Johannes Wilkes


Dünendämmerung








Spiekeroog-Krimi






Prolibris Verlag




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Titelbild: © Bernhard Brügging, Velen
Schriften: Linux Libertine
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-197-6
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-189-1

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Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Fantasie des Autors. Eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Institutionen, Straßen und Schauplätze auf Spiekeroog.


Der Autor
Johannes Wilkes, in Dortmund geboren, als der Pott noch rauchte, entwickelte erste Mordfantasien beim Sezieren einer formalingetränkten Leiche während seines Medizinstudiums in München. Er ist Autor zahlreicher unblutiger Bücher und leidenschaftlicher Strandgänger auf Spiekeroog. Hier spielte sein erster Kriminalroman: „Der Tod der Meerjungfrau“. Das erfolgreiche Ermittlerpärchen Karl-Dieter und Mütze geraten in dem vorliegenden Buch in ihren fünften Mordfall auf Spiekeroog.
Samstag
»Sauwetter«, brüllte Karl-Dieter gegen den Sturm.
»Das kannste laut sagen.«
Es stürmte. Ein böiger Nordwest peitschte heftige Regenschauer über den Hafen von Spiekeroog, als Mütze und Karl-Dieter mit einer Schiffsladung von Inselhungrigen über den Steg an Land liefen. Sich unterzustellen und zu warten, bis das Gröbste vorbei war, hatte keinen Zweck. Noch auf der Fähre hatte Karl-Dieter einen Blick auf das Smartphone seines Banknachbarn geworfen, eines missmutig aus dem Fenster schauenden Pensionärs.
»Studienrat maximus«, spöttelte Karl-Dieter, »vermutlich Geschichte und Latein«.
»Geschichte und Religion!« Auf seinen Lateinlehrer ließ Mütze nichts kommen.
Was auch immer der Herr unterrichtet haben mochte, auf dem Regenradar seines Handys war nur eine Farbe zu sehen gewesen: ein triefnasses Blau.
»Dann nehmen wir eben ein Taxi.«
»Sehr witzig!« Mütze wusste genau, dass es weder Taxis auf Spiekeroog gab noch sonstige Autos. Das war ja gerade das Schöne an Spiekeroog. Vor allem bei Sonnenschein, wenn man über die Insel bummeln konnte, ohne auf einen Straßenverkehr achtgeben zu müssen. Ein solcher Regen jedoch war nicht normal, nicht Anfang August.
Zum Glück hatte Karl-Dieter an die Fahrradcapes gedacht. Nach einem leichten Knurren hatte Mütze eingesehen, dass Karl-Dieter Recht hatte. Noch auf der Toilette der Fähre hatten sie sich umgezogen, nacheinander natürlich, sie wussten schließlich, was sich gehörte.
Herausgekommen waren sie wie zwei zu groß geratene Gartenzwerge. Karl-Dieter, rundlich und kompakt, hatte sich das rote Cape übergezogen, Mütze, großgewachsen und athletisch, steckte im gelben Umhang. Auch unten herum unterschieden sich die Freunde signifikant. Während aus Mützes Cape behaarte Muskelbeine herauswuchsen, waren Karl-Dieters Schenkel glatt und glänzend wie ein Babypopo. Der Bühnenbildner pflegte seine Beine von jeglichem Bewuchs frei zu halten. Der Kriminalkommissar musste sich immer wegdrehen, wenn sich Karl-Dieter mit entschlossener Miene die erkaltete Wachsschicht von den Beinen zog. Einfach furchtbar! Karl-Dieters gepflegte Füße steckten in Adiletten, während Mütze aus Protest Aldiletten trug. Man müsse ja nicht jeden Modeblödsinn mitmachen.
So gekleidet trotzten sie am Kai dem Regen. Als alte Spiekeroog-Profis hatten sie ihre Koffer im Hafen von Neuharlingersiel in den letzten der Blechcontainer gewuchtet. »Die letzten werden die ersten sein«, hatte Mütze mit erfahrener Miene festgestellt.
Mit ihren Koffern schnell wiedervereint, zogen sie gegen die Sturmböen weiter zum Deich. Einer der dort auf dem Kopf liegenden Transportkarren wartete auf sie. Bloß welcher?
»Da vorne! Der da, sieh doch, da steht Schwubbe drauf.«
Schwubbe hieß ihr Vermieter. Für vierzehn Tage würden sie in seinem Dachgeschoss unterschlüpfen. Haus Schwubbe lag einsam im äußersten Westen der Insel. Karl-Dieter hatte sich das so gewünscht, in diesem Urlaub sei mal wieder eine Ferienwohnung dran. »Wenn deine Seligkeit davon abhängt«, hatte Mütze geseufzt und wehmütig an die Linde gedacht, an das nostalgische Inselhotel. Nun hatten sie den Salat. Bis zum Westend brauchte man sicher eine halbe Stunde, im Kampf gegen Wind und Regen eine gefühlte Ewigkeit. Die beiden Freunde drehten den Karren um, luden ihre Koffer auf und schnappten sich die nasse Deichsel.
»Daheim mach ich uns einen Tee«, rief Karl-Dieter, während er sich die Kapuze fester um das Kinn band.
»Aber bitte mit Schuss!«

Zum wievielten Mal waren sie schon auf Spiekeroog? War es wirklich bereits ihr fünfter Besuch? Zuletzt waren sie vor zwei Jahren auf der Insel gewesen, ein Urlaub nicht ohne Tragik, hatten sie doch drei gute, alte Freundinnen verloren, zumindest Karl-Dieter.
»Sieh’s positiv«, hatte Mütze ihn zu trösten versucht, »besser kurz und schmerzlos im Watt ertrunken, als quälend langsam von Herrn Alzheimer um den Verstand gebracht.«
»Es gibt doch noch was dazwischen«, hatte Karl-Dieter protestiert.
»Dazwischen? Du meinst, von Herrn Alzheimer ins Watt geführt zu werden?«
»Idiot!«
Was sich liebt, das neckt sich.

Als die beiden endlich ihr Quartier erreicht hatten, klitschnass und durchgefroren, und ihnen ihr Vermieter, ein liebenswürdiger, aber leicht verpeilt wirkender Ostfriese, die Schlüssel überreicht hatte, hatten sie sich sogleich daran gemacht, es sich gemütlich zu machen. Um genau zu sein, Karl-Dieter hatte sich darangemacht. Mütze hingegen streckte sich erst mal genüsslich auf der Couch aus. Karl-Dieter hatte nichts dagegen, sich um die Wohnung zu kümmern, nicht das Geringste. Im Gegenteil, er liebte es. Da konnte das beste Hotelzimmer nicht mithalten. Hier würde er sich einrichten, wie es ihm behagte. Was gab es Schöneres? Vieles hatte Karl-Dieter mitgenommen, das er jetzt auspackte, um es am passenden Ort zu platzieren. Da war als Erstes das Foto von Tante Dörte. Ziemlich vergilbt war die Aufnahme bereits, doch gerade deshalb liebte Karl-Dieter sie. Tante Dörte kam auf den kleinen Sims bei der Essecke. Dann wickelte er vorsichtig eine KPM-Vase aus dem Zeitungspapier und stellte sie auf den Wohnzimmertisch. Für Blumen würde er morgen sorgen. Wie hätte es ihn gefreut, wenn Mütze ihm welche schenken würde, aber Mütze hatte keinen Sinn für Blumen. »Sind morgen doch bereits wieder verwelkt«, pflegte er zu sagen. Das war es ja gerade! Dass Mütze das nicht verstand. Wahre Schönheit war eben vergänglich. »Deine nicht«, hatte Mütze mal gemeint, worauf Karl-Dieter zart errötet war. Es war sicher nur so dahingesagt gewesen, trotzdem hatte es ihn gefreut.
»Der Tee ist fertig!«
»Gibt’s auch ein Bierchen?«

*
Will man auf Spiekeroog eine Leiche verschwinden lassen, bieten sich zwei Möglichkeiten an: die Land- und die Seebestattung. Bei beiden Alternativen muss das Für und Wider sorgfältig abgewogen werden. Die Seebestattung hat den Nachteil größerer Unsicherheit über den weiteren Verbleib des Körpers. An der Nordsee sind die Strömungen, bedingt durch die kräftigen Gezeiten, nicht eindeutig zu berechnen, hinzu kommt ein oft wechselnder Wind. Will man sichergehen, dass der Tote nicht gefunden wird, sollte man sich für die Ankerlösung entscheiden, zumindest für ein schweres Gewicht, dass die Leiche dauerhaft unter Wasser hält.
Aber selbst dann muss man sich klarmachen, dass auch diese Variante kein sicheres Grab garantiert. Sei es, dass ein heftiger Orkan den Seeboden dermaßen aufwühlt, dass sogar ein schwerer Betonklotz an Land gespült werden kann, sei es, dass der Körper zunehmend an Substanz verliert. Dazu trägt zum einen die Verwesung bei, die auch unter Wasser voranschreitet, zum anderen der Fisch- und Seehundfraß. Schlimmstenfalls lösen sich einzelne Knochen, oder gar der komplette Schädel, und treiben an den Badestrand, wo sie für unschöne Reaktionen sorgen. Zugegeben, Sie könnten natürlich argumentieren, bis dies geschieht, hätten Sie schon einen hübschen Vorsprung, auch sei es nicht auszuschließen, dass aufgrund der verwischten Spurenlage kein Gewaltverbrechen mehr nachweisbar ist und man die Vermisstenakte mit dem Vermerk »vermutlich Badeunfall« schließen wird. Blöd ist nur, wenn der Schädel ein Loch aufweist. Dann kommt schnell der Verdacht einer unnatürlichen Todesart auf, speziell bei kreisrunden Löchern mit deutlicher Impressionsfraktur, die Teile des Knochens nach innen gedrückt hat.