Die Pilgererfahrung

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Uwe Lauer
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Die Pilgererfahrung

 

Reset für Körper, Geist und Seele

 

1 – Die Entscheidung

 

 

„Wenn es Dein Lebenstraum ist, dann tu’s doch einfach. Meine Freigabe hast Du, Lebensträume muss man sich erfüllen, solange noch Zeit dazu ist.“ Mit diesen Worten hatte meine Frau eine Lawine in mir losgetreten, als wir an einem lauen Sommerabend mit Freunden noch spät auf unserer Terrasse beisammen saßen und uns bei Wein und Kerzenlicht gegenseitig unsere Lebensträume erzählten. Und so musste ich nicht lange nachdenken, als ich in dieser Fragerunde an der Reihe war. „Den Jakobsweg mal laufen“ oder so ähnlich war mein Einwurf an dieser Stelle, um ihn postwendend auch gleich wieder in Frage zu stellen, zumindest was seine Realisierbarkeit betraf. Denn – den Jakobsweg zu gehen und parallel noch einen Fulltime-Job auszufüllen, der immerhin wöchentlich 39 Stunden meiner Lebenszeit auffraß - das fühlte sich schon ziemlich unrealistisch an, noch bevor ich den Wunsch ausgesprochen hatte. Doch die spontane Reaktion meiner Frau ließ mich stutzen, denn es hörte sich sofort wie eine winzige Möglichkeit an, es vielleicht doch noch im Lebensplan unter zu bringen, und zwar nicht erst im noch fernen Rentenalter, von dem ich immerhin noch 7-8 Jahre entfernt war. „Du musst doch nicht den ganzen Weg gehen, geh doch einfach nur einen Teil davon, eben so viel wie Du während eines mehrwöchigen Jahresurlaubs schaffst.“ Ja, und damit hatte sie zweifellos recht, warum eigentlich nicht? Drei bis vier Wochen Urlaub wären nach 39 Dienstjahren bei meinem Arbeitgeber sicher machbar, und in dieser Zeit konnte man – rein theoretisch – verdammt weit laufen. Ich versuchte, wieder den Gesprächen zu lauschen, aber meine Gedanken konnten und wollten nicht mehr so recht folgen, sie schlugen vielmehr unvermittelt und unkontrolliert eine andere Rich-

tung ein. Mehr noch, dieser Plan, wenn man es denn zu jener Zeit schon sonennen konnte, beherrschte von nun an für lange Zeit den Innenraum meines schon leicht ergrauten Hauptes, und ich muss zugeben, dass es sich – besonders in den ersten Wochen der Entscheidung – wie ein Sog anfühlte, der zeitweise vollständig von mir Besitz ergriffen hatte, ein Magnet, der trotz seiner Entfernung von 1.800 km eine ungeheure Anziehungskraft auf mich auswirkte. Später las ich dann in diversen Berichten den Satz, den ich zu 100% auch für mich selbst unterschreiben konnte: Der Jakobsweg hatte mich gerufen, und ich fühlte einen unwiderstehlichen Drang, diesem Ruf zu folgen.

 

2 - Die Planung

 

Dieser für mich bis heute unvergessliche Abend auf der heimischen Terrasse lag ziemlich genau 380 Tage vor meiner Abreise, wobei die erste spontane Überlegung zum möglichen Beginn der Reise das Jahr 2018 ausspuckte. Was in mir relativ schnell eine gewisse Ernüchterung im Hinblick auf meine Anfangseuphorie erzeugte, denn wie konnte man sich auf ein Ereignis freuen, das zwei Jahre in der Zukunft lag? Wohin mit den Endorphinen und sonstigen Glückshormonen, wenn sie zwei Jahre lang auf Sparflamme gehalten werden mussten ? Wie gesagt, eine mehr als ernüchternde Erkenntnis. Doch es sollte ganz anders kommen …

 

Unabhängig vom Plan des Jakobsweges entstanden wenige Wochen später Überlegungen meiner Frau und mir, die Hofeinfahrt vor unserem Haus vergrößern und neu pflastern zu lassen, was angesichts ihres Alters und Zustandes nach 34 Jahren mehr als überfällig war. Als idealer Zeitpunkt dafür hatten wir uns rasch auf das Frühjahr 2017 geeinigt, und so wurde auch schnell klar, dass 2017 erstmals unsere jährliche Urlaubsreise ins Wasser fallen würde. Was lag also näher, als im betreffenden Jahr auch bereits auf

 

 

den Jakobsweg zu gehen, denn: 2018 erneut auf einen gemeinsamen Urlaub zu verzichten nur wegen des Camino, das hätte sich ganz sicher nicht gut angefühlt, von der Sinnhaftigkeit ganz zu schweigen. So schlug ich bei einem

Glas Wein meiner Frau vor, das Camino-Projekt ein Jahr vorzuziehen und dafür das ohnehin urlaubsfreie Jahr 2017 zu nutzen. Glücklicherweise sah sie das ebenso als sinnvoll an, und so entschied ich, meinen Jakobsweg Ende August 2017 zu beginnen. Das lag nun gerade mal ein Jahr entfernt in der Zukunft, und die Euphorie kehrte mindestens genauso schnell zurück, wie sie der Ernüchterung gewichen war. Allerdings muss ich gestehen, dass mein Enthusiasmus manchmal etwas überschwänglich daher kam. Aber wer kennt das nicht aus eigener Erfahrung: Wenn etwas von einem Besitz ergriffen hatte – sei es eine Idee, ein Erlebnis oder ähnliches – dann neigte man schnell dazu, gerne und fortwährend darüber zu reden. Dabei vergaß man nur all zu leicht, dass dieser Rausch sich ja ausschließlich in einem selbst austobte, während die akustischen Opfer bestenfalls interessiert waren, aber selbst das auch nur in begrenztem Maße, und zwar sowohl was Details als auch die Häufigkeit der verbalen Beschallung durch das „Euphorie-Monster“ betraf. Da besagtes „Monster“ (in dem Falle ich) das möglicherweise selbst nicht merkte, musste es irgendwann mal zur Raison gerufen werden. Dieser Zeitpunkt war bei mir sehr rasch gekommen, ich meine, schon nach wenigen Tagen. Und zwar dann, als ich – in schon fast gewohnter Manier – über ein banales Gesprächsthema wie zufällig wieder auf mein Projekt abglitt, aber diesmal nicht ohne Wirkung. Ich hörte plötzlich den Satz: „Du willst aber jetzt nicht ein Jahr lang jeden Abend über den Jakobsweg reden, oder?“ Ok, ich gebe zu, diese Reaktion war überfällig und mehr als berechtigt. Das konnte ich meinen Mitmenschen – allem voran meiner Frau – wirklich nicht antun. Schließlich gab es außer dem in weiter Ferne geplanten Jakobsweg auch noch andere Themen, und so nahm ich mich ein ums andere Mal zurück, und war dafür umso redseliger, wenn mich hin und wieder jemand auf meinen Pilgerplan ansprach und mehr darüber wissen wollte. Aber offen gesagt, ab jener Zeit beschränkte ich mich so gut es ging auf den Antwortmodus, und damit konnten sowohl ich als auch meine Mitmenschen gut leben.

 

Darüber hinaus begann ich bereits jetzt, im August 2016, einige grundsätzliche Überlegungen anzustellen: Wann würde ich starten, wie viel Urlaub würde ich brauchen, wie viele Lauf- und Pausentage konnte ich im möglichen Urlaubs-Zeitfenster unterbringen, und wie viele Kilometer pro Lauftag wären realistisch planbar? Ok, ausgehend von vier Wochen Urlaub, von denen ich am Ende noch einige Tage nach der Rückkehr als Puffer rechnen müsste, wären 3,5 Wochen Spanien realistisch. In Tagen ausgedrückt: 25, und wenn ich wenigstens einen Pausentag pro Woche einlegen wollte, blieben 20 Lauftage plus je ein Pausentag nach der ersten und zweiten Woche, sowie am Ende 2-3 Tage in Santiago de Compostela, falls ich denn jemals dort ankommen sollte… , und würde ich pro Tag etwas mehr als 20 km laufen, dann könnte ich mit etwas Mut und Selbstvertrauen vielleicht eine Strecke von etwa 450 km bewältigen. Theoretisch. Aber was blieb mir anderes übrig, als irgendeine denkbare Zahl als Ausgangspunkt für meinen Blick auf die Landkarte zu wählen. Und dieser Ausgangspunkt war – nach einigen ‚Erkundungen‘ – Castrojeriz, ein kleines, heute nur noch teilweise bewohntes, Dorf mit rund 800 Einwohnern in der Provinz Burgos. Und als ich mir das Örtchen im Internet etwas genauer ansah, wie es beschaulich und verträumt am Fuße des 900 m hohen Tafelberges lag, erschien es mir als der ideale Beginn meines erträumten Pilgerweges. Natürlich nicht auch zuletzt deshalb, weil Castrojeriz ganz und gar kein typisches Etappenziel auf dem Camino Frances war. Viele Pilger ließen es sich nicht nehmen, in der etwa 49 km westlich gelegenen Provinzhauptstadt Burgos zu starten. Eine Stadt mit etwa 170.000 Einwohnern, welche nachweislich die meisten Sehenswürdigkeiten bot, ein Mekka für Kunsthistoriker. Schon allein deshalb ein häufig auserkorener Ausgangspunkt für Pilger. Aber bereits in dieser frühen Planungsphase war es für mich von größter Bedeutung, nicht mit dem großen Strom zu schwimmen, sondern größtmögliche Distanz zu etwaigen Pilgeransammlungen oder –gruppen zu wahren. Denn meine Sehnsucht nach dem Jakobsweg und meine Entscheidung, dieses Projekt nun tatsächlich anzugehen, hatten ein ehrgeiziges Ziel: Eine innere Einkehr, die vielzitierte Reise zu sich selbst, mit sich selbst ins Reine zu kommen, vielleicht auch um sich selbst neu zu erleben und neu kennen zu lernen. Und es bedurfte nun wirklich keiner Pilgererfahrung, um zu dem Schluss zu kommen, dass dies wohl nur möglich sein würde, wenn man alleine pilgerte. Zumindest den größten Teil der geplanten Strecke. Was ja in keinem Fall heißen sollte, dass ich keine sozialen Kontakte zulassen würde – im Gegenteil - denn auf diesem Weg Menschen aus aller Welt mit interessanten Lebensgeschichten kennen zu lernen, erschien natürlich auch reizvoll. Aber der Weg selbst – so las ich es immer wieder – würde sein Geheimnis nur preisgeben, wenn man ihn alleine ginge. Und so wurde dieses Bestreben zu einer Prämisse, die schon frühzeitig über allen anderen stand.

 

Schon im frühen Stadium meiner Planung hatte ich zusätzlich das Glück, dass ein junger Arbeitskollege aus meiner Abteilung den Camino Frances vor wenigen Jahren selbst bereits gegangen war und somit für mich eine Art Mentorstellung einnahm. Als Sebastian (25) nämlich erstmals von meinem Plan erfuhr, schickte er mir noch am gleichen Abend – es war der 31.8.2016

– eine umfassende Mail, in der er mich mit allen Informationen versorgte, was ich für ein sinnvolles Zusammenstellen meiner Ausrüstung brauchte. Dabei blieb er in jedem Punkt völlig unverbindlich und ließ mir den Spielraum für Individualität, den ich schon allein aufgrund meines Naturells so dringend brauche. Und so erstellte ich ein Excel-File, in welchem ich – nach Kategorien getrennt – die wichtigsten Ausrüstungsgegenstände listete. Diese Liste wurde – neben meiner Etappenplanung – mein wichtigstes Tool während meiner gesamten Vorbereitungszeit. Und jede Eintragung dort, mit der ich einen Gegenstand als ‚erledigt‘ verzeichnen konnte, erfüllte mich mit ungeheurer Genugtuung. Und das blieb so bis wenige Tage vor meiner Abreise.

 

Wie schon erwähnt, war das zweite Tool meine Etappenplanung, die ich ebenfalls schon gut 11 Monate vor dem Start in Angriff nahm. Ausgehend von einer Anreise am Samstag, dem 26.08.2017, würde ich mich am frühen Morgen des darauf folgenden Sonntags auf meine Pilgerschaft begeben, während um mich herum das verschlafene Castrojeriz wohl noch in Morpheus

 

 

Armen schlummern würde. Und so plante ich zunächst 7 Pilgertage mit Entfernungen zwischen 20 und 26 km, um am Ende der ersten Woche einen Pausentag einzulegen, bei dem ich mir am Zielort ein Zimmer in einer Pen-sion nehmen würde, um dann die zu diesem Zeitpunkt möglicherweise drin-gend ersehnte Privatsphäre jenseits von Pilgerherbergen genießen zu können. Möglicherweise würde mein Körper diese Pause nach einer Woche Belastung auch aus anderen Gründen brauchen. Die zweite Woche würde ich in gleicher Weise planen, eventuell mit einem etwas gesteigerten Tagespensums an Kilometern, aber ebenfalls mit einem Pausentag endend, um dann am Ende der dritten Woche, am Sonntag den 17. September. so Gott will – an der Kathedrale in Santiago de Compostela anzukommen. Zum Abschluss meiner Pilgerreise dann eventuell noch 2-3 Ruhetage in Santiago, und der Rückreise ca. 20.09.17. Mit dieser Planung war ich, nicht nur was mein Gefühl betraf, sehr zufrieden, sie erschien mir gleichermaßen realistisch wie machbar und dennoch anspruchsvoll genug, um sie als große Herausforderung für Körper und Geist anzusehen. Denn ein geplanter Tagesschnitt von etwa 23 km über einen Zeitraum von drei Wochen war definitiv etwas, was mein Körper nicht ansatzweise kannte, und entsprechend hoch war mein Respekt vor meinem eigenen Plan.

 

 

3 – Monatelange Vorfreude

 

Mein bereits erwähnte Arbeitskollege Sebastian, der den Camino Frances schon vollständig von Frankreich aus gelaufen war, hatte mir schon in seiner allerersten Mail mitgeteilt, dass die Vorfreude auf die Pilgerreise nahezu genauso intensiv sei wie die Reise selbst. Zumal sich diese bei frühzeitiger Planung über einen sehr langen Zeitraum erstrecke, und man sie so eben auch über Monate hinweg genießen könne. Wobei es hier verständlicherweise Zeiten gab, wo man den Kalender gerne in einen höheren Gang schalten würde, denn die Sehnsucht zum Camino war nicht nur allgegenwärtig, sie

 

 

wuchs auch von Woche zu Woche, von Monat zu Monat, und ich gebe zu, dass ich mir schon sehr früh über eine Formel in einer Excel-Datei täglich ausrechnen ließ, wie viele Tage noch bis zur Stunde null verblieben. Diese stetig schrumpfende Zahl verlieh mir sogar eine Art Genugtuung, ein „Be-weis“, dass es irgendwann zwangsläufig so weit sein musste, eine Art Visua-

lisierung des Näherkommens, so seltsam das auch klingen mag. Und natürlich schwang in diesem überdimensionalen Zeitfenster der Vorfreude auch stetig die Sorge mit, dass noch ganz viele theoretische Geschehnisse auf dem Weg dahin das Projekt wieder zu nichte machen konnten, und zwar von heute an bis zum Tag der Abreise: Krankheit, Verletzungen, oder es könnte etwas mit den mir am nächsten stehenden Menschen passieren, wie meiner Frau oder meinen Kindern. Aber die Philosophie hat uns gelehrt, dass Angst zwar in bestimmten Lebenssituationen eine ganz hilfreiche Einrichtung der Natur, aber auf dem Weg zur Verwirklichung von Plänen und Erreichen von gesteckten Zielen kein erstrebenswerter Begleiter war. Diese Erkenntnis hatte nicht selten dazu geführt, dass ich mich selbst ermahnen musste, nicht allzu sorgenvoll auf den D-Day zuzusteuern. Was für die praktische Anwendung allerdings leichter gesagt war als getan, denn wer kennt sie nicht, die nur allzu häufige Verselbstständigung der eigenen Gedanken…

 

Und so zogen die Wochen und Monate ins Land, Herbst und Winter kamen und gingen, die Liste der Pilgerausrüstung erfuhr nach und nach geduldig ihre Erledigungsvermerke zu den einzelnen Utensilien, die Etappenplanung ihren letzten Feinschliff, und sowohl die Flüge, die erste Unterkunft in Castrojeriz als auch die Busfahrt von Bilbao nach Burgos wurden gebucht. Einzig für den allerletzten Abschnitt von Burgos nach Castrojeriz war keine wirkliche Planung möglich, da es keine öffentlichen Verkehrsmittel für diese letzten 49 km gab – und so blieb hierfür lediglich der Vorsatz, vor Ort einen akzeptablen Transportpreis mit einem dortigen Taxi auszuhandeln. Und während all dessen verschlang ich Literatur und Internetberichte über das bevorstehende Abenteuer, und ich hätte gelogen, wenn ich damals behauptet hätte, dass das Projekt nicht längst vollständig von mir Besitz ergriffen hatte. Und diese Gefühlsvielfalt und –intensität hielt an. Sehr lange. Genauer gesagt, bis etwa 3 Wochen vor der Abreise.

Dann wandelte sie sich fast über Nacht…

 

 

4 – Die letzten Tage vor der Abreise

 

Wo war meine Vorfreude geblieben? Nein, es war ganz und gar nicht so, dass ich nicht endlich aufbrechen wollte, aber fast über Nacht hatten sich die Gefühle in mir völlig verwandelt. Ich muss nachdenken, wie ich sie beschreiben, ja bezeichnen soll: Respekt? Zweifel? Angst? Ganz sicher eine Mischung aus all dem, und es fühlte sich völlig anders an als noch vor vier Wochen. Ich setzte mich nun fast unbewusst intensiver mit dem Projekt auseinander, damit, dass es nun in kürzester Zeit plötzlich Realität werden würde. Aus allen Richtungen strömten fragende Gedanken in meinen Kopf: Ich war völlig untrainiert, also konnte ich diese Strecken wirklich jeden Tag laufen? wochenlang? Mit diesem Gewicht auf dem Rücken? Konnte das alles wirklich funktionieren, was ich mir in der Theorie ausgedacht hatte? Und was konnte dort eigentlich alles dazwischen kommen, auf dem Weg selbst? Was wäre, wenn ich nach zwei bis drei Tagen schon kapitulieren müsste, weil ich mich völlig überschätzt hatte? Und: Käme ich überhaupt dort an? Bliebe ich vielleicht schon am Frankfurter Flughafen hängen, da ich ja gar kein Flugticket hatte, sondern nur so eine komische Ticket-Nr., die angeblich reichte, um einzuchecken? Das waren nur einige dieser Fragen und Zweifel, und selbst ein Außenstehender kann sich in etwa denken, wie sich das im Betroffenen anfühlte. Währenddessen waren auch aus dem Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis immer wieder Kommentare zu hören wie: ‚Für mich wär das nichts‘, oder „Ich glaube nicht, dass Du das schaffst“, oder „Respekt – ich würde das nicht schaffen.“ Und das sagten dann Leute, die hinsichtlich ihrer Konstitution keinesfalls schlechter dran waren als ich. Geflügelte Worte dieser Art gaben meinen unterdrückten Selbstzweifeln natürlich zusätzlich Nahrung. Aber es half alles nichts, in wenigen Tagen würden Taten folgen müssen, und ich wäre der allerletzte, der vor einem geplanten Projekt kniff, im Gegenteil, ich würde mich der Herausforderung stellen, käme was da wolle. Zudem war ich von Natur aus der Typ, der immer an eine Lösung glaubte, ganz gleich, wie schwierig sich eine Situation darstellte. Und durch meinen Optimismus sowie meinen Glauben an das Gute hatte ich mich bis-her schon unzählige Male selbst am Schopf gepackt und aus so mancher Lebensmisere gezogen. Warum also sollte es diesmal anders sein? Das Glück würde mich nicht verlassen, schon gar nicht auf einer Pilgerreise. Und schließlich hatte ja der Jakobsweg mich gerufen und nicht umgekehrt. Mit solchen und ähnlichen Überlebensphilosophien näherte ich mich also mit großen Schritten dem Tag X, was blieb mir auch anderes übrig …?

 

Die letzte Woche brach an. Im Büro war ohnehin kaum noch ein klarer Gedanke zu fassen, geschweige denn, sich auf das Tagesgeschäft zu konzentrieren. Die noch verbleibende Zeit nach jedem Arbeitstag war Tag für Tag minutiös verplant. Und so stand am Montagabend das Fertigpacken des Rucksackes auf dem Programm, und zwar in unserem Wohnkeller, wo ich die gesamte Ausrüstung angesammelt und auf einer großen Decke ausgebreitet hatte. Alle Utensilien wurden zu Kategorien zusammengefasst und dann je Kategorie in einen eigens dafür vorgesehenen Drybag gepackt: In einem kleineren roten verschwanden alle helfenden Dinge wie Blasenpflaster, Wundspray, Desinfektionsmittel etc., in einem mittelgroßen grünen alle Dinge für den täglichen Gebrauch wie Brillen, Fußcreme, Sonnencreme, Duschgel etc., und in einen großen gelben die gesamte Kleidung zum Wechseln, mit Ausnahme der Regenjacke, welche ich separat in den Rucksack packte, sowie den Poncho, der in einem eigens dafür vorgesehenes Fach des Rucksackes verschwand. So war der Plan, und so begann ich das Packen. Allerdings war dieser Vorgang schon nach wenigen Minuten beendet, und ich starrte mit erschrockenen Augen auf das, was sich da vor mir eröffnete: Nämlich die Tatsache, dass die Ausrüstung auf gar keinen Fall in den von mir vorgesehenen Rucksack passen würde.

Definitiv nicht.

 

 

 

Es war ein etwa 28 l fassender, leichter, blauer Rucksack, den mir mein Freund und Nachbar ausgeliehen und den ich für ein paar wenige Trainingsmärsche benutzt hatte. Bei diesen Wanderungen – ich nenne es mal so – hatte ich den Rucksack immer mit 6-7 Flaschen Mineralwasser befüllt und

so ein Gewicht von etwa 7,5 kg erzeugt. Aber für eine Pilgerausrüstung dieses Umfangs, mit 3 Drybags, Trekkingstöcken, Regenjacke, Kulturbeutel, Trekkingsandalen, Pantoffeln, und…und…und…, nein, dafür war er definitiv nicht ausreichend. Ok, also in Ruhe überlegen: Schnell noch einen Rucksack über Ebay-Kleinanzeigen suchen? Oder Amazon? Fieberhaft fuhr ich den Rechner hoch und begann zu stöbern – und ich muss zugeben - von einer ordentlichen Portion Nervosität begleitet, denn eins war sicher: In genau vier Tagen musste ich startklar sein, und ich hatte keinen Rucksack. Nach etwa 20 minütiger Sondierung auf allen möglichen Seiten fand ich ein Angebot eines 50 Liter Trekkingrucksackes zum Preis von nur € 68. Dieser war optisch sehr ansprechend, sehr detailliert beschrieben und schien allerlei Vorzüge zu besitzen. Zudem würde er – bei sofortiger Bestellung – schon in zwei Tagen per DHL bei mir eintreffen. Also: Ab in den Warenkorb, bezahlen, fertig. Das war geschafft – jetzt musste er nur noch rechtzeitig eintreffen. Und das tat er auch: Am Mittwoch nach Büroschluss kam ich gegen 17 Uhr nach Hause, und DHL hatte auf unserer Terrasse ein großes Paket abgestellt. Und der Inhalt hielt in allen Punkten das, was mir die Beschreibung vorher versprochen hatte. Ich begann sofort, mich mit den Funktionen der unzähligen Bänder und Verschlüsse vertraut zu machen, um danach das gute Stück auch unverzüglich mit Inhalt zu füllen. Alles, was ich auf der Abreise anziehen würde, legte ich separat, während alles Übrige in dem schwarzen Ungetüm verschwand. Am Ende alle Taschen verschließen, für den Flug noch zwei Kofferbänder um ihn herum anbringen, fertig. Nun durfte mein neu erworbener Pilgerpartner auf die Waage. Schließlich konnte man überall lesen, dass ein möglichst geringes Gewicht des Rucksackes elementar sei. Dabei wären zehn Prozent des eigenen Körpergewichts ideal. Und da ich aktuell 84 kg auf die Waage brachte – und mit Kleidung sicher knapp 90

 

 

 

- sollte das Display der Waage nun ganz brav 9 kg anzeigen.

So war zumindest der Wunsch…

 

Aber die Waage dachte nicht im Traum daran, bei der neun oder irgendwo iihrer Nähe stehen zu bleiben. Nein, selbst die zehn ließ sie aufreizend gleichgültig hinter sich, bis sie mir anklagend die Zahl 11,5 zeigte. Es war fast, als würde mir die Waage die Zunge heraus strecken, als wollte sie sagen: „Ätsch, geirrt, Alter!“. Tja, diese Zahl war ein Faktum, mit dem ich erst einmal fertig werden musste. Alle guten Vorsätze, was ein geringes Tragegewicht betraf, waren mit einem Mal über den Haufen geworfen.

11,5 kg.

In Worten: Elfkommafünf.

Und es war sinnlos, auch nur im Ansatz darüber nachzudenken, ob ich etwas vom bereits verstauten Inhalt zurücklassen konnte. Ein ganzes Jahr lang hatte ich dieses Sortiment gleichermaßen minimalistisch wie zweckmäßig zusammengestellt. Es gab einfach nichts Überflüssiges. Ok, ein paar Sicherheitsnadeln weniger vielleicht. Hier und da ein bisschen Salbe oder Gel. Um damit 100 Gramm zu gewinnen? Völliger Blödsinn. Gut, dieser tolle Trekkingrucksack hatte natürlich auch ein Eigengewicht von 2,4 kg, und die preisgünstige Allwetterjacke vom Discounter für nur 18 Euro war auch nicht ohne, aber ich hatte absolut keine Lust, jetzt elementare Ausrüstungsänderungen durchzuführen. Es war nun mal so wie es war, und es blieb mir nichts anderes übrig, als das relativ hohe Gewicht als zusätzliche Herausforderung anzunehmen. Also stellte ich das Bündel erst einmal in die Ecke, und bevor ich den Raum verließ, kehrte ich nochmal um und hob es spaßeshalber nochmal mit 2 Fingern am oberen Tragegriff einige Zentimeter vom Boden hoch. Und ja, es fühlte sich verdammt schwer an. Das sollte also der Rucksack sein, den ich mal so 450 km zu Fuß durch Spanien tragen wollte - ein zu diesem Zeitpunkt ziemlich absurder Gedanke.

 

Dieses „packende“ Erlebnis fand also am Mittwochabend statt, zweieinhalb Tage vor der Abreise. Es folgte ein normaler Bürotag mit den schon üblichen

 

 

tausend Gedanken, die mir von morgens bis nachmittags durch den Kopf huschten, sowie ein anschließender Besuch bei der Fußpflege, wo ich mir nochmal alles von der Seele reden konnte, was mir so in den Sinn kam. Dabei war die sehr behutsam zu Werke gehende, sympathische Fußpflegerin ganz und gar nicht davon genervt, im Gegenteil – sie war sehr interessiert –

und hatte eine solche Pilgerreise auch für sich selbst schon mehrmals erwo-gen, aber bis heute nicht die Zeit dafür gefunden. Ja, so war das mit den gu-

ten Vorsätzen und Plänen fürs Leben – ich hatte das einige Seiten vorher ja schon erwähnt. Wir flachsten sogar noch, als sie sagte sie käme spontan mit und man müsste dann einfach wegbleiben und nicht mehr zurückkehren. Aber das war natürlich nie eine Option für mich. Ich liebte mein Leben hier, meine Frau, meine Kinder, und alles was mein Leben hier ausmachte. Aber ich liebte auch den Reiz dieser wochenlangen Auszeit, die mir bevorstand. Und mit den nun auch fachmännisch gepflegten Füßen konnte fast nichts mehr schiefgehen. Letztendlich waren sie es, auf die es in den nächsten Wochen am meisten ankam. Sie würden am Ende die ganze Last tragen müssen, Tag für Tag, Kilometer um Kilometer. Sich Blasen zu laufen war verboten. Und dass es gar nicht erst soweit kommen würde, dafür hatte ich in den letzten Wochen so einiges getan. Wesentlich dabei war die tägliche Pflege mit Hirschtalg gewesen – morgens und abends die Füße damit eincremen, mindestens vier Wochen lang. Und daran hielt ich mich akribisch – und ein hochwertiger Outdoor-Schuh, für den ich mein Konto um zwei große grüne Banknoten erleichtert hatte, rundeten meine Präventivmaßnahmen ab. Wenn es denn doch die eine oder andere Blase geben sollte, konnte ich mir zumindest keinen Vorwurf machen, nicht alles getan zu haben, um das zu vermeiden.

Und ich kann schon jetzt verraten: Meine Maßnahmen hatten sich gelohnt.

 

An jenem Donnerstag hatte ich allerdings noch ein sehr eindringliches Erlebnis, dessen Intensität mir erst Stunden später bewusst wurde und mich am Abend wie eine turmhohe Welle überkam. Es begann nachmittags im Büro, es lief wie immer das Radio, als beim laufenden Sender ein Mann an-

 

 

rief, der sich einen Song wünschen durfte. Auf die Frage des Moderators nach dem Wunschtitel entschied sich der Anrufer für einen Song von Mark Knopfler mit dem Titel „The long road“. Als der Song angespielt wurde, schauten meine Bürokollegin Nadine und ich uns entgeistert an und hatten offensichtlich den gleichen Gedanken: Wir kannten beide das Lied schon

sehr lange, aber wussten bis heute weder, dass es von Mark Knopfler war, noch dass es diesen Titel trug. Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass ich Mark Knopflers Stücke seit vielen Jahren liebte, und ich war extrem überrascht, dass dieses Stück von ihm war – denn ich kannte es seit gut 30 Jahren, da es täglich gegen 23 Uhr auf dem gleichen Sender gespielt wurde – in Verbindung mit einigen philosophischen Gedanken, die zu dieser Zeit von der Stimme eines Geistlichen gesprochen wurden. Diese 1-2 nachdenklich stimmenden Minuten laufen bei dem Sender unter dem Titel „Auf ein Wort“. Als ich an besagtem Tag nach Hause kam, suchte ich auf Youtube nach dem Song und stieß auf die verschiedensten Cover-Versionen. Ich blieb letztendlich bei der eines älteren Herrn aus den USA hängen – er hieß Phil McGarrick - und die Art und Weise wie er dieses überaus melodische Instrumentalstück spielte, faszinierte mich. Und während ich gebannt seinem Gitarrenspiel lauschte, las ich nochmal den Titel, der direkt über dem Video-Fenster stand: „The long road“!. Und urplötzlich entdeckte ich den Zusammenhang mit meiner bevorstehenden Pilgerreise und mich überkam am ganzen Körper Gänsehaut und das ist nicht übertrieben, alle Armhaare standen mir zu Berge. Da kannte ich diese Melodie seit mehr als 30 Jahren und zwei Tage vor meiner Pilgerreise erschloss sich mir der Titel, und nun lauschte ich verträumt dieser vertrauten Melodie. Wenige Stunden später, als meine Frau von ihrer Spätschicht nach Hause kam, holte ich sie zu mir an den PC und sie setzte sich neben mich. Ich zeigte ihr das Video, und während ich versuchte, ihr zu vermitteln, was der Song mit diesem Titel für mich seit heute bedeutete, liefen mir plötzlich die Tränen aus den Augen und ich konnte nur noch mühsam mit zitternder Stimme weiter sprechen. Und ich sagte zu ihr am Ende: „Schau – das ist unglaublich, ich muss jetzt schon weinen, und bin noch nicht mal auf dem Weg.“ Das war an diesem Abend

 

 

ein erstes, sehr intensives emotionales Erlebnis, das direkt mit meinem Pilgerweg zusammen hing.

 

Freitag, 26. August.

Der letzte Tag im normalen Leben vor der Abreise. Sofern man an diesem Tag überhaupt noch von normalem Leben sprechen konnte. Im Gegenteil – man könnte fast sagen, dass mein Geist Deutschland schon verlassen hatte. Das einzige, was hier noch aufgeregt umherwuselte, war der Körper eines Menschen, der sich zweifellos im Aufbruch befand. Naturgemäß war – wie immer vor einem Urlaub – der letzte Tag im Büro etwas länger. Alles musste, soweit es eben ging, aufgeräumt, alle noch offenen Mails beantwortet oder delegiert werden. Aber irgendwann gegen 16 Uhr war auch das geschafft, und ich schlich mich auf erwartungsvollen Pfoten langsam über das Werksgelände zum Parkplatz. Auf dem Weg nach Hause waren nur noch ein paar kleinere Einkäufe zu erledigen, insbesondere die Getränkevorräte von zu Hause musste ich auffüllen, denn ich wollte meiner Frau keinesfalls zumuten, dass sie während meiner mehrwöchigen Abwesenheit auch noch schwere Getränkekisten schleppen musste. Und nachdem ich diese lebenserhaltenden Flüssigkeiten im Keller verstaut hatte, stand ein letzter Weg an: Der zum Friseur. Und so erwartete mich im Nachbarort bereits die liebenswerte Claudia in ihrem eigenen kleinen Salon, wo ich schon seit einigen Jahren ihr Stammkunde gewesen war. Und natürlich gab es heute nicht nur ganz viel zu bereden, sondern auch wegzuschneiden, denn – auch wenn ich sonst durchaus ein eitler Mensch war – mit Haarpflege wollte ich mich auf dem Camino auf gar keinen Fall befassen. Und so kostete es mich nicht die geringste Überwindung, dass Claudia diesmal mit der Maschine mein mit grau meliertem Haar übersätes Haupt bearbeitete, bis am Ende nur noch 9 mm Kopfgras übrig blieben. Beim Blick in den Spiegel musste ich kurz nachdenken, wann ich sie eigentlich zum letzten Mal so kurz hatte. Ja, das musste wohl 2001 gewesen sein, also vor mehr als 16 Jahren, als ich mich in einer ziemlich üblen Lebenskrise befand, die ich mir seinerzeit selbst eingebrockt hatte. So war mein damaliger Sträflingshaarschnitt ganz offensichtlich ein

 

 

Spiegelbild meines seelischen Zustandes. Hätte ich an diesem Tag Claudia gebeten, aus meinem Haarschopf ein Spiegelbild meiner mentalen Verfassung zu erschaffen, ja dann hätte ich ihren Salon vermutlich mit einem in vielen schrillen Farben schillernden Afrolook verlassen. Und all meine Freunde und Bekannten würden mich kopfschüttelnd und mit tausend Fragezeichen gefüllten Sprechblasen verabschieden. Aber glücklicherweise waren noch einige klare Gedanken vorhanden, die sich am Ende für diese vernünftige Stoppelfrisur entschieden, und das war auch gut so. Mit Claudias besten Wünschen für meinen Camino im Gepäck verließ ich ihren Salon und fuhr nach Hause. Eigentlich wäre ich nun mit meiner Frau zu einem gemütlichen Abschiedsessen in den Nachbarort gefahren und wir hätten uns dort wie zwei verliebte Teenager in intimer Zweisamkeit auf unsere lange Trennungszeit vorbereitet. Doch spielte uns das Schicksal leider einen Streich, denn meine Frau war seit mehreren Tagen extrem erkältet und musste das komplette Programm über sich ergehen lassen: Fieber, Husten, Schnupfen, verstopfte Nase, Halsschmerzen, und sonstige üble Begleiterscheinungen. Gefühlt war der traurige Höhepunkt ausgerechnet an unserem letzten Abend erreicht – aber so spielte manchmal das Leben. Also verbrachten wir den letzten Abend zuhause und gingen frühzeitig zu Bett – meine gebeutelte Frau, um hoffentlich mit starken Erkältungsmedikamenten etwas Schlaf zu finden – und ich, weil mein Wecker mit der Weckzeit 3.15 Uhr gefüttert war.

Wir fielen beide schnell in einen tiefen Schlaf.

 

5 - Die Abreise

 

3 Uhr 15.

Das Ertönen des Weckers kam einem Fallbeil gleich, das eine mehr als einjährige Vorbereitungszeit innerhalb einer Sekunde beendete. Millionen feinste Körnchen, die ein Jahr lang durch meine imaginäre Sanduhr gerieselt waren, hatten sich nun bis aufs letzte im unteren Behälter versammelt. Die

 

Stunde null war gekommen, alles Warten vorbei. Fast zeitgleich mit dem Weckton war bereits mein erstes Bein aus dem Bett, und nichts hielt mich mehr in dem flauschigen Nachtlager – selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit nicht. Meine Frau hatte den Wecker nicht registriert und befand sich hörbar im Tiefschlaf, in dem ich sie auch beließ, denn wir hatten am Vorabend schon vereinbart, dass ich sie nicht wecken würde, wenn sie trotz ihrer starken Erkältung endlich in einen erholsamen Schlaf gefunden hatte. Und so schlich ich mich aus dem Schlafzimmer, in das ich nun für 25 Tage und Nächte nicht mehr zurückkehren sollte. Und während ich mir an normalen Tagen nach dem Aufstehen in der Regel sehr viel Zeit ließ, stand mir heute überhaupt nicht der Sinn nach Trödeln. Nach der Morgentoilette wurden rasch die letzten Artikel im Kulturbeutel verstaut, während in der Küche bereits die Kaffeemaschine blubberte. Und da zu dieser Zeit ohnehin noch keine Tageszeitung im Briefkasten war, gab es keinen Grund, sich zum Frühstück besonders lange am Tisch niederzulassen. Eine meiner beiden Wanderhosen + Laufshirt zog ich bereits zur Anreise an, die zweite Garnitur befand sich im Rucksack. Darüber ein warmes, weißes Longsleeve sowie die Outdoorjacke, da es zu dieser frühen Stunde doch noch ziemlich kühl war. Als ich mir sicher war, nun wirklich alles zusammen zu haben, packte ich meinen Rucksack sowie meinen geliebten Cowboyhut, den ich 2006 auf der Route 66 in den USA gekauft hatte, ins Auto. Ich hatte mir am Vortag bei einer hiesigen Autovermietung einen SUV gemietet, der mich nun nach Frankfurt zum Flughafen bringen sollte, denn ich wollte es weder meinem 21 jährigen Sohn, meiner erkälteten Frau noch irgendeinem befreundeten Nachbarn zumuten, mich zu solch früher Stunde zum 230 km entfernten Flughafen zu bringen, und für einen Mietpreis von nur 66 Euro war dies nicht nur eine erschwingliche, sondern auch vernünftige Lösung.

 

Als ich kurz nach 4 Uhr morgens die Haustüre hinter mir ins Schloss zog, war es noch dunkel. Ich stieg in den bulligen SUV und mit einem dumpfen Schlag fiel die schwere Fahrertür ins Schloss. Ein kurzes Drücken des Startknopfes, und schon durchdrang das Geräusch der 2-Liter-Maschine die

 

 

Stille der langsam endenden Nacht. Vorsichtig, fast wie auf Zehenspitzen, rollte ich aus der Hofeinfahrt und setzte mich in Bewegung, um mein erstes Ziel zu erreichen – Frankfurt am Main. Die Straßen waren wie erwartet verwaist, als ich Kilometer um Kilometer durch die Morgendämmerung glitt. Und da mir alle denkbaren und einkalkulierten Verzögerungen glücklicherweise erspart blieben, war ich deutlich früher in Frankfurt als erwartet. Bereits um 6.45h gab ich an der SIXT-Annahme den SUV ab und begab mich mit dem Rucksack auf dem Rücken zum Check-in-Schalter. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, da ich noch nie ohne Flugticket eingecheckt hatte – ob diese lange Ticket-No. auf meinem Zettel wirklich reichen würde? Aber sie tat es, und eine große Erleichterung überkam mich – auch gewichtsbedingt - denn der Rucksack war nun aufgegeben, und so hatte ich nichts mehr bei mir außer der Bauchgürtel-Tasche, in der sich meine wichtigsten Unterlagen sowie mein Bargeld und zwei Kreditkarten befanden. Ein erster Anflug von Freiheit überkam mich. Dieses Dahinschlendern durch die Flughalle – so ganz ohne Gepäck – das hatte etwas von Schwerelosigkeit, und obwohl ich so zeitig vor Ort war, verging die Zeit des Wartens recht schnell, und kurz nach 8 Uhr bestieg ich bereits die Maschine nach Brüssel, wo ich eine gute Stunde Aufenthalt haben sollte, ehe es weiter nach Bilbao gehen würde.

 

Brüssel selbst war nach Frankfurt erst die zweite von fünf Stationen auf meiner langen Anreise, und deshalb war meine Ankunft dort noch kein Anlass zur Euphorie. Zu viele Hürden galt es noch zu überspringen, bis mich die Ziellinie meiner Anreise erwartete. Die etwa einstündige Zeit dort nutzte ich für einen kleinen Imbiss und einen kräftigen Schluck Bier an einem der

vielen Stände in der Flughalle. Als kurz danach die Maschine mit mir an Bord Richtung Bilbao abhob, machten sich prompt auch wieder erste Endorphine in meinen Blutbahnen auf die Reise. Jedoch erwartete mich dort ein kleines Risiko: Die Landung war auf 13.40 Uhr terminiert, und bereits vor Wochen hatte ich meine Busfahrt von Bilbao ins dann 156 km entfernte Burgos gebucht – Abfahrt Bilbao Autobusbahnhof um 15 Uhr, und dieser Bahnhof war 15 km vom Flughafen entfernt. Also war ich noch einmal, viel-

 

 

leicht ein allerletztes Mal vor meinem Pilgerweg, auf Pünktlichkeit angewiesen. Wie befreiend mochte es wohl sein, sich danach endlich von den Geiseln der Zeit zu lösen, für mehrere Wochen lang. Einfach nicht mehr auf die Uhr schauen zu müssen. Vielleicht gar keine mehr am Arm zu tragen, und sich dennoch nicht nackt zu fühlen. Zeit und Gleichgültigkeit, zwei Dinge, die im Alltag so ganz und gar nicht Hand in Hand gingen. Und nun die Aussicht darauf, dass sie endlich zueinander finden würden, mit mir mitten drin. Ein Umstand, der schon allein beim Gedanken daran berauschen konnte. Aber noch war es nicht so weit, noch einmal mussten die Puzzlesteine einer Terminplanung ineinander passen, andernfalls wäre mal wieder Improvisationstalent gefragt, aber danach stand mir ganz und gar nicht der Sinn. Und so lag es auf der Hand, dass ich während des Fluges sehr oft das Ziffernblatt meiner Uhr ablas und rechnete. Aber das Glück verließ mich auch diesmal nicht, denn die Maschine war sogar einige Minuten früher auf spanischem Boden, und 13.40 Uhr hatten wir bereits unsere Parkposition erreicht und durften den Vogel verlassen. Und da der Flughafen Bilbaos im Vergleich zu vielen anderen europäischen Flughäfen sehr übersichtlich war, hatte ich das Gepäckband schnell erreicht, und bereits nach wenigen Minuten setzte es sich in Bewegung. Als mein Rucksack bereits eines der ersten Ge- päckstücke war, welches zum Vorschein kam, fiel mir ein Stein vom Herzen – denn ohne ihn wäre ich buchstäblich aufgeschmissen gewesen. Immerhin wurde er bereits in Brüssel umgeladen – und wie oft schon haben Gepäckstücke eine solche organisatorische Herausforderung nicht ‚überlebt‘ Aber mein Rucksack hatte es, und nun durfte er endlich wieder auf meine Schultern, und mit großen Schritten näherte ich mich dem Ausgang, wo ich ebenso erleichtert sofort zahlreiche freie Taxis vorfand. Stolz trug ich einem der Fahrer einige meiner wenigen gelernten spanischen Worte vor und sage bestimmt:“Estacion de Autobuses“, woraufhin mir der kleine spanische Chaffeur den Rucksack abnahm, ihn behutsam in seinen Kofferraum legte, und mich binnen weniger Minuten über die Autobahn direkt zu meinem vorgetragenen Ziel brachte. Für diese Dienstleistung erleichterte er mich um 35 Euro, aber die waren es mir jeden Cent wert, denn bereits um 14.20 Uhr war