Die alte Lady findet in mörderischen Krimis Zuflucht vor der Realität des Krieges, der Einbrecher wünscht sich nichts sehnlicher, als ins Gefängnis zu kommen, der Millionär muss unter der Fuchtel seiner Frau gestohlene Krawatten ins Kaufhaus zurückbringen, und dem geizigen alten Ehepaar geht nichts über den eigenen Dung, wenn es um das Düngen der Gemüsebeete geht … Allein was in diesem Buch an kuriosen Figuren versammelt ist, darf als "Fund" gelten.

In den dreißiger Jahren hatte Veza Canetti mit ihren Erzählungen eine in Lokalkolorit und Sprachstil ganz unverwechselbare Wiener Welt inszeniert. Der vorliegende Band mit den mutmaßlichen letzten Manuskriptfunden bietet in zwölf Prosatexten und zwei Lustspielen darüber hinaus eine spanische Szenerie und - erstmals gedruckt - Figuren und Schauplätze aus dem England der Kriegs- und Nachkriegsjahre.

Das Nachwort von Angelika Schedel gibt Auskunft über das Leben Veza Canettis und die Geschichte ihrer späten Wiederentdeckung.

 

 

 

Veza Canetti

 

Der Fund

 

Erzählungen und Stücke

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Inhalt

 

 

Die Große

 

Der Fund

 

Der Dichter

 

Hellseher

 

London. Der Zoo

 

Herr Hoe im Zoo

 

Die Flucht vor der Erde

 

Drei Viertel

 

Der Tiger

Ein Lustspiel im Alten Wien

 

Pastora

 

Air raid

 

Der letzte Wille

 

Toogoods oder das Licht

 

Der Palankin

Lustspiel

 

Drucknachweise

 

Nachwort

 

 

Die Große

 

Es konnte wirklich kein Mensch vorübergehen, ohne seinen besten Blick auf Käthi zu werfen, wenn sie auf der Stufe vor dem Hause saß. Um die Taille hatte sie einen Strick gebunden, und daran hing seitlich etwas, aber es war kein Dolch, es war ein Säckchen mit Glaskugeln, welche ihr ein Gefühl ungeheurer Wichtigkeit gaben. Am liebsten hatte sie die blauen Kugeln, vielleicht, weil sie wie ihre Augen aussahen. Sie schob die Kugeln im Schmutz hin und her, wischte sie dann am Höschen ab, steckte sie an ihrer Dolchseite ein und sah aus wie ein ungezogener Engel. Denn in der winzigen Schürzentasche hatte sie überdies noch einen Fisch an einem Holzstäbchen stecken, an dem schleckte sie von Zeit zu Zeit und stellte jedesmal befriedigt fest, dass der Zuckerfisch noch lange nicht aus der Form ging.

Den Fisch hatte sie natürlich geschenkt bekommen und es war wirklich das Mindeste, das Käthi an einem Tage geschenkt bekam. Darum saß sie auch so vergnügt auf der Hausstufe und lachte die Leute aus, die über ihren Anblick so verwundert waren. Gingen zwei auf einmal vorüber und waren es Frauen, dann blieben sie stehen, blickten auf das Kind mit den braunen Haarlocken, blickten auf die beseelten Augen, die Puppenwangen, sahen sich gegenseitig an und schlugen die Hände zusammen. »Nein!« riefen sie, so laut es ging. »Nein, so ein schönes Kind!«

Und vielleicht war Käthi deshalb so heiter, weil sie von allen Leuten den besten Blick bekam, den Blick, für den ihre Mutter so wenig Zeit hatte; sie war Bedienerin. Das wußte die Käthi freilich nicht, sie hatte damals noch keine Ahnung, dass eine Mutter außer dieser hohen Funktion in ihren Kreisen immer auch noch eine sehr niedrige haben muß, will sie es sich leisten können, Mutter zu sein.

Am ersten Schultag sah die Käthi vorn Kinder in neuen Lüsterschürzen sitzen. Sie selbst hatte nur eine alte aus Cloth an und über den Riß bei der Tasche hatte die Mutter einen großen Flicken genäht, der stach grell ab von dem verwaschenen Zeug. Und so setzte sie sich nach hinten zu den Kindern, die keine neuen Lüsterschürzen hatten.

Die Käthi war sofort beliebt. Die hinten, mit den gelben, mageren Gesichtern, freuten sich, dass ein so schönes Kind unter ihnen saß, und die Musterschülerinnen vorn waren ihr nicht neidisch, weil sie keine Musterschülerin war. Bald entwickelte sich ein herrliches Tauschgeschäft unter den Bänken, und als die Käthi schon alle Kugeln eingetauscht hatte, überdies ein silbernes Kleeblatt, einen grünen Bleistift, ein Stehaufmännchen und einen halben Bogen Abziehbilder, brachte sie eines Tages einen Buschen roter Papiernelken mit. Die Nelken hatte sie bekommen, als sie am 1. Mai vor dem Haustor saß und entzückt auf jeden Vorübergehenden schaute, der eine Nelke trug. Sie hatte bald so viele Nelken beisammen, dass Kurti Schleier, ein Jahr älter als sie und Sohn des Bankiers Schleier, ihr antrug, die Nelken für sie weiterzuverkaufen, mit zwanzig Prozent Rabatt und fünfzig Prozent Provision für die Arbeit. Sie gab die Nelken aber nicht her, und erst heute entschloß sie sich, sie zu opfern. Leider erwischte die Lehrerin sie dabei, wie sie gerade mit der Hedi, ihrer Nachbarin, die Nelken gegen eine Federschachtel mit Radierstaub eintauschen wollte. Die Lehrerin hieß Bürger, und weil es zwei Lehrerinnen des gleichen Namens in der Schule gab, wurde sie die »Große Bürger« genannt. Sie kam in die letzte Bank, sah mißbilligend auf die roten Nelken, nahm sie in die Hand, als wären sie kotig, und betrachtete den Radierstaub der Hedi mit ehrlicher Verwunderung, offenbar über das ungelöste Rätsel brütend, was denn Radierstaub in dem Hirn eines kleinen Mädchens für eine Bedeutung haben mochte.

An diesem Tage geschah es, dass die Lehrerin eine Übelkeit befiel, und es mußte ihre Kollegin, die »Kleine Bürger«, aushelfen. Die Mädchen saßen mäuschenstill, das war ihnen streng aufgetragen, die in den hinteren Bänken preßten die Lippen zusammen, aber gerade das kam ihnen plötzlich komisch vor, und als die Käthi sah, wie vorn die Frank, eine Musterschülerin, mit einem Lachkrampf kämpfte, platzte sie heraus und steckte alle mit einem Lachkrampf an. Da stand die Lehrerin vor ihr, die »Kleine Bürger«, und suchte mit den Blicken die Missetäterinnen ab. Sofort wurden alle Gesichter ernst, nur eines konnte seinen Glanz nicht verbergen, nicht die Hitze der Wangen und die hellen Augen. »Dich werden wir strafen müssen«, sagte die Lehrerin nicht ungut und wies der Käthi einen Platz hinter der Tafel an. Die Käthi wollte Tränen fließen lassen, geriet aber auf den selbständigen Gedanken, dass kein Grund zu Tränen vorhanden war, wenn man geborgen hinter der Tafel stand, während vorn die Kinder kopfrechnen mußten. Sie begann auch ein bißchen durch einen Spalt zu gucken auf die Musterschülerinnen, die schafsmäßig brav auf die Gnade lauerten, geprüft zu werden, und dann sah sie ihre Freundinnen in der letzten Bank an, die unruhig hin und her rückten, denn bald kam an sie die Reihe. Darüber vergaß die Käthi achtzugeben, so dass die Lehrerin sie wieder erwischte, sie aber merkwürdigerweise mit einem unterdrückten Lächeln in die Bank zurückschickte.

Die »Große Bürger« hatte sich mittlerweile erholt und trat in ihrer ganzen Länge ein. Ihrer Länge schienen aber die vielen kleinen Mädchen wie Fliegen, lästige Fliegen heute, denn sie war nicht gut gelaunt.

»Komm heraus«, hieß es plötzlich. Die Käthi wußte gar nicht, dass es ihr galt. »Du wirst um Verzeihung bitten gehen!« Die »Große Bürger« sah mit strengen Augen auf die roten Nelken, die noch mahnend vor ihr auf der Theke lagen, sah mit demselben Blick auf die Käthi und blieb dann mit ihrem Erforschungsblick auf ihrem Flicken haften.

»Bitte, die Frank hat auch gelacht«, rief die Hedi und sah herausfordernd die Frank an, die in ihrer glänzenden Lüsterschürze dasaß und ein tugendhaftes Gesicht machte. Aber die »Große Bürger« schaute die Hedi nicht einmal an.

»Du kommst mit«, sagte sie streng zur Käthi, »und ihr werdet die größte Ruhe halten!«

Sie gingen durch zwei lange Gänge und drei Stockwerke hinauf und traten in die B-Klasse ein. Da saßen lauter kleine Mädchen wie die Käthi, die sie alle vom Turnen her kannten. Die Kollegin der »Großen Bürger« war etwas erstaunt, als diese mit dem Kinde angerückt kam.

»Bitte sofort um Verzeihung«, sagte die »Große« und sah an der Käthi wieder herunter.

Aber die brachte kein Wort heraus. Das Haar klebte ihr zwar an den Schläfen, die Wangen glühten, aber sie rührte sich nicht.

»Du hast es am wenigsten notwendig, dich aufzutun, wart nur, bis du in den Dienst gehen mußt wie deine Mutter, dann wirst du schon Demut erlernen!«

Da sahen auf einmal alle die kleinen Mädchen die Käthi an, als wäre sie nicht ihresgleichen. Die »Kleine Bürger« schien aber gar nicht entzückt von dem Schauspiel und schob die Käthi freundlich zur Tür hinaus. Die hatte noch immer den mutigen Trotz im Gesicht, aber die Locken um die Schläfen tanzten nicht mehr, die Augen sahen ganz dunkel aus, langsam schlich sie durch zwei lange Gänge und drei Stockwerke hinunter – denn zum ersten Male hatte sie erfahren, dass es einen Unterschied gab.

 

 

Der Fund

 

Knut Tell hatte aus seinen langen Gedichten folgenden Ertrag: zehn Mark für ein Huldigungsgedicht, achtundsiebzig Liebesbriefe, vier Dutzend Lesezeichen, ein Kochbuch, das er bei einem Preisausschreiben gewann, und ein Exlibris, darstellend ein Zepter, einen Königsmantel und einen Totenkopf als Krone. Sein Onkel schrieb ihm daher:

»Lieber Neffe! So geht das nicht weiter, das ist kein Zustand. Ich habe eine Stelle für Dich beim Fundamt. Morgen wirst Du sie antreten; dichten kannst du abends.«

Darüber wurde Knut Tells kurze Nase schrecklich zornig und den Schopf bohrte er in die Luft, dass er durchs ganze Zimmer fegte. »Das tu ich nicht!« schrie er trotzig seine Freundin Ruth an. Aber die Ruth war klug.

»Weißt du, Knut, das ist rasend interessant! Stell dir vor, was da alles einläuft! Sich bei jedem Gegenstand auszumalen, wem er gehört! Das ist der richtige Ort für einen Dichter! Faß es als Anregung auf, Knut, geh nur einen Tag hin, damit du Einblick hast, du Glücklicher, was alles da hingebracht wird: täglich mindestens ein Globus, die herrlichsten Bücher, na ja, von den zerstreuten Professoren, chemische Präparate, die die Leute aus dem Panoptikum stehlen und dann wo liegenlassen, weil sie Angst kriegen. Das alles erlebst du täglich, Knut!« (Wenn er mal dort ist, bleibt er dort, dachte sie.)

Knut Tell war begeistert. »Das ist ja ein Betrieb, Ruth, du bist ein Teufel!«

Ruth machte ein Gesicht wie ein Engel und telephonierte gleich den Onkel an. Am nächsten Morgen stand Knut pünktlich vor dem Pult im Fundamt.

Das erste, was eingeliefert wurde, war ein altmodisches Mieder. Dann kamen nacheinander vier Regenschirme, dann kamen Herrengaloschen, dann brachte der Diener eine Aktentasche mit einem Schwimmanzug drin und dann brachte er einen Igel. Mit dem Igel hätte sich Knut vielleicht gefreut, aber in seiner Hoffnungslosigkeit hielt er ihn für eine Kopfbürste und beachtete ihn nicht. Als die anderen Angestellten seine Enttäuschung sahen, wollten sie ihn hänseln, fingen eine Maus hinterm Ofen und brachten ihm die Maus. Über die Maus aber geriet er in solches Entzücken, dass er plötzlich wieder sein sonniges Gesicht bekam; er legte sie behutsam auf seine Finger und hatte nur den Wunsch, dass der Verlustträger sich nicht melden möge.

Er suchte lange nach einem geeigneten Plätzchen, fand einen Papageienkäfig und sperrte die Maus liebevoll ein. Er wäre auch bestimmt nicht wegzukriegen gewesen, aber neue Fundgegenstände wurden gebracht. Eine goldene Damenuhr mit Kette, die Knut Tell nicht einmal beachtete, und eine Damenhandtasche. Mißmutig öffnete er die Tasche und wurde gleich gerührt über sechs große Schlüssel, die die Tasche anfüllten. Dann zog er behutsam ein riesiges Sacktuch heraus, sorgfältig gewaschen und geplättet, dann fand er eine Papiermascheebörse mit einem Schilling und etlichen Groschen, dann fand er einen zwei Jahre alten Notizkalender und darin war nichts andres notiert als die Adresse der Besitzerin und über die Adresse war der Knut aus dem Häuschen, sie lautete:

 

Emma Adenberger

bei Frau Kotrba

Am Katzensteg

Lamprechtsdorferstraße 199

3. Hof, II. Stiege, IV. Stock, Tür 17 a.

 

Einen mit Bleistift verschmierten Zettel hätte sonst niemand beachtet, aber für Knut Tell war dieser Zettel Grund genug zum Entschluß, auf seinem neuen Posten zu bleiben und er ging auch sogleich zum Vorstand und meldete, in der Tasche sei der Name der Eigentümerin und er werde sie ihr nach dem Amt selbst zustellen. Der Vorstand telephonierte daher seinem Onkel, dass sich der Neffe sehr eifrig zeige. Auf dem Zettel stand:

 

Herrn Dr. Spanek

Einmal sagten Sie mir kom den Frauen zart entgegen, mir aber haben Sie weh getan. Das ich nach Teschen kam, war mein Untergang. Seelisch und Körperlich und nur weil ich Sie Liebe bis zum vergessen. Dennoch hatten Sie keine Raffinierte Städterin vor Ihnen sondern ein Landkind, die Sie jedoch wie ein lästiges Straßenmädchen bloßgestellt haben. Scham rötet meine Wangen und Tränen kommen in meine Augen, wenn ich daran denke und wan tue ich das nicht. Ich Wünsche Wahnsinnig zu werden und einmal nicht mehr denken zu müssen aber auch das ist mir nicht vergönnt, sagen Sie selbst was mir das Leben noch sein kann. Nun leben Sie wohl und einen letzten Gruß sendet …

Resi bitte schreibe es so bald wie möglich ab, Bessere die fehler aus bitte liebes Kind gieb das Briefpapier dazu und wen du auch das Päckchen schickst so lege alles in einen größeren Cuvert und bicke es zu. Meine Schwester soll es nicht sehen, sie ist so wütend.

 

Knut Tell las den Brief immer wieder, die Maus war indessen aus dem Käfig geschlüpft, der Igel hatte sie indessen schon gegessen, Knut merkte nichts. Er dachte immer nur an den Brief und nach dem Amt lief er zum Katzensteg, durch drei Höfe, in den vierten Stock hinauf und läutete bei einer zerbeulten Tür an.

Ein junges Mädchen öffnete, von solcher Schönheit, dass der Knut rot wurde.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »gehört Ihnen vielleicht diese Tasche, sie ist bei uns abgegeben worden.«

»Ja«, sagte das Mädchen und errötete auch, »das ist meine Tasche, es sind die Schlüssel der Kostfrau drin, ich hätte sie ersetzen müssen.«

»Die Schlüssel sind, da, nur – mit dem Geld stimmt etwas nicht, es war nur etwas mehr als ein Schilling drin.«

»Mehr war nicht drin. Sie können ihn auch behalten, mehr hab’ ich nicht, ich bin vom Posten weg.«

»Ach«, sagte Knut Tell bedauernd, »Sie haben Ihren Posten verloren?«

»Nein, ich bin selbst weg, es war ein guter Posten, bitte hier ist das Geld.«

»Ich nehme nichts! Das darf ich nicht! Ich bin vom Fundamt. Ich möchte nur fragen, haben Sie diesen schö … diesen Brief geschrieben, Fräulein?«

»Das? Ja, das habe ich geschrieben«, sagte sie und schwieg.

Auch Knut Tell schwieg. Aber weggehen wollte er auf keinen Fall.

»Ich hätte nur gern gewußt, wie … wie schrieben Sie diesen Brief, an wen denn, aber wenn Sie es mir nicht sagen wollen, ich kann das verstehen, ich hätte es nur schrecklich gern gewußt.«

»Das war mein Arzt im Spital, ich bin jeden zweiten Tag bestrahlen gewesen. Er war sehr gut zu mir, obwohl ich doch nicht gezahlt habe. Er hat mich auch gebeten, Sonntag mit ihm auszugehen, ich wollte nicht, weil der Unterschied zu groß ist. Aber wie er weg war, habe ich es bereut.«

»Ist er denn weggefahren?«

»Er hat sich versetzen lassen, er hat mir nichts gesagt und auf einmal war er weg. Da hab ich dann keine Ruhe nicht gehabt und hab nicht mehr arbeiten können. Da bin ich wieder ins Spital und hab’ seine Adresse verlangt. Und dann hab ich den Posten verlassen und – bin ihm nachgefahren.«

»Hat er Ihnen denn geschrieben?«

Emma senkte das Köpfchen.

»Aber nein, das ist sehr schön von Ihnen, ich staune nur über Ihren Mut, ich bewundere Sie, das war sehr mutig, ja, wirklich.«

»Ich bin von der Bahn direkt zu ihm. Und wie mir eine junge Dame aufmacht, bin ich schon sehr erschrocken. Sie war sehr fein, aber wie ich sage, zu wem ich gekommen bin, hat sie sehr böse Augen gemacht. Sie hat mich in ein großes Zimmer geführt und ist hinausgegangen, ich hätte vor Angst kein Wort sprechen können, da ist die Tür aufgegangen und er ist hereingekommen. Hinter ihm war sie, und er war ganz entsetzt, wie er mich gesehen hat, und war ganz fremd. Sie haben mich doch zum Ausgang eingeladen, sage ich, und Sie haben es mir einmal geschrieben und jetzt kennen Sie mich nicht?«

»Ich finde es merkwürdig«, sagt er, »dass Sie daher gekommen sind, Mädchen, wo bleibt Ihr Taktgefühl, kommen her und trüben die reine Luft einer Dame, wissen Sie nicht, was Sie Ihrem Stand schuldig sind, und übrigens, was wollen Sie, Fräulein, zwischen uns ist nicht das Geringste vorgefallen, das möchte ich festgestellt haben, ich verlange, dass Sie es vor meiner Braut feststellen, Sie laufen mir nach und machen mir Verdruß.«

»Weinen Sie doch nicht, das ist ja ein entsetzlicher Mensch, bitte, weinen Sie doch nicht, Sie sind …«

»Herr Doktor, ich bin nicht deshalb hergekommen, sage ich, zwischen uns ist nichts vorgefallen, das kann ich ruhig feststellen.«

»Ach, bitte, weinen Sie nicht, der Kerl verdient es nicht, ich werd es ihm zeigen, ich werd ihn ins Gesicht schlagen!« Knut war daran, direkt nach Teschen zu laufen.

»Nein, bitte, tun Sie ihm nichts, er ist immer gut zu mir gewesen und war immer höflich im Spital, obwohl ich nicht gezahlt habe, er hat sich nur vor ihr gefürchtet, sie hat so böse Augen, wenn er nur sehen könnte, wie böse sie ist, er wird sie heiraten und unglücklich werden.«

»Weinen Sie nicht.«

»Ich bin gleich weggelaufen, weil ich ihre Augen nicht vertragen konnte.«

»Und warum haben Sie ihm diesen … diesen Brief geschrieben?«

»Ich wollte nicht, dass alles so häßlich endet, darum habe ich ihm auch die goldene Uhrkette geschickt, damit er sich meiner nicht schämen muß.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Knut Tell und ergriff schüchtern ihre Hand. Er schüttelte sie heftig, wollte noch etwas sagen, sah das schöne Mädchen verlegen stehen, und lief wie ein Dieb davon, denn den Zettel hatte er in der Faust versteckt.

Zu Hause schrieb er bis in den Morgen hinein eine lange Geschichte über das Mädchen und verliebte sich so sehr in seine Figur, dass er auch einen Brief an sie begann und ihr einen Heiratsantrag machte. Es war schon Tag, als sein Kopf zur Seite fiel, und er auf dem Divan einschlief.

Zu Mittag kam die Ruth und fand ihn heftig atmend und mit heißen Wangen. Seine Papiere waren auf dem Tisch verstreut, die Ruth begann die Geschichte zu lesen und lächelte entzückt. Aber dann las sie auch den Brief und gab dem Knut eine Ohrfeige. Darüber träumte der Knut, dass ein Gletscher ihm auf den Kopf gefallen sei, und erwachte erschrocken. Als er Ruths Engelskopf sah, lächelte er, aber die Ruth schimpfte wie ein Teufel, heiraten wirst du, heiraten wirst du!

»Ruth«, sagte Knut, ehrlich verwundert, »willst du mich denn heiraten?«

»Könnt mir einfallen«, schimpfte sie, »du und heiraten. Du wirst niemand heiraten, verstanden!«

»Aber ich denk’ doch gar nicht dran, Ruth, wie kommst du denn drauf?« fragte er unschuldig.

Da sah Ruth, dass er wieder einmal Seifenblasen in die Luft geworfen hatte, denn die Begeisterung …

»Und was ist mit dem Fundamt, Knut?«

»Du hast doch selbst gesagt, ich soll nur auf einen Tag hingehen«, sagte Knut, streckte sich aus und schlief weiter.

 

 

Der Dichter

 

Unsere früheste Erinnerung ist eine Decke von grünen Blättern, die sich uns fast auf die Augen legt, uns, die wir im Kinderwagen durch Parks und Alleen geführt werden. Die frühesten Eindrücke Gustls waren senkrechte. Er wurde von seiner Mutter auf dem Arm getragen, beinahe geschupft, wie ein Bündel Kornähren, er sah Farben, Pfähle, Glanz und war so erschrocken, dass sein Gesicht schon ganz soviel Ausdruck hatte wie ein Äffchen.

Als er gehen konnte, spielte er auf der Landstraße vor dem Hof. Wenn die Sonne hoch stand, kam eine breite Frau mit zwei Kindern zur Wiese, kehrte ihm den Rücken und setzte sich auf die Bank. Neugierig drehten sich die Kinder nach ihm um. Eines Tages aß er gerade sein Brot, das für Mittag gerichtet war, er roch es gern, die Luft war köstlich, die Sonne wärmte ihn verschwenderisch. Die beiden Kinder beneideten ihn, der frei auf der Straße saß und im Schmutz spielte.

»So ißt man die Krankheiten in sich hinein!« erklärte ihnen die Gouvernante und zeigte auf Gustls schmutzige Hände. Mit jedem Bissen wurden sie reiner an dem Brot, das mit dem Schmutz in seinen Magen rutschte. Er aß es mit Genuß, doch dann wünschte er, er hätte es nicht gegessen. Von da an hatte er oft ein starkes Verlangen, aufzuwachsen wie der Knabe und das Mädchen auf der Wiesenbank. Er fühlte sich zuweilen durchaus ungesund und rieb die Finger jetzt immer kräftig ab, ehe er ins Brot biß.

In der Schule hatte der Lehrer die Gewohnheit, die Kinder mit Fragen anzufallen. Gustl erschrak darüber jedesmal so sehr, dass er kein Wort hervorbrachte. Als die römischen Ziffern geübt wurden, entsetzte er sich über die breiten Stämme, die er für Schattenstriche hinmalte. Bewundernd blickte er auf die feinen Striche des Jungen neben ihm, sie schienen ihm sauber, seine schmutzig. Als der Lehrer durch die Reihen ging, blieb er vor seinem Heft stehen. Und gerade seine Ziffern fand der Lehrer am schönsten. An diesem Tage kerbte Gustl einen Schnitt in einen langen Stock, den er im Kasten versteckt hielt. Das tat er immer, wenn er etwas Besonderes erlebte.

Wenn es regnete, mußte er im Zimmer bleiben. Das Fenster ging auf eine lange Reihe von Höfen. Gleich vor dem Fenster war ein Dach. Darauf lief manchmal eine winzige Maus. Aber sonst war alles tot. Einmal an einem trüben Tag fiel ihm nichts zu seiner Beschäftigung ein. Er stand nun beim Fenster und sah auf das leere Dach. Es war so traurig, auf das Dach zu schauen, besonders, weil er nichts über sich wußte. Darum versuchte er, sich nicht abzulenken, sondern blickte immer nur auf die Leere. Diesen Tag vergaß er nie.

An einem Regentag beschäftigte er sich damit, das Fensterbrett mit einem Messer abzuschaben. Das schöne Holz kam unter dem braunen Anstrich zum Vorschein. Dann schnitt er sich ein wenig in den Finger. Und dann sah er aus dem abgeschabten Holz einen Gummistreifen herauswachsen, wie man sie um kleine Päckchen schlingt. Er lief deshalb zur Mutter, die ihm das Messer aus der Hand riß, aber nichts über das Wunder mit dem Gummistreifen sagte.

An schönen Tagen kamen die beiden Kinder pünktlich zur Bank. Der Knabe ließ es sich nicht nehmen, mit Gustl anzuknüpfen.

»Ich heiße Jobst, mein Vater ist Gutsherr, und deiner?«

»Ich habe keinen«, sagte Gustl und sah an ihm hinauf, erdrückt von der brutalen Gesundheit und den gletscherkalten Augen des Knaben. Jobst bemächtigte sich seines Spielzeugs, Gustl litt es bewundernd. Einmal hatte er eine richtige Lokomotive auf Schienen. Der Knabe besah sie, faßte sie und handhabte sie mit jener Verachtung, die reiche Kinder für das Spielzeug haben. Gustl sah mit schüchterner Angst, wie die Maschine aufgezogen wurde, wie sie lief, wie sie steckenblieb, wie der Knabe sie mit dem Fuß weiterbeförderte, wie er sie wieder aufzog, überdrehte und zerbrach. Dann legte er das tote Ding hin und hatte es eilig, zu seiner Gouvernante zu laufen. Gustl ging zitternd ins Haus. Er haßte den Knaben.

Einmal kam nur das kleine Mädchen mit der Gouvernante zur Bank. Gustl brachte darum seinen neuen Ball heraus, den er vor Jobst versteckt hielt.

Der Ball sprang sehr hoch und fiel bei der Bank nieder. Das kleine Mädchen schob ihn mit dem Fuß zurück. Dann schielte es auf die Gouvernante, die eine Brille trug und die Zeitung las, und dann hüpfte es leise auf und stellte sich hin, um mit Gustl Ball zu spielen. Beide sprachen kein Wort, sie lächelten nur glücklich, weil der Bann gebrochen war.

»Nelli!« rief es schrill, »mit diesem Jungen darfst du nicht spielen!«

Die Kleine ließ gehorsam den Ball fallen und setzte sich betreten auf die Bank. Gustl ging ins Haus. Er grübelte hinfort viel darüber nach, warum das kleine Mädchen gerade mit ihm nicht spielen durfte. Es beschämte ihn sehr.

Als er allein lesen konnte, schien ihm, als wäre er jetzt erst zur Welt gekommen. Alles vorher war dumpf. Aber ein Buch war bald gelesen und nun begann der Hunger nach neuen Büchern. Gustl fing an, sich zu erniedrigen. Einen ganzen Nachmittag lang hob er dem Sohn des Gutsherrn die Bälle auf, als dieser Tennis spielte. Dafür versprach ihm Jobst »Gullivers Reisen«. Als sie Schluß machten, stand Gustl mit klopfendem Herzen vor ihm. Jobst sprang zur Gouvernante. »Er will meinen Gulliver ausborgen!«

»Du darfst keine Bücher ausborgen!«

»Ich darf keine Bücher ausborgen!« rief Jobst übermütig. Es war ihm anzusehen, wie sehr es ihn freute.

Gustl ging heim und kerbte einen schiefen Strich in sein Holz. Er wurde so scheu, dass er nie selbst erzählte, sondern immer nur zuhörte. Die Schuljungen ließen ihren Verdruß bei ihm, alles brachten sie ihm zu. Sie hielten sich alle für etwas Besseres, hatten ihn aber gern.

»Ich werde Pilot!« sagte sein Kamerad rechts.

»Ich Bürgermeister!« sagte der links.

»Ich Konsul!«

»Ich Fregattenkapitän!«

Nur Gustl wußte nicht, was er werden wollte. Auch die Mutter wußte es nicht. Im Sommer war sie auf Landarbeit draußen, im Winter strickte sie an der Handmaschine. Sie tat ihm schrecklich leid.

Als die ersten freien Schulaufsätze gemacht wurden, sah der Lehrer, dass doch nicht spurlos an Gustl vorübergegangen war, was er in den Schuljahren gehört hatte. Ja, es kam so weit, dass er sich mit seinen Aufsätzen einen Ruf machte. Der Lehrer in der Oberklasse verschaffte ihm eine Stelle als Hilfslehrer bei einer englischen Familie. Sein Brotgeber nahm ihn in die Hauptstadt mit und litt es, dass er weiterstudierte. Er brachte es in sehr jungen Jahren zu einer Stelle an einer öffentlichen Schule und gewann die Knaben durch den fanatischen Eifer, mit dem er Gerechtigkeit übte. Die Vorgesetzten legten ihm nahe, seine Methode niederzuschreiben. Aber als er sich an die Arbeit machte, entstanden statt trocken sachlicher Eindrücke bewegte Schilderungen, und es stellte sich heraus, dass ein Dichter in ihm steckte. Sofort wurde er aufgefordert, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben.

Er fuhr darum in das Heimatstädtchen. Eine breite Mauer grenzte das Gut des Junkers Jobst ab, der untrennbar war von seinen Kindheitserinnerungen. Aber die Dienerschaft kannte den Junker nicht, das Gut gehörte ihm nicht mehr, er hatte sein Geld vertan, zuletzt war das Falschspielen seine Zuflucht geworden. Er fragte nach dem Fräulein. Das zierliche Mädchen hatte einen Wirtssohn geheiratet und war darum von ihrer Familie verstoßen worden. Er ging in die Kneipe, die zu seiner Zeit von den Schulkameraden besucht wurde. Da saßen sie auch alle beisammen. Der Konsul war Leichenbestatter, der Kapitän Postadjunkt, der Pilot Barbier. Nur der Bürgermeister war wirklich Bürgermeister geworden, er war der reichste Mann im Ort. Er schimpfte, dass er sich im Winter bei den Begräbnissen immer einen Schnupfen holte, weil er den Hut abnehmen mußte, wenn der Sarg hinuntergelassen wurde. Dann schwiegen alle eine lange Weile, es fiel ihnen nichts Rechtes ein. Niemand erkannte in dem jungen Mann am Nebentisch den einstigen Schulkameraden, durch den tiefen Ernst drangen die am Stammtisch nicht.

Eine Kellnerin brachte ihm Bier und Käse.

»Nelli!« rief der Leichenbestatter vom Stammtisch hinüber. »Ein Viertel!«

Gustl sah sie erschrocken an. Die Frau, die er vor sich sah, hatte längst vergessen, dass sie einmal neben der Gouvernante gesessen war und mit ihm nicht spielen durfte. Er hörte noch eine Zeitlang dem öden Gespräch der Stammtischrunde zu. Alle waren früh gealtert und vertrocknet. Er zahlte und versteckte dabei sein Gesicht. Daheim hatte seine Mutter alles festlich hergerichtet.

Im Kasten stand hoch in der Ecke das Holz mit den schiefen und geraden Kerben, sie waren die Kapitel seines Lebensromans.

Im Festgewand trug die Mutter das Essen auf. Ihre rissigen Hände durften sich jetzt ausruhen.

 

 

Hellseher

 

Ich fühlte, wie mir das Haar zu Berge stieg. Ich stand in Minnas Zimmer. Es war vier Uhr nachmittags. Die Uhr an der Wand zeigte die Zeit an. Ich hörte ihr Ticken. Sonst keinen Laut. Ich erkannte alles. Die modernen Möbel in Minnas Zimmer und die altmodischen Photographien an der Wand. Die gelehrten Bücher im Regal und das einfältige Trostsprüchlein im Rahmen. Den neuzeitlichen Tisch mit der Glasplatte, aber eine Vase mit künstlichen Blumen darauf. Alles stimmte. Nur das auf dem Seitentischchen stimmte nicht. Das konnte nicht sein! War sie wahnsinnig? Sie hat sie vom Anatomischen Institut, durchfuhr mich der rettende Gedanke. Die abgehackten Hände! Krampfhaft ausgestreckt in Totenstarre!

Von dem grausigen Anblick der abgehackten Hände, die vor mir ausgebreitet lagen, an den Wurzeln noch rosig von frischem Blut, hier in Minnas Zimmer, war ich so benommen, dass ich heftig zusammenzuckte, als die Tür sich öffnete. Minna trat ein.

»Willkommen!« sagte sie. »Sind Sie nicht fabelhaft gemacht? Ein Engländer hat sie geformt, er arbeitet für Wachsfigurenkabinette. Aber das ist uninteressant. Interessant ist der Besitzer dieser Hände. Ein Magnetiseur. Wir haben gerade darüber gesprochen, wie wunderbar es ist, dass die göttliche Kraft nicht nur im Hirn steckt, nicht nur in den Augen, nein, auch in den Händen.« Minnas gute, fanatische Augen flackerten ängstlich. Schweigend zog sie mich ins Nebenzimmer. Hier standen und saßen die Gäste stumm und unbeweglich. Die sind doch nicht auch aus Wachs«! dachte ich erschrocken. Ich ging auf die erste Dame in der Reihe zu. »Das ist die Pianistin«, flüsterte Minna. Die Pianistin hatte eine riesige Nase und arme, kleine Augen. Dann begrüßte ich einen Kunstmäzen, einen Markör, eine Zirkusreiterin und eine schwerhörige Dame. Ich kann ruhig sagen: »Ich begrüßte.« Die Initiative ging von mir aus. Ich wurde nur kalt angeblickt. Endlich hatte ich den Gletscher hinter mir und stand vor Antonia. Antonia ist sehr hübsch, aber nur wenn sie sitzt. Wenn sie steht, hat sie einen Meter fünfundachtzig.

»Warum ist Minna so aufgeregt?« flüsterte ich ihr zu und setzte mich zu ihr aufs Sofa.

»Weil der Hellseher kommt.«

»Ist er aufregend?«

»Schrecklich!«

»Sind Sie auch aufgeregt?«

»Unbeschreiblich!«

»Kann er wahrsagen?«

»Hellsehen!« korrigierte Antonia.

»In wen hat er hineingesehen?« fragte ich und zeigte auf die Gesellschaft.

»In alle.«

»Was hat er ihr gesagt?« ich zeigte auf die Kunstreiterin.

»Auf sie wird jeden Abend geschossen, während sie durch die Bahn reitet. Mit Pfeilen. Sie hat es vor Angst schon nicht mehr ausgehalten. Er hat sie aber beruhigt. Sie wird keinen Unfall haben.«

»Und was sagte er ihm …?« ich zeigte auf den Markör.

»Der war früher Hotelier und kann acht Sprachen. Er wird eine Erbschaft machen und wieder ein Hotel kaufen. Und der Herr dort ist ein bekannter Mäzen. Er ist verarmt und lebt vom Verkauf seiner Bilder. Bei ihm hat er sofort gesehen, dass er schwer lungenkrank ist. Man kann’s ihm aber nicht sagen. Es war ein Glück, dass er sich damals beherrscht hat, manchmal kann er sich nicht beherrschen und stößt furchtbare Wahrheiten heraus.«

»Wen hat er heute vor?«

»Sie!«

»Mich?« Ich zeigte nur ein überlegenes Lächeln, doch innerlich erschrak ich. Ich verachtete mich sehr dafür. Aber plötzlich saß auch ich ganz ruhig, saß genau so da wie die anderen und wartete. Stumm wartete ich.

Ein großer, schlanker Herr trat ein, mit Augen, die wie blind aussahen. Alle erhoben sich. Antonia neben mir stand auf und so mußte auch ich aufstehen. »Wer ist denn das?« fragte ich.

»Das ist er.« Antonia machte schwärmerische Augen. Da sie aber so kompakt ausgefallen ist, sah es aus, als würde sie den schmalen Herrn verschlingen. Er begrüßte übrigens alle herablassend, mich mit Verachtung.

Dann nahm er an einem runden Tisch Platz und die Gäste taten es ihm nach. Mich zog Minna zu einem Stuhl in ihrer Nähe.

Man wird mich hoffentlich fragen, ob ich auch einverstanden bin, dachte ich. Ich möchte mich lieber nicht »durchschauen« lassen. Man macht sich dann nur unnütze Gedanken und fühlt sich gehemmt. Ich wollte dies gerade Minna klar machen, doch das Wort blieb mir im Munde stecken. Aller Augen waren auf mich gerichtet. Der Hellseher hatte sich erhoben. Er war totenblaß. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er streckte seine schmale, weiße Hand aus und zeigte mit dem Finger auf mich.

»Sie haben es im Kopf!« stieß er hervor. »Im Kopf! Es ist schmerzhaft. Ein Geschwür!« rief er.

Ich griff nach meinem Kopf. Ich erstickte vor Angst. Ich litt tatsächlich an Kopfschmerzen. Besonders in letzter Zeit. Ich hatte also ein Geschwür im Kopf! Einen Tumor. Wahrscheinlich war mein Vater Syphilitiker. Und ich hab’ es nicht gewußt. Das bedeutet das Ende. Ich bin fertig und erledigt. Operieren lass’ ich mich nicht! Nicht im Kopf. Dass man dann mein Gehirn verschiebt. Weiß der Teufel, was dann aus mir wird! Ich will bleiben, was ich bin.

Der Hellseher hatte sich gesetzt. Aber schon hob er wieder diese unheimliche weiße Hand, schmachtend und drohend zugleich, für mich drohend, denn die andern blickten auf seine Hand, als wär er der Gottvater von Michelangelo und erschüfe die Welt.

»Sie sind tierliebend?«

Natürlich, dachte ich. Ich bin tierliebend. Wie gern ich nur die Schafe habe, auch Kühe seh ich gern auf der Alpe. Ein weißer Hase kann mich entzücken. Hunde? Hunde hab ich eigentlich nicht gern. Tauben verabscheue ich. Eine Katze, die mir zulief, brachte ich sofort dem Tierschutzverein, damit ich keine Plackerei habe. Gar so tierliebend schein ich nicht zu sein. Ich atmete erleichtert auf. Vielleicht stimmte es doch nicht ganz mit dem Geschwür. Vielleicht war es eine Entzündung.

»Ich sehe«, sagte er, – »einZimmer. Ein Schreibpult. Sie sitzen davor. Sie schreiben. Sie haben eine Brille auf. Das linke Glas ist stärker!« stieß er hervor.

Ich bin Schriftsteller und trage eine Brille. Sicher war auch das linke Glas stärker. Ich schloß das rechte Auge, dann das linke. Ganz klar, jeder sieht links besser als rechts, ich auch. Das kommt daher, dass in der Schule das Licht immer von links fällt. Aber er sagt doch, das linke Glas ist stärker bei mir! Ich verfärbte mich. Richtig! Ich sah mit dem rechten Auge besser.

»Ich sehe ein zweites Zimmer. Da ist ein Bild. Ein Porträt!« Er stand auf. »Ihr Vater!« rief er.

»Blendend!« sagte Minna halblaut.

»Sie haben eine starke Bindung an Ihren Vater!« rief er.

Ich wurde plötzlich ganz ruhig. Plötzlich fiel meine ganze Angst ab. Ich lehnte mich lächelnd zurück und nickte gelassen.

»In Ihrer linken Brusttasche ist ein Notizbuch«, sagte er. Ich reichte es ihm. Er streifte es mit seinen schmalen Händen, er strich darüber. »Am fünfzehnten Jänner haben Sie eine Eintragung gemacht. Sie ist bestimmend für Ihr ganzes Leben. Lesen Sie!«

Ich nahm mein Büchlein und öffnete es.

»Lesen Sie vor!«

»Das kann ich nicht«, ich verbiß mir das Lachen.

»Danke, das genügt!« sagte er und entließ mich sozusagen, indem er mich mit der langen weißen Hand in der Luft beiseiteschob.

Eine opulente Jause wurde aufgetragen. Der Hellseher war erschöpft und labte sich redlich. Ich staunte, was er verschlingen konnte. Immer füllte ihm ein anderer Gast den Teller. Ein Gast aus dem »Paradies«. Die Gäste gehörten einem Klub an, das »Paradies« genannt, wie ich dem Gespräch entnahm. Ich fand den Klubnamen treffend. Sie waren alle aus dem Paradies vertrieben. Die Pianistin, die nie ein Engagement fand, Minna, die nie geheiratet hatte, Antonia, die viel zu groß war, die schwerhörige alte Dame, die zu viel Lebenslust hatte für ihr Übel. Sie hörte kein Wort von dem, was der Hellseher sprach, aber sie »fühlte« seine Worte.

»Sie könnten doch eigentlich Millionen verdienen«, sagte Antonia, »mit Ihrer göttlichen Gabe.«

»Wieso, mein Kind?« fragte er nachsichtig lächelnd. Ich merkte, wie Antonia ein richtiges Kindergesicht bekam. Wie die ganze Last ihrer Größe von ihr abfiel.

»Wenn Sie sich zum Beispiel mit einem Finanzier zusammentun und ihm im voraus sagen, welche Papiere steigen werden. Gegen Beteiligung, natürlich.«

»Ja, und Sie könnten ein Wohltäter der Menschheit werden, Asyle stiften, Kinderheime, Greisenheime«, das war Minnas Traum.

Hier zog der Hellseher die Uhr und erhob sich rasch. Alle waren glücklich, seine Hand zu berühren.

»Ein Falschseher!« sagte ich, als er die Türe hinter sich schloß.

»Wie kannst du das sagen!« rief Minna, »es war doch alles ganz richtig!«

»Erinnere dich, dass ich ein nachgeborenes Kind bin.«

»Was ist das?« fragte Antonia.

»Nicht nur ich habe meinen Vater nicht gekannt, er hat auch mich nicht gekannt.«

»Wie? Was?« schrie die Schwerhörige.

»Er hat keinen Vater!« schrie ihr der Markör ins Ohr.

»Blödsinn! Das gibt’s nicht!« erklärte sie.

»Das war entschieden ein Irrtum«, sagte der Kunstmäzen zu mir gewendet. »Es zeigt, dass man skeptisch sein muß. Dem Magnetiseur Klaas können solche Irrtümer nicht unterlaufen. Der arbeitet mit seinen ehrlichen Kräften. Ohne zu flunkern.«

»Aber es ist ihm doch kein Irrtum unterlaufen! Es ist doch alles ganz richtig, was er gesagt hat! Natürlich hast du eine starke Bindung an deinen Vater. An die Toten hat man die stärkste Bindung! Ich verstehe gar nicht, dass du dir eine solche Kritik erlaubst! Du beleidigst unseren Klub! Du hast keine Ahnung von Größe, wenn du so sprichst!« sagte Minna gekränkt.

»Hier sind die Hände!« Die Pianistin hatte sie rasch geholt, die Hände des Magnetiseurs, die Hände aus Wachs, die mich erst so erschreckt hatten. Es war symbolisch für alles, was später kam, erst lähmender Schreck, der zu Wachs wurde.

»Es sind kluge, nervige Hände!« meinte der Kunstkenner.

»Und was können sie?«

»Ihre Berührung wirkt beruhigend. Ob sie zur Heilung führt, weiß ich nicht.«

»Man muß skeptisch sein!«

»Sie werden uns nicht heilen!« rief mir Antonia zu. »Möchten Sie uns nicht lieber die verhängnisvolle Notiz in Ihrem Kalender zeigen? Nicht weil ich neugierig bin, aber es wäre doch interessant, zu wissen, was der Meister herausgefunden hat.«

Ich zog mein Notizbuch heraus, öffnete es, zum 15. Jänner, und reichte es Antonia. Sie kicherte ins Sacktuch hinein und gab es an die Pianistin weiter. Deren Nase wurde noch länger, verdutzt reichte sie es dem Kunstmäzen. Der sah mich bedeutsam an und gab das Büchlein dem Markör. Der gab der Kunstreiterin den Vorzug, die in lautes Staunen ausbrach. Die schwerhörige Dame riß es ihr aus der Hand, warf einen Blick hinein und schleuderte es mir wütend entgegen. Das Blatt war leer.

 

 

London. Der Zoo

 

Gleich beim Eintreten in den Zoo kommen einem Kamele und Elephanten entgegen. Das ist kein Mißverständnis, es sind wirkliche Kamele und Elephanten, auf deren Rücken immer gleich mehrere Kinder und Erwachsene sitzen. Der Elephant trägt sie, als wären sie Stecknadeln. Dieser Eindruck der Freiheit der Tiere und des Kontaktes mit dem Menschen verstärkt sich, je länger man den Zoo betrachtet. Da ist Jack, der Schimpanse, der Unvergeßliche! Es macht ihm Spaß, dass so viele höher entwickelte Brüder vor dem Käfig stehen und ihn bewundern, wenn er eine Zigarette raucht, die ein Zuschauer ihm reicht oder wenn er Eis ißt, manchmal aus der Schale, manchmal auf Bitten und Schmeicheln seiner Spenderin mit dem Löffel. Wenn ihn was ärgert, nimmt er seinen Kot und wirft ihn auf den Zuschauer und weil es Engländer sind, lachen sie diesmal nicht, denn es war »rude«.

Im Aquarium sieht man so merkwürdig bunt schillernde Fische, dass man sich nicht wundert, wenn sie Namen haben wie »Blue Angel Fish«. Je unähnlicher dem Menschen, desto kälter läßt die meisten Menschen das Tier. Ich gehöre zu dieser erdenschweren Sorte. Fische in allen Formen, und seien sie noch so golden, grün, gelb, blau, rot, violett schillernd … ich mag sie nicht.

Zwischen Alpenblumen, Steinen und einem Wasserfaden, der in den Augen der kleinen Schlangen ein reißender Fluß ist, hausen diese mit Chamäleons und Eidechsen, anmutig anzusehen, aber keine Liebe einflößend wie Jack der Schimpanse. Man steigt Stufen hinauf und sieht frei von Gittern und Fesseln prachtvolle Eisbären auf Felsen sitzen, manche auf den Hinterbeinen wie dressiert. Man vergißt bei diesem schönen Anblick, dass man in Lebensgefahr ist und man ist es auch nicht, es ist eine optische Täuschung, ein Graben trennt die Bären von uns. Die Engländer werden demnächst alle Tiere in eine so erträgliche Gefangenschaft übersiedeln. Der neue Zoo wird ein Paradies der Käfigtiere sein.

Die Essenszeit der Tiere wird immer genau bekannt gegeben, damit das Publikum der Fütterung beiwohnen kann. Auch läßt man den Besuchern die Freude, die Tiere selbst zu füttern, sie werden im »Führer durch den Zoo« ausführlich belehrt, welche Nahrung den Tieren bekömmlich ist.

»Nach dem Zoo besuchen Sie unbedingt ›The New Madame Tussauds‹«, steht auf dem Deckblatt des Führers und das ist der Mühe wert.

Als ich hinaufging ärgerte ich mich, weil der erste Diener mein Billett entzwei gerissen hatte. Wie sollte ich diesen Papierfetzen dem nächsten vorweisen, der schon darauf wartete. Ich mache mich auf einen Wortwechsel gefaßt, denn ich bin schlecht gelaunt. Erbost seh ich ihn an und erschreck zu Tode. Er ist nämlich aus Wachs. Und so geht es mir die ganze Zeit. Wächserne Figuren halt ich für Lebende, Lebende für Wächserne bis ich in das Kabinett der jüngst gewählten Abgeordneten trete. Da merk ich erst, dass es lebende Menschen sind, geschickt zu Wachsfiguren hergerichtet. Höhnisch sehen sie mich an, mir direkt in die Augen, denn sie fühlen, dass ich sie entlarvt habe, aber ihre Blicke sind so drohend, dass ich sie nicht verraten werde, und sie wissen es. Es ist unglaublich, ist grauenhaft, aber sie sind aus Wachs. Ich frage mich gekränkt, enttäuscht, was ist Seele, was sind Übermenschen, was ist unnachahmbar, wenn diese Wachsfiguren jede menschliche Regung ausdrücken und sind von den Nachkommen der Madame Tussaud aus Gewinnsucht geformt worden.

Sehr erfreulich ist es zu sehen, was für schöne Frauen der Achte Heinrich besessen hat. Allen voran steht ER, und man sieht ihm an, er hat sie kalten Blutes umgebracht. Seine Herrschsucht steht ihm gut, er muß ihnen imponiert haben, besonders der Anne Boleyn, der Lieblichen, Schönen, Sanften, Dummen.

In der Kammer des Grauens (the Chamber of Horrors) ist alles verdunkelt damit der Zuschauer das Gruseln lernt. Das macht aber weniger Eindruck als die sprechenden Figuren oben. Hier sind Mörder ausgestellt und zwar ohne Ansehn des Motivs und der Schuld. Wer gemordet hat und sei es zu heiligem Zweck, ist ein gemeiner Mörder und wird in England ermordet. Einem sieht man von weitem den Fanatiker an und tatsächlich wollte er Louis Philipp von Frankreich ermorden und heißt Fieschi. Einem andern aber mit adeligem Äußeren bin ich hineingefallen. Gemeiner Mord. Das edle Antlitz eines Greises erschüttert durch sein geisterhaftes Aussehen. Es ist Graf de Lorge. Er war dreißig Jahre in der Bastille eingesperrt und wurde 1789 befreit. »Die Freiheit hatte jedoch keinen Reiz für ihn und er bat unter Tränen um Einlaß in seine vertraute Zelle.« Er lebte auch nur mehr sechs Wochen in der aufgezwungenen Freiheit.

Eine Frau, Mrs. Percy, wurde durch eine merkwürdige Gesichtsbildung von der Natur zur Mörderin gestempelt. Die Züge, sonst regelmäßig und fein, zeigen beim Mund so stark hervorstehende, gespreizte Zähne, dass sie den Mund nicht schließen kann und beständig an einen Totenkopf erinnert. Aber ihr abgehackter Kopf ist ergreifend schön. Sie fletscht nicht mehr die Zähne, sondern sieht ebenso wächsern, hilflos und unbegreiflich aus wie alle Toten.