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1. Auflage 2019


© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

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D-80636 München

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© der Originalausgabe 2018 by McChrystal Group LLC


Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Portfolio, einem Imprint der Penguin Publishing Group, einer Abteilung von Penguin Random House LLC unter dem Titel Leaders: Myth and Reality.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.


Übersetzung: Almuth Braun, Ammersee

Redaktion: Bärbel Knill, Landsberg am Lech

Umschlaggestaltung: Sonja Vallant, München

Umschlagabbildung: shutterstock_124443730

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern


ISBN Print 978-3-86881-756-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-134-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-135-8


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Für John Lewis und John McCain,
die uns daran erinnern,
dass es möglich ist, couragiert und engagiert zu führen
und dabei menschlich zu bleiben.

Inhalt

Vorwort

Der Mythos

»The Marble Man«: Robert E. Lee

Die Gründer

Walt Disney

Coco Chanel

Unternehmertum und Egoismus

Die Genies

Albert Einstein

Leonard Bernstein

Das Genie von nebenan

Die Fanatiker

Maximilien de Robespierre

Abu Mussab Al-Sarkawi

Die Verführungskraft fanatischer Überzeugungen

Die Helden

Zheng He

Versklavung

Harriet Tubman

Menschen brauchen Helden

Die Machtmenschen

William Magear »Boss« Tweed

Margaret Thatcher

Die Hallen der Macht

Die Reformatoren

Martin Luther

Dr. Martin Luther King Jr.

Minenarbeiter, Mönche und Minister

Drei Mythen

Eine Neudefinition von Führung

Nachwort

Dank

Vorwort

And when our work is done,

Our course on earth is run,

May it be said, »Well Done«

Be thou at peace.

Aus der West-Point-Hymne »Alma Mater«

Das Buch ist nur 35 Zentimeter lang und 20 Zentimeter breit und hat einen zerschlissenen orangefarbenen Leineneinband. Einige Seiten fehlen, aber nachdem es über zwei Generationen hinweg tüchtig strapaziert wurde, ist es in auffallend gutem Zustand. Ich kann mich glücklich schätzen.

Das abgegriffene Kinderbuch Greek Tales for Tiny Tots1 wurde 1929 ursprünglich in Chattanooga, Tennessee für ein junges Mädchen namens Mary gekauft, die es hütete wie einen Schatz. Ende der 1950er-Jahre las mir Mary, inzwischen meine Mutter, daraus vor. Ich wiederum las meinem Sohn daraus vor, und vor Kurzem warf meine älteste Enkeltochter, Emmylou, ihren ersten Blick auf die vergilbten Seiten.

Dieses Büchlein liegt mir sehr am Herzen. Mit seinen schlichten Zeichnungen und kurzen Texten erzählt es die Geschichten griechischer und römischer Helden: Theseus, Herkules, Odysseus, Ariadne und anderer, die mit der Natur, dem Schicksal und manchmal miteinander rangen. Natürlich waren es Sagen aus der Mythologie, aber die Erzählungen von Menschen, die mit ihrem Heldentum, ihrer Vision oder Genialität, oft gepaart mit unerschütterlicher Beharrlichkeit, aufregende Abenteuer bewältigten, beeindruckten mich tief.

Als ich alt genug war, um längere Bücher zu lesen, gab mir meine Mutter Bücher über Roland, Julius Cäsar, William Wallace und Robin Hood. In der Bibliothek meiner Grundschule fand ich Biografien, die für junge Leser geschrieben waren, und ich erinnere mich, dass ich in der zweiten Klasse im Rechenunterricht von meinem Lehrer dabei erwischt wurde, wie ich ein Buch über John Paul Jones las. Ich war viel zu sehr in die Geschichte vertieft, um so zu tun, als würde ich aufpassen. Später im Leben bekam ich ein Schachspiel geschenkt, das die Inschrift trug: »Die Bauern sind die Seele des Schachspiels.« Für mich als Junge schien Geschichte jedoch ein Spiel zu sein, in dem die Anführer König, Dame, Turm, Läufer und Springer waren, deren Macht, Status und Bedeutung in krassem Gegensatz zu den niederen Bauern stand.

Meine ersten Lektionen in Führung stammten nicht aus der Geschichte der Antike. Mein Vater war Soldat, und ich war zehn, als er seinen ersten Einsatz in Vietnam hatte. Auch wenn ich noch sehr jung war, las ich viel, um das geopolitische Labyrinth zu verstehen, in das sich mein Vater und mein Land begeben hatten. Und so betrachtete ich die Ereignisse in erster Linie als Handlungen von militärischen und politischen Führungsfiguren, die erfolgreiche Helden sein würden, falls das Schicksal kooperierte. Das tat es nicht, aber mein Glaube war dennoch ungebrochen.

»West Point«, wie die United States Military Academy im Volksmund genannt wird, wurde 1802 an einer malerischen Krümmung des Hudson River gegründet. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges war es die wichtigste strategische Stellung, da es den Briten den Zugang zu den lebenswichtigen Wasserwegen nördlich von New York City versperrte. Im Juli 1942 trat mein Vater, der selbst Sohn eines Berufssoldaten war, ins Kadettenkorps von West Point ein, und dreißig Jahre später trat ich in seine Fußstapfen.

Die Academy erinnert Besucher daran, dass »ein Großteil der Geschichte, die wir lehren, von Führungspersönlichkeiten geschrieben wurde, die wir selbst ausgebildet haben«. Heute beansprucht sie, die wichtigste Rolle in Amerikas Vergangenheit zu spielen, und noch immer bringt sie die militärischen Führer der Zukunft hervor. West Points Mission besteht unter anderem darin, »das Kadettenkorps mit dem Ziel auszubilden, zu schulen und zu inspirieren, dass jeder Absolvent ein prädestinierter Führer von großem charakterlichem Format ist«.

Was die Erfahrung der zukünftigen Soldaten prägt, ist jedoch nicht das Leitbild von West Point. Vom ersten Tag an werden die Erwartungen, die Kadetten an sich selbst und an ihre Führer stellen, von der ständigen, intensiven und physisch präsenten Erinnerung an vergangene Führungspersönlichkeiten geprägt. Die in traditionellem Grau uniformierten Kadetten bewegen sich zwischen Ikonen, die einst die gleiche Uniform trugen. Ich lebte in Pershing Barracks, benannt nach dem Offizier, der die Amerikanischen Expeditionsstreitkräfte (American Expeditionary Forces, AEF) im Ersten Weltkrieg nach Frankreich geführt hatte. Immer wenn ich zum Unterricht in die Thayer Hall ging – benannt nach dem Offizier, der den Kurs der Academy in ihren Anfängen bestimmte – kam ich an einer Bronzestatue von George Patton, dem angriffslustigen General aus dem Zweiten Weltkrieg vorbei. Bei jeder Mahlzeit blickten die Porträts berühmter Offiziere auf uns herab – eine ständige Mahnung und Erinnerung, dass West Points Daseinszweck darin bestand, uns zu Führungspersönlichkeiten zu formen.

Gleichzeitig wurden wir aber auch daran erinnert, dass es nicht um uns selbst ging. Wir wurden ausgebildet und geformt, um der Nation zu dienen und die »Long Gray Line« von West Point – so werden die Ehemaligen bezeichnet, die ihr Leben der Academy und den Idealen der Nation verschrieben haben – fortzuführen.

Wir wurden über die Überzeugungen und Verhaltensweisen herausragender Militärführer unterrichtet, und zwar nicht von Theoretikern, sondern zum größten Teil von jungen Offizieren, die erst kurz zuvor von den Schlachtfeldern Südostasiens zurückgekehrt waren. Wir saugten ihre Erzählungen über die Kampfhandlungen auf wie ein Schwamm und beneideten sie um ihre Leistungen. Wir bewunderten ihre Integrität, ihren Mut und ihr Pflichtgefühl, und wir richteten unser Denken, unser Verhalten, unsere Ausdrucksweise und unser Auftreten danach aus. Indem wir das taten, so sagte man uns, würden aus uns vielleicht keine berühmten Führungspersönlichkeiten, aber gute Soldaten – und das glaubten wir auch. Wir selbst vermuteten, wenngleich darüber nie offen gesprochen wurde, dass einige von uns wahrscheinlich einmal die Geschichte schreiben würden, die zukünftige Kadetten später in West Point studieren würden.

Kurz nach meinem Abschluss wurde mir die erste Führungsaufgabe übertragen: Als Zugführer war ich in den 1970er-Jahren für 20 Fallschirmjäger verantwortlich. Zwar hatte die Armee als Institution nach dem Vietnamkrieg einige Probleme, aber die Mehrheit der Soldaten verrichtete ihre Arbeit wie die Generationen vor ihnen mit stoischem Gleichmut. Und wie Generationen von Militärführern vor mir erklomm ich die Karriereleiter vom Captain (Kommando über 150 Mann) über den Bataillonskommandeur (Kommando über 600 Mann) und Regimentskommandeur (rund 2.200 Mann) bis zum General.

An diesem Punkt führte mich meine Erfahrung auf ein Gebiet, das ich nicht in West Point studiert hatte. In der vom 11. September geprägten Atmosphäre verbrachte ich fast fünf Jahre im Irak und in Afghanistan als Kommandeur des Joint Special Operations Command (JSOC) – einer speziellen Task Force, die sich aus den besten Eliteeinheiten der Nation zusammensetzt. Im Alter von über 50 Jahren, geprägt von den Führungsmodellen vergangener Zeiten, war das für mich eine große Herausforderung. Ich stellte fest, dass das Kommando in einem technologiebestimmten militärischen Konflikt nicht nur traditionelle Kompetenzen, sondern auch Intuition und Anpassungsfähigkeit erforderte.

Während meines ganzen Berufslebens als Militärführer habe ich immer viel gelesen. Ich hatte eine ausgeprägte Vorliebe für Geschichte und las viele Biografien, zum Beispiel von George Washington und George Marshall, sowie die Memoiren von Ulysses S. Grant. Gelegentlich schafften es auch Romane auf meinen Nachttisch, allerdings hatten sie oft einen historischen und militärischen Hintergrund. Ich erinnere mich, dass ich von The Killer Angels fasziniert war, in dem der Autor Michael Shaara mir das Gefühl gab, ein Vertrauter der allseits bekannten Kommandeure der Schlacht von Gettysburg zu sein.

Zwar las ich sehr gerne über Geschichte und Militärführer, aber als ich älter wurde, stellte ich fest, dass die Führungskonzepte, die ich übernommen hatte, ohne sie zu hinterfragen, immer stärker den Erfahrungen widersprachen, die andere gemacht hatten und von denen ich gelesen hatte, und außerdem standen sie auch im krassen Gegensatz zu meinen eigenen Erfahrungen.

Der großbürgerliche Kriegsheld Robert E. Lee unterlag dabei dem unscheinbaren »Sam« Grant.2 Thomas Jeffersons inspirierende Ideen standen in krassem Gegensatz zu seiner Eigenschaft als Sklavenhalter. Und die neuen Erkenntnisse über die erfolgreiche Dechiffrierung des Enigma-Codes durch die Alliierten machen deutlich, dass die Siege, die einst einer überlegenen militärischen Kampfstrategie zugeschrieben wurden, in Wahrheit das Ergebnis einer Kombination aus anderen Faktoren waren.

Ich stellte fest, dass Militärführer, die all die »richtigen« Führungseigenschaften aufwiesen, oft versagten, wohingegen andere, die keine der traditionellen Führungseigenschaften besaßen, erfolgreich waren. Die Qualitäten, die wir in Führern suchten und feierten, hatten irritierend wenig mit den Ergebnissen zu tun, die sie erzielten. Der Begriff der Führungskompetenz schien zunehmend zum Mythos zu werden, und zwischen den traditionellen Konzepten und den tatsächlichen Erfahrungen tat sich eine riesige Kluft auf.

Im Herbst 2010 wurde dieser Führungsmythos für mich sehr persönlich. Zusammen mit Sam Ayres, einem frisch gebackenen Yale-Absolventen, der später in die Armee eintreten und als Sergeant im 75th Ranger Regiment3 dienen sollte, machte ich mich daran, meine Memoiren zu schreiben. Da ich weder Aufzeichnungen gemacht noch Tagebuch geführt hatte (um keine als geheim eingestuften Informationen aufzubewahren), musste ich bei null anfangen und Jahrzehnte meines Lebens chronologisch ordnen.

Das war ein Prozess von unschätzbarem Wert und eine Lektion in Demut. Während wir meine Lebensereignisse rekonstruierten und analysierten, entdeckten wir, dass selbst die Dinge, an die ich mich genau erinnern konnte, historisch betrachtet oft verblüffend unvollständig waren. Oft war mir überhaupt nicht bewusst, welche Handlungen, Entscheidungen und Dramen tatsächlich das Endergebnis einer Situation bestimmt hatten. Erfolge, die ich meinen Entscheidungen zugeschrieben hatte, schienen plötzlich weit weniger beeindruckend, als mir klar wurde, dass unzählige Faktoren und Akteure an der Situation beteiligt waren, die oft viel mehr mit dem Ergebnis zu tun hatten als ich. Daraufhin begann ich mich von der Vorstellung zu verabschieden, dass meine Memoiren eine Geschichte erzählen würden, in der ich die zentrale Figur war. Ich war für den Verlauf der Ereignisse zwar wichtig, aber nicht in dem Ausmaß, wie ich gedacht hatte. Das war der letzte Anstoß, durch den ich mir eingestehen musste, dass meine führerzentrierte Weltsicht im Lauf des Lebens zunehmend mit unbequemen Fragen in Konflikt geraten war.

***

Im Jahr 2013 hielt der Autor und Journalist David Brooks einen Vortrag in Yale mit dem Titel »Über wen würde Plutarch heute schreiben?« Die Lebensbilder (Bíoi parálleloi)4 des griechischen Schriftstellers der Antike Plutarch (um 45 bis ca. 125 n. Chr.), in denen er 48 Persönlichkeiten der Antike porträtierte, gehörten bis vor gar nicht langer Zeit noch zur Standardlektüre kultivierter Leser. Der Verweis auf Plutarch mag heutigen Lesern, die nicht mehr mit ihm vertraut sind, angeberisch oder überheblich vorkommen, aber Brooks Frage, über welche Führungspersönlichkeiten Plutarch heute schreiben würde, war faszinierend und beschäftigte mich sehr.

Man könnte seine Frage auch anders formulieren, nämlich: »Was macht heute echte Führung aus?« Führer werden ständig unter die Lupe genommen und analysiert, doch vor lauter Verblendung durch die Mythen über das, was traditionell als gute Führung galt, entgeht uns dabei oft die Realität. Zwar wissen wir intuitiv, dass Führung in der modernen Welt unerlässlich ist, aber wir wissen nicht genau, was gute Führung ausmacht.

Im Jahr 1905 definierte Albert Einstein das Verhältnis neu, in dem Zeit, Raum und Bewegung zueinanderstehen. Er widerlegte das Newton’sche Konzept von der Absolutheit von Zeit und Raum, allerdings war seine Spezielle Relativitätstheorie unvollkommen, weil sie die Beschleunigung nicht berücksichtigte. In den folgenden zehn Jahren grübelte Einstein so lange über dieses Problem, bis er schließlich seine Allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte, die die Realität unseres Universums vollständiger abbildet.

Es gibt keine Entsprechung zur Allgemeinen Relativitätstheorie, die sich auf das Thema Führung anwenden ließe – das heißt, eine Theorie, die umfassend und korrekt vorhersagt, welche Führungsqualitäten und -strategien zum Erfolg führen. Ein solches Modell haben wir noch nicht, und es würde den Rahmen dieses Buches auch sprengen, aber ein Schritt in diese Richtung ist möglich. Der erste Schritt besteht darin, zu lernen, an welchen Punkten sich die Kluft zwischen Realität und Mythos auftut.

Als Autoren haben wir uns an dieses Vorhaben mit der Erfahrung und der Neugier der Praktiker gewagt, die wissen, dass ein tieferes Verständnis möglich ist. Jeder von uns hat seine Karriere beim Militär begonnen. Jason Mangone hält einen Abschluss vom Boston College und diente als Infanterieoffizier des Marinekorps der Vereinigten Staaten im Irak, bevor er die Graduiertenfakultät von Yale besuchte und anschließend zwei Jahre als Director der Service Year Alliance tätig war, einer Nonprofit-Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, junge Amerikaner und Amerikanerinnen für ein bezahltes soziales Jahr zu gewinnen. Jeff Eggers hat die United States Naval Academy besucht, ist ehemaliger Offizier der Spezialeinheit United States Navy Seals und hält einen Abschluss der Universität von Oxford. Außerdem hat er an Kampfeinsätzen im Irak und in Afghanistan teilgenommen und als Angehöriger des Nationalen Sicherheitsrats der Vereinigten Staaten mehr als sechs Jahre im Weißen Haus gearbeitet. Ich selber habe mehr als 38 Jahre in Uniform verbracht – von meiner Ausbildung in West Point bis zum Kommando über alle US- und NATO-Truppen in Afghanistan bis zu meiner Pensionierung im Jahr 2010. Seitdem konzentriere ich mich auf das Thema Führung, unterrichte am Jackson Institute von Yale und habe zwei Bücher geschrieben.

Jeder von uns bringt aus seiner jahrelangen Führungserfahrung Erfolge, Niederlagen, Lektionen und Narben mit. Aber was wir vor allem anderen mit uns herumtragen, sind unbeantwortete Fragen. Wir alle teilen die Faszination und Leidenschaft für Menschenführung, zusammen mit dem Gefühl, dass wir trotz aller theoretischen Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft noch immer nicht wirklich verstehen, wie Führung geht.

Das vorliegende Buch ist unser Versuch, den ersten Schritt in Richtung einer allgemeinen Führungstheorie zu wagen. Inspiriert von Brooks’ Frage haben wir Plutarchs Ansatz der Gegenüberstellung von Führungspersönlichkeiten imitiert, indem wir dreizehn berühmte Führungspersönlichkeiten in sechs Doppelporträts und ein Einzelporträt – Robert E. Lee – gruppiert haben. Wie Plutarchs Lebensbilder beginnt auch jedes unser Doppelporträt-Kapitel mit einer kurzen Einführung und endet mit einem Vergleich der beiden porträtierten Führungspersönlichkeiten, in der Hoffnung, die Gegenüberstellung möge die Komplexität des Themas Führung deutlich machen und erklären, wie es kommt, dass die meisten von uns am Ende den Mythos sehen, und nicht die Realität. Den Lesern wird auffallen, dass die Autoren gelegentlich Personalpronomen verwenden. Immer wenn von »ich« die Rede ist – zumeist in der Einführung zu den jeweiligen Porträts – bin ich, Stan, gemeint. Immer wenn im Text »wir« steht, sind alle drei Autoren, inklusive meiner Person, gemeint.

Die Porträts wurden so ausgewählt und dargestellt, dass sie lehrreich und unterhaltsam zugleich sind. Nicht alle der von uns ausgewählten Persönlichkeiten waren gute Führer, und manche nicht einmal gute Menschen. Einige waren erfolgreich, weil sie talentiert waren; andere, weil sie sich bedingungslos für ihre Sache engagierten; wieder andere, weil sie Glück hatten, und einige kamen nie wirklich in den Genuss eines Erfolgsgefühls. Ob sie richtig oder falsch lagen, erfolgreich oder erfolglos waren, jeder dieser Faktoren spielte für die Ergebnisse, die wir heute als Geschichte bezeichnen, eine erhebliche Rolle. An ihrer Relevanz gibt es keine Zweifel, aber sie bilden nicht die ganze Geschichte ab.

Wir haben die Erfahrungen von dreizehn Führungspersönlichkeiten ganz bewusst als Brille gewählt, durch die wir das Thema Führung betrachten. Bei diesen Persönlichkeiten handelt es sich jedoch nicht um Versuchstiere, die man am besten aus klinischer Distanz betrachtet. Ihre Geschichten sind menschlich, daher ist es besser, sich ein Stück weit emotional auf die Erlebnisse der Porträtierten einzulassen, als ihre Porträts mit analytischer Nüchternheit zu lesen. Kein Leben wird gelebt und keine Krise bewältigt in der möglichen Überlegung, man könne damit für nachfolgende Generationen zu einer interessanten Fallstudie werden. Lassen Sie sich also auf die Welt dieser Persönlichkeiten und ihre subjektiven Erfahrungen ein.

Suchen Sie im Text nicht nach Checklisten für Führung. Die Porträts dienen dazu, traditionelle Führungskonzepte infrage zu stellen, aber wir maßen uns nicht an, vorzugeben, wie geführt werden sollte. Wir hoffen, dass wir ein paar der üblichen Mythen entlarven können, damit Sie sowie andere Führungskräfte die Realität erkennen, wie sie ist, und Herausforderungen mit klarem Denken und Bescheidenheit entgegentreten.

Und noch etwas: Dieses Buch allein wird aus Ihnen keine herausragende Führungspersönlichkeit machen. Sie werden damit weder einen Mangel an Werten oder Selbstdisziplin noch die eigene Dummheit überwinden. Anstatt die Herausforderung »Führung« zu simplifizieren, wird das vorliegende Buch die Komplexitäten dieses Themas aufzeigen. Führung ist schon immer schwierig gewesen, und angesichts der hoch dynamischen Umgebung, in der wir heute leben, wird sie nur noch schwieriger. Führung ist aber möglich – und zudem unentbehrlich.

General a. D. Stan McChrystal, US Army


1 ungefähr: »Griechische Sagen für kleine Knirpse« (A.d.Ü.)

2 Ulysses S. Grant, Oberbefehlshaber der US-Armee im Sezessionskrieg und 18. Präsident der Vereinigten Staaten (1869–1877). (A.d.Ü.)

3 Das 75th Ranger Regiment (Airborne) ist Teil des Führungskommandos für die Spezialeinheiten der US-Armee, United States Army Special Operations Command. (A.d.Ü.)

4 Die großen Griechen und Römer 1: Doppelbiografien, Wunderkammer Verlag (2008) (A.d.Ü.)