Wie wir wohnen werden

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Über dieses Buch

In der Frage, wie wir künftig wohnen werden, schwingen viele soziale Themen mit. Welche Preise können wir uns noch leisten? Wie gehen wir mit der Alterung der Gesellschaft, der Zuwanderung und der Veränderung unseres Klimas um? Was passiert, wenn irgendwann alle nur noch in der Stadt leben wollen und es immer mehr Singlehaushalte gibt? Wie finden wir genügend lebenswerten Wohnraum für alle?

Der Architekturkritiker und Journalist Klaus Englert erzählt, wie unsere moderne Wohnung entstand und wie sich das Wohnen im 21. Jahrhundert verändern wird. Mit zahlreichen Abbildungen sowie exklusiven Interviews mit den bekannten Architekten Tobias Wallisser, Winy Maas und Werner Sobek.

 

»Ein willkommenes, entschiedenes Plädoyer.«

(Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Endnoten

  1. Niklas Maak, Warum wir andere Häuser brauchen, München 2014, S. 109.

  2. »Berlin und Frankfurt werden bevorzugt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 922018.

  3. »Immer mehr Chinesen kaufen deutsche Immobilien«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2062017.

  4. Die Nummer eins der Branche, spezialisiert auf den Ankauf von Betriebs- und Sozialwohnungen, erreichte für 2018 eine Steigerung der Mieteinnahmen um 13 Prozent.

  5. Die einstige Landesentwicklungsgesellschaft NRW wurde 2008 von der Landesregierung an den amerikanischen Whitehall Real Estate Funds verkauft und ging 2013 an die Börse.

  6. »Rettet die Stadt!«, Die Zeit, 1112018.

  7. »Unser Traumhaus ist ein Albtraum«, Spiegel, 3112018.

  8. »Niedrige Mieten und günstige Sozialwohnungen in Wien«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2192018.

  9. »Wer soll das bezahlen?«, Spiegel, 342018.

  10. Im Gegensatz zu Deutschland hat Österreich die Gemeinnützigkeit im Wohnbereich nicht abgeschafft. 60 Prozent der Wiener leben in einer kommunalen oder zumindest geförderten Wohnung. Maßgeblich dafür war die Periode des »Roten Wien«, in der die sozialistische Stadtregierung zwischen 1923 und 1934 insgesamt 65 000 kommunale Wohneinheiten schuf, nämlich »leistbare« Wohnungen für verschiedene Bevölkerungsschichten. Wiens derzeitiger Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ), der selbst in einer »Gemeindewohnung« aufwuchs, sorgte zuvor als Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung dafür, dass die 220 000 Wiener Gemeindewohnungen (200 000 sozial gebundene Wohneinheiten von gemeinnützigen Wohnbauvereinigungen kommen noch hinzu) vor der Privatisierung geschützt werden.

    Ähnliches geschieht in den Niederlanden, wo die Woningcorporaties (Wocos) als gemeinnützige Wohnungsunternehmen zuständig sind für gemeinwohlorientiertes Bauen, Bewirtschaften, Vermieten und Verkaufen von Wohnraum. In vielen Großstädten wie Amsterdam werden bis zu 50 Prozent der Wohneinheiten von den Wocos bewirtschaftet. Und knapp 70 Prozent der Haushalte mit einem Einkommen von unter 40 000 Euro leben in einer Woco-Wohnung (vgl. dazu: Jan Kuhnert / Olof Leps, Neue Wohnungsgemeinnützigkeit. Wege zu langfristig preiswertem und zukunftsgerechtem Wohnraum, Studie im Auftrag der Bundesfraktion Bündnis 90 / Die Grünen, 2015).

  11. »Berlin ist endlich Weltspitze«, Die Tageszeitung, 1242018.

  12. »Berliner Senat steht hinter Rückkauf von Wohnungen«, Der Tagesspiegel, 1512019.

  13. Walter Benjamin, Gesammelte Briefe. Bd. IV. 19311934, hrsg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1998, S. 366.

  14. Brief Benjamins an Adorno vom 3151935; in: Theodor W. Adorno / Walter Benjamin, Briefwechsel 19281940, hrsg. von Henri Lonitz, Frankfurt a. M. 1994, S. 119.

  15. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Das Passagen-Werk, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1989, S. 291 f.

  16. Louise Weiss, zit. n. Walter Benjamin, a. a. O., S. 298.

  17. Dolf Sternberger, zit. n. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.2. Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1998, S. 682.

  18. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1998, S. 286.

  19. zit. n. Walter Benjamin, a. a. O., S. 292.

  20. Dolf Sternberger, zit. n. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.2. Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M., S. 682.

  21. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1998, S. 292.

  22. Walter Benjamin, a. a. O., S. 291.

  23. Karl Marx, zit. n. Walter Benjamin, a. a. O., S. 295.

  24. Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München 1960, S. 38 f.

  25. Tony Moilin, zit. n. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. V.1. Das Passagen-Werk, Frankfurt a. M. 1998, S. 101. Der Arzt und Politiker Tony Moilin wurde im Mai 1871 wegen seiner Teilnahme an den Barrikadenkämpfen der Pariser Commune mit 39 Jahren hingerichtet.

  26. Charles Fourier, zit. n. Franziska Bollerey, Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten, Berlin 1991, S. 121.

  27. L’esprit nouveau war auch der Titel einer Avantgarde-Zeitschrift, die der Architekt und Hobby-Maler Le Corbusier und der Maler Amadée Ozenfant zwischen 1920 und 1925 herausgaben.

  28. Walter Benjamin, »Die Wiederkehr des Flaneurs«, in: W. B., Gesammelte Schriften. Bd. III, Frankfurt a. M. 1989, S. 196.

  29. Walter Benjamin, Reisenotizen. Notiz vom 8. Juni 1930, in: W. B., Gesammelte Schriften. Bd. VI, Frankfurt a. M. 1998, S. 435.

  30. Walter Benjamin, »Der Sürrealismus«, in: W. B., Gesammelte Schriften. Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1998, S. 298.

  31. Bruno Taut, Die neue Wohnung, Leipzig 1925 (3. Auflage), S. 1114.

  32. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. VI, Frankfurt a. M. 1998, S. 426.

  33. Adolf Behne, »Glasarchitektur«, in: Bruno Taut, Frühlicht 19201922. Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens, Frankfurt a. M. 1963, S. 14.

  34. Walter Gropius, »Glasbau«, in: W. G., Ausgewählte Schriften. Bd. 3, hrsg. von Hartmut Probst und Christian Schädlich, Berlin 1988, S. 103.

  35. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Bd. VI, Frankfurt a. M. 1998, S. 427. Benjamin spricht von »verschiebbaren« Räumen.

  36. Hannes Meyer, »Die Neue Welt«, in: Das Werk, 13, H. 7, 1926, S. 205.

  37. Der Basler Architekt Hannes Meyer dachte bei dem Namen natürlich an die 1890 in Basel gegründete und bis heute bestehende Genossenschaft Coop.

  38. Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1925.

  39. Robert Musil, Nachlass zu Lebzeiten, Kapitel VI, »Türen und Tore«.

  40. Bruno Taut, zit. n. Angelika Thiekötter [u. a.], Kristallisationen, Splitterungen. Bruno Tauts Glashaus, Basel 1993, S. 11.

  41. Walter Benjamin, »Erfahrung und Armut«, in: W. B., Gesammelte Schriften. Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1998, S. 217.

  42. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 19 f.

  43. Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 8.

  44. Vgl. hierzu: Rem Koolhaas, Elements of Architecture, Köln 2018, S. 42.

  45. Walter Benjamin, »Die Mietskaserne«, in: W. B., Gesammelte Schriften. Bd. VII.1, Frankfurt a. M. 1998, S. 121-123.

  46. Peter Sloterdijk, Sphären. Bd. 3: Schäume, Frankfurt a. M. 2004, S. 472 f.

  47. Buckminster Fuller, zit. n. Peter Sloterdijk, Sphären, a. a. O., S. 552.

  48. El Lissitzky, Russland. Architektur für eine Weltrevolution, Braunschweig 1989, S. 48.

  49. Hans Schwippert, zit. n. dem Vortragsmitschnitt, Tonarchiv des WDR Köln. Vgl. auch: Das Darmstädter Gespräch. Mensch und Raum 1951. Mit den wegweisenden Vorträgen von Schwarz, Schweizer, Heidegger, Ortega y Gasset, hrsg. von Otto Bartning, Braunschweig 1991.

  50. Otto Bartning, zit. n. dem Vortragsmitschnitt, Tonarchiv des WDR Köln. Das Darmstädter Gespräch. Mensch und Raum, a. a. O., S. 168.

  51. Edgar Wedepohl, »Die Weißenhofsiedlung der Werkbundausstellung ›Die Wohnung‹ in Stuttgart 1927«, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst XI, 1927, S. 396 f. Wedepohl war nach dem Krieg Professor an der Berliner Hochschule für Bildende Kunst und Vorsitzender des von ihm wiederbegründeten Bund Deutscher Architekten (BDA).

  52. Martin Heidegger, »Bauen Wohnen Denken«, in: M. H., Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1985, S. 156.

  53. Carl Schmitt, »Gespräch über den Neuen Raum«, in: C. S., Gespräche, Berlin 1994, S. 56.

  54. Emmanuel Lévinas: »Heidegger, Gagarin und wir«, in: Die Tageszeitung, 1941991.

  55. Vgl. Peter Sloterdijk und Werner Sobek, Wohnen in der Zukunft, Gespräch am 2922009 im Kunstmuseum Wolfsburg, DVD.

  56. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Bd. 2, Frankfurt a. M. 1959, S. 858.

  57. Reyner Banham, »A Home is not a House«, in: Art in America, volume 2, 1965, S. 7080.

  58. George Maciunas in: Rem Koolhaas, Elements of Architecture, Köln 2018, S. 421.

  59. Buckminster Fuller, zit. n. Peter Sloterdijk, Sphären. Bd. 3: Schäume, Frankfurt a. M. 2004, S. 557.

  60. Reyner Banham, »A Home is not a House«, in: Art in America, volume 2, 1965, S. 73.

  61. George Maciunas, on Corbusier, in: georgemaciunas.com/essays-2-maciunas-on-corbusier.

  62. George Maciunas, Fluxus Prefab Building System, a. a. O.

  63. Bruno Taut, Die neue Wohnung, Leipzig 1925 (3. Auflage), S. 2830.

  64. Tobias Wallisser, in: Klaus Englert, »Raus aus der Höhle. Architektenträume der Moderne«, Deutschlandfunk Berlin, 1272017.

  65. Gerhard Rehder, zit. n. Brigitte Franzen, Die Siedlung Dammerstock in Karlsruhe 1929, Marburg 1993, S. 31.

  66. Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 13.

  67. Vgl. zu dieser Thematik: Klaus Englert, Architekturführer Barcelona, Berlin 2018, S. 4959.

  68. Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, Frankfurt a. M. 1985, S. 13.

Seit Jahren ist das Wohnen ein umkämpftes Terrain in der deutschen Gesellschaft. Der Kampf um bezahlbare Eigentums- und Mietwohnungen wird immer wieder aufs Neue ausgefochten, weil die Grundstückspreise in den Großstädten ins Uferlose zu wachsen scheinen. Selbst die gesetzlich wirksame Mietpreisbremse oder der Berliner »Mietendeckel« ändern daran grundsätzlich nichts. Das wird so lange bleiben, wie es die gesetzlichen Regelungen erlauben, Grund und Boden – bar jeder Sozialbindung – als Spekulationsmasse zu behandeln. Denn mit kalkulierter Wohnungsnot lassen sich prächtig steigende Miet- und Bodenpreise erzielen. Während börsennotierte, globale Immobilienfonds den Markt erobern und die Bodenpreise explodieren lassen, wachsen zusehends die Stadtviertel, die für Normalverdiener zeitlebens unerreichbar bleiben werden. Diesem politischen Aspekt des Wohnens, dem allfälligen Hintergrundrauschen in der Wohnungsdebatte, widmet sich das Einführungskapitel über die »Misere des Wohnungsmarktes«.

Worin bestehen alternative Strategien, um diesem Missstand zu entgehen? Heutzutage tritt der soziale Aspekt des Bauens zunehmend in den Vordergrund, beispielsweise wenn sich Kommunen dazu entschließen, über Erbbaurecht bezahlbare Immobilien an Baugemeinschaften und Baugenossenschaften weiterzugeben, die sie auf dem freien Markt niemals erhalten hätten.

Gerade die Forderung nach preiswertem Wohnen und gut gestalteten Wohnräumen war eines der Kernanliegen des Bauhauses mit seinen Direktoren Walter Gropius und Hannes Meyer, die nicht allein bewiesen, dass beides sehr wohl miteinander zu vereinbaren ist, sondern auch, dass eine am Gemeinwohl ausgerichtete Architektur durchaus

Die Bauhaus-Positionen beschäftigen die Architekten – anders als Investoren und Immobilienfirmen – weiterhin bei der Entwicklung künftiger Wohnungsformen. Werner Sobek unterstreicht im Interview, dass die Bauhaus-Forderung »völlig richtig« gewesen sei. Aber mit neuer Technologie, neuer Gesetzgebung und schließlich einem mutigen »anderen Denken« eröffnen sich »neue Wege im Wohnungsbau«. So formuliert es Tobias Wallisser mit Verweis auf Arno Brandlhubers Berliner »Terrassenhaus«. Es geht also keineswegs darum, den durchs Bauhaus eingeforderten Wohnungsstandard für alle Zeiten festzuschreiben. Vielmehr müsste er weiterentwickelt werden, um die Wohnungen – wie im dritten Kapitel ausgeführt – an die Bedürfnisse der heute lebenden Menschen und an die Zeiten des Klimawandels anzupassen. Das bedeutet weniger Materialverbrauch beim Hausbau, weniger Energieverbrauch in der Nutzungsphase, und vor allem den Einsatz nicht-fossiler Energieträger. Auch der dänische Architekt Bjarke Ingels weist immer wieder darauf hin, dass ein bewussterer Umgang mit den

Bei aller modernen Technik, die für das Habitat von morgen zum Einsatz kommt, bleibt das Wohnen ein soziales Phänomen, weil die Minderung von Schadstoff-Emissionen am besten im Zusammenleben mit anderen zu erreichen ist. Die ökologische Forderung nach klimagerechtem Wohnen und die soziale nach mehr Teilhabe im Wohnsektor sind nicht voneinander zu trennen. Sie sind unabtrennbarer Bestandteil einer neuen sozialen Ökologie. Die Renaissance genossenschaftlichen Wohnens in der Schweiz, in Spanien und Deutschland ist ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung, ebenso das vermehrte Interesse an Baugruppen und Mehrgenerationenhäusern. Schließlich führt der zunehmende Einsatz für Dachausbauten, Minihäuser oder Wohnungen mit möglichst flexiblen Grundrissen, um besser auf neue Lebenssituationen reagieren zu können, die Veränderbarkeit der »Immobilie« vor Augen. Bereits 1926 prognostizierte Hannes Meyer: »Unsere Wohnung wird mobiler denn je.« Die einst ersehnte eigene Wohnung ist nicht mehr das unverrückbare Modell fürs Leben. Wie sich das Mobiliar entsprechend unseren gewandelten Bedürfnissen ändert, so auch die »Immobilie«. Unter veränderten klimatischen Bedingungen ist das Ich mit der Aufgabe konfroniert, sich neu »einzurichten«. Das liefe auf eine Ethik des Wohnens hinaus, mithin auf einen Wandel der Lebenshaltung, die einen Wandel des Wohnens nach sich zieht.

Mettmann, im Oktober 2020

Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften erzählt Robert Musil von den Entscheidungsnöten des Protagonisten Ulrich, der nach seinem Umzug unschlüssig ist, welches Mobiliar er aussuchen soll. Das Einzige, was er weiß: Die Menschen leben in Zeiten des Umbruchs. Ulrich folgert daraus: »Eine neue Zeit braucht einen neuen Stil.« Zwar kann er sich nicht sofort zwischen den vielen Einrichtungsangeboten entscheiden – etwa zwischen dem assyrischen, dem kubistischen und dem Bauhausstil –, doch sagt selbst dieses Schwanken etwas über den orientierungslos gewordenen Menschen Ulrich aus.

Auch wir leben heute in einer neuen Zeit – einer Zeit permanenter Umwälzungen. Doch wo ist der neue Stil, der uns entspricht? Wo sind die Wohnräume und Möbel, die etwas über ihre Bewohner erzählen? Ein Architekturkritiker zog 2014 die ernüchternde Bilanz: »Ein Haus sieht noch immer so aus wie vor vierhundert Jahren.«1 Natürlich gibt es einige wesentliche Unterschiede: Was früher eine gut gemauerte Hausfassade war, ist heute oft hässlich und mit Styropor verklebt; wo früher Dachziegel oder Schindeln waren, findet man heute vermehrt glitzerndes Plastik, bestückt mit Solarpaneelen. Und in den schönen alten Fensterlaibungen stecken Plastikfenster mit Plastiksprossen. Selbst die traditionellen Klinker haben ausgedient, man hat sie durch farbige Blendklinker ersetzt. Hinzu kommen Wände aus pappmachéartigem Rigips. Die Kritik am heutigen Hausbau ließe sich beliebig fortsetzen. Das Entscheidende ist aber: Diese Mängel gehören zum System einer Bauindustrie, die Qualitätsstandards mit Blick auf Kosteneffizienz und Rendite immer weiter unterbietet.

Da macht es keinen Unterschied, ob man sich die neuen innerstädtischen Quartiere anschaut, die im Zuge einer

Zum Leidwesen der Wohnungssuchenden: In der Düsseldorfer Innenstadt – als ein Beispiel unter vielen – können sie nun zwischen neoklassizistisch aufgehübschten, aber viel zu teuren Wohnungen wählen. Gebaut wurden sie vom Ratinger Immobilienentwickler Interboden auf den ehemaligen innerstädtischen Gleiskörpern des Güterbahnhofs. Zuvor war das 38 600 Quadratmeter große Grundstück zwischen dem Düsseldorfer Hauptbahnhof und dem nördlichen Stadtteil Derendorf von Aurelis, der Immobiliengesellschaft der Bahn, an den Projektentwickler verkauft worden. Die letzten Wohneinheiten von »Le flair«, einem riesigen urban village auf den einstigen Gleisanlagen, wurden Ende 2018 fertiggestellt, doch bereits ein Jahr vorher waren die letzten Eigentumswohnungen im Wert von 6000 Euro pro Quadratmeter verkauft.

In Düsseldorf wurden gern renommierte Architekten damit beauftragt, die gute alte Architektur wiederauferstehen zu lassen; auf jeden Fall sollte der historische Touch »authentisch« wirken, wenngleich die gesamte Fassade hundertprozentiges Imitat ist. Herausgekommen ist ein betörendes

Das Wohnungsdesaster in den bundesdeutschen Großstädten wird von Jahr zu Jahr dramatischer: In Frankfurt ist der durchschnittliche Kaufpreis bereits bei 4600 Euro, bei Neubauwohnungen sogar bei 5500 Euro pro Quadratmeter angelangt. Derweil stiegen die Mieten in der Main-Metropole in den letzten fünf Jahren um 17 Prozent, die Gehälter dagegen nur um 7,7 Prozent. Und das ist noch geradezu ein Schnäppchen gegenüber einer Münchner Neubauwohnung, die 2018 runde 8000 Euro kostete, während die Miete einer vergleichbaren Wohnung (bei einer jährlichen Preissteigerung von 9,4 Prozent) in der bayerischen Metropole inzwischen bei 19,55 Euro pro Quadratmeter liegt. Selbst die Hauptstadt Berlin, die nach der Wende auch für viele Studenten mit kleinem Geldbeutel attraktiv war, ist mittlerweile nicht nur zum Ressort der Besserverdienenden, sondern zum absoluten hotspot internationaler Immobilieninvestoren geworden. Im trendigen Stadtteil Kreuzberg-Friedrichshain kostete 2017 der Grund und Boden viermal so viel wie ein Jahr zuvor. Und im Verlauf von zehn Jahren sind in Berlin die Wohnungspreise um 159 Prozent gestiegen. Tatsächlich hat der 2017 erschienene »Global Residential Cities Index« des internationalen Immobilienberaters und Maklerunternehmens Knight Frank ergeben, dass in Berlin der Preisanstieg bei Immobilien – im Vergleich zum Vorjahr um 20,5 Prozent – weltweit am größten ist. Optimales Investitionsklima also.

Dass in etlichen Städten Wohnungs- und

Wie sehr sich in den Metropolen der Markt für Luxussegmente ausbreitet, wird im Frankfurter Europaviertel deutlich, einem Neubauviertel mit millionenteuren Apartments und steriler architektonischer Ausführung, am Rande einer breiten Verkehrsschneise. In der Mainmetropole, die viele Chinesen für die Bundeshauptstadt halten, hat sich Anjia Immobilien & Consulting niedergelassen, das erste chinesische Immobilienmaklerbüro in Deutschland, das für chinesische Klienten den Immobilienmarkt neu aufrollen will. Anjia kooperiert mit dem chinesischen Staatsfonds China Investment Corporation (CIC), der 16 000 Mietwohnungen

Deutsche Wohnen, der Zweitplatzierte mit einem Börsenwert von 17 Milliarden Euro, hat sich im Übrigen genauso wie Rubina Real Estate und Berlin Property Services auf die Hauptstadt konzentriert, wo der Immobilienkonzern immerhin 115 000 Wohnungen besitzt. 2009 verleibte sich der von der Deutschen Bank gegründete Börsenkonzern die legendäre Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft (GEHAG) ein, die als gemeinnütziges Wohnungsunternehmen den Bau von zahlreichen modernen Siedlungen etwa von Bruno Taut und Walter Gropius ermöglicht hatte. Heute geht es dem Immobilienkonzern angesichts der mächtigen Konkurrenten Vonovia4 und LEG Immobilien5 um einen beständigen Ausbau seiner Marktanteile. Der Berliner Wohnungsmarkt ist für das Management umso profitabler, als ein Ende des rapiden Anstiegs der Mieten und Wohnungspreise nicht absehbar ist. Auf diese Weise ist vorprogrammiert, dass sich die Wohnungsnot verschärfen wird. Dass sich die Manager von Deutsche Wohnen von der Berliner Bürgerinitiative »Deutsche Wohnen enteignen« oder von Mieterprotesten beeindrucken lassen, die drastische Mietpreissteigerungen nach Modernisierungsmaßnahmen beklagen, ist nicht anzunehmen. Lieber lassen sie sich von den Großaktionären der internationalen Fondsgesellschaft Blackrock, der kanadischen Versicherungsgruppe Sun Life und der Massachusetts Financial Service Company beeindrucken, die bei den Mieten noch viel profitablen Spielraum nach oben sehen. Immobilienwissenschaftler nennen

Derweil ziehen jährlich 50 000 Frankfurter aus der City ins Umland, weil sich die Mittelschicht die Wohnungspreise nicht mehr leisten kann. Die Vororte im Rhein-Main-Gebiet sind in früheren Jahrzehnten oft genug von landeseigenen Wohnungsfirmen und Genossenschaften in Schlafstädte umgebaut worden, denen jegliche lebendige soziale Durchmischung und infrastrukturelle Angebote fehlen. Heute trifft man in den einstigen »Speckgürteln« auf endlose Einfamilienhausreihen, die die bislang vorherrschende tristesse noch verschärfen, zumal sich die klammen Kommunen mit Blick aufs Gemeindebudget den privaten Projektentwicklern nur allzu gerne ausliefern. Mit dem Verkauf der kommunalen »Filetstücke« lässt sich immer gut Geld verdienen. Leider sind die Investoren des freien Marktes an gut funktionierenden Infrastrukturen nur wenig interessiert, weshalb diese zersiedelten Vororte zumeist wie tot wirken – es gibt dort oft keinen Kindergarten und keinen Bahnhof, keinen Supermarkt und kein Krankenhaus, keine Stadtbibliothek und mit Sicherheit auch keinen gut gestalteten, lebenswerten öffentlichen Raum.

Die herrschende Wohnungsmisere hat viele Facetten: Am Stadtrand genießt beispielsweise das populäre, im Akkord hergestellte Massivhaus Dauerkonjunktur. Die meisten dieser Wohnkisten werden von großen Ketten en masse hergestellt – und dem Käufer ohne Keller, ohne Bodenbelag, ohne Innenanstrich übergeben. All das muss beim sogenannten »schlüsselfertigen Haus« bedacht werden. Und vor allem wird die »freie Planung« dem Bauherrn lediglich vorgegaukelt. Eigentlich hat er kaum Möglichkeit, auf die Gestaltung Einfluss zu nehmen. Zudem muss man leider davon ausgehen, dass von den 285 000 Neubauwohnungen, die

Das Baugewerbe ist in den letzten fünf Jahren um 30 Prozent gewachsen, während die Qualifikation der Gewerke gesunken ist, da vornehmlich ausländische Handwerker, die zumeist schlecht ausgebildet sind, auf den Baustellen arbeiten. Dieses Dilemma hat im Neubausektor zu dramatischen Einschnitten geführt. Einen Beleg liefert der letzte Bauschadensbericht, den der Bauherren-Schutzbund gemeinsam mit dem Institut für Bauforschung erstellt hat: Demzufolge hat sich die Zahl der Bauschäden, der von der »Architekt-Ingenieur-Assekuranz« gelisteten Haftpflichtfälle, zwischen 2009 und 2016 nahezu verdoppelt.

Der Altbausektor, der zu Recht wegen seiner besseren Bausubstanz gepriesen wird, kommt bei Renovierungsmaßnahmen auch nicht besser weg. Für die Bauherren steigen die Modernisierungskosten fast regelmäßig ins Unermessliche, weil sich anfangs gesetzte Budgetlimits kaum einhalten lassen. Das liegt aber weniger am Unvermögen der Bauherren als daran, dass die Handwerker Aufträge in vielen Fällen nicht pünktlich, fehlerlos, vereinbarungsgemäß, ohne drastische Kostenüberschreitung sowie ohne Tricks und Machenschaften ausführen. Die meisten Bauherren in Großstädten sind schon froh, wenn überhaupt ein Handwerker vorbeikommt, und die Stimmung wandelt sich schnell in Ernüchterung, wenn sie am Ende die Schadensfälle summieren. Für viele Handwerksbetriebe ist die Altbaurenovierung zum ersehnten Eldorado geworden, weil die Komplexität

Doch Wohnungsneubau und Altbaurenovierung sind sicherlich nicht einmal die krassesten Erscheinungen eines Wohnungsmarkts, der dem Geist des Neoliberalismus zunehmend ausgeliefert ist. Die Leidtragenden sind die zahlreichen Menschen, die nicht einfach vor den steigenden Mieten aus den Städten ins Umland fliehen können. Weil zahlreiche Kommunen zum Zwecke der Haushaltssanierung neben den städtischen Wohnungsbaugesellschaften auch zahllose Sozialwohnungen verkauft haben, fehlen heute beispielsweise in der Mainmetropole Frankfurt, die so gerne auf das Luxussegment setzt, für die nicht so mobilen unteren Schichten 28 000 Sozialwohnungen. In Berlin wurden jahrelang nicht allein kommunale Flächen meistbietend an Investoren verkauft, sondern fast ein Drittel der städtischen Wohnungen privatisiert. Ein ähnlicher Ausverkauf preisgebundener Mietwohnungen ereignete sich in den letzten 30 Jahren auch in Nordrhein-Westfalen. Gerd Landsberg, Vorsitzender des Städtebunds, kritisiert zutreffend, dass sich der Mangel an bezahlbarem Wohnraum als »sozialer Sprengstoff«8 erweisen werde.

Im Auftrag der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung untersuchten Stadtsoziologen der Berliner Humboldt-Universität und der Frankfurter Goethe-Universität 2018 das Beziehungsgeflecht aus Armut und Wohnungsmangel. Dabei fanden sie heraus, dass es in 77 deutschen Städten einen Bedarf von insgesamt 1,9 Millionen bezahlbaren Wohnungen gibt. In der Studie heißt es:

Es mangelt vor allem an kleinen Wohnungen bis 45 Quadratmeter, die für allein Lebende mit niedrigem Einkommen vorgesehen sein sollten. Von ihnen gibt es einen Fehlbedarf von 1,4 Millionen. Und für die in den Großstädten stark anwachsenden Singlehaushalte fehlen deutschlandweit sogar 3,8 Millionen Kleinstwohnungen. Wenn überhaupt welche angeboten werden, weisen sie lediglich Grundrisse auf, die gemeinhin viel zu unflexibel und nicht an neue Lebenssituationen anzupassen sind. In der Tat ist Berlin auch in diesem Segment ein Negativbeispiel: Neben dem höchsten Preisanstieg bei Neuvermietungen (76 Prozent) weist die Hauptstadt mit über 310 000 Stück auch den höchsten Fehlbedarf an bezahlbaren Wohnungen bis zum Medianeinkommen auf.

Zum Glück dämmert es mittlerweile in den Frankfurter und Berliner Baudezernaten, dass der Verkauf der kommunalen Wohnungsunternehmen und der Abbau der Sozialwohnungen die sozialen Engpässe auf dem Wohnungsmarkt verschärft haben. Ebenso scheint es zahlreichen Wohnungspolitikern zu dämmern, dass durch die Absetzung des so genannten Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes,10

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