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Omar Abbosh | Paul Nunes | Larry Downes

WENDE in die ZUKUNFT

Omar Abbosh | Paul Nunes | Larry Downes

WENDE in die ZUKUNFT

Pivot to the Future – Werte und Wachstum in einer disruptiven Welt

Mit einem Vorwort von Frank Riemensperger

Übersetzung aus dem Englischen von Nikolas Bertheau

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

info@redline-verlag.de

1. Auflage 2019

© 2019 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe 2019 by Accenture Global Solutions Limited.

Die Originalausgabe erschien 2019 bei Publish Affairs, einem Imprint von Perseus Books, LLC, einer Tochtergesellschaft der Hachette Book Group, Inc. unter dem Titel Pivot to the Future.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Nikolas Bertheau, Hamburg

Bearbeitung der Übersetzung: Sebastian Callies, Mannheim

Redaktion: Monika Spinner-Schuch, Bad Aibling

Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-86881-769-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-160-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-161-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

In Gedenken an unseren ehemaligen Chairman und Chief Executive Officer Pierre Nanterme (1959–2019). Er war so vielen von uns bei Accenture ein lieber Freund, Chef, Mentor, Partner, Feedbackgeber, Förderer, Coach und Mannschaftskapitän. Wiederholt durchbrach er die Grenzen des Status quo. Er lehrte uns, anders zu denken. Vor allem aber zeigte er uns, wozu wir fähig sind und wer wir sein können.

Pierres Vermächtnis zu Ehren spenden wir den Reinerlös aus dem Verkauf dieses Buches dem Hôpital européen Georges-Pompidou.

Julien und Aurelien für ihre Energie, ihr Licht und ihr Lachen. Sie sind schon jetzt kleine Führungspersönlichkeiten.

Omar

In Erinnerung an Hilda und Ann, die aus jeder Situation stets das Beste machten.

Paul

Eric, wie immer.

Larry

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Frank Riemensperger

Vorwort von Pierre Nanterme

Einführung: Neuerfindung neu erfinden

Teil I: Verborgenen Wert freisetzen

1. Kapitel: Das unerschlossene Wertpotenzial: Disruption als Chance

Gefangen in der Einkaufspassage

Wie Wert sich der Erschließung entzieht

Big Bang vs. schleichende Disruption

Die vier Orte, an denen sich unerschlossener Wert versteckt

Gründe für eine »Wende«

2. Kapitel: Die sieben Sackgassen: Welche Hürden neuem Wert im Weg stehen

Eine wachsende Trapped-Value-Krise

Die sieben Sackgassen

3. Kapitel: Die sieben Erfolgsstrategien: Wie Sie neuen Wert erschließen

Das Inventar zertrümmern und das Unternehmen retten

Neue Strategien zur Wertfreisetzung im Zeitalter der Disruption

Technologiegetrieben

Hyperrelevant

Datengestützt

Asset-smart

Inklusiv

Talentreich

Netzwerkbasiert

Innovationen in die Praxis umsetzen

Teil II: Wise Pivot. Oder: »Zukunftswende«

4. Kapitel: Die »Zukunftswende«: Im Alten, im Jetzt und im Neuen Wert aufspüren und Wachstum schaffen

Accenture beginnt seine Wende

Das Alte, das Jetzt und das Neue

Accenture setzt seine »Zukunftswende« um

Wende in die Zukunft

5. Kapitel: Das Alte, das Jetzt und das Neue: Wachstum ankurbeln, Gewinn steigern und erfolgreich skalieren

Von Tupelo, Mississippi, zur Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei

Von verbreiteten Vorstellungen zum Pivot-Denken

Das Alte: Innovation als Quelle zukünftigen Wachstums

Das Jetzt: Sich hohe Ziele setzen

Das Neue: Skalieren, um profitabel zu werden

Das Alte, das Jetzt und das Neue integrieren: Die Portfoliowende

6. Kapitel: Die Innovationswende: Zentralisierung, Kontrolle und Zielsetzung

Wende nach Valhalla

Die Innovationswende

Der Konzentrationshebel: Wie zentralisiert sollte Innovation betrieben werden?

Der Lenkhebel: Wie viel Autonomie sollten Innovatoren genießen?

Der Zielsetzungshebel: Wie viel verborgenen Wert sollten Innovatoren versuchen freizusetzen?

7. Kapitel: Die finanzielle Wende: Anlagevermögen, Umlaufvermögen und Humankapital

Von »Made for all« zu »Made for you«

Die finanzielle Wende

Der Anlagevermögenshebel: Wann werden Infrastrukturen von einem Asset zu einer Bürde?

Der Umlagevermögenshebel: Wie viel Lagerbestand reicht gerade aus?

Der Humankapitalhebel: Welchen Wert messen Sie Ihren Mitarbeitern bei?

8. Kapitel: Die personelle Wende: Führung, Arbeit und Kultur

Unwahrscheinliche Verbündete

Die personelle Wende

Der Führungshebel: Von Operatoren zu Entrepreneuren

Der Arbeitshebel: Die richtige Balance zwischen Mensch und Maschine

Der Kulturhebel: Die richtige Balance zwischen der Unternehmenskultur und einer Kultur der Kulturen

Fazit: Finden Sie Ihren Stein

Danksagungen

Über die Autoren

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Frank Riemensperger

Vielleicht spüren Sie wie ich ein wachsendes Unbehagen, wenn Sie die Welt um uns herum und Ihren Markt genau beobachten. Digitale Technologien versetzen selbst junge Wettbewerber in die Lage, mit einer konsequent umgesetzten Idee die Märkte vollkommen auf den Kopf zu stellen. Diese Disruption kann schleichend daherkommen, etwa im Einzelhandel, der über Jahre immer mehr Marktanteile an das Internet verloren hat. Oder sie zerstört mit einem großen Knall ganze Branchen. Wie es dem iPhone an vielen Stellen gelungen ist.

Bisher haben sich die deutschen Leitindustrien im digitalen Wettbewerb robust behauptet. Unsere physischen Produkte sind komplex, die Industrie 4.0 wurde bei uns im Land erfunden und durch die Digitalisierung der Fertigung wurden signifikante Potenziale gehoben. Klar ist aber auch: Unsere Erfolge sind immer das Werk vergangener Leistungen. Sie sagen nichts über die Zukunft aus. Doch was wäre wenn? Wenn mit digitalen Technologien die »Produkte« neu gedacht werden, wenn Maschinen durch Betriebssysteme gesteuert und dadurch laufend neue Funktionen aufgespielt werden können, wenn Produkt- und Servicekombinationen verknüpft mit einem Versprechen auf das zu erzielende Ergebnis den Wettbewerb verschieben? Die Disruption der deutschen Leitindustrien ist durchaus möglich – die Autoindustrie erlebt gerade eine Transformation, die noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten wurde.

Viel wird davon abhängen, ob die deutsche Industrie die Vision hat, ihre »Produkte« neu und digital zu denken, und ob sie den Mut aufbringt, neue, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln. Wir sitzen auf einem Datenschatz von über einer Milliarde Maschinen und Geräten »Made in Germany«. Um diese Betriebsdaten zu nutzen, braucht es eine Weiterentwicklung unserer Produkte und neue digitale Infrastrukturen für deren Betrieb. Es braucht digitale Werkzeuge, die kaum ein Unternehmen mehr allein entwickeln kann. Wir brauchen Betriebssysteme für die Produkte und die industrielle Produktion, Marktplätze für Maschinendaten und neue Regeln für den Umgang und den Handel mit diesen Daten. Dabei müssen wir einen eigenen deutschen und europäischen Weg finden, um im Wettbewerb mit den USA und China zu bestehen. Gelänge uns das, könnten wir einen enormen Wert freisetzen.

An Ideen mangelt es in deutschen Universitäten, den Forschungseinrichtungen, in den Betrieben und Vorstandsetagen nicht. Unser Dilemma liegt darin, dass es uns immer weniger gelingt, Innovationen und neue Technologien schnell in die unternehmerische Praxis zu transferieren und zu skalieren.

All dies, während das Bestandsgeschäft volle Konzentration und Aufmerksamkeit erfordert. Der Begriff der Beidhändigkeit (Ambidextrie) beschreibt im Deutschen was im Englischen als Wise Pivot bezeichnet wird. Einerseits muss das bestehende Kerngeschäft weiterentwickelt werden, andererseits braucht es den Mut, Bewährtes grundlegend neu zu denken.

Bei Accenture begleiten wir viele Unternehmen bei diesem digitalen Wandel – in fast allen Ländern rund um die Welt. Dadurch gewinnen wir einen Einblick, wie sich Unternehmen und ganze Industrien transformieren. Die größten Technologie- und Plattformunternehmen der Welt sind unsere Partner und wir verstehen die unterschiedlichen Strategien und digitalen Infrastrukturen, die den Wettbewerb verändern – heute und morgen.

Meine Kollegen Omar Abbosh, Paul Nunes und Larry Downes zeigen in ihrem Buch Wende in die Zukunft, wie Unternehmen die nahende Disruption erkennen und meistern können. Ich hoffe, die vielen Fallstudien und Erfahrungen inspirieren Sie, zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen, neue Wege zu gehen und damit auch Ihr Unternehmen jetzt neu zu erfinden – und nicht erst dann, wenn es zu spät ist.

Ich wünsche Ihnen eine erkenntnisreiche Lektüre!

Frank Riemensperger

Vorsitzender der Geschäftsführung

Accenture Deutschland

Vorwort von Pierre Nanterme

ZUM MOTOR KONTINUIERLICHER NEUERFINDUNG WERDEN

In meinen 35 Jahren bei Accenture habe ich zahlreiche Veränderungen erlebt. Keine aber war so groß wie die gegenwärtige. Die Wellen der Disruption, die seit fünf Jahren durch alle Branchen schwappen, werden nach Ansicht der meisten Beobachter gravierendere Folgen haben als die industrielle Revolution.

In diesem Ozean der Veränderung erfolgreich zu navigieren ist nichts für Zartbesaitete. Ein Umdenken epischen Ausmaßes ist nötig. Es braucht Weisheit, um die richtige Balance zu finden – zwischen Kurshalten und Tempomachen, dem Schaffen von Investmentkapazitäten und der Investition in das eigene Kerngeschäft. Gleichzeitig gilt es, in neue Gefilde vorzustoßen und Innovationen profitabel zu skalieren.

Das erfordert Mut.

Unternehmenslenker müssen der Versuchung widerstehen, ihre alternden Geschäftsbereiche überstürzt aufzugeben. Sie müssen ihre Cashcows neu beleben und hier weiterwachsen. Und sie müssen ihre neuen Geschäftsaktivitäten ambitionierter skalieren. Überdies ist es ihre Aufgabe, die gesamte Organisation zu inspirieren, den Weg der unablässigen Veränderung entschlossen mitzugehen.

Woher wissen wir das alles? Accenture sah selbst potenziell zerstörerische Wellen auf sich zukommen. Diese hätten uns womöglich kentern lassen. Unseren Chefs war klar, dass wir uns neu erfinden mussten.

Davon handelt dieses Buch, das der Kapitän unserer eigenen »Zukunftswende« Omar Abbosh gemeinsam mit seinen zwei Kollegen Paul Nunes und Larry Downes verfasst hat.

Omar Abbosh kennt sich mit Veränderungen aus. Er hat gemeinsam mit mir die »Zukunftswende« bei Accenture orchestriert und unsere Kultur und unsere Prozesse auf Touren gebracht. Wir sind nun in der Lage, uns immer wieder neu zu erfinden. Aus diesen Fähigkeiten hat Accenture eine Kunst und eine Wissenschaft gemacht. Das Wissen und diese Erfahrung setzen wir in der Arbeit mit unseren Kunden ein. Deren Geschichten lesen Sie auf den folgenden Seiten in mehr als 100 Fallstudien. Diese beweisen, dass der Wise Pivot oder die »Zukunftswende« nicht nur für Accenture eine Erfolgsstrategie ist, sondern generell für Unternehmen aus allen Branchen und Regionen der Welt.

Anfang der 2010er-Jahre wurde Accenture bewusst, dass professionelle Technologiedienstleistungen und Outsourcing über kurz oder lang zur Massenware werden würden. Die Zahl der Akteure auf dem Markt war groß. Wir wussten, es würde immer schwieriger werden, uns weiterhin von anderen Anbietern abzuheben. Elementare technologische Fähigkeiten, die einstmals unsere Spezialität gewesen waren, gab es jetzt an jeder Ecke.

Also investierten wir in fünf zukunftsweisende digitale Kompetenzen. Diese konnten unseren Klienten entscheidende Vorteile eröffnen und unser Wachstum befeuern: interaktive Tools, mobile Anwendungen, Analytik, Cloud Computing und Cybersicherheit.

Aber damit nicht genug. Ich bin von Ausbildung und Temperament her Ökonom und so entwickelte ich schon bald ein neues Werkzeug. Es gestattete uns, den Fortschritt in dieser Wende zu messen. Wir wollten einen permanenten Wandel in Gang setzen und dabei fortlaufend erfahren, was funktionierte, damit wir, sobald wir uns in diesen ausgewählten Kategorien an die Spitze des Marktes gesetzt hätten, diese Position auch würden halten können. Wir stellten uns stets aufs Neue folgende simple Frage: Wie ist es um den Umsatz und das Wachstum im »Neuen« bestellt?

Bis zum Ende des Geschäftsjahres 2017 war der Anteil in unseren fünf neuen Bereichen am Gesamtumsatz von Accenture auf über 50 Prozent angestiegen. Bis zum Ende des Geschäftsjahres 2018 betrug er sogar mehr als 60 Prozent. Als sich ein dramatisches Wachstum abzuzeichnen begann, informierten wir unsere Investoren. Sie konnten sehen, dass das langsamere Wachstum im Bereich unseres traditionellen Angebots durch neue Einnahmequellen mehr als ausgeglichen wurde. Und indem uns der technische Wandel nicht ausbremste, sondern eher vorantrieb, zeigten wir, dass wir für die Zukunft erstklassig aufgestellt waren.

Wir schufen einen Motor kontinuierlicher Veränderung, indem wir Milliarden US-Dollar in das Geschäft reinvestierten und die bedeutendste Wende in der Geschichte der Consulting- und Technology-Services-Branche vollzogen. Seit 2014 haben wir zusätzliche 154 000 Mitarbeiter eingestellt, den Umsatz um 10 Milliarden US-Dollar gesteigert und unseren Marktwert fast verdoppelt – auf mittlerweile über 100 Milliarden US-Dollar.

Accentures eigene Wende stellte viele Kernüberzeugungen unserer Unternehmenskultur auf den Prüfstand. Aber die Ergebnisse sprechen für sich. Und wie Omar, Paul und Larry auf den folgenden Seiten verdeutlichen, kann jedes Unternehmen eine solche »Zukunftswende« vollziehen.

Um ehrlich zu sein: Ich wünschte, ich hätte schon vor 35 Jahren, als ich zu Accenture kam, spezifische und praktische Strategien zur Verfügung gehabt, wie dieses Buch sie vorstellt. Es offenbart das Wie und Warum unserer eigenen Wende in die Zukunft. Und es macht deutlich, dass die Unternehmen die Disruption nicht zu fürchten brauchen, sondern Wert entdecken und jenes neue Wachstum fördern können, das nötig ist, um die Wende zu schaffen und in der digitalen Revolution zu gedeihen.

Jetzt sind Sie an der Reihe.

Pierre Nanterme

Ehemaliger Chairman und Chief Executive Officer

Accenture

Einführung

NEUERFINDUNG NEU ERFINDEN

DIE SITUATION ENTBEHRTE nicht einer gewissen Ironie. Da hatte der CEO eines Dienstleistungs- und Beratungsunternehmens mit seinen Kollegen über Jahrzehnte hinweg Unternehmen in aller Welt beraten, wie diese ihren Fortbestand sichern konnten. Und plötzlich sah sich sein Dienstleistungsunternehmen selbst von allen Seiten unter Druck. Denn digitale Technologien wie Breitbandinternet, Cloud- und mobile Dienste schossen aus dem Boden. Sie stellten eine Branche nach der anderen auf den Kopf.

Hochwertige Anbieter aus Indien boten ihren Kunden weltweit preisgünstiges Outsourcing für die Entwicklung von Software und andere technologische Dienstleistungen an. Diese Anbieter begannen, in wertschöpfungsrelevantere Dienste vorzudringen, die unmittelbar mit dem Dienstleistungsunternehmen des CEO konkurrierten.

Zugleich wandelten sich Hardwaregiganten und Anbieter von IT-Plattformen mithilfe ihrer proprietären Software in Dienstleistungsunternehmen. Sie drängten sich in strategische Beziehungen, die sein Dienstleistungsunternehmen über viele Jahre hinweg mit Unternehmenslenkern aus dem Kreis der Global Fortune 500 aufgebaut hatte.

Am Horizont ballten sich die Sturmwolken immer neuer Technologien, vor denen nichts mehr sicher schien – wie neue IT-Anwendungen, das mobile Internet oder die sozialen Medien. Viele Plattformen gewannen mit ihrer Software einen Größenvorteil, der das Zeug dazu hatte, Armeen von Fachkräften obsolet werden zu lassen.

Während die bestehenden Märkte des Unternehmens stagnierten oder schrumpften, rissen sich andere schon die Bereiche unter den Nagel, die sich eben erst entwickelten. Die Chance war da, und zwar unmittelbar im Kernbereich des Unternehmens. Aber das Management bekam sie nicht zu fassen.

Es brauchte nicht nur eine neue Strategie. Sondern eine völlig neue Herangehensweise an das Thema Strategie – eine, die es dem Unternehmen erlauben würde, das Beste aus den neuen Technologien herauszuholen und Bedrohungen in Chancen zu verwandeln. Eine, die es dem Unternehmen ermöglichen würde, dies immer und immer wieder zu tun.

Wollte das Unternehmen gedeihen, musste es sich schneller erneuern als die Konkurrenz und sein eigenes Kerngeschäft »umwälzen«, bevor es andere taten.

Dies war die Lage vor ein paar Jahren – 2014, um genau zu sein. Das von der Disruption bedrohte Unternehmen war Accenture, die Heimat der drei Autoren Omar Abbosh, Paul Nunes und Larry Downes. Dieses Buch hat seinen Ursprung in Accentures Erfahrungen. Es beschäftigt sich nicht nur damit, wie man sich neu erfindet – sondern mit der Neuerfindung von »Neuerfindung« selbst: als etwas, das bei steter technologischer Disruption unverzichtbar ist.

Wollte Accenture stärker wachsen und seine führende Stellung in der Welt von morgen sichern, musste es sein Geschäft neu aufziehen. Es galt, systematisch in die eigenen Assets zu investieren – unsere Mitarbeiter, unser geistiges Eigentum, unsere Kultur und unsere Informationssysteme. Allesamt spürten wir damals kräftigen Gegenwind.

Dabei erkannten wir, dass angesichts einer vorhersehbaren Unvorhersehbarkeit die einmalige große »Transformation« keine Lösung sein kann. Wir schauten auf die Geschichte unserer Erfolge und Niederlagen im letzten halben Jahrhundert zurück. So wurde uns bewusst, dass wir der steten und möglicherweise zerstörerischen Veränderung nur begegnen können, indem wir uns immer wieder neu erfinden und unser Geschäft so umbauen, dass wir schnell und effizient von einer Gelegenheit zur nächsten springen. Und uns quasi von »Wende« zu »Wende« hangeln können.

Accenture musste seine strategischen Initiativen um drei Stadien des geschäftlichen Lebenszyklus herum gewichten: reife Produkte und Services auf dem Weg zur Obsoleszenz (das Alte), die gegenwärtig profitabelsten Angebote (das Jetzt) und wegweisende, die unmittelbare Zukunft entscheidende Aktivitäten (das Neue).

In allen drei Stadien mussten wir die Gewinne steigern und Wert freisetzen, der zwar existierte, aber bislang nicht erschlossen war. Wir mussten uns rund um einen Kern ständig erneuern und von einem Stadium zum nächsten wechseln, um rasch auf veränderte Marktbedingungen und neu entstehende technologische Disruptoren reagieren zu können – eine Herangehensweise, die wir Wise Pivot oder »Zukunftswende« tauften.

Im Rahmen von Accentures eigener »Wende« forschte unsere interne Denkfabrik Accenture Research mehr als zwei Jahre lang, wie sich Technologie auf Unternehmen aller Größen, jedes Alters und quer durch alle Branchen und Standorte auswirkte.

Wir wollten dabei drei Dinge verstehen: Welche Branchen sind anfällig für Disruption? Wie finden erfolgreiche Unternehmen ihre Chancen, Wert zu schaffen? Und wie reagieren führende Organisationen auf disruptive Veränderungen? Außerdem wollten wir sehen, wie es Unternehmenslenkern gelingt, in ihren bisherigen Geschäftsfeldern zu wachsen und zugleich profitabel in neue Bereiche vorzudringen.

Bis heute haben wir über 3000 der umsatzstärksten Unternehmen aus 20 wichtigen Branchensegmenten analysiert. Dabei haben wir die Disruptions-kräfte und die neuen Strategien herausgearbeitet, die geeignet sind, das Beste herauszuholen. Zudem haben wir Tausende von Führungskräften online oder im Gespräch nach ihren Einschätzungen befragt. Die Ergebnisse überprüften wir im Zuge unserer Arbeit mit Klienten aus allen Branchen. Diesen halfen wir, die strategische Wende zu meistern, die wir zuvor in unserem eigenen Unternehmen umgesetzt hatten.

In diesem Buch verweisen wir regelmäßig auf die Ergebnisse unserer Recherchen. Dabei zitieren wir aus einzelnen Fallstudien und unserer Arbeit mit führenden Unternehmen. Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, wie diese Arbeit aussah und wie unsere jüngsten Überlegungen dazu sind, besuchen Sie gerne unsere Website unter: www.accenture.com/us-en/innovation-architecture-accenture-research.

Unser Studium der inspirierenden und gelegentlich ernüchternden Geschichten renommierter Unternehmenslenker aus so unterschiedlichen Branchen wie Einzelhandel, Fertigung, Financial Services und Konsumgüter bestätigte unsere eigenen Erfahrungen. Eine Vision allein reicht nicht aus, um Disruption als Vorteil zu nutzen.

Wichtig ist, dass die Unternehmenslenker einen mutigen Kurs fahren – in Technologien investieren, disruptive Geschäftsaktivitäten entwickeln oder übernehmen und die Mitarbeiter weiterbilden. Darüber hinaus müssen diese Assets von einem Stadium des geschäftlichen Lebenszyklus zum nächsten immer wieder neu bewertet werden.

Diese Elemente sind kritisch. Sie sind keine Idealvorstellungen, sondern Notwendigkeiten. Strategien müssen ins Digitalzeitalter übersetzt und mit den Guerilla-Taktiken umgesetzt werden, die disruptive Start-ups auszeichnet.

Diese Strategien erschließen einen verborgenen Wert. Sie setzen gleichzeitig das Alte, das Jetzt und das Neue um. Ziel ist, das Geschäft rund um einen Kern aus alten und neuen Assets neu auszurichten. Das ist der Wise Pivot, die »Zukunftswende«.

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Jedes Unternehmen kann seine eigene »Zukunftswende« meistern und existenzielle Bedrohungen in goldene Chancen verwandeln. Aber verstehen wir uns nicht falsch: Dies ist nichts für schwache Nerven. In Märkten, die dem steten Wandel ausgesetzt sind – und das gilt mittlerweile für fast alle –, folgt eine »Wende« auf die nächste. Ein strategischer Ansatz ist gefragt, der weniger die Flut bekämpft, als vielmehr auf den Wellen der Disruption zu reiten versteht.

Die »Zukunftswende«, die nicht auf einzelne Aktivitäten und Zeitrahmen beschränkt bleibt, setzt Wert frei, der zwar existiert, aber noch nicht erschlossen wurde. Die Lebenszyklen von Geschäftsmodellen gehen dabei ineinander über – vom Alten ins Jetzt und ins Neue. In der »Zukunftswende« gewichten die Führungskräfte die verfügbaren Assets immer wieder neu, um allen drei Bereichen gleichermaßen gerecht zu werden. Damit stellen sie sicher, dass zentrale Assets, deren Lebenszyklus sich dem Ende neigt, weiterhin Erträge und Gewinne liefern. Mit diesen investieren sie in die Zukunft, damit das Unternehmen und seine Mitarbeiter zügig das Jetzt passieren und im Neuen ankommen können.

Anstatt die zentralen Assets – Produkte, Kunden und Technologien – zu verkonsumieren, dreht sich die »Zukunftswende« um diese Assets:

Unserer Erfahrung nach sind nur wenige Unternehmen darauf vorbereitet, sich auf das Neue einzulassen. Selbst wenn klar ist, dass ihrem Kerngeschäft langsam die Luft ausgeht. Die Ölfirmen wissen, dass ihre Zukunft nicht nur in fossilen Brennstoffen liegen kann. Aber was dann? Und in dem Maße, wie Autos autonom fahren, müssen sich Autoversicherer neue Dinge suchen, die sie versichern können. Jedes Unternehmen muss einen eigenen Weg ins Neue finden, während es gleichzeitig die Teile seines Kerns bewahrt, die es überhaupt erst so erfolgreich gemacht haben – wie beispielsweise seine Kultur.

Selbst wenn der Weg klar zu sein scheint, lauern viele Hürden. Regelmäßig hören wir von Führungskräften, dass es ihnen an Ressourcen fehlt, die sie in das Neue oder gar in die Skalierung einzelner Bereiche investieren könnten, nachdem sie alle ihre Assets dazu verwenden, ihr gegenwärtiges Geschäftsmodell beizubehalten.

Selbst dort, wo sich das erforderliche Kapital beschaffen lässt, steht Trägheit häufig dem echten Wandel im Weg. Manchmal sind die Prozesse und IT-Systeme über Jahrzehnte für diese Kernbereiche optimiert worden. Sie sind bis in die Hardware hinein darauf ausgerichtet, eine Strategie zu unterstützen, die schon lange vergessen ist. Diese »Antikörper« können Initiativen unversehens zu Fall bringen, die ansonsten das Potenzial hätten, das Unternehmen in die Zukunft zu führen.

Das Alte kommt jeden Morgen aus seinen Verstecken gekrochen. Entschlossen, das Neue zu töten.

In dieser Situation hilft es nur, Ressourcen von oben her neu zu verteilen: vom CEO, dem CFO und anderen Mitgliedern der Unternehmensführung. Denken Sie daran, wie Microsoft-CEO Satya Nadella entschieden hat. Nachdem Bemühungen, in den sozialen Medien und bei den Smartphones mitzumischen, enttäuschend ausgingen, beschloss Nadella, einen mutigen Weg einzuschlagen.

Das Unternehmen schwenkte vom Windows-Betriebssystem für Einzelrechner auf Cloud Computing um, nachdem es darin die beste Route zu einem neuen Kerngeschäft erkannte. Um es mit den rasch wachsenden Amazon Web Services (AWS) aufnehmen zu können, übernahm Nadella eine Reihe von Unternehmen, mit denen er das neue Profil »Cloud first, AI1 first« schärfte. Seit dem Start von Microsoft Azure im Jahr 2010 hat sein kommerzielles Cloud-Geschäft mehr als 23 Milliarden US-Dollar Umsatz eingefahren – bei einer Bruttomarge von 57 Prozent im Geschäftsjahr 2018.

Microsoft kaufte vor Kurzem für 7,5 Milliarden US-Dollar die Open-Source-Softwareentwicklungsplattform GitHub. Damit stärkte es seinen Status als einer der weltweit führenden Cloud-Computing-Anbieter. Microsoft richtet sich auf sein »nächstes Neues« aus, indem es eine KI-Leistungsschmiede mit einer 8000 Mitarbeiter starken KI- und Forschungseinheit errichtet.

Das Beispiel zeigt, dass die »Zukunftswende« radikale Ansätze braucht, damit neue Geschäftszweige entstehen. Ein Unternehmen muss bereit sein – wenn es von Disruption profitieren will –, immer kürzere Profitabilitätsfens ter zu nutzen und zügig zu skalieren. Das funktioniert, solange sich die Kunden in großen Scharen dem Neuen zuwenden. Wenn die Nachfrage sinkt, fahren Unternehmen das Engagement ebenso rasch wieder zurück.

Um schnell profitable Größenordnungen zu erreichen, verschaffen sich Manager frühzeitig neue Technologien und bauen die nötigen Beziehungen auf, um sie zu nutzen. Wegen der erforderlichen Markt- und Technologiekenntnisse hängt eine »Zukunftswende« von der Experimentierfreude und frühzeitigen Investitionen ab. Das kann unterschiedlich aussehen: von internen Start-ups, die sich in sogenannten »Inkubatoren« entwickeln, bis zu Investitionen in externe, von Einrichtungen gesponserte Inkubatoren, sogenannte »Akzeleratoren«.

Manche Unternehmen, die von der Disruption bedroht sind, starten unternehmenseigene Kapitalfonds. Diese geben ihnen Besitzrechte an den Start-ups, die die relevanten Technologien entwickeln. In manchen Fällen ist jedoch der beste Weg, in neuen Märkten zu skalieren, gleich die Start-ups zu kaufen, die bereits neue Produkte entwickelt und Kundenbeziehungen aufgebaut haben.

Denken Sie an die elegante »Zukunftswende« des niederländischen Konsumgüterkonzerns Royal Philips. Das Unternehmen erkannte Anfang des Jahrtausends, dass die LED-Technik binnen maximal eines Jahrzehnts besser, billiger und nachhaltiger sein würde als die traditionelle Glühbirne – eine Kategorie, die Philips mit erfunden und die ihm über ein Jahrhundert lang einen Wettbewerbsvorsprung gesichert hatte.

Unter Einsatz seiner alten Assets in den Bereichen Fertigung, Vertrieb und Marketing investierte das Unternehmen in die Kompaktleuchtstofflampe – eine übergangsweise verbesserte Beleuchtungstechnik –, nur um zur selben Zeit die LED-Technik auf Hochtouren zu erforschen. Nachdem es seine Assets im Glühbirnengeschäft an Wettbewerber verkauft hatte, stieg das Unternehmen als Serviceprovider in den LED-Markt ein. Es bot eines der ersten programmierbaren Lichtsysteme auf Basis der proprietären Hue-Technologie.

Gleichzeitig investierte Royal Philips in seine Gesundheitstechniksparte und baute sie zu einem neuen Kernbereich aus. So stieg das Unternehmen nach 100 Jahren fast vollständig aus dem Beleuchtungsgeschäft aus. Es sah seine Zukunft andernorts und dank sorgfältiger Planung in seinem Alten und seinem Jetzt verfügte es über die Innovationen, die Finanzen und die Talente, um sich erfolgreich dem Neuen zuzuwenden.

Oder schauen Sie sich an, wie Amazon den Erfolg im Buchverkauf nutzte, um mit seinem Kindle den E-Book-Markt zu erobern, obwohl es über fast keine Erfahrungen mit Verbraucherelektronik verfügte. Das Unternehmen verstärkte zuerst seine Investitionen in Datenspeicher, Display, Akkus und Networking, an denen Reader anderer Anbieter einst gescheitert waren.

Sobald diese Technologien weit genug entwickelt waren und in einem leistungsfähigen und erschwinglichen Gerät kombiniert werden konnten, nutzte Amazon sein Wissen über die Buchbranche, seine Erfahrungen im Vertrieb und seinen riesigen Kundenstamm. Es eroberte den Markt mit einem Produkt, das endlich den Kundenwünschen entsprach.

Zur selben Zeit plante das Unternehmen sein nächstes »Neues«, indem es nach weiteren Anwendungsmöglichkeiten für die Fähigkeiten, Beziehungen und Technologien suchte, die es für seine Vertriebsplattform entwickelt hatte.

Mit diesen zentralen Assets verwandelte Amazon seine IT-Infrastruktur in einen Service für andere. Zuerst für kleinere Händler, die das Unternehmen auf seiner Plattform hostete. Später dann in skalierter Form als cloudbasiertes Hosting-Geschäft unter dem Namen Amazon Web Services. Mit seinen nutzerfreundlichen und preisgünstigen Angeboten für Geschäftskunden entwickelte sich AWS explosionsartig binnen eines Jahrzehnts zu einem 20-Milliarden-US-Dollar-Geschäft.

Oder nehmen Sie als weiteres Beispiel die »Zukunftswende« von Netflix – einem Unternehmen, das anfangs Filme auf DVD per Post verlieh. Schon als das Unternehmen seinen Verleihservice startete, der über kurz oder lang den traditionellen Verleihfirmen wie Blockbuster und West Coast Video den Garaus machte, bereitete Reed Hastings die Organisation auf den Schwenk zum »Neuen« vor: einen abonnementgestützten Streaming-Dienst für digitale Videos, möglich durch das allgegenwärtige Breitbandnetz.

Die Analyse der im Streaming-Dienst erzeugten Kundendaten war wiederum die Voraussetzung, um das Unternehmen zu seinem nächsten Neuen zu führen: eigene Programminhalte zu erzeugen. Die von Netflix entwickelte Inferenzmaschine lieferte Erkenntnisse zu den Sehgewohnheiten und Wünschen der Kunden und half dem Unternehmen, sich in kürzester Zeit als Filmstudio zu etablieren. Es überholte alteingesessene Unternehmen, die seit Jahrzehnten, wenn nicht noch länger, Filme und Serien produzierten. 2018 sahnte Netflix mehr Emmy-Nominierungen ab als jedes andere traditionelle Studio oder New-Media-Unternehmen.

Für Netflix erforderte die richtige Aufteilung der Investitionen auf alle drei Lebenszyklusstadien heikle und häufige Strategiewechsel. Nicht alle wurden perfekt umgesetzt. Während beispielsweise die Betriebseffizienz des noch funktionierenden DVD-Verleihservices unablässig verbessert wurde, um trotz eines vermehrten Wechsels der Kunden zum Streaming-Dienst die Ertragsquelle aufrechtzuerhalten, versuchte Hastings, die zwei Geschäftsbereiche zu trennen. Voreilig, wie sich herausstellte. Die Kunden revoltierten gegen die neue Preispolitik und Netflix nahm die Veränderungen schon bald wieder zurück.

Als zunehmend Konkurrenzprodukte von etablierten und neuen Unternehmen auf den Markt drängten, investierte Netflix weiter in die digitale Komprimierung und andere Optimierungstechniken. Das Unternehmen wusste, dass seine technische Plattform der Grundstein für den Vertrieb der eigenen Inhalte sein würde, die bald kommen würden.

Im Neuen von heute kann sich Netflix auf eine tiefe, datengestützte Beziehung zu seinen mehr als 100 Millionen Abonnenten aus aller Welt verlassen. Im Unterschied zum alten blockbuster- und intuitionsgestützten Hollywood-Modell verwendet Netflix einen wissenschaftlichen Ansatz, um Originalinhalte zu entwickeln und zu vermarkten. Die rasche Skalierung der eigenen Dienste sorgt dafür, dass eine wachsende Liste von Wettbewerbern entlang der gesamten Wertschöpfungskette stets das Nachsehen hat.

Diese Fälle zeigen, dass die »Zukunftswende« sich nicht darin erschöpft, lose verknüpfte Investitionen entlang der drei Lebenszyklusstadien der Geschäftsaktivitäten eines Unternehmens richtig zu gewichten. Sie setzt vielmehr Synergien zwischen ihnen frei – teils geplant und teils vollkommen dem Zufall geschuldet.

Als wir beispielsweise bei Accenture unsere künftige KI-Abteilung aufbauten, stießen wir auf innovative Möglichkeiten, wie wir den langweiligen und fehleranfälligen Prozess der Softwaretests – einer zentralen Komponente unserer damaligen Geschäftstätigkeit – automatisieren konnten. Diese neuen Tools machten den Prozess exponentiell effizienter und zuverlässiger. Das verbesserte unmittelbar unsere Geschäftstätigkeit im Jetzt.

Wettbewerber mögen darin gesehen haben, dass sich unsere Expertisen kannibalisieren. Wir aber sahen die Chance, Wert freizusetzen, der in einem ineffizienten, teuren und aufwendigen Prozess gefangen war, der sich nunmehr mittels KI automatisieren ließ. Anstatt zu warten, bis andere sich auf diesen Wert stürzten, taten wir es selbst.

Früher oder später, so wussten wir, würde KI die Tests von Software transformieren – ob unter Regie von Accenture oder jemand anderem, der keine traditionelle Abteilung am Leben zu erhalten versuchte. Während wir alles taten, um unsere Testexperten in anderen Bereichen unterzubringen, brachte die »Zukunftswende« neues Leben – und neue Gewinne – in einen alternden Geschäftszweig.

Wie dieses letzte Beispiel illustriert, erfordert die »Zukunftswende« das konstante und mutige Rotieren um das Alte, das Jetzt und das Neue. Das Neue wird dann mit der Zeit (und schon bald) zum Alten und der Zyklus setzt sich fort. Ständig besteht das Risiko, in einzelne Stadien zu viel oder zu wenig zu investieren, was katastrophale Folgen haben kann. Die Unternehmenslenker müssen die Investitionsverhältnisse immerfort überprüfen und angesichts unvorhersehbarer disruptiver Einwirkungen von außen fortlaufend neu gewichten. Im Ergebnis schaffen sie ein Balancedreieck, in dem sie ständig vom einen zum anderen wechseln.

Auf den folgenden Seiten schauen wir uns die Erfolgsstrategien von alten und neuen Unternehmen an, die unter dem steten Wettbewerbsdruck und angesichts eines unablässigen technologischen Wandels bestens gedeihen. Und wir werfen einen genauen Blick auf die Tools und Taktiken, mit denen sie im Zeitalter der kontinuierlichen Disruption beständig weiter wachsen.

Das wichtigste Ergebnis unserer Studien ist: Zwischen dem, was technologisch möglich ist, und dem, was die Unternehmen aus diesem Potenzial machen, klafft eine immer größere Lücke. Diese Diskrepanz erzeugt riesige Vorräte an unerschlossenem Wert, die sich aus den steten Verbesserungen in Sachen Schnelligkeit, Miniaturisierung, Leistung, Preis und Effizienz der digitalen Technologien speisen.

Trotz dieser Chance steigern die wichtigsten etablierten Unternehmen in vielen der untersuchten Branchen nicht länger die Gewinne. Zugleich schaffen technologiegestützte Innovationen ungeheure Mengen an neuem Wert. Jemand anderes, häufig genug ein Marktneuling, spürt diesen Wert dann auf und schöpft ihn ab.

Die »Zukunftswende« beruht auf einem tiefen Verständnis der Hürden, die ältere Unternehmen zunehmend daran hindern, den Anschluss zu behalten. Sie liefert Strategien, sich diesem Trend entgegenzustellen und die Kernfähigkeiten und -ressourcen aus alternden Assets in den Motor eines beschleunigten Wachstums zu verwandeln.

Die Chancen, verborgenen Wert aufzuspüren und freizusetzen, stehen gut. Doch die Zeit, die dafür bleibt, wird mit jeder neuen Generation von Disruptoren kürzer. Unsere Forschung offenbart vier unterschiedliche Bereiche, in denen sich verborgener Wert sammelt und die jeweils eine andere Art von Wettbewerbern und Marktneulingen anziehen.

Wie Sie diesen Wert erkennen und erschließen – damit beschäftigen wir uns als Erstes.

Teil I

VERBORGENEN WERT FREISETZEN

1. Kapitel

DAS UNERSCHLOSSENE WERTPOTENZIAL

Disruption als Chance

WAS PASSIERT, WENN in rasantem Tempo neue Technologien entwickelt werden, mit denen Unternehmen verborgene Ertragsquellen erschließen? Ertragsquellen, die teilweise lange existierten und aus vielen Gründen nicht schon früher erschlossen werden konnten? Je besser, billiger und kleiner digitale Komponenten werden, desto wichtiger wird es für Unternehmen jeder Größe und Branche, diese Frage zu beantworten.

Der Grund ist, dass die Technologie zunehmend die Tools bereitstellt, die es Ihren Wettbewerbern erlauben – etablierten Unternehmen und Marktneulingen gleichermaßen –, neue digitale Produkte und Services auf den Markt zu bringen, die latente Bedürfnisse ansprechen und unerfüllte Wünsche bedienen. Wir bezeichnen dieses Ertragspotenzial als Trapped Value oder »unerschlossenes Wertpotenzial«. Wenn Sie es nicht schneller erschließen als andere, kann es passieren, dass Sie nicht nur Ihre Chance auf zukünftiges Wachstum verspielen, sondern auch Ihr bestehendes Geschäft verlieren. Diese Disruption kann sich schnell oder langsam vollziehen. In jedem Fall aber hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit bereits begonnen.

Unerschlossener Wert ist für Unternehmer wie Honig für Bären. Er lockt neue Investments und neue Mitspieler an. Diese warten nur darauf, in Ihrem Markt zu experimentieren und mit Ihren Kunden, Zulieferern und anderen Stakeholdern gemeinsame Sache zu machen. Sie sind bereit, den freigesetzten Wert zu teilen. Das ermöglicht ihnen, neuartige Geschäftsbeziehungen einzugehen und neue Strategien und Umsetzungsansätze zu verfolgen, die das konventionelle Managementdenken auf den Kopf stellen.

Die gute Nachricht lautet: Aus unserer persönlichen Erfahrung in der eigenen Branche und der Arbeit mit Organisationen aus aller Welt wissen wir, dass die etablierten Unternehmen mindestens ebenso gut und häufig sogar besser aufgestellt sind, verborgenen Wert zu erschließen, als jedes noch so disruptive Start-up aus dem Silicon Valley.

Das Schwierige ist nicht, neue Technologien zu beherrschen. Doch die meisten Unternehmen überwinden ihre alten Pläne, Prozesse und Systeme nicht. Obwohl diese für eine Zeit optimiert wurden, als der Wettbewerb überwiegend statisch war. Es fällt ihnen schwer, ihre Prinzipien aufzugeben. Damals veränderten sich Branchen nur langsam, Technologien verbesserten sich anders als heute in kleineren Schritten.

Lassen Sie uns mit einer Branche beginnen, deren schmerzliche Disruption und Neuerfindung für viele Schlagzeilen gesorgt hat.

Gefangen in der Einkaufspassage

Die letzten Jahre haben dem Einzelhandel übel mitgespielt.

Alteingesessene stationäre Handelshäuser, die sich lange immun gegen die vergleichsweise kleine Online-Konkurrenz wähnten, streichen reihenweise die Segel. Die Zahl der Insolvenzen und Geschäftsaufgaben erreicht Rekordniveau, mit Namen wie Sears, Radio Shack, the Limited, Sports Authority, Toys »R« Us und Payless ShoeSource. Allein 2017 schlossen die größten Einzelhändler in den USA mehr als 5000 Läden.2

Es ist ja nicht so, dass die Kunden nicht mehr einkaufen. Sie tun es nur anderswo.

Der offensichtliche Disruptor ist in diesem Fall Amazon. Der Pionier des Internethandels hat seinen Umsatz seit 2010 verfünffacht. Er verkauft heute fünfmal mehr als der Einzelhändler Sears, der von 2007 bis 2018 ebenso viel Ertragsvolumen verloren, wie Amazon hinzugewonnen hat. Heute, im Jahr 2019, ist jeder zweite US-Haushalt Abonnent von Amazon Prime, was die versandkostenfreie Lieferung binnen zweier Tage und den Empfang gestreamter Originalvideos über das Internet umfasst. In einer Branche mit einem Gesamtumsatz von 3,5 Billionen US-Dollar macht der Online-Handel mittlerweile fast 400 Milliarden US-Dollar aus.

Und doch war der Niedergang des stationären Einzelhandels alles andere als unvermeidlich. In Wahrheit hatte die Branche zwei Jahrzehnte Zeit, um sich neu aufzustellen. 1996 war das Shoppen im Internet eine Spielerei. Seither jedoch nahm sein Volumen jährlich um 15 bis 25 Prozent zu. Im Online-Weihnachtsgeschäft 2016 wurden fast 100 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Aber selbst das war nur ein Zehntel des Gesamtumsatzes.

Zunächst haben die alteingesessenen Einzelhändler die Risiken ignoriert, die ihnen durch Online-Konkurrenten erwuchsen. Anschließend versuchten sie, die neuen Wettbewerber nachzuahmen. Sie ergänzten ihr traditionelles Geschäft um »Me too«-Webseiten. Aus Sorge, ihre Standorte zu »kannibalisieren« und die Zulieferer vor den Kopf zu stoßen, waren diese Online-Angebote nur Kompromisslösungen. So gab es dort beispielsweise nicht das vollständige Sortiment oder lediglich Sonderangebote. Manchmal konnte die Ware nur in den Läden in Empfang genommen oder umgetauscht werden. Die Preise spiegelten nur selten die geringeren Kosten des Online-Dienstes wider.

Was viele Händler nicht begriffen hatten: Durch die sinkenden Technologiepreise und das Internet entstanden neue Chancen, die Kunden effizienter und persönlicher anzusprechen und zu bedienen. Die Einzelhändler hatten die technologische Innovation überwiegend abgeschrieben. Selbst der Kundendienst blieb durch Kostensenkungen auf der Strecke und zurück blieben frustrierte Kunden.

Wo sollten Sie einkaufen, waren sie doch weiter in den Einkaufspassagen.

Bis die Online-Händler ihre Chance erkannten. Geringere Preise? Kein Problem! Maßgeschneiderte Angebote? Hier sind sie! Selbstbedienung statt keiner Bedienung? Bitte schön!

Was die Händler mit digitalem Schwerpunkt auszeichnet, ist nicht die digitale Technik. Es ist ihr Fokus auf den Kunden. Sie wollen für diesen das Einkaufen persönlicher, bequemer, unterhaltsamer, kostengünstiger und sogar sozialverträglicher gestalten.

Amazon, eBay, Apple, Zappos, Dell und andere stehen in engem Kontakt zu den Verbrauchern. Sie ermitteln, was diese wollen, und geben es ihnen. Das Ganze wird unterstützt durch sicheres Bezahlen, Videos und andere Extras auf ihren Webseiten. Hinter den Kulissen errichten sie modernste Warenlager und Vertriebsnetze. Sie investieren in Robotik, Drohnen und mächtige Datenanalysetools, die ihnen verraten, was die Kunden wollen und wann sie es wollen. Heute können Produkte über sprachaktivierte Smart-Home-Hubs wie Amazons Echo oder Google Home einfach wie nie nachbestellt werden.

Während die traditionellen Einzelhändler die Mitarbeiterzahl reduzierten, das »Licht dimmen« und. veraltete Artikel horten, investieren die webgestützten Händler alles, was sie haben – und manchmal sogar mehr. Sie versenden Waren kostenlos, liefern sie am selben Tag und nehmen sie unkompliziert zurück. Sie werben zielgerichtet, lassen Kunden bewerten und ermöglichen den Einkauf über mobile Geräte. Alles zusammen macht das Online-Shopping zu einem weitaus beglückenderen Erlebnis, als sich ins Auto zu setzen, zum Einkaufszentrum zu fahren, einen Parkplatz zu suchen, zu hoffen, dass das gewünschte Produkt vorrätig ist und sich jemand findet, der das Geld entgegennimmt.

Führende Online-Händler experimentieren sogar mit stationären Outlets. Die Apple Stores mit Self-Checkout, In-Store-Kursen und Genius-Bar-Kundenservice sind gut gefüllt. Amazon testet Lebensmittelläden, in denen die Kunden für ihre Einkäufe automatisch zahlen, sobald sie den Laden verlassen – möglich gemacht durch maschinelles Sehen, maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz (KI).

Heute erlauben es automatisierte Warenlager und die Abwesenheit physischer Standorte – die gemietet, beheizt, mit Personal bestückt und bewacht werden müssen, unabhängig von der Anzahl der Kunden im Laden –, für Online-Einkäufe erheblich weniger zu berechnen.

Der Online-Handel wurde so besser und billiger als der stationäre Handel. Diese zwei Katalysatoren zusammen sind geeignet, jene Art von Disruption auszulösen, die sich nicht länger ignorieren lässt. Nachdem die Reaktionskette einmal in Gang gesetzt worden war, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis bei immer mehr Einkaufszentren die Türen krachend zufielen.

Barbara Kahn, Marketing-Professorin und ehemalige Direktorin des Retailing Center an der Wharton School, fasst es gegenüber der New York Times so zusammen: »Die Einzelhändler, die die Zeichen der Zeit erkannt haben, wissen, dass Amazon das Konsumentenverhalten für immer verändert hat. Einkaufen darf sich nicht länger wie Arbeit anfühlen.«

Der Einzelhandel schrumpft nicht, sondern entwickelt sich weiter. Eine Flut neuer Technologien, Netzwerke und Geräte ermöglicht es, Wert aufzuspüren und abzuschöpfen – durch eine personalisierte Kundenansprache, komfortable Bestellmöglichkeiten und vorausschauende Datenanalysen. Diesen Wert teilen die Marktneulinge über kollaborative Anwendungen fröhlich miteinander. Was jeder aus den frühen Experimenten lernte, führte zu mehr Innovation, verbesserten Technologien und mehr Wert.