist vorgestern Nacht verstorben. Ein Spaziergänger mit Hund hat ihn im seichten Wasser treibend gefunden und die Rettungskräfte alarmiert. Leider war er zu dem Zeitpunkt bereits tot.«

Von Mäuschen kam ein erschrecktes Stöhnen. Frau Hempel stockte.

»Das ist ein großer Schock für uns alle, und ich …«

Sie unterbrach sich, als es an der Tür klopfte. Ein junger Arzt trat ein. Ich hatte ihn schon ein paarmal auf dem Flur gesehen. Obwohl er objektiv betrachtet wohl gut aussah, gefielen mir seine zu weißen Zähne und das verwaschene Blaugrau der Augen nicht. Es sah unnatürlich aus. Unnatürlich und nicht sonderlich sympathisch. Da war mir sogar Holgers kackbrauner Hundeblick lieber.

Frau Hempel bemühte sich um ein Lächeln. »Ich habe Dr. Jacobi zu uns gebeten, weil ich die Gruppe ungern allein leiten möchte, vor allem nicht in einer solchen Krisensituation. Herzlich willkommen also.«

Er nickte kurz und holte sich dann einen Stuhl, um sich zu unserem Kreis zu gesellen. Ich rückte gleich ein wenig von ihm ab, was er mit einem falschen Lächeln quittierte.

Nach einer Weile, während der wir alle auf die winzige Kerze gestarrt hatten, meldete sich Irmela. »Dürfen wir Fragen stellen?«

»Selbstverständlich. Ich weiß nur nicht, ob ich sie beantworten kann oder darf.«

»Wann ist die Beerdigung?«

Frau Hempel seufzte. »Das steht noch nicht fest. Die Leiche muss erst … hm, ist ja auch egal. Ich teile Ihnen selbstverständlich mit, wenn ein Datum festgelegt wird. Falls die Familie aber im kleinen Kreis trauern möchte, müssen wir das akzeptieren.«

Irmela nickte. Ich sah ihr jedoch an, dass sie bereits die Möglichkeiten überdachte, wie sie in einem solchen Fall vorgehen könnte. Heimlich an der Beerdigung teilnehmen? Sich als Mitglied des Kirchenchors ausgeben? Dass sie einen Kranz schicken würde, war so gut wie sicher.

Auch Mäuschen streckte nun zaghaft einen Finger in die Luft. »Wissen Sie schon, wie es mit der Gruppe und unserer Einzeltherapie weitergehen soll? Ich hoffe, Sie empfinden das nicht als egoistisch, wenn ich danach frage.«

»Nein, es ist nur natürlich, dass Sie sich über den Fortgang Ihrer Therapie Gedanken machen.« Frau Hempel blickte Jacobi an, der ihr zunickte. »Die Zwangsgruppe wird voraussichtlich von Dr. Jacobi und mir weitergeführt. Wie wir die Einzeltherapiestunden verteilen, muss erst noch besprochen werden. Für wen war Herr Brunner denn Bezugstherapeut?«

Anne, Mäuschen und ich hoben die Hände.

Dr. Jacobi lächelte uns drei nacheinander an. »Keine Sorge, wir finden schon die Richtige oder den Richtigen für Sie.« Ich hatte den Eindruck, dass er die Mädels eine Sekunde zu lange musterte. Mäuschen merkte es natürlich nicht, weil sie wie den Großteil des Tages auf den Boden schaute. Doch Anne runzelte kaum merklich die Stirn.

Frau Hempel war offenbar nichts aufgefallen. Sie stand ächzend aus ihrer knienden Haltung auf und streckte die Beine durch. »Natürlich machen wir heute keine normale Gruppensitzung …«, sagte sie.

Ich fragte mich, ob die Gelegenheit, Fragen zu stellen, schon vorbei war. Es gab etwas, das mich trotz meiner Betroffenheit interessierte. Ich war mir nur nicht sicher, ob diese Frage zu den erlaubten zählte.

»Aber …« Frau Hempel zögerte. »Es gibt da noch etwas, was Sie wissen sollten: Es sieht ganz danach aus, als sei Herr Brunner Opfer eines … Überfalls oder von etwas Ähnlichem geworden. Deshalb wird die Polizei heute Nachmittag zu uns kommen und Sie einzeln befragen.«

»Was für ein Überfall denn?« Holger klang wachsam. Vermutlich ging er von einem Überfall irgendwelcher Killerviren aus, die auch seine Zehen befallen hatten.

»Nun, er ist nicht auf natürliche Art und Weise ums Leben gekommen. Vermutlich war mindestens eine weitere Person daran beteiligt.« Frau Hempel verstummte wieder. Obwohl sie versuchte, alles möglichst diplomatisch auszudrücken, war allen klar, worum es hier ging. Damit hatte sie meine unausgesprochene Frage beantwortet.

»Mord«, stellte ich nüchtern fest. »Er wurde ermordet.«

»Vielleicht.«

»Warum sollte die Polizei uns sonst befragen wollen?« Darauf seufzte sie nur, noch tiefer als zuvor.

»Hat er sehr gelitten?«, fragte Irmela.

Frau Hempel schüttelte den Kopf. »Darüber habe ich mir auch Gedanken gemacht. Ich hoffe nicht. Allerdings weiß ich nicht, woran er gestorben ist, und ich will es auch gar nicht so genau wissen.«

Als niemand mehr etwas zu sagen wusste, übernahm Dr. Jacobi die Führung. »Genug Passivität für heute. Trauerarbeit ist ein enorm wichtiger Bestandteil bei der Bewältigung solch emotionaler Krisen.« Er zeigte seine Zähne, was ich eher als Angriffssignal interpretierte denn als Lächeln. »Sammeln wir doch einmal Ideen, was wir im Andenken an Herrn Brunner tun könnten.«

Ich schwieg schon allein aus Trotz ihm gegenüber. Schließlich hielt Irmela die Stille nicht mehr aus. Sie meldete sich wieder einmal.

»Wir könnten ihm einen Brief schreiben.«

»Und welche Adresse sollen wir da bitte draufschreiben?« Holger schnaubte verächtlich.

»Keine«, verteidigte Irmela sich. »Wir verbrennen ihn dann oder werfen ihn in den Fluss.«

»Das ist eine sehr schöne Idee«, lobte Dr. Jacobi.

Anne schlug vor, gemeinsam ein Trauerbild zu malen.

»Das ist eine sehr schöne Idee«, sagte ich.