Das Mondmal

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Das Mondmal

Text Copyright © 2019 Regina Mars

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Regina Mars

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Umschlaggestaltung: Regina Haselhorst

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Reale Personen wären auch vernünftig genug, Safer Sex zu praktizieren, im Gegensatz zu den Fantasiegestalten in diesem Roman. Die müssen sich darum keine Sorgen machen, da es sie nicht gibt.

Aufgrund vereinzelter homoerotischer Szenen ist dieses Buch nur für Personen über 18 Jahren geeignet. Ja, es enthält schwulen Sex. Gern geschehen.

1. Ein angenehmer Morgen

 

Ridley wettete auf sich selbst und gewann. Wie immer. Na gut, ab und zu verlor er auch, aber das kam so selten vor, dass er es großzügig vergaß.

»Ich bin der Größte!«, brüllte er und riss seinen biergefüllten Pokal hoch. Schaum schwappte auf die Bodenbretter und vermischte sich mit dem Blut, das aus seiner geplatzten Unterlippe tropfte.

»Zukal!«, schallte es ihm entgegen. Die Menge war so dicht gedrängt, dass er das Ende der Halle kaum sah. Dutzende schmutziger Hände rissen an den Gittern des Käfigs und brachten das ganze Ding zum Klappern und Summen. Sie schüttelten warme Tropfen von den Stäben an der Decke, die seine nackten Arme trafen. Und die reglose Gestalt seines Gegners, der mit dem Gesicht voran auf dem Boden lag.

Ridley grinste noch einmal in die Runde, dann verschwand er durch die Klappe, die Minos, der Türsteher, ihm aufhielt. Der klopfte Ridley knapp auf die Schulter. Ridley erwiderte die Geste, dann verschluckte die Menge ihn.

»Ich hab 200 Gulden gewonnen!«, kreischte ihm jemand ins Ohr. »200! Ich hab gewusst, dass ich auf dich wetten muss! Du bist der Hammer, Mann!«

»Wahnsinn! Wie du ihm die Faust durch die Fresse gezogen hast!« Ein zahnlückiges Lachen. Die Frau war höchstens einundzwanzig. »Wahnsinn!«

»Zukal!« Ein hübscher Braunhaariger warf sich in seine Arme. Ridley kannte ihn. »Guter Kampf.«

»Danke.« Ridley packte den Hinterkopf des Kerls und steckte ihm seine Zunge in den Hals. Er schmeckte Rum, Schweiß und schweren Wein. Lecker. Jetzt wusste er wieder, woher sie sich kannten. Sie waren schon einmal übereinander hergefallen, als er vor ein paar Wochen Ragan Rotauge besiegt hatte. Sah aus, als würden sie das heute Abend wiederholen.

Sie wiederholten es. Lange.

 

Als Ridley aus der abblätternden Haustür des Braunhaarigen trat, dämmerte es bereits. Farben schälten sich aus dem Grau und die Halbmondstadt schien sich blinzelnd die Augen zu reiben. Noch war niemand auf der Straße. Pfeifend richtete Ridley sein ärmelloses Hemd und ging durch die schmale Gasse. Über ihm neigten sich die hohen Fassaden einander zu, als wollten die Dachrinnen sich küssen. Es stank nach Algen, aber das tat es hier immer. Die Halbmondstadt war auf Wasser gebaut. Man konnte kaum einen Stein werfen, ohne dass der im graugrünen Wasser eines der Kanäle versank.

»Ein weiterer erfolgreicher Arbeitstag für Zukal den Zerstörer!«, rief Ridley Dreck und Pflastersteinen zu.

Das Gewicht der Münzen wog schwer an seinem Gürtel. Ja, seine Börse war reichlich gefüllt. Sieben zu eins hatten die Wetten gestanden. Nur, weil sein Gegner drei Fingerbreit größer gewesen war als er. Auf die Größe kam es nicht an. Außerdem war Ridley verdammt groß. Er hielt an einer der moosüberwucherten Brücken, um ins Wasser zu schauen. Im trüben Dämmerlicht sah er nicht viel, aber er erahnte in den dunklen Schemen sein Gesicht. Soweit er das beurteilen konnte, sah er fantastisch aus, trotz der geplatzten Lippe. Mehr als fantastisch. Dieser Kerl von vorhin, der hatte kaum aufhören können, seine muskelbepackten Arme zu betatschen und ihm zu erklären, wie heiß er war. Der hatte seinen Namen noch lauter geschrien als die Menge vorhin, als Ridley ihn gestoßen hatte.

Zufrieden ging er weiter.

»Zukal!« Eine röhrende Stimme hallte durch die enge Gasse. Ridley stoppte abrupt. Drei Männer und eine Frau traten aus dem Schatten eines Hauseingangs. Ein Wunder, dass er die Frau nicht vorher gerochen hatte. Sie stank nach altem Bier und noch älterem Schweiß. Alkohol hatte sich in ihr Gesicht gefressen und es in ein rotes Kraterfeld verwandelt. Die drei Kerle, vielleicht ihre Söhne, sahen kräftiger aus. Tumb und breitschultrig, aber das war es nicht, was ihm Sorgen machte. Das waren die Messer, die in ihren Händen blitzten.

»Hallo, schön euch zu sehen«, sagte Ridley strahlend und rannte weg. Genau in einen vierten Mann hinein, der noch schlimmer roch als die Frau. Feucht-fischige Haut traf auf Ridleys Nase, die ohnehin schon vom Kampf lädiert war.

Er hielt sich nicht mit Fragen auf. Es war klar, dass die Fünf ihm schaden wollten. Instinktiv ließ er sich fallen, gerade rechtzeitig, um nicht vom Messer des vierten Mannes skalpiert zu werden. Er packte den Kerl am Knie und riss es nach vorn. Sein Gegner knickte ein und Ridley hatte freie Bahn. Er nutzte seine Chance.

Blitzschnell sprintete er zurück, über die Brücke, von der er eben noch sein Spiegelbild bewundert hatte. Mist, die Pflastersteine waren rutschig. Fast hätte er sich am Ende der Brücke auf die Fresse gelegt. Oder lag es an dem Alkohol, der immer noch durch seine Blutbahnen rauschte? Nach dem fünften vollen Pokal hätte er eventuell aufhören sollen.

Wohin? Am besten einfach weiter. So fertig wie die Alte aussah, würde zumindest sie nicht mithalten können. Und die Männer hatten auch nicht gerade leichtfüßig gewirkt. Trottel. Er hätte fast gelacht … aber dann wäre er in den Mehlwagen gerannt, der genau in diesem Moment um die Ecke bog. Der Kutscher sowie der Esel, der das wackelige Gefährt zog, sahen ihn entsetzt an. Keine Zeit, anzuhalten. Ridley fluchte. Er packte den oberen Rand der Kutsche, setzte einen Fuß auf das metallbeschlagene Rad und hechtete über die prall gefüllten Leinensäcke. Im Aufkommen stolperte er und rollte sich über die Pflastersteine ab.

»Scheiße«, murmelte er, als er sich hochrappelte. Konzentration. Sein biervernebelter Kopf durfte ihm nicht zum Verhängnis werden. Einen Würgreiz unterdrückend strauchelte er weiter. Seine Schritte hallten von den Wänden der schmalen Gasse wider. Hinter ihm erklang ein dumpfes Geräusch.

Weiterlaufen, dachte Ridley und drehte sich trotzdem um. Weiße Schwaden verbargen den Mehlwagen und krochen auf ihn zu. Seine Verfolger hatten den gleichen Weg wie er genommen und dabei anscheinend einen Mehlsack zum Platzen gebracht. Gut. So war er einen Moment lang vor ihren Blicken verborgen. Noch besser: Rechts von ihm tat sich ein Hofeingang auf. Er warf sich herum und verschwand darin.

Kaputte Fässer türmten sich in dem finsteren Hinterhof auf. Er war klein und quadratisch und die Mauern so feucht, dass sie schimmelten. Von ihrer ehemals roten Farbe waren nur noch vereinzelte Flöckchen übrig. Links und rechts von ihm ragten Hauswände auf, vor ihm eine hohe Mauer. Und dahinter … Er hörte das träge Schlappen des Wassers. Ein Kanal. Der modrige Geruch der Algen war unverkennbar. Er hatte keine Lust, sich in die widerliche Brühe zu stürzen. Vermutlich war die eh so dick, dass er absaufen würde. Na ja, musste er auch nicht. Die schnellen Schritte, die aus der Gasse erklangen, wurden lauter und rauschten an dem Hofeingang vorbei. Ridley schüttelte den Kopf.

Trottel, dachte er mal wieder.

»Warte!«, erklang eine Stimme aus der Gasse. »Ich glaube, er ist da rein.«

Oh.

Schritte näherten sich. Weniger Füße. Sie schienen sich aufgeteilt zu haben. Ridley sah sich nach einem Versteck um, aber der Hof war zu eng und die Fässer zu kaputt. Keins davon hätte ihn verborgen. Seufzend drehte er sich um. Ein zahnlückiges Lächeln erwartete ihn.

»Da bist du, du Scheißbetrüger.« Der Kerl sah aus wie ein versoffener Zuchtbulle. Der andere, der sich in den engen Hof schob, ebenfalls. Vermutlich waren sie Brüder.

»Hallo.« Ridley lächelte charmant. »Schön, dass ihr mich gefunden habt. Wollt ihr mir jetzt erklären, was euer Problem ist?«

»Unser Problem ist, dass du ein Scheißbetrüger bist«, schnarrte der Zuchtbulle. Sein Bruder nickte.

»Ich. Ein Betrüger.« Ridley schnaubte. »Das hab ich doch gar nicht nötig. Lasst mich raten: Ihr habt bei dem Kampf vorhin einen Batzen Gulden in den Sand gesetzt, weil ihr nicht auf mich gewettet habt. Lasst euch das eine Lehre sein. Ich gewinne immer.«

»Ein Scheißbetrüger bist du!«, bellte der Zuchtbulle. »Du hattest doch keine Chance gegen Steve den Schlächter! Meinst du, wir merken das nicht?«

»Ich glaube, ihr merkt so einiges nicht.« Ridley roch das widerliche Wasser hinter der Mauer und seufzte innerlich. Hätten sie keine Messer gehabt, hätte er sich auf einen Kampf eingelassen. Obwohl … »Ach, was soll’s?«, murmelte er.

Kaum hatte er einen Schritt gemacht, tauchten die anderen beiden Männer auf. Vergölzt! Ridley fuhr herum. Er packte die nächstbeste Tonne und warf sie auf die Vier. Mit einem feuchten Knall zerschellte sie. Er machte sich nicht die Mühe, nachzusehen, ob das irgendetwas bewirkt hatte. Er sprang. Holz knirschte unter seinen Füßen, aber das morsche Fass hielt. Seine Hände packten die Mauer. Die Steine waren so glitschig wie der ganze schimmlige Hinterhof. Er rutschte. Abrupt löste er die Linke und griff damit um die hintere Kante, genau in dem Moment, in dem die Rechte abrutschte. Endlich fanden seine Finger Halt. Mit einem Satz war er auf der Mauer.

»Bis bald, ihr Fischfotzen.« Er grinste den vier Trotteln zu. Die nahmen Anlauf, um ihm zu folgen. Mist.

Ridley sprang. Wind rauschte um seine Ohren. Erst im Fallen sah er, worauf er zusteuerte. Fast hätte er gelacht.

Er prallte auf harte Planken, rollte sich ab und knallte gegen die Reling, die mit Holzschnitzereien verziert war. Das Boot, auf dem er gelandet war, schwankte. Stoff flatterte und ein Schrei ertönte. Jemand in einer grünglänzenden Kutte ging über Bord.

Zwei erstaunte Augenpaare unter spiegelnden Glatzen sahen ihn an. Wächter der Göttin. Gold glitzerte zwischen den beiden: Eine Urne thronte auf Samt, auf einem Sockel in der Mitte des Zeremonienbootes.

Mehr Augenpaare starrten ihn von der anderen Seite an, vom Gehweg. Hunderte. Er war in einer verdammten Trauerprozession gelandet. Die Anhänger der dreiarmigen Göttin führten sie immer zu den blödesten Zeiten durch, was nur ein Grund war, aus dem Ridley diese kalten Frömmler nicht leiden konnte.

Immerhin glitten sie an der Mauer vorbei. Darauf sah er seine vier Verfolger hocken, die ihm wütend nachstarrten. Sie rührten sich nicht. Offenbar hatten sie zu viel Schiss vor dem Zorn der dreiarmigen Hure, um ihre Prozession zu stören.

Der Bürgersteig quoll fast über vor Menschen. Da würde er nicht durchkommen, ohne dass ihn die Wächter der Göttin in der Luft zerrissen. Diese breitschultrigen, in Kutten gekleideten Schränke hatten sich vor den normalen Frömmlern und den Angehörigen aufgebaut. Zwei, drei hätte er ausschalten können, aber nicht zwanzig. Wer immer da in der Urne vor sich hin staubte, musste wichtig gewesen sein. Im Boot allerdings … da befanden sich nur zwei Wächter. Und sie fuhren genau auf das Ende der Strecke zu: Einen Tunnel. Ein dunkles Loch in der inneren Stadtmauer, an dem der Bürgersteig endete. Wenn er da durchkam, würde ihm niemand folgen können.

Eine Faust raste auf sein Gesicht zu und nur durch seine Reflexe schaffte er es, auszuweichen. Einer der beiden Wächter. Ridley packte ihn am Kragen seines Kittels und warf sich rückwärts. Seine Füße schossen hervor und kaum war der schwere Körper auf ihm gelandet, hatte er ihn schon über Bord geschleudert. Gut so. Nur noch einer. Der starrte ihn an, als hätte er keine Ahnung, was Ridley hier wollte. Besonders schlau schien er nicht zu sein. Ganz blöd aber auch nicht: Er hob die Stange, mit der er das Boot durch den Kanal gesteuert hatte, wirbelte sie herum und hielt sie kampfbereit vor sich. Der hier schien etwas mehr draufzuhaben als der andere. Er wartete ab, was Ridley tat.

»Tschuldige«, lallte Ridley und gab vor, zu stolpern. Im Fallen griff er nach der Stange, warf sich herum und nutzte den Schwung, um dem Wächter das Ende des Stabs in den Magen zu rammen. Der Kerl strauchelte. Ridley packte den Stab fester und stieß ihn mit drei schnellen Stößen gegen die Brust des Wächters. Es reichte, um ihn in das grünbraune Wasser zu befördern. Eine Welle übelkeiterregenden Geruchs stieg auf, als der massige Körper des Wächters die Oberfläche durchbrach.

Schatten legten sich über Ridley. Sanft glitt das Schiff in den Tunnel. Er lachte. Okay, das war ein beschissener Morgen gewesen, aber die blöden Gesichter in der Prozession waren es wert gewesen. Wie sie ihm hinterher starrten!

Zwei Wächter halfen ihrem Kameraden aus dem Wasser. Der Priester, der als Erster über Bord gegangen war, stand bereits tropfend auf dem Pflaster und schaute, als hätte man ihm ins Weihwasser gepisst. Seine schlappen Wangen hingen fast bis zu den Schultern.

Ridley winkte ihnen zu, während der Tunnel ihn verschlang.

Die Urne hinter ihm war bei dem Kampf nur minimal verrutscht. Er packte sie und wog sie in den Händen. Schwer. Leider nicht aus massivem Gold.

»Vielleicht ist das Ding trotzdem was wert.« Ridley versuchte, in der Düsternis die Inschrift zu lesen. »Für einen armen Schlucker würden sie nicht so einen Aufstand veranstalten. Wolltest du etwas Wertvolles mit ins Grab nehmen? Etwas schön Schweres, Goldenes? Einen Armreif?«

Der Deckel saß fest. Er ließ sich weder drehen noch heben, was seine Vermutung noch bestärkte.

»Komm schon«, brummte Ridley.

Ein Klatschen hinter ihm. Er fuhr herum. Breite Finger griffen die Reling und einen Atemzug später wuchtete der zweite Wächter sich ins Boot. Algen klebten auf seiner Glatze und Mordlust funkelte in seinen Augen.

»Leichenschänder«, knurrte er.

Genau in diesem Moment endete der Tunnel und Ridley fiel auf, was er vorhin nicht bemerkt hatte: Die kantigen Gesichtszüge und schmalen Augen des Soldaten. Die spitzen Ohren. Der Kerl war ein Halbblüter. Sein Körper, an dem der einfache weiße Kittel und die Lederrüstung klebten, war muskelbepackt, sehnig und gigantisch. Die karamellfarbene Haut und die violetten Augen glichen Ridleys, aber er hätte hundert Gulden darauf gewettet, dass die Haare des Kerls weiß waren, wenn er sie wachsen ließ.

»Ich wusste nicht, dass die Bleichen die dreiarmige Hure anbeten«, sagte Ridley leichthin.

Das Gesicht des Kerls verfinsterte sich. Aber er schwieg.

»War deine Mutter aus dem Norden? Oder war es dein Vater?« Ridley beobachtete jede winzige Bewegung des Wächters. Wenn er ihn provozierte, würde er Fehler machen. »Ich schätze, dein Vater. Gibt genug von euch Bastarden in den Bergen. Manchmal glaub ich, jede Bauersfrau von hier bis Efemir hat die Beine für die Bleichen breitgemacht. Hat deine Mutter es sich gut bezahlen lassen?«

Er sah die Wut in den Augen des Kerls, aber seine Haltung änderte sich nicht. Auch er wartete. Sie standen sich gegenüber wie zwei Bären, kampfbereit, darauf wartend, dass der andere den ersten Fehler machte.

»Erzähl mir nicht, dass diese Frömmler dich wie einen der ihren behandeln. Glaubst du echt daran, dass die Göttin uns alle erlösen wird?«

»Die Göttin wird dich strafen.« Die tiefe Stimme schien aus den Niederungen der Unterwelt zu kommen.

»Die Göttin straft jeden, du Idiot. Egal, ob er was getan hat oder nicht.« Ihr Bild tauchte in Ridleys Erinnerung auf: Kalt starrte sie auf ihn nieder, ihr Schlangenblick mitleidslos. Fast spürte er die Fesseln um seine Handgelenke, die Kante der Bank, die sich in seine Knie grub, sie durchscheuerte, ihn quälte, bis die Tränen von seinem Kinn tropften, obwohl er sich geschworen hatte, stark zu sein …

Der Soldat griff an. Mist, jetzt hatte er sich ablenken lassen! Ridley wollte dem Griff ausweichen, schaffte es aber nicht. Schmerz schoss in seinen Rücken. Sein Hinterkopf schlug auf die harten Planken. Er versuchte, die Beine unter sich zu bekommen, den Kerl herunterzutreten, aber alles, was er zustande brachte, war sich den Ellenbogen zu stoßen. Der Griff des Wächters war unbarmherzig, sein hässliches Gesicht hart. Krallen packten Ridley und schleuderten ihn herum. Seine Nase prallte auf Holz.

»Pass doch auf!«, brüllte er und trat zu. Er hatte Glück: Sein Hacken kollidierte mit der einzigen weichen Stelle des Wächters: seinem Schritt. Er hörte ein leises Ächzen, der Griff lockerte sich minimal und er schaffte es, sich herauszuwinden.

Einen Schlagabtausch später standen sie sich keuchend gegenüber. Blut rann aus Ridleys Nase und er wusste, dass dem Wächter die Eier brannten. Nicht, dass der sich das hätte anmerken lassen. Eine Fresse aus Stein hatte der Halbblüter.

»Mann, lass mich doch einfach gehen.« Er schnaubte. »Ich will das Scheiß-Boot nicht klauen. Ich will nur weg von hier. Wie wär’s, wenn ihr es mir leiht und ich es morgen zurückbringe?«

»Du hast die Prozession gestört.« Vollkommen humorlos, der Typ. »Ketzer.«

»Gut erkannt, ich bin ein Ketzer. Und … Hey!« In den Pranken des Wächters baumelte etwas, das Ridley kannte. Er musste nicht einmal an sich herabsehen, um zu erkennen, dass sein Geldbeutel fehlte. Das fehlende Gewicht spürte er auch so. Wann hatte der Kerl ihm den abgenommen?

»Ist das Diebesgut?«, fragte der Wächter und hielt den Beutel höher. »Hast du es gestohlen?«

»Was? Nein.« Ridley lachte spöttisch. »Das habe ich ehrlich gewonnen.«

»Im Spiel?«

»Beim Kampf.«

»Lügner. Die Göttin verachtet Glücksspieler«, sagte der Wächter und schleuderte Ridleys Geldbeutel hinter sich.

Als würde es hundert Jahre dauern, sah er zu, wie der lederne Beutel durch die Luft flog, mit einem Platschen die Wasseroberfläche durchbrach und sank. Ridley stürzte vorwärts. Genau in die Falle des Wächters. Der packte ihn um die Taille und schleuderte ihn zu Boden. Ridley spürte seine Rippen knacksen. Die Luft verließ seine Lungen und sein Kopf knallte gegen den Sockel, auf dem die Urne stand.

Nein! Das Geld! Er brauchte das verdammte Geld, dieser verdammte Mistkerl sollte … Ein dumpfer Laut erklang über ihm. Dann rollte etwas Schweres an seinem Kopf vorbei. Die Augen des Wächters verdrehten sich und er sackte auf Ridley zusammen. Einen Moment lang fühlte er sich an seinen braunhaarigen Liebhaber erinnert. Der war vorhin auch auf ihm zusammengebrochen, in fast der gleichen Position. Nur, dass der Wächter ihm bestimmt keine Schweinereien ins Ohr flüstern würde. Ein schmaler Blutstreifen lief an seiner Schläfe entlang und Ridley kapierte, dass die Urne auf dem Kopf des Mistkerls gelandet war. Er hätte gelacht, aber sein verdammter Wettgewinn trudelte gerade dem Boden des Kanals entgegen. Er hatte keine Zeit! Gleich würde die verdammte Prozession hier auftauchen und zwanzig von diesen bekloppten Wächtern würden versuchen, ihm die Fresse zu polieren.

Mit einem Fluch stürzte er sich in das stinkende Wasser.

2. Ein lästerlicher Ketzer

 

Blut schwamm in seinem Mund, metallisch und dick. Dumpfer Schmerz pochte in einem Körper, der nicht sein eigener zu sein schien. Ganz entfernt hörte er eine Stimme, die seinen Namen sagte.

»Slar.« Eine süße Stimme. Sie musste zu den warmen Händen an seinen Schläfen gehören.

Onex, dachte er und schlug die Augen auf. Onex’ besorgtes Gesicht erschien. Hinter ihm ragte der leere Sockel auf und der Gestank des Kanals wehte über die Planken.

Onex lächelte. Wie immer fuhr der Anblick direkt in Slars Brust. Wie immer ließ er sich nichts anmerken. Mühevoll richtete er sich auf.

»Bleib liegen! Ich bin noch nicht fertig.« Onex sah ihn tadelnd an. Er hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass er ihn weiter heilen musste. Slar schüttelte den Kopf. Sehr vorsichtig.

»Es ist nichts«, sagte er und stellte fest, dass es beinahe stimmte. Sein Kopf schmerzte, aber die Blutung in seinem Mund war minimal. Vermutlich hatte er sich auf die Zunge gebissen, als … Was genau war geschehen?

Er sah sich um. Raiden und Fred, zwei Wächter, standen ebenfalls im Boot und richteten den Samtbezug des Sockels wieder her. Der Priester wartete mit der Urne in der Hand. Er wirkte noch erzürnter als bei seinen Reden. Als würde die Galle in ihm hochkochen und als müsste er den Mund geschlossen halten, um kein Feuer zu speien. Der Rest der Prozession stand mit roten Gesichtern auf dem Bürgersteig. Die meisten von ihnen keuchten. Sie mussten hergerannt sein, über den Umweg der Stadtmauer.

Tiefe Beschämung überkam Slar. Er hatte es nicht geschafft, den Dieb zu überwältigen. Nein, er hatte sich ausschalten lassen wie ein blutiger Anfänger.

»Du hast ihn verjagt«, sagte Onex freudestrahlend. »Nicht wahr? Als wir das Boot gefunden haben, war er weg und die Urne war noch da. Ich hatte Angst um dich, weil du so reglos dalagst, aber du musst ihn in die Flucht geschlagen haben.«

Einen Moment lang überlegte Slar zu bejahen. Aber die Göttin strafte auch Lügner.

»Er hat mich überwältigt«, sagte er. Der lästerliche Ketzer. Der dümmlich grinsende Mund des Hundesohnes erschien in seinem Gedächtnis. »Ich weiß nicht, wie. Meine Erinnerung ist ungenau.«

»Das liegt daran, dass du die Heilung unterbrochen hast.« Onex sah ihn böse an. Sein rundes Gesicht verzog sich. »Lass mich bitte weitermachen.«

»Was ist geschehen?« Eine schneidende Stimme. Morgan Bilek, die Wächter-Generalin sah auf Slar herab. Heiße Scham füllte seinen Mund, als er sprach.

»Wir haben gekämpft. Er hat mich niedergeschlagen. Ich weiß nicht, wie …« Eine Erinnerung schälte sich aus seinem pochenden Schädel: Er hatte den Kerl unter sich, im Skorpionsgriff und dann … Der hatte ihn gar nicht besiegt! Der Mistkerl hatte nur Glück gehabt, dass die Urne auf Slars Kopf gefallen war! »Ich werde ihn finden«, grollte er.

»Das ist nicht nötig.« Morgan nickte zu dem Sockel hinüber. »Die Asche des Ratsherren ist noch da und es wurde nichts gestohlen.«

Soeben richtete der Priester sie auf dem Podest her. Seine Kutte tropfte immer noch.

Ich werde ihn finden, dachte Slar. Der Ketzer hatte die Göttin als dreiarmige Hure bezeichnet und ihn vor Onex’ Augen ins Wasser befördert wie einen blutigen Anfänger. Das würde er büßen.

Auf dem Bürgersteig erklang eine wütende Stimme. Einer der Angehörigen redete auf die Wächter ein. Ein blasser junger Mann, dessen Haare nach der neuesten Mode zu einem Pferdeschwanz gebunden und an den Seiten abrasiert waren. Seine Kleider deuteten auf großen Wohlstand hin. Unzählige Goldfäden rannen durch die lindgrüne Seide.

»Es ist ein Skandal«, wetterte der Junge. »Das Andenken meines Großonkels wurde geschändet. Bilek!«

Die Wächter-Generalin wandte sich dem Jungen zu. »Herr Dostal?«

»Was gedenken Sie zu unternehmen? Der Dieb muss gefunden werden!«

»Junger Herr«, begann die Generalin, wurde aber unterbrochen. Der Vater des jungen Herren legte eine Hand auf dessen Schulter. Der ältere Dostal war fast einen Kopf größer als sein Sohn und so ehrfurchtgebietend, dass alle Umstehenden zurückwichen. Kein Wunder, dass er es bis zum Obersten Ratsherrn gebracht hatte. Leise redete er auf seinen Jungen ein. Der presste die Lippen aufeinander, nickte aber schließlich.

»Es wird keine Verfolgung geben.« Die Stimme des Alten trug weit. »Lasst uns diesen unschönen Vorfall vergessen und das Andenken an meinen Onkel nicht trüben.«

Trotz der milden Worte war dies ein Befehl. Die herrische Miene des Alten ließ keine Widerrede zu. Slar ballte die Fäuste, schwieg aber. Die Dostals waren große Mäzene des Tempels, so viel hatte er in seiner kurzen Zeit in der Halbmondstadt schon verstanden. Es wäre unklug, sie zu verärgern.

Aber niemand konnte ihm vorschreiben, was er in seiner Freizeit zu tun hatte. Leider ließ der Tempel ihnen nicht viel Freizeit. Fraglich, was er in der halben Stunde nach der Abendmesse ausrichten konnte. Vielleicht würde das Studium ihm mehr Möglichkeiten bieten, den Ketzer zu finden.

 

»Ich bin aufgeregt«, gab Onex zu und blickte aus dem schmalen Schlitz in ihrem Zimmer. »Fenster« wäre eine zu großzügige Bezeichnung dafür gewesen. »In einer Woche geht es los und ich bin schon so nervös, als wäre es morgen.«

Slar hätte ihn gern ermutigt, aber er war furchtbar darin. »Es wird gut gehen«, sagte er viel zu spät. »Es wird sicher nicht schwerer als die Vorbereitungskurse.«

»Ich war der Schlechteste in den Vorbereitungskursen.« Onex lächelte schief. »Meinst du, ich werde auch der Schlechteste an der Akademie?«

»Bestimmt nicht«, sagte Slar. »Wenn es dich beruhigt, bin ich einfach noch schlechter als du.«

Onex lachte. Er war der einzige Mensch, den Slar zum Lachen bringen konnte. Die meisten fürchteten sich vor ihm. Selbst, als sie noch Knaben gewesen waren, hatte er diese Wirkung auf die anderen Kinder gehabt, dank seiner Größe und seines Blutes. Nur Onex hatte sich immer wieder um ihn bemüht.

»Vielleicht habe ich nur Angst vor den Städtern«, sagte Onex. Er ließ sich auf die schmale Holzpritsche plumpsen, die gegenüber von Slars an der Wand hing. »Sie sind so anders. So … missbilligend. Vorhin habe ich versucht, zu erklären, dass es nicht deine Schuld war, dass der Dieb entkommen ist. Der junge Herr Dostal hat mich nur angesehen und ich habe mich nicht getraut, weiterzureden. Als wären mir alle Worte, die ich kenne, verlorengegangen.«

»Ich bin bei dir«, sagte Slar. »Gemeinsam schaffen wir das. Wie immer.«

»Ja.« Onex nickte und richtete sich ein wenig auf. »Ich schätze, du hast recht. Mit dir an meiner Seite traut sich wenigstens niemand, mich zu verprügeln.«

»Wer sollte dich verprügeln wollen?«

»Ich weiß nicht. Der Priester vielleicht? Als ich ihm angeboten habe, meine Robe anzuziehen, weil seine nass war, hat er mich angesehen, als wollte er mir die Nase brechen.«

Onex war einfach zu hilfsbereit. So sehr, dass er manchen damit auf die Nerven ging. Aber nicht Slar. Niemals.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Wirklich. Es wird alles gut gehen.«

»Versprichst du es?«

»Ich schwöre es.«

Bei meinem Leben, dachte Slar.

3. Ein schwieriger Anfang

 

Ridley war stinksauer, als er die Akademie betrat. Eine Woche war vergangen und der Verlust seines Geldbeutels wurmte ihn immer noch. Wie oft war er in die widerliche Brühe getaucht, um danach zu angeln und ihn trotzdem nicht zu finden? 1000 Gulden! Hass schäumte in ihm hoch, wenn er daran dachte, was er alles damit hätte machen können. Seine Miete zahlen zum Beispiel. Anstatt zum dritten Mal in diesem Jahr sein Zimmer zu verlieren und bei Minos unterkriechen zu müssen. Der Kerl schnarchte erbärmlich und wenn er sich je wusch, verbarg er es meisterhaft. Bei ihm zu übernachten war, wie in feuchtem Käse zu schlafen. Natürlich hätte Ridley bei einer seiner alten Eroberungen pennen können. Aber zu lange bei einem Liebhaber zu verweilen, führte immer zu Komplikationen. Gut, dass der nächste Zahltag bevorstand. Er konnte es kaum erwarten, wieder seine eigenen vier Wände zu haben, selbst wenn die schimmelten.

Das düstere Wetter passte zu seinen düsteren Gedanken und dem düsteren Gebäude der Akademie, das über ihm aufragte wie ein mit hohen, schmalen Fenstern verzierter Felsen. Es stand da, wo der Sonnen- und der Luchskanal sich trafen und war von drei Seiten von Wasser umgeben.

Die Akademie der Heiler. Die einzige Akademie des Kontinents, in der alle angenommen wurden, die magisch begabt waren. Egal, ob Bauernsöhne oder Adlige vom Festland. Oder Waisenkinder wie Ridley Zukal, der sich an seine Eltern nicht einmal erinnern konnte.

Sie waren umgekommen, als er kaum zwei Jahre alt gewesen war. Im Weißen Sturm. Eine sehr poetische Umschreibung für den großen Kampf gegen die Bleichen, in dem die Bastarde endlich die Rechnung bekommen hatten. Spitzohrige, hellhaarige, weißgesichtige Ratten. In den Jahren zuvor waren sie plündernd und mordend über das Festland gezogen. Aber an der Halbmondstadt hatten sie sich die Zähne ausgebissen. Beziehungsweise die Zähne ausgeschlagen bekommen. Mistkerle.

Mistkerle wie der verdammte Halbblüter-Wächter, der seinen Geldbeutel weggeworfen hatte. Wenn er den je in die Finger bekam … Nun, dann würde dessen hässliches Gesicht zusätzlich verquollen und nass-rot sein.

»Erstsemester zu mir!«, rief eine hohe Stimme und riss ihn aus seinen Gedanken. »Erstsemester! Hierher!«

In der Mitte des Hofes bildete sich eine kleine Menschentraube. Ridley setzte die Ellenbogen ein, um durchzukommen, und sah kurz darauf, zu wem die Stimme gehörte: einer breitschultrigen Frau mit winzigem Gesicht, die einen Stapel Blätter in den Armen hielt.

»Erstsemester!«, wiederholte sie. »Hab ich nun alle? Ich les mal die Liste vor. Ally Rezec!«

»Hier, äh, anwesend! Also, da!«, quietschte ein Mädchen, das die schwarzen Haare zu einem ordentlichen Dutt gebunden auf dem Kopf trug. Sie wirkte so nervös wie der Rest der Meute. Na ja, fast alle. Ganz vorne standen ein paar offensichtlich reiche Kaufmannssöhne und -töchter, deren farbschillernde Kleidung trotz des bewölkten Himmels leuchtete. Zwei von ihnen erkannte Ridley. Ob deren Eltern wussten, dass sie sich nachts im Hafenviertel herumtrieben und auf Käfigkämpfe wetteten? Einer der beiden erblickte ihn und riss die Augen auf. Ganz langsam packte er seine Freundin am Arm und deutete mit dem Kopf auf Ridley. Der grinste und sie sahen beide weg.

Einer nach dem anderen wurde aufgerufen. Nur zwei fehlten. Als Ridleys Name fiel, sahen sich noch mehr Leute nach ihm um. Schien, als wäre sein Ruf ihm bereits vorausgeeilt. Eindeutig interessierte Blicke streiften ihn. Aber daran war er gewöhnt. Schließlich war er der größte Kämpfer der Halbmondstadt.

Die Frau, die sich als Professorin Caitlin Kral vorstellte, ging voran durch die blau gestrichenen Türen des Westflügels. Mitten in das Herz der Akademie: die Bibliothek.

Ridley hatte noch nie so viele Bücher auf einem Haufen gesehen. Hunderttausende drängten sich in den Regalen und brachten sie fast zum Bersten. Verdammt hohe Regale. Die Leute, die auf den Leitern herumturnten, würden sich den Hals brechen, wenn sie abrutschten. Der ganze Raum roch nach altem Papier und Staub.

In der Mitte sank der Boden in Treppenstufen ab, wie ein Amphitheater. Am Boden, vor einer gigantischen schwarzen Tafel, stand eine lächelnde Greisin. Ihr weißer Kittel war aus rauem Stoff gewebt und bedeckte den ganzen Körper, bis auf Kopf und Hände, die sie gefaltet vor dem Körper hielt. Ridley hörte Gemurmel, sobald die anderen Erstsemester sie erblickten.

»He.« Er boxte dem blonden Kerl neben sich gegen die Schulter. »Wer ist die Alte?«

Der drehte sich um. Verärgerung wich Furcht, als er zu Ridley hochschaute. »N-Natasha Navratil«, stammelte er. »Die Dekanin.«

Ach, so sah die aus.

»Wer?«, fragte eine zierliche Rothaarige von Ridleys anderer Seite. Ihr harter Akzent verriet, dass sie nicht von hier kam. So wie fast ein Drittel der Studenten. Dass hier jeder magisch Begabte studieren durfte, lockte viele Fremde an. Bei der Rothaarigen tippte Ridley auf eine Bäckerstochter. Jemand, der außerhalb der Halbmondstadt keine Chance auf eine Heiler-Ausbildung gehabt hätte.

»Natasha Navratil«, wiederholte der Blonde, »ist eine Legende. Sie hat im Weißen Sturm an vorderster Front geheilt. Sie hat mehr Soldaten gerettet als jeder andere und sich nicht mal zurückgezogen, als sie schon hinter feindlichen Linien war.«

»Ihre Frau war bei ihr.« Ein breitgebauter Kerl mit glänzenden Augen mischte sich ein. »Sie waren das beste Heilerteam, das es je gab. Und als ihre Frau von einem Bleichen umgebracht wurde, hat Natascha ihm mit einem Skalpell den Hals aufgeschlitzt.«

»Sie hat seinen ganzen Kopf damit abgesäbelt«, behauptete der Blonde.

Die Rothaarige schaute angemessen beeindruckt.

»Ich hab gehört, sie wäre wahnsinnig geworden«, sagte Ridley. »Sie lassen sie nur noch aus Mitleid unterrichten.«

Die anderen warfen ihm schockierte Blicke zu.

Er zuckte mit den Achseln. »Sehen wir ja gleich.«

Sie setzten sich auf die harten Stufen, so nah an der Alten, dass Ridley ihre Lachfalten erkennen konnte.

»He.« Ein Flüstern hinter ihm. Zwei Mädels in lila Kitteln schauten ihm entgegen. »Sag mal, bist du nicht Zukal der Zer…«

»Meine lieben Erstsemester!« Die Stimme der winzigen Greisin trug erstaunlich weit. Die Mädels zuckten zusammen und schauten zur Tafel. »Willkommen an der Akademie der Heiler! Die nächsten vier Jahre werden eine aufregende Zeit für euch werden. Eine Zeit, in der sich mehr für euch verändern wird als je zuvor.« Sie neigte den Kopf zur Seite. Und neigte ihn weiter, bis er fast auf ihrer Schulter lag. Sie kam Ridley wie eine Eule vor.

»Wahnsinnig«, murmelte er. »Sag ich doch.«

»Ich will euch eine Frage stellen.« Der Kopf neigte sich zur anderen Schulter. »Was ist wichtiger, Magie oder Medizin?«

Schweigen breitete sich über der Gruppe aus. Was für eine seltsame Frage. Ridley hatte keine Ahnung, worauf die Alte hinaus wollte.

Endlich erklang eine Stimme. »Beides selbstverständlich.« Einer der Kaufmannssöhne lehnte sich zurück. Er schien sehr zufrieden mit seiner Antwort.

»Falsch!« Die Alte lächelte irr. »Es ist die Magie.«

»Warum?« Die Ohren des Kaufmannssohnes färbten sich rot. »Ich meine, natürlich ist die Magie wichtig, aber … eine Wunde, die nicht richtig genäht wird, kann auch nicht geheilt werden. Oder?«

»Die Magie ist das Wichtigste, weil sie weiter geht als die Medizin. Sie rettet nicht nur Leben und heilt Schmerzen, nein, sie zeigt euch auch, wer euer Lebenspartner ist.« Die Alte lächelte noch irrer. »Und das ist weit bedeutender, als zu lernen, auf welche Arten man Husten stillen kann. Ja, selbst bedeutender als zu lernen, Wunden zu verbinden und Brüche zu richten. Es ist das Wichtigste im Leben.«

Die Professorin, die sie vorhin im Hof eingesammelt hatte, verdrehte die Augen. Ridley konnte es ganz deutlich sehen, obwohl sie auf der anderen Seite der Sitze hockte. Auch er seufzte innerlich. Schon wieder dieser Mondmal-Scheiß. Er hatte geglaubt, dass er hier endlich ein paar Leute treffen würde, die logisch dachten.

»Die Liebe«, fuhr die Alte fort, »heilt die größten Wunden. Die Wunden der Seele.«

»Das ist wissenschaftlich nicht belegt«, sagte die Professorin, wurde aber ignoriert.

Wie eine dieser verdammten Priesterinnen breitete die Greisin die Hände aus. »Die Liebe wird eure Leben retten, wenn der beste Heiler es nicht vermag. Die Liebe lässt euren Mut fliegen und vernichtet eure Angst.«

Ein Teil der Studenten begann, unruhig auf ihren Sitzen umherzurutschen.

»Daher ist es nicht das Wichtigste, gute Noten zu bekommen oder euren ersten Einsatz gut zu absolvieren. Das höchste Ziel, das ihr hier an der Akademie haben solltet, ist, euren Lebenspartner zu finden.« Ein leises Seufzen erklang. »Ich weiß noch, wie ich meiner Victoria begegnete. Gleich am ersten Tag hier haben wir uns erkannt. Damals war es Brauch, bei der Einführungsveranstaltung zu schauen, wer schon das Mal der Göttin erhalten hat und ob es zu einem anderen passt.« Sie schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Ich setze diese Tradition fort. Wer bereits ein Mondmal erhalten hat, erhebe sich.«

Zähneknirschend stand Ridley auf. Er musste sich mit aller Macht daran erinnern, warum er hier war, um nicht umzudrehen und rauszumarschieren. Über die Hälfte derer, die aus der Halbmondstadt stammten, erhoben sich. Die ausländischen Studenten betrachteten sie neugierig.

»Unt was ist ein Montmal?«, hörte er die Rothaarige fragen.

»Ein Zeichen, das erscheint, bevor man einundzwanzig ist«, flüsterte jemand anderes zurück. »Wenn man jemanden findet, der das gleiche Mal hat, dann weiß man, dass man seinen Seelengefährten gefunden hat.«

»Ooh«, wisperte die Rothaarige. »Gromantisch.«

»ROmantisch«, verbesserte die andere Stimme.

»Kommt her zu mir, ihr Lieben!« Die Greisin breitete die Arme aus. »Caitlin, du fertigst die Zeichnungen an.«

Die Professorin schien ungefähr so viel Lust auf diese Aktion zu haben wie Ridley. Während die meisten mit glänzenden Augen die Stufen hinunter hüpften, stampfte er wütend auf. Der Klang seiner Schritte hallte durch die Bibliothek. Wieder bildete sich eine Menschentraube, diesmal um die Dekanin.

»Stellt euch in einer Reihe auf und macht eure Nacken frei«, sagte die Alte. »Caitlin wird die Male an die Tafel zeichnen und wenn ihr eures darin erkennt, meldet euch. Lasst uns heute mindestens ein Liebespaar zusammenführen!«

Diese Einführungsveranstaltung in die Heilkunde war der letzte Scheiß. Ridley war kurz davor, abzuhauen, als die Türen der Bibliothek aufflogen. Ein Knall hallte durch den Raum. Alle drehten sich zu den beiden Neuankömmlingen um. Selbst die Studenten, die auf den Leitern balancierten und die Schaulustigen oben am Geländer, die wohl schon geahnt hatten, dass hier eine verdammte Partnervermittlung stattfinden würde.

»Entschuldigung, dass wir zu spät sind!«, rief der Kleinere der beiden Neuankömmlinge. Sein Kopf glich einer Erdbeere. »Wir haben den Weg nicht gleich gefunden, weil wir neu in der Stadt sind …«

»Offensichtlich«, murmelte jemand neben Ridley.

»Bergbauerntrottel«, flüsterte eine andere Stimme. Der Kleine da oben wurde noch röter. Aber der Kleine war egal. Hinter ihm stand der andere. Der Halbblüter-Wächter. Der Hundesohn, der Ridleys Geld versenkt hatte.

»Du«, knurrte er und ballte die Fäuste. Er sah das gleiche Erkennen im Blick des Wächters. Die weißen Augenbrauen des Riesen zogen sich zusammen und sein harter Mund wurde noch härter.

»Dieb!«, rief der Mistkerl, so laut, dass seine Stimme durch die gesamte Bibliothek hallte.

»Arschloch!«, brüllte Ridley und sprintete los.

4. Ein unerfreuliches Wiedersehen

 

Der Dieb kam genau auf ihn zu. Gut. Slar spannte alle Muskeln an und schob sich an Onex vorbei, der ihn entgeistert anstarrte. Auf der Mitte der Treppe trafen sie sich. Der Kerl setzte zu einem Sicheltritt an, den Slar mit einem Mardermanöver konterte. Einen Moment später stürzten sie ineinander verkeilt die Stufen hinunter. Harte Kanten erwischten Slars Schultern und seine Hüfte. Er hörte ein lautes Ächzen. Dann rollten sie über den Boden, mitten in eine Schar auseinanderspringender Leute.

»Du dumme Fotzenfresse, du hast mich 1000 Gulden gekostet!«, brüllte der Dieb und versuchte, Slars Nase mit seinem Ellenbogen zu erwischen. Slar wich aus und probierte einen Kniestoß. Aber der Ketzer wand sich wie die Schlange, die er war.

»Aufhören!«, schrie eine weibliche Stimme. Er dachte nicht daran. Fast hatte er den Mistkerl wieder im Skorpionsgriff, so wie im Boot. Diesmal würde er ihn nicht entkommen lassen.

Jemand riss den Ketzer zurück, na ja, jemand versuchte es. Die breitschultrige Frau. Sie wandte sich an den Studenten neben ihr. »Jetzt helft mal mit, ihr Nichtskönner! Du da! Pack seinen Arm!«

Zu siebt überwältigten sie den Dieb. Slar hätte nachgesetzt, wenn sich nicht eine warme Hand auf seine gelegt hätte.

»Slar«, zischte Onex. Sein Kopf war knallrot. »Lass das! Du fliegst noch von der Akademie, bevor wir angefangen haben!«

»Er hat eine heilige Prozession gestört. Und versucht, die Urne zu stehlen.« Slar richtete sich auf und sah den Dieb strafend an.

Der lachte dämlich. »Hab ich nicht, du Holzdödel! Ich hab nur versucht, den vier Trotteln zu entkommen, die mich verfolgt haben. Selbst schuld, wenn euer Boot so praktisch im Weg ist.«

Slar wollte ihm seine Faust ins Gesicht hauen. Er hätte es gekonnt, nun, da mehrere Studenten auf Armen und Beinen des Diebes hockten. Aber Onex hielt immer noch seine Hand und das Gefühl war so intensiv, dass Slar sich nicht rühren konnte.

»Slar«, bat der. »Bitte nicht.«

Slar knurrte leise. Aber er blieb stehen.

»Was zur dreiarmigen Barmherzigkeit war das?!« Die breitschultrige Frau hielt immer noch den Kopf des Diebs gepackt. »Beherrscht ihr euch jetzt mal, verdammt?«

»Verzeihung.« Slar erstickte fast an den Worten. »Wir … kennen uns.«

»Offensichtlich.« Die Frau hob eine Augenbraue. »Kennen Sie sich … gut?«

Slar hatte keine Ahnung, was sie meinte. Der Dieb anscheinend schon.

»Falls das eine Anspielung sein soll: Nein.« Er lachte höhnisch. »Ich stehe nicht auf hässliche Klötze wie den da.«

Slar sah verächtlich auf ihn nieder. Dieser Satz hatte keine Erwiderung verdient. Er wusste selbst, wie er aussah. Grobschlächtig und vernarbt. Selbst mit rasiertem Schädel merkte man ihm seine schändliche Herkunft an. Er wagte es nicht, Onex anzuschauen, der nichts von alledem war. Alles an Onex war rein und gut, von seinem strahlenden Lachen bis zu dem unschuldigen Blick.

»Verzeihung.« Onex’ Ohren glühten. »Erst kommen wir zu spät und nun … Dieser Mann hat eine Trauerprozession gestört und die Wächter angegriffen, daher wollte Slar ihn zur Rechenschaft ziehen. Aber ich bin sicher, der Mann hat es nicht mit Absicht getan.«

Der Dieb runzelte die Stirn.

»Du hattest Hunger, nicht wahr?« Onex lächelte, der liebenswerte Naivling. Er hatte immer noch nicht begriffen, in welchem Sündenpfuhl sie gelandet waren. Keinem der Gerüchte über die Halbmondstadt hatte er Glauben schenken wollen.

»Ich hab immer Hunger.« Der Dieb lachte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und schüttelte alle ab, die ihn am Boden halten wollten. »Und das Arschloch da hat mir Geld gestohlen.«

»Diebesgut«, sagte Slar.

»Ehrlich gewonnenes Geld!« Der Dieb ballte die Fäuste.

Plötzlich stand eine uralte Frau zwischen ihnen. Sie deutete auf Slar und Onex.

»Hat einer von euch schon sein Mondmal?«

Was?

»Äh, ja.« Onex nickte vorsichtig.

»Und du?« Die Alte lächelte zu Slar hoch. Dass jemand ihn anlächelte, geschah äußerst selten und ließ ihn einen Moment lang zögern.

»Natürlich hat er es nicht.« Der Dieb verschränkte die Arme. »Schätze ich mal. Bekommt ihr Halbblüter Mondmale?«

»Ich hoffe nicht.« Eine Stimme von den Stufen. Ausgerechnet der junge Dostal saß da und verzog sein schmales Gesicht. Sie hatten wahrlich kein Glück mit ihren Studienkollegen. »Wir brauchen kein bleiches Blut in unseren Reihen.«

Slar ließ sich nichts anmerken. Er zweifelte seit Jahren daran, dass ein Mal in seinem Nacken erscheinen würde, egal, wie sehr er es wünschte. Dennoch … Es gab Hoffnung. Die Göttin war gnädig, das hatte der Priester in ihrem Dorf bestätigt. Wenn er ein ergebener Diener der Dreiarmigen war, der ergebenste, dann würde er vielleicht …

»Dann bleib bitte hier und zeig uns deinen Nacken.« Die Alte lächelte Onex an. »Dein Freund kann auf den Treppen warten.«

»Oh. Gut.« Onex fragte nicht einmal, warum sie sein Mal sehen wollte.

Egal. Slar konnte ihn von den Stufen aus im Auge behalten. Wenn dieser Dieb auch nur versuchte, ihm etwas anzutun … Nicht, dass er wirkte, als wollte er es. Aber dem war alles zuzutrauen. Er sah aus wie das Abziehbild eines Sünders. Wie die Radierungen, die sie in der Tempelschule gesehen hatten: chaotische schwarze Haare, ein viel zu breites Grinsen mit viel zu spitzen Eckzähnen, verschlagene Augen, ein enges, ärmelloses Hemd und eine schlampig gebundene Hose. Eine rote Hose. Die Farbe der Sünde. Hässlich war er allerdings nicht. Das Hemd gab muskelstrotzende Arme frei und seine Züge waren ebenmäßig, fast elegant. Aber so waren die Sünder. Schöne Gesichter, hinter denen sich Fangzähne verbargen.

Slar setzte sich auf die unterste Stufe. Die Studenten links und rechts von ihm machten eilig Platz. Es schien, als würde sein Aussehen auch hier alle einschüchtern.

Der Sünder blieb stehen. Hatte er sein Mal schon erhalten? Welches unglückliche Wesen war wohl mit ihm verbunden? Einen furchtbaren Herzschlag lang fiel Slar ein, dass es Onex sein könnte. Aber das war unmöglich.

Die Göttin ist gerecht, erinnerte er sich. Sie würde Onex nicht einem Kerl wie dem ausliefern.

Bestimmt nicht.

Ganz bestimmt.

Mit schweißfeuchten Fäusten sah er zu, wie die Professorin die Nacken der Erstsemester ansah, ein Mal nach dem anderen auf die Tafel zeichnete und den Namen dazu schrieb. Die Zeichen waren sommersprossenbraun auf der karamellfarbenen Haut der Studenten. Kringel und Striche, in denen man alles Mögliche sehen konnte. Ein Raunen ging durch die Menge, als zwei Male aufgezeichnet wurden, die beide einem hockenden Kaninchen glichen.

»Jenny Sramek und Jay Nemec.« Die Stimme der Alten füllte sich mit Tränen. »Eure Seelen sind eins.«

Jeder Einzelne im Raum schien den Atem anzuhalten. Einen Moment lang. Dann brandeten Seufzen und Klatschen durch die Bibliothek. Ein schmaler Junge und ein rundliches Mädchen sahen sich an und erröteten. Alle anderen gingen einen Schritt zurück und ließen die beiden wie auf einer Bühne zurück. Nur der Dieb ließ sich Zeit. Als er endlich aus dem Weg ging, verdrehte er die Augen. Ketzer. Der hatte nichts übrig für die Heiligkeit dieses Augenblicks.

»Äh. Hallo«, sagte Jay.

»Hallo«, murmelte Jenny. »Äh.«

»Setzt euch hin und lernt euch besser kennen.« Die Greisin nickte ihnen zu. »Dieser Moment gehört ganz euch.«

Und den hundert Augenpaaren, die sie beobachteten, als sie sich auf die Treppenstufen setzten. Die beiden fühlten sich sichtlich unwohl. Unter Beobachtung ein Gespräch mit seinem Seelenpartner zu beginnen, konnte nicht leicht sein.

»Lasst sie in Ruhe«, sagte die Greisin milde. »Weiter geht es. Du bist dran, Kleine.«

Ein schwarzhaariges Mädchen zog ihren Kittel so weit herunter, dass die Professorin das Mal in ihrem Nacken sehen konnte. Aber nicht alle folgten ihrem Befehl. Selbst Slar musste immer wieder die beiden auf den Stufen ansehen. Jenny faltete die Hände im Schoß und sagte etwas, so leise, dass er es nicht verstehen konnte, obwohl sie fast neben ihm saßen. Der Junge schüttelte den Kopf und kaute auf seiner Unterlippe herum. Slars Brust war von wildem Sehnen erfüllt. Welch ein Glück diese beiden hatten.

»Eigentlich habe ich eine Freundin«, hörte er Jay sagen.

»Onex Sindelar!«, rief die Greisin.

Onex trat vor und zeigte seinen Nacken. Slar hielt den Atem an, obwohl er wusste, was kam: Drei Linien, die einem aufgewühlten See glichen, wurden auf den Schiefer gezeichnet. Das Mal, das er in- und auswendig kannte. Er bekam kaum Luft, während es weiterging. Immer wieder befürchtete er, die drei Linien erneut zu sehen. Bei jedem anderen Zeichen atmete er auf. Als der Dieb als Letzter vor die Tafel trat und mit mürrischer Miene seinen Nacken frei machte, hielt Slar den Atem an.

Göttin, bitte. Du bist gerecht und gut, gerecht und gut, gerecht und gut …

Die Göttin war gerecht und gut. Eine wild gezackte Linie, einer Flamme gleich, wurde gezeichnet. Luft flutete Slars Lungen.

Das Zeichen passt zu einem Sünder, dachte er. Unstet und flatterhaft.

»Ridley Zukal.« Die Greisin legte eine Hand auf den kräftigen Arm des Diebs. »Leider ist kein Zweiter mit deinem Zeichen anwesend. Aber verzage nicht. Bei fast der Hälfte deiner Kommilitonen wird es noch erscheinen.«

»Ich scheiß auf das Zeichen«, knurrte der Dieb. Jemand neben Slar zog scharf die Luft ein. »Und diesen ganzen Seelengefährtendreck. Wenn irgendwann irgendein Flachwichser mit meinem Mal ankommt, kriegt er einen Arschtritt.«

»Junge, reiß dich zusammen«, sagte die Professorin.

Selbst die Greisin schien leicht erschüttert. »Ridley, das Mondmal ist das Zeichen der Göttin«, sagte sie. »Sie wird deinen Partner oder deine Partnerin weise auswählen …«

»Auf die Göttin scheiß ich auch.« Zukal schüttelte ihren Arm ab und schlenderte die Stufen hoch. Slar erwartete, dass er die Bibliothek verließ und nie wiederkam. Vielleicht hoffte er es auch. Aber der Dieb ließ sich auf der obersten Treppenstufe nieder und stierte wütend vor sich hin.

5. Ein durchwachsener Tag

 

Die Göttin! Warum sollte er dem Luder dankbar sein, das zugelassen hatte, dass die Bleichen seine Eltern abschlachteten?

Das Miststück hatte keinen Finger krumm gemacht, als man seine Schwester und ihn gequält hatte. Ihre Peiniger hatten sogar ihr Zeichen getragen. Er sah die Uniformen noch vor sich. Ähnliche wie die, die diese beiden Landeier trugen. Die verwaschenen, graubraunen Kittel der beiden bewiesen, dass sie zum Tempel gehörten. Aber war der Große nicht ein Wächter gewesen, als Ridley sich mit ihm geprügelt hatte? Warum saß er jetzt in dieser Heiler-Vorlesung? Er hätte ihn fragen können. Aber das hätte bedeutet, mit ihm zu reden und auf nichts hatte Ridley weniger Lust.

Der Rest des Tages verlief immerhin besser. Nach der idiotischen Verkupplungsaktion übernahm Professorin Kral und verteilte ihre Stundenpläne. Sie waren dicht gefüllt und begannen schon um acht Uhr morgens. Wenn er nachts kämpfte, würde Ridley auf seinen Schönheitsschlaf verzichten müssen. Oder auf die Siegesfeier. Er entschied sich gegen den Schlaf.

Professorin Kral legte gleich mit einer Vorlesung zu den Grundlagen der Anatomie los. Es folgten die Theorie der Heilkunde und die Mittagspause. Ridley holte sich in der überfüllten Mensa einen Teller schlabbrige Bohnensuppe und war, kaum dass er sich auf eine der Bänke gesetzt hatte, von Bewunderern umgeben. Der Blonde von vorhin und die Rothaarige mit dem Akzent waren auch dabei. Sie hatte witzige Augen. Grüne. All die anderen, die ihn ansahen, waren violett wie seine. Darin glichen sich alle aus der Halbmondstadt, egal, welche Haarfarbe sie hatten.