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Die Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft sind eine Gruppe aus Berlin, die ihre Einflüsse aus den dissidenten Teilen der kommunistischen Linken und der radikalen Bewegungen bezieht, die gegen Staatsgläubigkeit und Parteifetisch die Autonomie der Klasse setzen. Zusammen mit ähnlich ausgerichteten Gruppen in der Schweiz (»Eiszeit«), Hamburg (»Gruppe in Erwägung«), Freiburg (»La Banda Vaga«) und Frankfurt (»Surplus Club«) geben sie die regelmäßig erscheinende Zeitschrift Kosmoprolet heraus.

FREUNDINNEN UND FREUNDE DER

KLASSENLOSEN GESELLSCHAFT

KLASSE KRISE

WELTCOMMUNE

BEITRÄGE ZUR

SELBSTABSCHAFFUNG

DES PROLETARIATS

NAUTILUS FLUGSCHRIFT

Edition Nautilus GmbH

INHALT

EINLEITUNG

Überflüssige

Die Kostüme von 1789

Populismus und die Schimäre der linken Politik

Weltcommune

28 THESEN ZUR KLASSENGESELLSCHAFT

I. Der Siegeszug der klassenlosen Klassengesellschaft

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

II. Die Selbstaufhebung des Proletariats

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

III. Zeit ohne Versprechen

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

THESEN ZUR KRISE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

UMRISSE DER WELTCOMMUNE

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

LITERATURHINWEISE

Einleitung

28 Thesen zur Klassengesellschaft

Thesen zur Krise

Umrisse der Weltcommune

VERÖFFENTLICHUNGSNACHWEISE

EINLEITUNG

Nach der Rezession die große Regression. Fassungslos sehen die letzten Liberalen zu, wie ausgerechnet auf den höchsten Staatsämtern der Welt eine ebenso mysteriöse wie unbändige »Lust an der Zerstörung« (Bakunin) um sich greift und ihre schöne Ordnung in Trümmer zu legen droht. Die viel beschworene internationale Gemeinschaft, die nach 1989 eigentlich eine üppige »Friedensdividende« einstreichen sollte, ähnelt zusehends einem Haufen von Gaunern, die sich nach undurchschaubaren Kriterien abwechselnd verbünden und an die Gurgel gehen. Weit und breit keine Spur von dem postnational-harmonischen Empire, das ein völlig zu Recht vergessener linker Bestseller vor ein paar Jahren lyrisch schilderte. Handelskriege gehen mit handfester Aufrüstung einher, Clowns und Faschisten bekleiden Regierungsposten, in Osteuropa wird der Notstand ausgerufen, wenn am Grenzposten ein Moslem anklopft. Der Spuk hat solche Ausmaße erreicht, dass selbst hartgesottenen Linken schon mal ein anerkennendes Wort über die deutsche Bundeskanzlerin entfährt, in deren kühl kalkuliertem, aber nicht chauvinistisch delirierendem Nationalismus wenigstens die kümmerliche Restvernunft der bürgerlich-liberalen Welt aufgehoben scheint.

Am Dreischritt Klasse, Krise, Weltcommune drängt sich heute nur der mittlere Begriff auf: Jeder Pinsel sieht, dass die uns bekannte Ordnung aus dem Leim geht. Auch mit einem weniger lausigen Staatspersonal, als zurzeit mit ihrer Verwaltung betraut ist, wäre es um sie nicht gut bestellt. Auch den nächsten Konjunkturabschwung, der fraglos kommt und die bereits restlos erschöpfte Feuerwehr der Notenbanker und unfreiwilligen Keynesianer kalt erwischen wird, braucht es nicht, um ihre Unhaltbarkeit zu erkennen. Der letzte hat fürs Erste gereicht, und er hat eine Weltgesellschaft getroffen, in der es ohnehin schon gärte.

Von einer Klasse, wie man sie sich gewöhnlich vorstellt, ist dagegen wenig zu sehen, und von der Commune reden selbst die Linken kaum noch. Die Unruhen reißen nicht ab, aber kaum jemand würde sich einer Arbeiterklasse zurechnen, eher schon dem Volk; von Demokratie ist hundert Mal mehr die Rede als von Revolution. Überall geht es um eine materielle Misere, um das leergefegte Konto am Monatsende, um den Brotpreis, um Altersarmut und Jugendarbeitslosigkeit, aber richten soll es eine andere Wirtschaftspolitik. Statt von der »Expropriation der Expropriateure« (Marx), von Gemeineigentum und planvollem Produzieren ist von Umverteilung, Steuern, Korruption die Rede; wer den schönen Traum vom bedingungslosen Grundeinkommen träumt, gilt fast schon als Radikaler. Und taucht die allseits verdrängte Eigentumsfrage doch einmal auf, dann nur im Rahmen des gesetzlich Erlaubten. Der Gedanke einer ganz und gar illegalen, entschädigungslosen Aneignung von unten, einer Vergesellschaftung der Produktion durch die Lohnabhängigen selbst, die so nicht länger Lohnabhängige wären, sondern frei assoziierte Menschen, scheint aus der Zeit gefallen. Dafür gibt es Gründe.

Überflüssige

Wie vom klassischen Marxismus prophezeit, hat sich in den letzten hundertfünfzig Jahren eine ungeheure Proletarisierung der Welt vollzogen, aber anders als erwartet. Der Glaube der alten Arbeiterbewegung, mit der Geschichte im Bund zu sein, beruhte auch auf der Überzeugung, eine Klasse zu repräsentieren, die unaufhaltsam wachsen und an Macht gewinnen werde. In immer größeren Fabriken konzentriert, sollte ihr starker Arm alle Räder stillstehen lassen. In der Bilderwelt der Arbeiterbewegung schlagen muskulöse Hünen mit der Faust auf den Tisch der Herrschenden, auch die Figur des Prometheus gehörte zu ihrem Inventar. Warum muten solche Bilder heute wie Folklore an?

Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist immer deutlicher geworden, dass sich die geschichtliche Erwartung des klassischen Marxismus nur zur Hälfte bewahrheitet hat. Mit ihrer himmelweit überlegenen Produktivität hat die moderne Ökonomie alle früheren Wirtschaftsformen zertrümmert, die gesamte Menschheit in Marktbeziehungen gezwungen und einen wachsenden Bevölkerungsanteil in Menschen verwandelt, die zum Verkauf ihrer Arbeitskraft gezwungen sind, weil sie aller anderen Mittel zum Überleben beraubt sind. Nichts anderes verstand Marx unter dem Proletariat, und nie hat es einen größeren Anteil der Weltbevölkerung ausgemacht als heute. Nicht erfüllt hat sich hingegen die Annahme, diese eigentumslosen Menschen würden ein immer größeres, an den Stätten der modernen Produktion bereits zusammengeschweißtes Heer von Arbeitern bilden, das sich nur seiner kollektiven Macht, seiner Unverzichtbarkeit für das Leben der Gesellschaft bewusst werden müsse, um zur Partei des Umsturzes zu avancieren. Bislang vor allem auf der südlichen Halbkugel, mehr und mehr aber auch in den alten Hochburgen des Industriekapitalismus prägt die gegenläufige Tendenz das Bild: ein Überschuss an Arbeitskräften, den wir Surplus-Proletariat nennen.

Darin liegt ein Schlüssel zur Entzifferung sowohl der jüngeren Kämpfe als auch der gegenwärtigen Reaktion. Vergleicht man die weltweiten Erschütterungen um 1968 mit denen ab 2008, dann sticht ins Auge, dass sich das Geschehen weltweit vom Land in die Städte verlagert hat. Im Westen bildete sich die explosive Mischung aus Jugendrevolte, Fabrikkämpfen und neuer Frauenbewegung natürlich auch damals schon auf dem modernen Terrain der Stadt. Daneben bestimmten um 1968 aber vor allem die – bereits siegreichen oder noch in militärische Konflikte verstrickten – nationalen Befreiungsbewegungen im Süden die Situation, und sie stützten sich von Algerien bis Vietnam vor allem auf Massen von armen Bauern. Mao, ein dubioser Held der westlichen Neuen Linken, sprach es mit der strategischen Losung aus, man müsse »die Städte vom Land her einkreisen«. Ein halbes Jahrhundert später ist dieser Typus von Bewegung ausgestorben. Praktisch überall auf der südlichen Halbkugel wurden die Städte in der Tat vom Land her eingekreist – aber nicht durch sozialistisch drapierte Guerillabewegungen, sondern durch ausufernde Slumgürtel, in denen sich ehemalige Bauern samt Kindern und Kindeskindern sammeln. Von der Modernisierung der Landwirtschaft überflüssig gemacht, finden sie in den neuen Mega-Citys kaum eine reguläre Beschäftigung. Der weltumspannende High-Tech-Kapitalismus hat Milliarden von Menschen in Proletarier verwandelt, mit denen er nichts recht anzufangen weiß.

Was vor diesem Hintergrund an Kämpfen ausbricht, hat nicht nur nichts mit dem mehr gemein, wofür Mao, Che, Onkel Ho und die vielen nationalen Befreiungsbewegungen standen, sondern auch wenig Ähnlichkeit mit der Arbeiterbewegung, wie wir sie kennen. Für Surplus-Proletarier ist der unmittelbare Gegner meistens nicht der Boss, den sie entweder als Taschentuchverkäufer, Rikschafahrer oder Schuhputzer gar nicht haben oder gegen den sie, da jederzeit durch einen anderen ersetzbar, weitgehend machtlos sind, sondern der Staat, der in Armutsregionen gewöhnlich als autoritärer, korrupter Polizeistaat auftritt, aber, als eine Art vorbeugende Aufstandsbekämpfung mit menschlichem Antlitz, auch lebenswichtige Nahrungsmittel subventioniert. Ihr Kampfmittel ist meistens nicht der Streik, sondern der Krawall sowie neuerdings die Besetzung öffentlicher Plätze, auf denen sich für kurze Zeit eine bessere Gesellschaft andeutet. Das ist, in einem Satz, die Geschichte des arabischen Frühlings von 2011, die sich seitdem von Marokko über Algerien bis in den Sudan fortgesetzt hat und dies auch weiterhin tun dürfte: Ein Aufbegehren städtischer Armer gegen das politische Regime, das ihre Armut mit wenig Zuckerbrot und viel Peitsche verwaltet, von überwiegend jungen und oft sogar gut ausgebildeten Leuten, die kaum Aussicht auf ein geregeltes Einkommen haben. Mit irgendwelchen Eigenarten der »arabischen Welt« hat das selbstredend nichts zu tun. Ganz ähnlich verliefen zum Beispiel die jüngsten Auseinandersetzungen in Nicaragua, wo geplante Sozialkürzungen zunächst Massenproteste und dann eine blutige Repression auf den Plan riefen. Massenproteste, die sich wie in Algerien gegen eine ehemalige Revolutionspartei richteten, deren aus der Ära der bäuerlich-nationalen, antiimperialistischen »Befreiung« stammender Glanz längst verblasst ist, seit sie die profane Aufgabe hat, ihrem zurückgebliebenen Land einen Platz auf dem Weltmarkt zu sichern. Mehr als Armutsverwaltung haben auch die linken Guerilleros und nationalistischen Generäle von gestern bis vorgestern nicht im Programm. Jetzt plagt sie die Klassenfrage, die unter dem Banner der nationalen Befreiung verdrängt werden konnte.

Sozialrevolutionäre Linke könnten aus der veränderten Lage in vieler Hinsicht Hoffnung schöpfen. Die historische Spaltung von Bauern- und Arbeiterkämpfen und die ihnen zu Grunde liegenden Ungleichzeitigkeiten machen einen Gutteil des Scheiterns der Revolutionen des 20. Jahrhunderts aus. Mit dem Umzug der globalen Bevölkerungsmehrheit in die Städte, verbunden mit höherer Alphabetisierung, einem Aufbrechen dörflich-patriarchaler Familienverhältnisse und Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln, hat sie an Bedeutung verloren und bewegen sich Kämpfe rund um den Globus eher im selben Horizont. Die Vermengung antikolonialer und sozialer Befreiung, die früher ihren Grund hatte – die Kolonien waren kaum von Proletariern bevölkert, aber befreien mussten sie sich ohne Frage –, ist erst Recht eine Sache der Vergangenheit. Die bürokratischen Apparate der Gewerkschaften und Arbeiterparteien, die früher die Macht der Arbeiter ausgedrückt, sie aber letztlich in geordnete Bahnen kanalisiert haben, spielen kaum irgendwo eine nennenswerte Rolle. Niemand will mehr »Arbeiterstaaten« aufbauen, und das Misstrauen gegenüber allen selbsternannten Führern dürfte noch nie so ausgeprägt gewesen sein; nicht umsonst kam mit Blick auf die Unruhen von 2011 die Rede von leaderless revolutions auf. Und deutet sich in den heftigen Straßenschlachten der Gegenwart nicht viel eher ein revolutionärer Bruch an als in den klassischen Streiks der Vergangenheit, die meistens von vornherein auf Kompromisse zielten?

Solche optimistischen Lesarten kommen zurzeit in Mode, und vieles treffen sie zunächst. Oft geraten sie aber im Handumdrehen zur Ideologie, weil sie die neue weltweite Konstellation versimpeln und umstandslos mit eigenen revolutionären Wünschen kurzschließen, in Wunschdenken münden. So besagt etwa eine in Amerika elaborierte »Theorie des Aufstands«, die nach der Hamburger Großrandale von 2017 auch hierzulande offene Ohren findet, mit dem wachsenden Heer von Überflüssigen sei die Zeit der Streiks, von Kämpfen in der Produktion überhaupt, abgelaufen und eine Ära der Aufstände angebrochen und das sei auch gut so, denn die alte um die Produktion herum organisierte Arbeiterbewegung habe sich als Reinfall erwiesen, sei immer schon und zwangsläufig auf Ausgleich, Integration, Sozialpartnerschaft geeicht gewesen, während nunmehr, in den neuen städtischen Riots, die Unterklassen und das System unvermittelt aufeinanderprallten; endlich erscheine so »am Horizont die Commune« (Joshua Clover).

Das ist insofern allenfalls die halbe Wahrheit, als neben dem wachsenden Surplus-Proletariat vor allem in Asien auch neue Industriearbeiterklassen entstanden sind, wie sie klassischer kaum sein könnten. Selbst in China bilden sie zwar, anders als der Augenschein nahelegt, einen kleineren Teil der Arbeitsbevölkerung als etwa im Westeuropa und Nordamerika der 1950er und 1960er Jahre, doch das Zerrbild einer Ära, in der Streiks angeblich aussterben und praktisch überall nur noch pauperisierte Massen mit Barrikadenbau und Plünderungen beschäftigt sind, widerlegen sie allemal; in Indien, als Musterbeispiel für Jobless Growth von massenhafter Unterbeschäftigung geplagt, soll kürzlich immerhin der größte Streik der Menschheitsgeschichte stattgefunden haben. Nur die halbe Wahrheit ist es außerdem, weil die Zeit der klassischen Arbeiterbewegung, die in der »Theorie des Aufstands« das konformistische Kontrastbild zur wilden Ära der Riots abgeben muss, an den Rändern oder jenseits dieser Bewegung immer auch Subversives umfasste. Die großen Fabriken waren nicht nur Schauplatz einer fortschreitenden gewerkschaftlichen Integration, sondern auch von Sabotage, Besetzungen und Räten. Umgekehrt verdienen die jüngeren leaderless revolutions der städtischen Armen ihren Namen nicht, weil sie zwar leaderless, aber bislang nirgends revolutions gewesen sind. Letztlich drehen solche »Theorien des Aufstands« nur die biedere sozialistische Ideologie der Vergangenheit um: Der produktive Arbeiter tritt nicht mehr als hammerschwingender Halbgott, sondern als von Haus aus angepasster Stehkragenproletarier auf, der früher misstrauisch beäugte »Lumpenproletarier« dagegen als steineschmeißender Revolutionär par excellence. Und wer ausgerechnet in einer Randale, der der sichere Abstand zur Produktion als historischer Pluspunkt zuerkannt wird, »am Horizont die Commune« aufleuchten sieht, versteht unter der Commune offenbar etwas anderes als die Abschaffung der Klassen in einem freien, auf Gemeineigentum an den Produktionsmitteln gegründeten Verein von Menschen.

Die Kostüme von 1789

Mit den meisten Unruhen der letzten zehn Jahre, von den Aufständen in Nordafrika bis zum eigentümlichen Treiben der Gelbwesten in Frankreich, hat sich der Klassenkonflikt auf das Terrain der Politik verschoben, auf dem sich nicht mehr Lohnabhängige und Kapital, sondern Volk und Regierung gegenüberstehen. Die Nationalfahne als treuer Begleiter der Protestierenden zeugt davon. Unter Militärdiktaturen scheint dies fast zwingend und steht insofern erst einmal jenseits aller Kritik: Nicht anders als früher gegenüber Feudaladel und Krone tritt das Volk hier als Verein von Bürgern auf, die Schutzrechte gegen Willkürherrschaft und grundlegende Freiheiten einklagen, ein Ende unerträglicher Polizeigewalt und politischer Knechtung. Dass sich die Kairoer Slumbewohnerin mit diesem Anliegen in einer Front mit dem Internetunternehmer wiederfindet, der eigentlich nur Rechtssicherheit für seine Plusmacherei will, können ihr nur Linkssektierer vorwerfen, und angenommen, die ägyptischen Unterklassen hätten tatsächlich wie angekündigt das alte Regime zum Teufel gejagt, dann hätten sie sich danach unter deutlich günstigeren Bedingungen mit den Unternehmern anlegen können. Soweit zumindest das schöne Gedankenspiel. Dass in der Realität nicht einmal der erste Schritt geglückt ist, dürfte wiederum in der berühmten »letzten Instanz« (Engels) ökonomische Gründe haben: Eine Masse von Pauperisierten lässt sich leichter unter der Knute halten als eine starke Arbeiterklasse, die das Land mit Streiks lahmlegen kann.

Wo materielles Elend und politische Unterdrückung so fugenlos verschweißt sind wie in solchen Landstrichen, hat die Forderung auch nur nach bürgerlicher Demokratie in jedem Fall ein überschießendes Moment. Anders sieht es dort aus, wo diese Demokratie zwar auch nicht immer dem entspricht, als was sie heranwachsenden Staatsbürgern in der Schule eingebimst wird, grundsätzlich aber durchgesetzt ist. Und auch dort hat sich der Unmut über Massenarbeitslosigkeit, grassierende Prekarität und Sozialkürzungen meistens als Ruf nach echter Demokratie ausgedrückt. Die existierende gilt als Betrug. Die spanischen Indignados, die sich nicht mehr repräsentiert fühlten und auf besetzten Plätzen daher selbst repräsentierten, die protestierenden Griechen, die das wie am Fließband Sparpakete beschließende Parlament als »Bordell« betrachteten, die amerikanische Occupy-Bewegung, die im Namen der »99 per cent« auftrat, oder zuletzt die französischen Subproletarier und absteigenden Mittelschichten, die sich die phrygische Mütze von 1789 aufsetzten, die Marseillaise anstimmten und gegen das »Regime Macron« randalierten: Alle deuten die Misere, die ihnen ein angeschlagener Kapitalismus einbrockt, als Folge eines Demokratiedefizits.

Alle sollen abhauen!, wie es zuerst im argentinischen Aufstand von 2001/02 hieß, ist so zur Losung der Stunde geworden, aber auch nicht besonders wörtlich zu nehmen. Es ist das jeweils amtierende Staatspersonal, das den Zorn der Bevölkerung auf sich zieht, deren Versuche, abseits der Politik etwas Neues zu schaffen, nie von Dauer sind und bislang ein ums andere Mal genau diese Politik erneuert haben. Die Halbwertzeit der Selbstorganisation währt heutzutage nicht lange. Occupy! mündete in den Wahlkampf von Bernie Sanders, der sein sozialdemokratisches Programm großzügig als Our Revolution bewirbt, die Indignados verwandelten sich in Podemos, die griechischen Proteste spülten die unglückselige Syriza an die Macht. Mit Anarchismus hat die heute grassierende Wut auf »die Politik« wenig gemein. Abhauen sollen die, die ihren Job nicht gut gemacht haben. Dem Ganzen liegt eine tiefe Ambivalenz zugrunde: Die Wut speist sich aus einer enttäuschten Erwartung; das Parlament soll kein »Bordell« sein, sondern dem Volke dienen.

Populismus und die Schimäre der linken Politik

Wenn heute überall das Gespenst des Populismus umgeht, dann weil die Lohnabhängigen zum einen wie immer die Krise ausbaden mussten und ihnen die Rechnung zu großen Teilen vom Staat präsentiert wurde, sie zum anderen seit dem Abebben der Klassenkämpfe in den 1970er Jahren immer weniger überhaupt noch eine Klasse bilden, die sich ihrer selbst bewusst ist und über die Macht verfügt, gemeinsam ihr Leben zumindest weniger unerträglich zu machen. Massenarbeitslosigkeit, Flexibilisierung, die Zerlegung von Betrieben und eine historisch beispiellose globale Konkurrenz haben die Arbeiter im Westen geschwächt. Gleichzeitig teilen immer mehr Leute ihr Los, die man früher niemals der Arbeiterklasse zugerechnet hätte; das Heer von akademisch ausgebildeten Arbeitslosen im Süden Europas kann ein Lied davon singen. Im Ergebnis hat man zwar nicht die beschworenen 99 per cent, aber einen riesigen Bevölkerungsanteil, der sich auf einem verwilderten Arbeitsmarkt wiederfindet, ohne viel Ähnlichkeit mit dem zu haben, was früher Arbeiterklasse hieß. Was als Klasse in den Arbeitsverhältnissen atomisiert wurde, findet sich als Volk auf den Straßen und an den Wahlurnen zusammen.

Der Zuspruch zum Populismus ist in dieser Situation nichts anderes als der Ersatz für einen Klassenkampf, der gegen einen übermächtigen Gegner immer schwerer fällt. Gerade weil sie in der Krise tatsächlich angeschlagen sind, befinden sich die Unternehmen gegenüber den Lohnabhängigen in einer ausgezeichneten Lage. Der legendäre Satz eines deutschen Gewerkschafters, die Kuh, die man melken wolle, dürfe man nicht schlachten, ist zwar mustergültiger Fetischismus im Sinne von Marx: Das Kapital erscheint als so natürlich wie ein gutmütiges Vieh und als produktiv; dass in Wirklichkeit die Arbeiter »gemolken« werden, verkehrt sich in diesem Bild ins Gegenteil. Trotzdem drückt es die Realität aus, dass an erster Stelle immer der Profit kommt, weil es sonst kein Unternehmen und folglich auch keine Arbeitsplätze mehr gibt. Wer stellt schon Forderungen, wenn gerade die halbe Belegschaft entlassen wurde?

Der rechte Populismus behauptet, der Kuh könne es blendend gehen, wären da nicht die EU-Bürokraten, die Steuerlast, die korrupte politische Kaste, die Chinesen, die Klimalüge und vor allem die vielen Einwanderer, die sich an ihr Euter drängen. Der linke dagegen, sie sei eine Simulantin, es gehe ihr in Wahrheit viel besser als behauptet, die Reichen wüssten schließlich gar nicht mehr, wohin mit dem vielen Geld, weshalb sie es in windigen Finanzgeschäften verzockten. Wohlstand für alle, das sei mit der richtigen, volkswirtschaftlich vernünftigen Politik durchaus machbar, dann könnte man sogar ein paar – aber nicht alle! – Einwanderer ins Land lassen. Deren Los dürfe aber nicht im Mittelpunkt stehen, und von dem ganzen modernen Gender-Klimbim dürfe die Linke auch nicht so viel reden, wenn sie beim kleinen Mann punkten wolle. Finanzmarktregulierung, Umverteilung, Konjunkturprogramme, das sei das Gebot der Stunde.

Dass die erste Variante die ekligere ist, versteht sich von selbst. Ob die Arbeiter sie neuerdings tatsächlich in Scharen wählen, wie mit Blick auf Brexit, Trump und andere Desaster behauptet wird, wäre zunächst einmal zu prüfen. Entscheidend ist aber so oder so, was der Reaktion entgegengesetzt wird. Dass der Linkspopulismus ihr insbesondere mit der Entdeckung der Nation, aber auch mit der Abwehr von Geschlechterfragen selbst in die Hände spielt, ist zu Recht kritisiert worden. Wenn etwa Didier Eribon daran festhält, Volk könne keine emanzipatorische Kategorie sein und das Gegeneinanderausspielen von Klasse und Geschlecht sei verkehrt, dann spricht er eine Selbstverständlichkeit aus. Weiter dringt die linke Kritik des Linkspopulismus aber selten vor. Im Grunde geht es nur darum, welchen Rang man verschiedenen Interessen- respektive Wählergruppen beimisst. Die einen schielen auf Heinz Napf, den einfachen Arbeiter, dem es um die Rente geht und die Unisex-Toilette scheißegal ist, die anderen machen in »Intersektionalität«, wie der neueste Exportschlager aus der soziologischen Fakultät heißt. Hier wie da sind die Lohnabhängigen bloß Objekt staatlicher Politik. Auch Eribon schlägt, um das Abwandern von Arbeitern nach ganz rechts aufzuhalten, nichts weiter vor als eine Erneuerung der linken Sozialdemokratie, »denn jene, die keine Stimme haben, können nur sprechen, wenn sie von jemandem vertreten werden, wenn jemand für sie, in ihrem Namen und in ihrem Interesse spricht«. Deshalb ist die »Rolle der Parteien« für Eribon »fundamental«. Unter Pädagogen gesprochen: Ja, die proletarischen Wähler der Rechtspopulisten sind missraten. Aber seien wir ehrlich: Wir haben sie auch vernachlässigt.