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Die Herausgeberin und der Herausgeber

 

Dr. Sandra Fleischer leitet die DPFA Akademie für frühkindliche Bildung und Schulentwicklung, sie ist Modulverantwortliche für Mediendidaktik im Master Medieninformatik an der HTWK Leipzig und Jugendschutzsachverständige des Landes Sachsens für die FSK.

 

Dr. Daniel Hajok ist Honorarprofessor an der Universität Erfurt und Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kindheit, Jugend und neue Medien (AKJM). Er ist seit über 20 Jahren als Dozent, Gutachter und Fachautor im Bereich Medienpädagogik und Jugendmedienschutz tätig.

Sandra Fleischer, Daniel Hajok (Hrsg.)

Medienerziehung in der digitalen Welt

Grundlagen und Konzepte für Familie, Kita, Schule und Soziale Arbeit

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026161-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026162-4

epub:    ISBN 978-3-17-026163-1

mobi:    ISBN 978-3-17-026164-8

Inhalt

 

 

 

  1. Vorwort
  2. I Grundlagen
  3. 1 Erziehung ist politisch – eine Skizze
  4. Ronald Lutz
  5. 1.1 Warum Freire?
  6. 1.2 Thesen einer Anthropologie des Erziehens
  7. 1.3 Verborgener Kolonialismus im pädagogischen Alltag
  8. 1.4 Entpolitisierung
  9. 1.5 Von den Menschen ausgehen
  10. 1.6 Skizze einer verstehenden Pädagogik
  11. 1.7 Politische Ethik des Erziehens – eine Pädagogik des Lebens
  12. 1.8 Nachwort
  13. Literatur
  14. 2 Heranwachsen in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft: Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld digitaler Medien
  15. Daniel Hajok
  16. 2.1 Wie sich Kindheit und Jugend gewandelt haben
  17. 2.2 Veränderte Freizeitwelten von Kindern und Jugendlichen
  18. 2.3 Aktuelle Befunde zur Mediennutzung junger Menschen
  19. 2.4 Herausforderungen für eine angemessene Medienerziehung
  20. Literatur
  21. 3 Medienerziehung als intendiertes, auf die Lebenswelten, Vorlieben und Kompetenzen Heranwachsender bezogenes Handeln
  22. Sandra Fleischer & Daniel Hajok
  23. 3.1 Einleitung
  24. 3.2 Medienerziehung als besondere Herausforderung der digitalen Welt
  25. 3.3 Medienkompetenz als Erziehungs- und Bildungsziel
  26. 3.4 Individuelle Medienaneignungsprozesse
  27. 3.5 Lebensweltliche Kontexte von Medienerziehung
  28. 3.6 Medienbezogene Vorlieben und Kompetenzen als Ansatzpunkt
  29. 3.7 Fazit
  30. Literatur
  31. 4 Rechte von Kindern und Jugendlichen, Elternprivileg und Wächteramt des Staates: Medienerziehung aus der Perspektive der Verfassung
  32. Stephan Dreyer
  33. 4.1 Medienerziehung im Grundgesetz?
  34. 4.2 Kinder und ihre medienbezogenen Rechte und Schutzinteressen
  35. 4.3 Erziehungsrecht und -auftrag der Eltern, Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG
  36. 4.4 Wächteramt des Staates, Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG
  37. 4.5 Verhältnis der grundrechtlichen Gewährleistungen zueinander
  38. Literatur
  39. II Medienerziehung in Familie und Kita
  40. 5 Familiäre Medienerziehung in der Welt digitaler Medien: Ansprüche, Handlungsmuster und Unterstützungsbedarf von Eltern
  41. Susanne Eggert
  42. 5.1 Einleitung
  43. 5.2 Medienerziehung als Teilbereich von Erziehung
  44. 5.3 Haltung von Eltern zu digitalen Medien
  45. 5.4 Herausforderungen, Sorgen und Ängste
  46. 5.5 Vorbildrolle
  47. 5.6 Medienerziehung in Familien
  48. 5.7 Unterstützung im medienerzieherischen Alltag
  49. Literatur
  50. 6 »Maschinelles Spielen«? Vom elektrischem Spielzeug zum Internet of Toys
  51. Friederike Siller
  52. 6.1 Smart Toys und Connected Toys
  53. 6.2 Die Vernetzung des Kinderzimmers als Herausforderung
  54. 6.3 Internet of Toys im Fachdiskurs
  55. 6.4 Vorschul- und Grundschulkinder als Zielgruppe
  56. 6.5 Diskussion entlang von vier Fragen
  57. 6.6 Fazit
  58. Literatur
  59. 7 Medienbezogene Eltern- und Familienarbeit. Erfahrungen aus dem Thüringer Projekt »MEiFA – Medienwelten in der Familie«
  60. Anne Hensel & Frank Röhrer
  61. 7.1 Der Einzug von Smartphones in die Familien
  62. 7.2 Notwendigkeit von Elternarbeit
  63. 7.3 Wohin die (Themen-)Reise geht
  64. 7.4 Das Projekt »MEiFA – Medienwelten in der Familie«
  65. 7.5 Medien mit allen Generationen erleben
  66. 7.6 Eltern und Erziehende stärken
  67. 7.7 Sozial benachteiligte Familien erreichen
  68. 7.8 Gelingt generationsübergreifende Medienarbeit?
  69. Literatur
  70. 8 Ganz alltäglich – Medien gehören auch in die Kita
  71. Julia Behr
  72. 8.1 Weshalb frühkindliche Medienbildung selbstverständlich sein muss
  73. 8.2 Besonderheiten der frühkindlichen Medienbildung
  74. 8.3 Mediennutzung ab dem frühen Kindesalter erfordert eine frühe Medienbildung
  75. 8.4 Wie medienpädagogische Arbeit in der Kita aussehen kann
  76. 8.5 Die Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte ist das A und O
  77. Literatur
  78. 9 Sehnsuchtsort Natur oder das Verschwinden der sinnlichen Wahrnehmung
  79. Klaus Lutz
  80. 9.1 Der Mensch und sein Verhältnis zur Natur
  81. 9.2 Technikfeindlichkeit
  82. 9.3 Die Natur als ideale Lehrmeisterin
  83. 9.4 Der erste Schultag – das unvermittelte Ende des Naturbezugs
  84. Literatur
  85. III Medienerziehung in der Schule und anderswo
  86. 10 Medien in die Schule: Freie Materialien zur Begleitung, Sensibilisierung und Unterstützung Jugendlicher beim Medienumgang
  87. Björn Schreiber & Lidia de Reese
  88. 10.1 Open Educational Resources – Begriffserklärung
  89. 10.2 Qualität als Hürde?
  90. 10.3 »Medien in die Schule« – OER zur digitalen Bildung für den Unterricht
  91. 10.4 Grundsätzliche Leitlinien
  92. 10.5 Auffindbarkeit und Bewertung
  93. 10.6 Unterrichtseinheiten
  94. 10.7 Werkzeugkästen
  95. 10.8 Aktuell: Meinung im Netz gestalten
  96. Literatur
  97. 11 Wie ›pädagogisch wertvolle‹ Kinderwebseiten den Unterricht bereichern können
  98. Laura Keller & Antje Müller
  99. 11.1 Was sind ›pädagogisch wertvolle‹ Kinderseiten?
  100. 11.2 Welche konkreten Anschlussmöglichkeiten bieten Lehrpläne?
  101. 11.3 Kinderwebseiten konzeptionell in die Grundschule einbinden – Wie? Was? Warum?
  102. 11.4 Welche Kinderseiten bieten Einsatzmöglichkeiten im Grundschulunterricht?
  103. 11.5 Fazit
  104. Literatur
  105. 12 Notwendige Ergänzung oder Lückenfüller? Externe Anbieter von Schulmaterialien zur Medienbildung und Medienerziehung
  106. Olaf Selg
  107. 12.1 Medienbildung mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)
  108. 12.2 Zwei Beispiele: »Krieg in den Medien« und »Faszination Medien«
  109. 12.3 Filmbildung mit Vision Kino – Netzwerk für Film- und Medienkompetenz
  110. 12.4 Fazit
  111. Literatur
  112. 13 Medienerziehung als Thema von Kinder-, Jugend- und Erziehungshilfen
  113. Daniel Hajok
  114. 13.1 Welche ›Probleme‹ des Medienumgangs junger Menschen prägen die Kinder-, Jugend- und Erziehungshilfen?
  115. 13.2 Welche besonderen Herausforderungen stellen sich den pädagogischen Fachkräften in den Einrichtungen?
  116. 13.3 Welche (medien-)pädagogischen Konzepte lassen sich sinnvoll in die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erziehenden integrieren?
  117. 13.4 Wie sind Heranwachsende in den Einrichtungen angemessen medienerzieherisch zu begleiten und Erziehende zu unterstützen?
  118. 13.5 Welche rechtlichen Bestimmungen sind beim Umgang mit digitalen Medien zu beachten?
  119. 13.6 Fazit
  120. Literatur
  121. 14 Medienerziehung im Internet – ein Überblick
  122. Sandra Fleischer & Daniel Hajok
  123. Autoreninformation

 

Vorwort

 

 

Medienbildung, Medienkompetenzförderung, Medienerziehung – die Begrifflichkeiten sind verschieden, aber alle hier angesprochenen Perspektiven verfolgen den pädagogischen Anspruch, Kinder und Jugendliche in der zunehmend mediatisierten Welt zu einem sachgerechten und kritisch-reflexiven Umgang mit den Medien zu befähigen – oder sie eben dabei zu unterstützen. Im Spannungsfeld von Medienbildung soll dies vor allem in den formellen Bildungsprozessen der Schule passieren, zumeist mit einem (vor-)strukturierten und kompetenzorientierten Lernen mit und über Medien. Im Feld der Medienkompetenzförderung setzt man demgegenüber eher auf die Initiierung von learning-by-doing-Prozessen, auf die Aneignung von Kompetenzen im Rahmen pädagogisch begleiteter Selbstlernprozesse etwa im Rahmen von Projekten aktiver Medienarbeit, bei denen sich die Heranwachsenden die Kompetenzen im Medienumgang selbst aneignen. Im Bereich der Medienerziehung geht es demgegenüber um die ganz unterschiedlichen Ansätze und Methoden, mit denen Eltern und andere Erziehende, Lehrende und pädagogische Fachkräfte und viele andere engagierte Menschen es sich zur Aufgabe gemacht haben, den Medienumgang junger Menschen angemessen anzuleiten und zu begleiten. Auch hier ist Medienkompetenz das Ziel, die Kinder und Jugendliche unter dem Einfluss erzieherischer Maßnahmen zur Aufklärung, Befähigung, Anregung zur Selbstreflexion, diskursiven Begleitung oder eben zum Schutz vor beeinträchtigenden und gefährdenden Medieninhalten und Medienumgangsweisen ausbilden soll.

Wie Medienbildung und Medienkompetenzförderung ist auch Medienerziehung heute in besonderem Maße an den neuen Möglichkeiten digitaler Medien orientiert. Abseits der Diskussionen zur Digitalisierung von Schulen geht es hier aber nicht primär um die Medien, mit denen sich Lerninhalte vermeintlich besser (und nachhaltiger) vermitteln lassen, sondern um die Medienwirklichkeiten im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Die wichtigsten Akteure sind dementsprechend Eltern mit ihrem erzieherischen Handeln in den Familien. Aber auch die pädagogischen Fachkräfte in Kitas, Schule und Hort, in offener Kinder- und Jugendarbeit sowie in Kinder-, Jugend- und Erziehungshilfen sind in ihrem Handeln gar nicht so selten auf einen angemessenen und kompetenten Medienumgang ihrer Schützlinge aus. Im Detail lassen sich dann aber ganz unterschiedliche Konzepte, Zielvorstellungen und Formen des medienerzieherischen Handelns ausmachen. Ebenso gibt es verschiedene Zugänge, wie eine angemessene Medienerziehung (von außen) unterstützt und gefördert werden kann. Der hier vorliegende Herausgeberband gibt Einblick.

Im ersten Teil werden zentrale Grundlagen von Medienerziehung entfaltet. Ausgehend von einer Skizze, die in einer etwas ungewöhnlichen Perspektive über den Tellerrand nationaler Grenzen schaut und Erziehung allgemein als etwas Politisches entwirft, richtet sich der Blick auf das veränderte Heranwachsen von Kindern und Jugendlichen in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft. Die hier skizzierten aktuellen Entwicklungen des Mediengangs junger Menschen differenzieren den Zielbereich medienerzieherischen Handelns aus. Mit den im nachfolgenden Beitrag beschriebenen medienbezogenen Vorlieben und Fähigkeiten junger Menschen wird anschließend entlang der Frage, was Kinder und Jugendliche eines bestimmten Alters idealtypisch mit Medien machen können (und wollen), fundiert gezeigt, wo die Ansatzpunkte medienerzieherischen Handelns sind. Den Abschluss des Teils zu den Grundlagen bildet eine sehr spannende, bislang im Diskurs eher kursorisch entfaltete Sichtweise, in der die Rechte von Kindern und Jugendlichen, das Elternprivileg und das Wächteramt des Staates als zentrale Rahmungen medienerzieherischen Handelns aus der Perspektive unserer Verfassung betrachtet werden.

Die beiden folgenden Teile des Bandes sind den verschiedenen Handlungskontexten von Medienerziehung gewidmet. Im Mittelpunkt stehen zunächst Familie und Kita. Hier geben die Beiträge Einblicke in Ansprüche, Handlungsmuster und Unterstützungsbedarf von Eltern, entfalten die wichtige Perspektive einer der an einer Unterstützung medienerzieherischen Handelns orientierten Eltern- und Familienarbeit, sensibilisieren Erziehende für aktuelle Phänomene in den Kinderzimmern oder machen den pädagogischen Umgang mit Medien zu einem ganz selbstverständlichen Thema von frühkindlicher Bildung und Erziehung in Kindertagesstätten. Im Weiteren geht es um verschiedene, meist in den übergeordneten Kontext von Medienbildung eingebettete Facetten von Medienerziehung in der schulischen Bildung sowie um die mittlerweile große Relevanz des Themas in den Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Familienhilfen. Eine besondere Rolle spielen hier konkrete Konzepte und Materialien zur Medienerziehung. Den Abschluss bildet eine Übersicht, mit der das Internet als ein wichtiger Ort zur Unterstützung von Eltern und anderen Erziehenden, Lehrenden und pädagogischen Fachkräften sowie von Kindern und Jugendlichen selbst ausgewiesen wird.

Auch nach dem Lesen aller Beiträge kann sich das diverse, von verschiedenen Akteuren und unterschiedlichen Handlungsräumen mit Leben gefüllte Feld von Medienerziehung zwar nicht in Gänze erschließen. Es wird dennoch an vielen Stellen unmissverständlich deutlich, dass in der Welt digitaler Medien Erziehung immer mehr auch ein auf den Medienumgang junger Menschen bezogenes Handeln ist. Ob es uns als Erziehenden oder pädagogischen Fachkräften passt oder nicht – wir werden das Rad nicht zurückdrehen, unser Handeln aber an den neuen Gegebenheiten orientieren können. Die Beiträge dieses Herausgeberbandes bieten hierfür wertvolle Anregung und Unterstützung.

 

 

 

 

I           Grundlagen

 

1          Erziehung ist politisch – eine Skizze

Ronald Lutz

 

Es wäre ein schreiender Widerspruch, wenn sich das menschliche Wesen, das sich in unfertigem Zustand befindet und sich dessen bewusst ist, nicht in einen permanenten Prozess hoffnungsvoller Suche einbrächte.

Paulo Freire

Für die »Kunst des Erziehens« als Pädagogik im weitesten Sinne (auch als wissenschaftliches Fach) besitzen zwei »Dinge« essentielle Bedeutung: zum einen muss diese eine »Politik des Lebens« sein, zum anderen ist sie verpflichtet die »Kultur des Schweigens« bzw. die »Monologie« des Erziehens zu beenden. Ziel ist es doch, Menschen eine Stimme zu geben, sie zu unterstützen und zu fördern, damit sie sich in ihrem eigenen Leben zurechtfinden, sich in das öffentliche Leben einbinden und dieses mitgestalten können. Für die Akteure der Pädagogik (von Kindergärten über Schule bis zur Sozialen Arbeit oder Sozialpädagogik) verbindet sich damit eine Haltung und eine Praxis, die ich als dialogisch, verstehend und politisch verdichten will.

In der hier vorgelegten Skizze einer »Politischen Ethik des Erziehens«, einer »Politik des Lebens«, beziehe ich mich wesentlich auf Paulo Freire, der für einen solchen Ansatz stand und aktuell neu gelesen werden muss. Für ihn war »Erziehung immer politisch«, er wollte die »Kultur des Schweigens« beenden und setzte dabei auf Dialoge – letztlich auf das, was aktuell unter Resonanz (Rosa 2016) verstanden wird und was Jürgen Habermas (1981) mit Kommunikation, Diskurs und Aushandlung erörterte.

1.1       Warum Freire?

Zweifellos steht zunächst die Frage im Raum, weshalb dieser politisch denkende und handelnde Pädagoge, der sich als Marxist und als Christ begriff, 20 Jahre nach seinem Tod Impulse für unsere Gegenwart und Zukunft geben kann. Das ist schnell beantwortet: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass uns die Befreiungspädagogik, in deren Tradition sich Freire befindet, noch immer oder wieder viel zu sagen hat. Dabei beziehe ich mich auch auf meine These, dass wir vom »Süden lernen können und müssen«, da dort viel früher und heftiger Globalisierungsfolgen auftraten, die erst allmählich auch den Alltag in nördlichen Gesellschaften prägen.

Freire stand mit Befreiungstheologen und Befreiungspädagogen eindeutig an der Seite der Heranwachsenden, der Fragenden, der Verunsicherten, der Marginalisierten, der Ausgebeuteten, der Verwundeten und der Ausgegrenzten. Er stand an der Seite der Menschen, die sich im Mittelpunkt pädagogischer Arrangements befanden. Sie wurden als »Protagonisten« (und nicht als Zöglinge oder Klienten) begriffen, als Wesen, die zu sich selbst finden wollen und können, die in Gemeinschaft, Verantwortung, Glück, Zufriedenheit, Stolz und Würde leben wollen.

Zusammen mit sozialen Bewegungen, und dies nicht nur in Lateinamerika, entfaltete die Befreiungspädagogik, in vielen Regionen der Welt bis heute andauernd, eine »befreiende Praxis« (auch mit pädagogischen Mitteln), die gegen herrschende, kolonialisierende, ökonomisierte und ausbeutende Kontexte und Herrschaftsstrukturen Menschen eine Stimme geben wollte, um wieder Subjekt für sich zu werden und zu sein. Sie wollte der »Kultur des Schweigens«, diese fast fatalistische Übernahme gesellschaftlicher Bilder und Zwänge im Verhalten der Menschen, eine Praxis gegenüberstellen, die Menschen wieder ein eigenes Wort ermöglicht. Eine befreiende Praxis kann und muss Basis und Aufgabe aller Pädagogik sein, gerade in einer Zeit, die sich wie die unsrige im Norden in einer tiefen Krise ihres Selbstverständnisses befindet.

Ideen der Befreiungspädagogik (und andere aus dem Süden wie Ansätze einer Indigenisierung Sozialer Arbeit in Indien, Australien oder Afrika) gewinnen in Zeiten »neoliberaler Erfindung des Sozialen« (Lessenich) große Bedeutung. Soziale Verwerfungen werden individualisiert, Ungleichheit sowie Armut erfahren eine stete Skandalisierung, es wird aber immer weniger gegen deren Verhinderung getan. Der Kult des Individuums hat den Arbeitskraftunternehmer hervorgebracht, der nur noch für sich selbst sorgt und somit auch für sich völlig verantwortlich ist.

Damit sind ethische Grundzüge aller Pädagogik (aller Erziehung im weitesten Sinne) benannt. Zugespitzt kommt damit ihre eigentliche Bedeutung zum Ausdruck:

mit Menschen zusammen Zugänge zum Leben finden bzw. diese zu verbessern, sie darin zu unterstützen und zu fördern, sich und ihre Vorstellungen vom Leben auch umzusetzen, stark zu werden und zu sein sowie gegen Widerstände Lebensentwürfe durchzuhalten, hierzu gehört auch der Erwerb notwendigen Wissens und erforderlicher Kompetenzen.

Doch allein schon daraus ergibt sich eine essentielle Frage: Was ist erforderlich und warum? In modernen Gesellschaften hat man als kritischer Beobachter immer mehr den Eindruck, erforderlich sei das, was ökonomisch verwertbar ist. Bildungsprozesse vermitteln doch vor allem abfragbare Kenntnisse, die wesentlich ökonomischen Verwertungsinteressen nützen. Pädagogik ist vielfach eine ökonomisierte und zugleich entpolitisierte Praxis, die ihre kritischen und auch politischen Positionen zum Teil entsorgte, oder sie zumindest abdrängte, und sich auf eine Praxis und eine Haltung zurückzog, die der neoliberalen »Neuerfindung des Sozialen« entspricht und den Kontexten kapitalistischer Gesellschaft kaum noch kritisch gegenübertritt. Sie unterstützt dies in weiten Teilen sogar, indem sie in ihrer täglichen, in der Sozialen Arbeit wesentlich auf den Einzelfall bezogenen Praxis, Fähigkeiten von zu Erziehenden (Zöglingen) oder Klienten »fördern« oder »wieder herstellen« will, ohne die Verhältnisse anzuprangern oder gar verändern zu wollen.

Die Gesellschaft arrangiert sich insgesamt mit diesen Zusammenhängen und setzt auf Bildung und Erziehung, die bezogen auf Kompetenzen Subjekte vor allem resilient und fit machen soll, sich in den Verwerfungen des neoliberalen und globalen Kapitalismus unkritisch und sich selbst verleugnend einzurichten, um dem Terror der Ökonomie zu genügen. Pädagogik hat sich dabei an das Kapital verkauft bzw. sich einbinden lassen, statt innovativ agiert sie lediglich affirmativ. Unter diesem Verwertungszwang wird »Totes Wissen« (Gronemeyer/Fink) zum Inhalt der Bildung, reines und abfragbares Faktenwissen, mit dem Individuen gesellschaftlich und ökonomisch nutzvoll und einsetzbar scheinen. Bildung wird zum Faktor der Produktion. Befreiung und Befähigung ist nicht mehr ihr Ding, sie ist lediglich damit beschäftigt eine oberflächliche Beruhigung von Konflikten zu erreichen bzw. verwertbare Subjekte als Objekte herzurichten.

Wenn die Welt sich aber inzwischen in Metamorphosen windet, also völligen Umwandlungen und Zerbröselungen seitheriger Errungenschaften und Selbstverständlichkeiten, wie es Ulrich Beck in seinem letzten Buch »verkündete« (Beck 2016), dann wächst neben Katastrophenszenarien, wie es so manche Populisten beschwören und das Ende liberaler Demokratien fordern, aber auch die Chance bzw. der Bedarf, den Menschen doch wieder eine Stimme zu geben, die nicht den Vorgaben der Ökonomie entspricht. Die etablierte »Kultur des Schweigens« kann und sollte durchbrochen werden, indem sich die Menschen wieder in die zukünftige Gestaltung des Sozialen einbringen. Dieses darf man nicht jenen »Rattenfängern« überlassen, die vom rechten Rad kommend laut posaunen, Sorgen, Ängste und Vertrauensverluste aufzugreifen und nachhaltig zu bedienen.

»Befreiende Praxis« kann (muss) ein Ergebnis dieser Metamorphosen der Welt sein. Doch dazu bedarf es großer Anstrengung seitens der pädagogischen Akteure, die sich von bisherigen Routinen verabschieden müssen. Ein Wiederlesen von Freire gibt hierzu jenseits der Traditionspflege seines Werkes Impulse, insbesondere könnte sich die Pädagogik in ihrer ganzen Breite als eine kritisch-reflexive neu aufstellen.

1.2       Thesen einer Anthropologie des Erziehens

In der Aufklärung wurde die »Erziehbarkeit« des Menschen zum Thema, diskutiert wurde, was geplante Sozialisation sein könnte. Philosophen, Anthropologen und Pädagogen in dieser Zeit gewannen die Überzeugung, dass der Mensch nur durch »Erziehung« zum Menschen werde, zum Wesen seiner selbst, er werde nur das, was diese gestaltbaren Prozesse aus ihm machen. Erziehung wurde als Mittel gesehen, um »Humanität« herzustellen, um Welt zu gestalten und sich von unveränderbaren Schicksalen zu lösen. Darin lag und liegt immer auch die Idee der »Vollkommenheit«.

Erziehung wurde und wird eben nicht mehr nur als Vorbereitung auf das Leben verstanden, sie sollte und musste auch Beitrag zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse sein. Erziehung wird zur Hoffnung und zur Utopie auf ein »Gutes Leben«. Rousseau hat diese Hoffnungen in seinem Erziehungsroman »Emile« wunderbar beschrieben. Doch wer definiert »Gutes Leben« und vor allem für wen? Ist nicht die Idee der Vollkommenheit, die aller Aufklärung und sozialen Utopien innewohnt, gleichfalls eine unantastbare Schicksalsmacht, die ein Bild der Zukunft formt, das der Gestaltung von Gegenwart, die in der Aufklärung postulierte Weltoffenheit des Menschen, als Zwang entgegensteht und diese zu beherrschen droht?

Bis heute ist doch völlig unklar, was Natur und Kultur am Menschen ist, was Erziehen tatsächlich bewirkt und wie sie gestaltet und organisiert sein sollte. Die gleichfalls im Denken der Aufklärung formulierten Prozesse von Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit der Kulturen, des Humanen an sich, geben uns eine stetige Aufgabe der Reflexion. Sie zeigen die Relativität und Unwägbarkeit des Verhältnisses von Natur und Kultur. Wo wir beim Menschen auf seine Natur und sein Wesen zu treffen hoffen, stehen wir in Wahrheit immer vor einem Menschen, dessen natürliche Ausstattung durch Lernen »geformt« wurde. Allerdings bleibt deren Ausmaß ein Rätsel, da wir zugleich auch auf Natur blicken, die sperrig bleibt, die sich nicht fügen will, die sich verweigert oder aufbegehrt. Mitunter wird dies als Auffälligkeit und Abweichung diskutiert, was dann die elterliche Erziehung an die Grenzen stoßen lässt und Soziale Arbeit und andere Sonderpädagogik in die Pflicht nimmt bzw. diese erst entwickelt.

In einer kritischen Sichtweise analysiert Pilippe Descola das Denken des Westens als Glauben, in dem Erziehen einen zentralen Aspekt darstellt: Der Mensch sei zum Beherrscher und Besitzer der Natur berufen. Dies habe ihn von ihr und somit von sich selbst getrennt. Es sei eine Dichotomie, ein Dualismus, von Natur und Kultur entstanden, die eine reine Konstruktion sei, eine Erzählung, ein starres Narrativ, die das Leben begrenze. Eigentlich wären Natur und Kultur nicht getrennt, sie stellten zusammen etwas Drittes dar, das sie im Denken fast aller Kulturen immer vereinigt und interdependent sah. Dies müsse neu hergestellt werden, durch Kontinuität statt Abbruch, durch Kontakt statt Trennung, durch Gemeinschaft statt Individualisierung, durch Zyklen statt Beschleunigung.

Vor diesem Hintergrund ist Erziehung, in welcher Form auch immer, ein Mythos, ein gesellschaftlich erzeugtes Narrativ, das immer nur Vorstellungen und Wünsche formuliert, wie der Mensch, sein Wesen, seine Beziehungen und sein Leben, seine Welt, zu sein habe bzw. werden solle. Dieses Narrativ wird als Erziehung und Bildung in das Leben transplantiert und formt Menschen nach Ideen und Konzepten, die zwar nicht mehr von Gott und anderen unantastbaren Mächten kommen, aber von Menschen, die sich mitunter für Gott halten und sich quasi als wissende, pädagogische Experten darstellen, zumindest für Menschen, die zu wissen meinen, was gut für andere und insbesondere für Heranwachsende sei.

In einem weiteren kritischen und reflexiven Diskurs lässt sich die »Erziehbarkeit« des Menschen auch als Narrativ sehen, in dem das Kind, der Jugendliche, als Zögling von Eltern und Erziehenden oder der Klient von pädagogischen Fachkräfte in der Sozialen Arbeit zu einer »Einschreibhülle« für Erwachsene, für Eltern, für Pädagogen, für moralische Entwürfe oder für Zurichtungsprozesse wird. Darin liegt eine fatale und doch auch faszinierende Hoffnung: Da der Mensch eben erziehbar sei, könne er auch so erzogen werden, wie ein generalisiertes und gesellschaftlich entworfenes »man« es wolle. Darin liegt Gutes und Böses zugleich: Zum einen würde der Mensch zum Gestalter seiner eigenen Kultur, kann sie schaffen und ändern. Zum anderen könnte man aus dem Menschen das machen, was Eltern, Pädagogen oder Bildungsplaner wollen.

Genau diese Idee und Praxis der Formbarkeit geschah und geschieht sowohl in autoritären als auch in liberalen Kontexten, jeweils abhängig vom Bild und der Struktur von Gesellschaft, denen das generalisierte »man« sich verpflichtet fühlt. Doch genau das ist immer abhängig von Macht- und Herrschaftsbeziehungen. Alle Erziehung ist vor diesem Hintergrund als ambivalent zu sehen. Es gab und gibt im philosophischen und anthropologischen Denken schon immer erhebliche Zweifel an Positionen zum Phänomen »Erziehung«.

Sie ist zwar erforderlich, zweifellos, sie war es immer, auch vor ihrer Wiederentdeckung in der europäischen Aufklärung; auch frühere bzw. andere Kulturen hatten eine Idee und ein Wesen davon. Immer wurde die nachwachsende Generation in die bestehende Kultur eingegliedert bzw. auffällige und abweichende als solche begriffen und mitunter auch »behandelt«.

Erziehung kann neben dem Wesen der Freiheit, die in ihr liegen könnte, aber auch zur Praxis der Affirmation werden, die zur Bestätigung, zum Erhalt und evtl. zur moderaten Fortentwicklung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse taugen soll. Darin kann sie Zurichtung und zum Zwang werden, eine Erziehung zur »Brauchbarkeit« und »Verwertbarkeit«, in der nur noch Anforderungen und Fähigkeiten, die das moderne Arbeitsleben an die künftigen Gesellschaftsmitglieder stellt (employability), im Fokus stehen. Faktenwissen rangiert dann vor sozialen Kompetenzen, auch vor Medienkompetenz als existenzielle Fähigkeit in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft. Das erste ist totes und äußerliches Wissen, das zweite wäre ein lebendiges Wissen, das Persönlichkeiten formt, das aber hinter dem ersten nachrangig scheint. Lehrpläne, Bildungsprozesse und deren Inhalte, pädagogische Arrangements und die »Feuerwehr- und Rettungsfunktion« der Sozialen Arbeit scheinen darauf abzuzielen.

Der Mensch ist ein lernendes Wesen, das ist gut so, aber eben nicht nur. Pädagogische Bemühungen zur Sozialisation, zur Erziehung, zu Veränderung, zu Gestaltung und zum Lernen haben notwendigerweise »Grenzen«, sei es in der »Natur«, sei es im Wertsystem oder in ethischen Konzepten. Von daher ist immer eine Ethik des Erziehens nötig. Doch auch diese wird von Menschen entworfen, auch das können Utopien sein, die mit der Idee der Vollkommenheit spielen.

Es kann aber auch eine Ethik sein, die Diskurse, Aushandlung, Partizipation, Offenheit, Dialoge und Resonanzen betont und als ihre Basis sieht. Aus der Begegnung von Ich und Du, die sich immer in einer moralischen Beziehung der vorbehaltlosen Einbindung des Anderen als Mensch befindet, können über Aushandlung und Kommunikation Normen und Ethiken erwachsen, die Welt demokratisch und offen gestalten und dabei immer wieder zur Disposition stehen. Von Menschen Gemachtes, aus dem Verhältnis von Ich und Du heraus, kann durch Menschen auch wieder neu gemacht werden. Das Soziale entsteht ausschließlich durch Soziales.

Was ist denn nun aber der »Fakt des Erziehens«, der als solcher im menschlichen Leben nicht geleugnet werden kann, der aber immer kritisch reflektiert und ethisch gerahmt sein muss? Eigentlich geht es doch darum, Menschen zu unterstützen und zu fördern, damit sie Wesen ihrer selbst werden, im Kontext von Gemeinschaft, dem moralischen Ich und Du, der Einbeziehung der Anderen. Damit verbunden ist die Absicht Fähigkeiten zu fördern und Persönlichkeiten Raum zu geben. Es geht doch immer um eine dialogische und resonante Einübung in die Vergangenheit und die Gegenwart und um eine Öffnung zur Zukunft hin, die nur von solidarisch handelnden Menschen gestaltet werden kann.

Für den »Prozess der Erziehung« bedeutet das, eine frühest mögliche Partizipation, ein Ich und ein Du, herzustellen. Pädagogische Arrangements müssen Autonomie, Kreativität, Reflexivität und solidarisches Handeln erzeugen bzw. darauf aufbauen. Nicht die »Pädagogen«, sondern alle Menschen im Prozess sind die Protagonisten dieser Beziehungen. Im Fokus steht notwendig ein »Lebendiges Wissen«, das meint Wissen und Kompetenzen um das Leben in seinen Widersprüchen zu gestalten und um die Fähigkeit sich allein oder gemeinsam sowie situativ »Totes Wissen« (Faktenwissen) anzueignen und es auch wieder zu verflüssigen. Erziehung ist notwendig verstehend, öffnend und politisch.

Verstehende, reflexive, kritische und politische Ansätze sind in der elterlichen Erziehungspraxis, in pädagogischen Einrichtungen von der Kindheitspädagogik über Einrichtungen der Sozialpädagogik bis hin zu Schulen derzeit aber eher eine Randerscheinung. Zu sehr stehen die Performance des Wissenserwerbs bzw. die normative Behandlung von Auffälligkeit im Vordergrund. Viel zu selten finden sich Auseinandersetzungen, Aushandlungen und Diskussionen, die hinterfragen und nachfragen, reflektieren und einbeziehen. Vor diesen Hintergründen sollen hier zwei Kontexte betont werden, die eine politische und verstehende sowie an Freire orientierte Ethik des Erziehens erschließen, zum einen der koloniale Blick im Alltag und zum anderen die erkennbare Entpolitisierung des Erziehens.

1.3       Verborgener Kolonialismus im pädagogischen Alltag

Mansour hat, mit Blick auf die »Fremden in Land«, klar formuliert, dass pädagogische Einrichtungen nur wenig von jenen Menschen wissen, die fremd scheinen, aber dennoch dem Bildungssystem anvertraut sind. Nur selten sind deren Werte, Vorstellungen, Intentionen und Lebenswelten bekannt oder werden im pädagogischen Alltag berücksichtigt und reflektiert. Das betrifft nicht nur junge Menschen mit Migrationshintergrund. Auch Kinder aus armen und benachteiligten Familien erfahren hinsichtlich ihrer Lebenssituationen eine radikale Missachtung.

Zu fragen ist deshalb zunächst: Was wissen Pädagog*innen (zu denen ich immer auch Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen zähle) über die Situationen und Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen, über die Integrationsprobleme, die Arbeitslosigkeit, die materiellen Entbehrungen und die Erschöpfung ihrer Familien, über die benachteiligenden Lebensumstände, über alltägliche Diskriminierungen (auch im pädagogischen Alltag), über traumatische Erlebnisse und die ständige Angst zu versagen? Was wissen sie über Erfahrungen und Hürden aus dem Leben der Menschen, die zunächst den Zielen pädagogischer Performance der Wissenseinlagerung bzw. sozialarbeiterischer Fallarbeit entgegenstehen?

Es ist allzu bekannt und muss nicht expliziert werden, dass Schule ein Platzanweiser in unserer Gesellschaft ist, in der Herkunft immer auch schon Zukunft meint. Schule segregiert, Bildungstitel werden noch immer analog zur sozialen Lage vergeben, indem Kinder und Jugendliche mit einem Benachteiligungshintergrund systematisch schlechtere Chancen haben. Dafür kann man viele Gründe angeben, aber einer ragt heraus: Es finden sich in pädagogischen Arrangements immer auch Tendenzen eines »verborgenen Kolonialismus«. Andere Lebenslagen, Verhaltensmuster und Einstellungen bleiben fremd, da Pädagog*innen überwiegend aus einer anderen Schicht und meist auch aus einer anderen Kultur kommen, mit anderen Erfahrungen, Lebenswelten, einem anderen Wissen und anderen Mustern.

Mit »verborgener Kolonialismus« bezeichne ich ein beobachtbares Phänomen, dass kulturelle Muster – Vorstellungen, Werte, Ziele – einer überwiegend mittelschichtorientierten Pädagogik generalisiert und auf die Lebenswelt der Zöglinge und Klienten zumeist unreflektiert übertragen wird. Dadurch werden diese aber überfremdet und überfordert, bei Menschen aus andere Kulturen, mit Migrationshintergründen, verdoppelt sich das noch. Ein Scheitern an diesen kulturellen Mustern, Vorstellungen, Werten und Zielen kann Ausgrenzung, Benachteiligung und Diskriminierung verfestigen. Dies geschieht durchaus im unreflektierten Wissen, »dass man das ja schon von Anfang an gewusst habe«.

Gerade die Forschungen der neu formierten Kindheitspädagogik, der Migrationsforschung und der Flüchtlingssozialarbeit zeigen, wie unterschiedlich kindliche und jugendliche Lebenslagen sind. Diese Heterogenität und Vielfalt muss sich in der Praxis spiegeln, sonst greift der verborgene Kolonialismus Raum und zeigt fatale Wirkung. Es folgt eine unreflektierte Überfremdung durch jene, die als pädagogische Akteure symbolische Definitionsmacht besitzen und darin den Vorstellungen ihrer eigenen Kultur folgen, die aber nur eine von mehreren ist. Soziale Ungleichheit würde symbolisch gedoppelt.

Trotz erkennbarer Überlegungen in Bildungs- und auch Lehrplänen an den Lebensrealitäten der Kinder und Jugendlichen anzusetzen, sie aufzudecken und im Alltag zu berücksichtigen, ist nicht ausgeschlossen, dass diese »andere« und tendenziell auch »fremde Wirklichkeit« an kulturellen Mustern und Vorstellungen gemessen werden, die aus der Lebenswelt der Pädagog*innen stammen und letztlich nur das Handeln und Denken dieser strukturieren und als Muster für die Anderen angesehen werden. »Man will die Menschen zwar dort abholen, wo sie mit ihren Interessen und Neigungen gerade stehen«, doch wo es hingehen soll, wissen professionell Erziehende und pädagogische Fachkräfte am ehesten bzw. haben sie die Definitionsmacht hierfür. Das macht einen Blick auf Vielfalt als reales Phänomen erforderlich.

Für die Unterscheidung und Anerkennung von Unterschiedenen wurde der Begriff Diversität eingeführt. Vielfalt, wofür der Begriff steht, zeigt sich immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig, zu denen vor allem Kultur (Ethnie), Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion oder Weltanschauung gehören. In einer erweiterten Perspektive zählen auch Arbeitsstile, Wahrnehmungsmuster, Dialekte, Wertorientierungen, Zugehörigkeiten zu Szenen, Peers oder Cliquen dazu. Diversität ist aber nicht nur ein analysierender Begriff, daran ist auch eine Haltung verbunden. Gemeint ist der bewusste und wertschätzende Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft. Dahinter liegt der Gedanke, dass gerade moderne Migrationsgesellschaften notwendigerweise auf Vielfalt aufbauen, diese sogar fördern, und diese somit immer im Fokus steht.

Dieses organisatorische sowie politische Konzept fordert sowohl Achtsamkeit als auch Verstehen. Das umfasst einen wertschätzenden, bewussten und respektvollen Umgang mit Verschiedenheiten und Individualitäten. Im Blick sind die vielfältig heterogenen Biographien, Erfahrungen, Fähigkeiten und Leistungen von Menschen, die es anzuerkennen gilt. Diversität ist als Potential zu begreifen, das es in der Pädagogik zu nutzen gilt. In der Konsequenz werden Abbau von Diskriminierung und die gleichzeitige Förderung von Chancengleichheit zu essentiellen Herausforderungen; es sind Lösungen für die Gestaltung von Vielfalt zu finden.

Dimensionen von Geschlecht, sozialem Milieu, Migrationshintergrund, Nation, Ethnizität, sexueller Orientierung, Behinderung oder auch Alter (Generation) sind soziale Konstruktionen, die nicht isoliert voneinander verstanden werden können, da sie sich prinzipiell in einem Wechselverhältnis befinden und sich aufeinander beziehen. Diese Unterschiedlichkeiten besitzen, ähnlich wie das Konzept Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, darin liegende Wechselbeziehungen, die sich als soziale Macht-, Herrschafts- und Normierungsverhältnisse darstellen lassen. Mit dem Konzept Intersektionalität wird beschrieben, wie diese Wechselbeziehungen immer auch zu Mehrfachdiskriminierungen führen und eine Dynamik des Zusammenwirkens verschiedener Diskriminierungsformen auslöst, die in ihrer Komplexität immer das Ergebnis von Diskriminierung sowie den jeweils gültigeren Definitionen von Normalität und Abweichung ist.

Diese Wechselverhältnisse resultieren aus Überschneidungen (intersections) von Diskriminierungen. Im Resultat ergeben sich mehrfache Diskriminierungen, die sich im Einzelfall als Rassismus, Sexismus, Handicapism oder Abwertung bei einer Person verdichten; bspw. ein gehbehinderter, schwuler Obdachloser oder eine blinde Frau mit Migrationshintergrund, die zugleich auch noch im Rollstuhl sitzt. Bei den Betroffenen führt dies zu einer eigenen Diskriminierungserfahrung der Intersektionalität.

Diversität und intersektionale Ansätze sowie deren ungleichheitstheoretische Fragestellungen müssen von der Pädagogik in der Migrationsgesellschaft stärker beachtet werden, nur so ist eine verstehende Pädagogik möglich, die in den Erziehungs- und Bildungsprozessen bei den Menschen beginnt und sich ethnologischer Methoden vergewissert und ihrer bedient. Wer eine verstehende Pädagogik, die sich den unterschiedlichen Lebenslagen stellt, als notwendig begreift, muss sich dem Anderen öffnen, die Menschen befragen und deren Alltag in der Praxis spiegeln. Das erfordert aber auch eine politische Ethik des Erziehens; doch Politik scheint in der Pädagogik seit Jahren an den Rand gedrängt zu werden.

1.4       Entpolitisierung

Ein zentraler Anspruch der Pädagogik (des Erziehens) muss sein, Menschen zur Teilhabe zu befähigen und für diese Teilhabe zugleich politisch zu streiten. Ich frage mich aber seit einiger Zeit, wie werden in pädagogischen Feldern, von den Kindergärten über Schulen bis zur Sozialarbeit, politische Tendenzen reflektiert, wie reagiert man u. a. auf eine wachsende Armut in diesem Lande, die immer auch Ausgrenzung aus den Möglichkeiten und Optionen einer reichen Gesellschaft darstellt.

Hat Pädagogik Positionen zur wachsenden sozialen Ungleichheit, zu Rechtspopulismus, zum Erstarken nationalistischen oder gar faschistischen Denkens, zu Theorien »identitärer Bewegungen« zu beziehen? Hat sie die Folgen des Klimawandels auf dem Schirm? Erkennt sie einen Zusammenhang desselben mit wachsender Migration? Was sagt sie zu systematischer Überwachung und dem »gläsernen Menschen« im digitalen Zeitalter? Ist sie sich bewusst, dass die neoliberale Neuerfindung der Welt eine Fülle von Modernisierungsskeptikern und Globalisierungsverlierern hervorgebracht hat, die sich Sorgen machen, sich missachtet fühlen, ihre Stimmen als unerhört erleben, den Etablierten deshalb ihr Vertrauen entziehen und zunächst »Rattenfängern« von rechts »glauben« bzw. sich in deren Netzen verfangen? Was sagt Pädagogik zur Kernfrage der Gegenwart: Wie wollen wir leben? Streitet sie noch offensiv auf allen Ebenen für eine Politik der Teilhabe und gegen Ausgrenzung? Befähigt sie noch Menschen zur Teilhabe? Versteht sie sich noch als politische Institution? Versteht sie Erziehung noch als politisch?

Sicherlich sind viele Erziehende, Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen politisch denkende und handelnde Menschen. In Seminaren an Hochschulen wird auch politisch diskutiert. Doch: Manche Studierende verweigern sich diesen Diskussionen, da sie selber sich schon längst von politischem Denken verabschiedet haben. Das beginnt mitunter bereits in den Familien und wird im Bildungssystem noch verschärft. Bildung beschränkt sich doch, wenn wir ganz ehrlich sind, weitestgehend auf die Vermittlung von Faktenwissen, »totem Wissen«, statt kritisches Denken, Reflexionsfähigkeiten und Kompetenzen zu betonen. Gejagt von PISA-Rankings wird Wissen nur noch eingetrichtert anstatt es reflexiv und problemorientiert zu erarbeiten. Paulo Freire bezeichnete dies, wie ich noch erörtern werde, als Bankiers-Konzept der Bildung: Wissen wird wie Geld oder Aktien »eingelagert«, in der Hoffnung, Gewinne zu erzielen.

Bei vielen jungen Menschen, auch und besonders in pädagogischen Studiengängen, gilt Politik als uncool. Es läge an den Hochschulen, dies zu verändern, politisches Denken zu beleben, dessen Bedeutsamkeit zu zeigen, Lust darauf zu wecken und Zugänge zu öffnen. Von jüngeren Kolleg*innen höre ich immer mal wieder: klar, Politik ist wichtig, doch das gehört nicht zentral in die Lehre, dazu ist keine Zeit, Politik muss an anderen Orten stattfinden. Wir müssen unsere Studierenden vielmehr für die Praxis fit machen, da sind vor allem Wissen, Methoden und Techniken gefragt.

Natürlich gibt es Gründe hierfür, die im Bildungssystem zu identifizieren sind: Jene unsägliche Ausdünnung der Bildungswege bis hin zu den Studiengängen, die oft auch zu Lasten von Kreativität, Reflexivität und vor allem politischen Diskursen gehen. Verkürzten Curricula steht, gerade an Hochschulen, eine hohe Prüfungsbelastung gegenüber, begleitet von einer Beschleunigung der Studiendauer sowie einer endlosen Qualitätsdebatte und dem Druck der Praxis »Professionelle« zu »produzieren«, die beschäftigungsfähig (employability) sind – also den Vorgaben eines ökonomisierten Bildungssystems entsprechen.

Bedeutet das nicht aber auch Verluste an reflexiver Theorie, an Philosophie und an Ethik, an Geschichtsbewusstsein, an Vorstellungen Guten Lebens, an politischer Verantwortung an utopischem Denken? Naomi Klein fragt zurecht: Wo sind die Utopien? Die Phantasie, sich eine Welt vorzustellen, die völlig anders aussehe als die gegenwärtige, fehlt doch. In der westlichen Welt gebe es doch kaum noch Bevölkerungen, die sich ein anderes Wirtschaftssystem als das Jetzige vorstellen könnten.

Ich bin in den letzten Jahren angesichts dieser Entwicklungen skeptisch geworden, ob Pädagogik und Soziale Arbeit als »Professionen und Institutionen der Moderne« noch einen politischen Auftrag verspüren bzw. sich diesem sogar explizit widmen. Statt Fragen nach dem Sinn und einem Guten Leben zu stellen, werden Fragen nach Didaktik aber auch Effizienz und Evidenz privilegiert. Sinn wäre dabei die Einforderung von Gerechtigkeit, Gutes Leben meinte die Verbesserungen der Teilhabemöglichkeiten für alle Menschen. Statt Armut, Benachteiligung und Ausgrenzung zu bekämpfen werden im Geist neoliberalen Denkens subjektive Folgen gelindert.

Um meinen Kritikern schon hier entgegen zu treten: Ich rede von Trends, bei denen es immer Ausnahmen gibt; noch immer gibt es Inseln des politischen Engagements, wie es die Arbeitskreise »Kritische Soziale Arbeit« bzw. »Kritische Pädagogik« und manche pädagogischen Publikationen belegen. Allerdings sind Entwicklungen zu beobachten, die meine Skepsis begründen. Ökonomisierung ist schon seit Jahren, so vor allem auch in der Sozialen Arbeit, zu erkennen, schon 2005 wies ich mit meinem Begriff einer »erschöpften Sozialarbeit« darauf hin (Lutz 2005). Ich beschrieb eine Soziale Arbeit, die sich in der Ökonomie des Neoliberalismus zu verlieren schien bzw. sich daran abarbeitete, sich immer mehr mit Zwängen arrangierte und sich dabei schleichend veränderte. Ihre von den Ursprüngen her eingelagerte Ideen sozialer Bewegungen, von Gerechtigkeit, Offenheit und Menschenrechten passten sich den auf ihr lastenden ökonomischen Diktaten an. Dies gilt inzwischen auch für Kindheitspädagogik und Schule.

Ich will den politischen Anspruch nicht heroisieren und übermäßig privilegieren. Aber: Mit der Ökonomisierung wird aus meiner Sicht ein genuin politischer Anspruch abgeschliffen bzw. aus den Erziehungs- und Bildungssystemen ausgelagert. Pädagogik scheint sehr viel von den Menschen zu verstehen, aber eben immer weniger von einer kritischen Theorie der Gesellschaft, in der Erziehung eine Funktion einnimmt, die kaum noch reflexiv, sondern immer mehr affirmativ ist. Das hat fatale Konsequenzen: Es schwächen sich visionäre Vorstellungen des Guten ab, die einstmals in der Pädagogik durch die sie tragenden Sozialen Bewegungen eingelagert waren und sie prägten! Eine Politik der Teilhabe wird damit zwar nicht unbedeutend, aber sie wird aus der Alltagspraxis und auch tendenziell der Lehre ausgelagert.

Als nicht neutraler Beobachter frage ich, ob sich Pädagogik der Selfie-Generation angepasst hat, indem sie den Blick nur noch auf sich und ihr Geschäft richtet? In meiner Wahrnehmung ist sie nämlich längst Teil einer »ausgedehnten Gegenwart« des globalen und neoliberalen Zeitalters, der Vergangenheit, die Wurzeln in sozialen Bewegungen, und Zukunft, Visionen eines guten Lebens, offensichtlich fehlen: Der zu Erziehende ist das Geschäft, Menschen sind die Kunden, Inhalte sind Techniken und Methoden.

Neoliberal gewendet ist Pädagogik doch inzwischen das, was Bourdieu mit der Metapher »Politik der Entpolitisierung« meinte: Ein sich Arrangieren mit dem neoliberalen Kontext einer individualisierten und beschleunigten Gegenwart, das Hinnehmen von Bedingungen und Rahmungen, an denen man ohnehin nichts mehr zu ändern vermag. Darin werden Bildungs-, Gesundheits- und Sozialpolitik nur noch als Marktgeschehen gefasst. Der ehemals utopische Überschuss ist pragmatischem Realismus gewichen, der nicht mehr Verhältnisse verändern, sondern Subjekten erziehen will sich in bestehenden Situationen und Bedingungen besser einzurichten als zuvor.

So wird bspw. in der Sozialen Arbeit menschliches Leid als subjektives Unvermögen gesehen, sich in den Verwerfungen der Gegenwart zurechtzufinden. Dabei will man helfen. Das ist gut, es stärkt das Subjekt und dessen Autonomie und überfällt Menschen nicht mit den ideologischen Zielen ihrer Helfer. Doch zu welchem Preis geschieht dies? Ich sehe nur noch wenige Visionen eines »Besseren«. Schlimmer noch: Das Bessere liegt in den Sachzwängen der Ökonomie. Damit schwächt sich der Blick auf die strukturelle Ungleichverteilung von Gütern und Chancen ab. In der Konsequenz wird das Soziale und das Politische marginalisiert, es droht hinter den Methoden zu »verschwinden«. Für die anstehenden Metamorphosen der Welt ist Pädagogik damit aber denkbar schlecht gerüstet.

Pädagogik will vor allem die Resilienz der Subjekte fördern; dies meint, Menschen stark, handlungsfähig, zielorientiert und effektiv trotz widriger Umstände zu machen. Es geht darum individuelle Kompetenzen zu fördern, um im Alltag moderner Gesellschaften einen individuellen Weg gehen zu können. Resilienzförderung meint, Subjekte können mit Unterstützung soziale Benachteiligungen individuell überwinden und einen Platz finden, den die Gesellschaft anbietet oder gar zuweist. Hierfür muss man sich aber mit Bedingungen sozialer Ungleichheit und der Ungleichverteilung von Chancen arrangieren, die selbst nicht mehr in Frage gestellt werden. Resilienz verdichtet sich deshalb in der Figuration des Menschen als »unternehmerischem Selbst«, als »Arbeitskraftunternehmer«, der resilient sein muss. Resilienz ist die Metapher einer Pädagogik, die nicht mehr nach den Verhältnisse fragt, sondern diese als unveränderbar hinnimmt. Die Verhältnisse sind die neue Schicksalsmacht, der man sich ergibt und gut alimentiert einrichtet.

Für mich ist aber weiterhin klar: Pädagogik hat von ihren Wurzeln her ein politisches Mandat, dem sie sich vor allem anderen verpflichtet fühlen muss. Eine Politik der Teilhabe hat somit über die Subjekte hinaus das Soziale und das Politische im Blick und will darauf einwirken. Gefragt ist eine Pädagogik, die bei den Menschen beginnt, diese fördert und ermutigt, sie darin unterstützt ihre Stimme wieder zu entdecken, mit der sie Gegenwehr leisten und die Kultur des Schweigens zu durchbrechen vermag.

1.5       Von den Menschen ausgehen