Jürgen Schebera

Vom Josty ins Romanische Café

Streifzüge durch
Berliner Künstlerlokale der Goldenen Zwanziger

Mit zahlreichen Abbildungen

Insel Verlag

Streifzüge durch
Berliner Künstlerlokale der
Goldenen Zwanziger

Einleitung

»Ich habe einen guten Teil meines Lebens im Kaffeehaus verbracht, und ich bedaure es nicht«, bekennt Hermann Kesten als Sechzigjähriger, rückblickend auf bewegte Jahre. Und weiter: »Bald wird es ein halbes Jahrhundert sein, dass ich in meinen Cafés sitze und schreibe.«1

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In den zwanziger Jahren entwickelte sich Berlin zu einer europäischen Metropole. Blick auf die Kreuzung Kurfürstendamm/Ecke Joachimsthaler Straße, Aufnahme von 1930.

Von dem Verleger Bruno Cassirer stammen die Sätze: »Ohne Kaffeehaus kann man überhaupt keine Literatur machen. Jeder Mensch ist im Café ein ganz anderer als an seinem Arbeitsplatz. Dort entwickelt er seine verborgenen Eigenschaften und Wunschträume.«2

An keinem Ort und zu keiner Zeit des 20. Jahrhunderts konnten Literatencafés und Künstlerlokale auf eine solche Galerie klangvoller Namen verweisen wie im Berlin der (gar nicht so) Goldenen Zwanziger, wo Egon Erwin Kisch den Satz prägte: »Das Kaffeehaus erspart uns sozusagen eine Wohnung, die man nicht unbedingt haben muß, wenn man ein Kaffeehaus hat.«3

Längst sind Romanisches Café, Restaurant Schwannecke oder die Destille der Mutter Maenz zu einem Stück Berliner Kulturgeschichte geworden – mit Sicherheit nicht dem wichtigsten, aber dennoch einem unverzichtbaren und vor allem erzählenswerten.

Die Jahre der Weimarer Republik, zwischen 1919 und 1932, waren eine Periode in der damals fast siebenhundertjährigen Geschichte Berlins, in der die Stadt nicht nur die Einwohnerzahl von vier Millionen überschritt, sondern sich zugleich zu einer Kunstmetropole von europäischem Rang entwickelte. Nie zuvor hatte sich in Deutschland eine solche Konzentration nicht nur ökonomischen Potentials, sondern auch geistiger Kräfte an einem Ort vollzogen wie im Berlin der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. Die Großstadt übte eine fast magisch zu nennende Anziehungskraft auf Künstler und Geistesschaffende aus. Vor allem junge Schriftsteller, Theaterleute und bildende Künstler kamen von überall her in Deutschland, um nach dem Wegfall vieler Behinderungen während der wilhelminischen Ära nun an der Erneuerung der geistig-kulturellen Werte mitzuarbeiten. »Wer Berlin hatte, dem gehörte die Welt«, erinnerte sich später Carl Zuckmayer an die Jahre ab 1920, als der Vierundzwanzigjährige aus dem Rheinland gleich vielen anderen die neue Kunstmetropole zu erobern versuchte. »Berlin schmeckte nach Zukunft, und dafür nahm man den Dreck und die Kälte gern in Kauf.«4

Für die Entwicklung der Künste wurde die produktive Aufnahme und Verarbeitung ausländischer Einflüsse zum wichtigen Impuls: der avantgardistischen Strömungen aus Frankreich und der jungen Sowjetunion ebenso wie der kommerziellen Massenkultur aus den USA. »Berlin als ein Zentrum europäischer Gesittung war neu«, hielt Heinrich Mann fest. »Berlin empfing, es war zugänglich noch mehr als schöpferisch. Die Schöpfer kamen zu ihm von überall, die große Stadt repräsentierte, das ist Beruf der wahrhaft großen Stadt. Dazu der Einschlag fremder Kulturen.«5

Einhergehend mit der Entwicklung neuer technischer Massenmedien wie Rundfunk, Schallplatte und Film etablierten sich in Berlin zahlreiche neue Produktions- und Verbreitungsinstitutionen für die Künste. Ein solcher Markt für geistige Produkte fand sich vergleichbar in keiner anderen europäischen Metropole. Ein Blick in die Statistik verdeutlicht diese Ausnahmestellung:

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»Kudammbummel 1928«, so hat der Scherl-Fotograf damals dieses Bild bezeichnet. Rund um die Gedächtniskirche befanden sich am Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße mehrere große Kinopaläste, bekannte Cafés, Restaurants und elegante Geschäfte.

1927 spielten in Berlin allabendlich 49 Theater, einmalig in der Welt war die Existenz von gleichzeitig drei Opernhäusern. Es gab drei große Varietés sowie 75 Kabaretts, Kleinkunstbühnen und Lokale mit Unterhaltungsprogramm.

1929 gab es in der Stadt 363 Kinos; 37 Filmgesellschaften produzierten jährlich rund 250 abendfüllende Spielfilme.

In Berlin erschienen 1929 allein 45 Morgenzeitungen, zwei Mittagsblätter und 14 Abendzeitungen. Fast 200 Verlagsunternehmen arbeiteten in der Stadt, darunter so namhafte Häuser wie S. Fischer, Ernst Rowohlt, Bruno Cassirer und Gustav Kiepenheuer. Hinzu kamen bedeutende linksorientierte Verlage wie Malik, Die Schmiede, Erich Reiss, der Neue Deutsche Verlag und die Büchergilde Gutenberg. Ullstein und Scherl waren die Großproduzenten von Unterhaltungsliteratur.

Ein solcher Markt verlangte natürlich nach entsprechender Ware – nicht zuletzt war es auch die materielle Seite geistiger Produktion, die Berlin so anziehend machte. Als der dreiundzwanzigjährige Schriftsteller Ödön von Horváth 1928 zum ersten Mal nach Berlin kam, notierte er nach wenigen Wochen: »Und nun das Wichtigste: bekanntlich braucht man zum Denken einen Stuhl, auf dem man sitzt. Es hat sich allmählich herumgesprochen, daß das Materielle unentbehrlich ist. Und das bietet dem jungen Schriftsteller nur Berlin, von allen deutschen Städten. Berlin, das die Jugend liebt und auch etwas für die Jugend tut, im Gegensatz zu den meisten anderen Städten, die nur platonische Liebe kennen. Ich liebe Berlin.«6

Neben den traditionellen Produktions-, Diskussions- und Umschlagplätzen für Kunst und geistige Produktion (Theater, Ateliers, Galerien, Verlage, Redaktionen) erlangte nun ein weiterer zunehmende Bedeutung: das Künstlerlokal. Hier traf man sich, um neue Projekte zu debattieren und vor allem »an den Mann zu bringen«. Ob bei Josty am Potsdamer Platz, bei Schwannecke in der Rankestraße oder im Restaurant Schlicher in der Lutherstraße: Hierher kamen die Künstler nur im Ausnahmefall, um zu arbeiten; viel wichtiger waren solche Treffpunkte, um mit den Dramaturgen der Berliner Bühnen über die Annahme eines neuen Stückes zu verhandeln, von den Feuilletonredakteuren Aufträge für Artikel und Rezensionen zu erhalten oder mit Galeristen Ausstellungen und Ankäufe zu vereinbaren. Nicht zuletzt galt hier auch das Sehen und Gesehenwerden – vor allem im Romanischen Café, das zum Inbegriff des Berliner Künstlerlokals der zwanziger Jahre wurde.

So reizvoll ein Buch über diesen Bereich künstlerischer Kommunikation ist, so muss es doch zwangsläufig vieles aussparen. Weder kann hier eine Berliner Literatur- und Kunstgeschichte der zwanziger Jahre vorgelegt werden, noch spiegeln sich in der Szene der Künstlerlokale die ästhetischen wie politischen Polarisierungen der Jahre bis 1933. Entscheidende Prozesse der gesellschaftlichen Entwicklung wie der künstlerischen Produktion verliefen außerhalb der Kaffeehäuser. Der interessierte Leser findet dazu im Literaturverzeichnis entsprechende Hinweise zu weiterführender Lektüre.

Dessen ungeachtet wird in einem solchen Buch ein wichtiger Impuls für die bis heute faszinierende Vielfalt im geistigen Leben Berlins der zwanziger Jahre unmittelbar nachvollziehbar: die äußerst produktive Rolle von Gespräch und Debatte für die künstlerische Produktion. Natürlich hat Brecht den Text der Dreigroschenoper nicht im Restaurant Schlichter geschrieben, sondern in seinem möblierten Zimmer in der Spichernstraße; Leonhard Franks Romane entstanden nicht im Romanischen Café, sondern an seinem Schreibtisch in Halensee. Und doch verdanken viele Werke die unterschiedlichsten Anregungen den Gesprächsrunden am Tisch des jeweiligen Stammlokals.

Diese Atmosphäre so authentisch wie möglich wiederzugeben, bestimmt die Machart des vorliegenden Bandes. Da der Autor nicht mehr zur Generation der »Augenzeugen« gehört, werden eine große Zahl originaler Texte der zwanziger Jahre in die Darstellung einbezogen, ergänzt um Auszüge aus später veröffentlichten Erinnerungen. Dass auch die überlieferte Anekdote zu ihrem Recht kommt, mag das Vergnügen an der Lektüre noch erhöhen. So fügt sich die Beschreibung der Lokale und ihrer wichtigsten Stammgäste – die ja erst den Nachruhm ausmachen – zusammen zu einer Dokumentation, welche die umfangreiche Berlin-Literatur um ein unterhaltsames Kapitel erweitern möchte.

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Freisitze des Café König Unter den Linden. Die Billard-, Schach- und Spielsäle im Innern des Lokals waren ein beliebter Treffpunkt schon ab zehn Uhr morgens. Aufnahme von 1931.

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Blick auf die Kreuzung Unter den Linden/Friedrichstraße. Hier befand sich das beliebte Café Kranzler, meist »Kranzler-Eck« genannt. Aufnahme von 1924.

Ein Gesamtüberblick ist weder beabsichtigt noch zu leisten, zu bunt und vielfältig war die Szenerie. 1928 betrug die Gesamtzahl der Berliner Gaststätten rund 16 ‌000, davon 550 Kaffeehäuser sowie 220 Bars und Tanzlokale. In etwa hundert davon verkehrten Künstler und Geistesschaffende. Es gab Treffpunkte in unmittelbarer Nähe der Arbeitsorte, etwa das Café Jädicke in der Kochstraße nahe dem Zeitungsviertel, wo die Journalisten unter sich waren, oder die Kleine Scala, wo die Varieté- und Zirkusleute nach ihrem Auftritt saßen. Wichtiger noch als solche »brancheninternen« Lokale waren die »öffentlichen« Künstlertreffpunkte, wo von morgens bis in die späte Nacht ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und sich Vertreter aller Richtungen begegneten.

Bereits um das Jahr 1815 hatte sich in Berlin erstmals ein Künstlerstammtisch etabliert – der Kreis um E. ‌T. ‌A. Hoffmann in den Weinstuben von Lutter & Wegner; wenige Jahre später sollte Heinrich Heines Tischrunde in der italienischen Konditorei Stehely folgen. Doch erst mit dem 1895 eröffneten Café des Westens bildete sich schließlich jener Typ eines Künstlerlokals heraus, der durch seine Stammgäste und Besucher aus der Boheme geprägt wurde. Dieser »wegbereitenden« Institution – obwohl lange vor den Zwanzigern als »Café Größenwahn« auf der Höhe seines Ruhms – gilt folgerichtig das einleitende Kapitel unserer Darstellung, ehe wir uns danach auf den Streifzug durch die Jahre der Weimarer Republik begeben.

Der abschließende Epilog skizziert dann den Exodus des Geistes nach dem 30. Januar 1933 mit seinen Auswirkungen nicht zuletzt auch auf die Szenerie der Berliner Künstlerlokale.

Die Weimarer Republik, den Kern ihres Scheiterns, nämlich die fehlende Majorität an wirklichen Demokraten, von Anbeginn in sich tragend, war durch die Kräfte der Reaktion am Ende planmäßig vernichtet worden. Daran konnte auch die große Zahl an Künstlern und Geistesschaffenden aufrechter Gesinnung, die jahrelang ihre Stimme für die Verteidigung der Republik erhoben hatten, letztlich nichts ändern. Die meisten von ihnen mussten Nazideutschland verlassen, fortan »öfter als die Schuhe die Länder wechselnd«7, wie Brecht es in seiner poetischen Metapher ausgedrückt hat. Nicht zuletzt ist unser Buch auch eine Erinnerung an ihre großen Berliner Jahre vor Einbruch der braunen Nacht über Deutschland.