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Dr. Daniel
– Staffel 9 –

E-Book 81-90

Marie Francoise

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-132-0

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Leseprobe:
Das Geheimnis der schönen Antonia

Leseprobe

Dr. Leon Laurin stand wie festgewachsen auf einer belebten Straße in der Münchener Innenstadt, während er seine Frau Antonia, die vor einem Café auf der anderen Straßenseite saß, nicht aus den Augen ließ. Seit mehr als siebzehn Jahren waren sie miteinander verheiratet, hatten vier Kinder, führten, jedenfalls seiner Ansicht nach, eine glückliche Ehe. Und nun sah er sie zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit mit ihrem Jugendfreund Ingo Ewert in sehr vertrautem und angeregtem Gespräch – und auch dieses Mal, daran zweifelte er nicht, würde sie die Begegnung zu Hause ihm gegenüber nicht erwähnen. Er war der Ansicht gewesen, die Eifersucht seiner frühen Jahre längst überwunden zu haben, nun musste er feststellen, dass er einem Irrtum erlegen war. Am liebsten hätte er Ingo Ewert – Dr. Ingo Ewert, Leiter der Kinderklinik Dr. Ewert – direkt zur Rede gestellt. Oder noch besser: ihn am Kragen gepackt und geschüttelt und Auskunft darüber verlangt, wie er dazu kam, am helllichten Tag mit seiner, Leons, Ehefrau in einem Café zu sitzen und sich allem Anschein nach gut zu unterhalten. Jetzt griff er sogar nach ihrer Hand und drückte sie! Leon hatte Mühe, an sich zu halten. Als er die beiden vor zwei Wochen das erste Mal zusammen gesehen hatte, war er noch überzeugt gewesen, Antonia werde ihn mit den Worten empfangen: »Rate mal, wen ich heute getroffen habe!« Aber nichts Dergleichen war geschehen, kein Wort hatte sie gesagt, sie hatte Ingo Ewert nicht einmal erwähnt. Dabei wusste er ja nur zu gut, dass Ingo früher einmal bis über beide Ohren in Antonia verliebt gewesen war. Allem Anschein nach war er es immer noch. Er musste sie zur Rede stellen, er brauchte Gewissheit. Aber vielleicht war alles ganz harmlos, und er sah Gespenster. Dann würde sie ihn auslachen, und er stünde da wie der letzte Depp. War es also doch besser, ruhig abzuwarten, bis Antonia von sich aus auf ihn zukam, um mit ihm über Ingo zu sprechen? Aber was würde sie ihm dann sagen?

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Niemand hörte ihre Schreie

Roman von Francoise, Marie

  Der Mann mit der schwarzen Strumpfmaske, die lediglich Mund und Augen erkennen ließ, beugte sich über sie. Sie schloß die Augen, doch sie konnte ihn riechen. Es war ein ekelhafter, beißender Geruch, der ihr in die Nase stieg. Sie fühlte seine kräftigen, harten Hände, die ihre Handgelenke umklammerten, und sie wußte, was er in den nächsten Augenblicken mit ihr tun würde. Sie wußte es, obgleich sie nichts hören konnte. Sie fühlte sein Gewicht auf ihr, und der ekelerregende Geruch, der von ihm ausging, verstärkte sich noch, als sein maskierter Kopf ihrem Gesicht immer näher kam. Seine feuchten, heißen Lippen berührten ihre Wange. Sie wollte schreien, öffnete ihren Mund und wußte doch, daß es völlig zwecklos war. Niemand würde ihre Schreie hören. Niemand…

  Schweißgebadet fuhr Nikola Forster hoch. Das Nachthemd klebte an ihrem Körper, und ihr langes, dunkles Haar hing in feuchten Strähnen um ihre Schultern. Sie zitterte in der Erinnerung an den schrecklichen Traum, den sie gerade wieder gehabt hatte… Es war ein Traum, der sie Nacht für Nacht verfolgte.

  Langsam verließ sie ihr Bett, tapste barfuß durch die Wohnung und überzeugte sich davon, daß jedes Fenster zu und die Tür zum Hausflur verriegelt war. Um sie her herrschte Totenstille, doch das war für sie ein ganz natürlicher Zustand. Nikola war von Geburt an taubstumm und hatte in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren gelernt, damit zu leben.

  Jetzt stand sie im Bad und der Spiegel gab das Bild einer zarten Schönheit mit sanft geschwungenen Lippen und großen dunklen Augen zurück. Mit noch immer zitternden Händen wusch Nikola ihr Gesicht, kühlte die heißen Wangen mit kaltem Wasser und fühlte sich danach doch nicht besser. Der ekelhafte Geruch des Mannes, den sie im Traum so plastisch gespürt hatte, schien sie immer noch zu umgeben. Seit jenem schrecklichen Tag hatte sie sogar das Gefühl, als wäre er allgegenwärtig. Nicht einmal in Kais Nähe verschwand er.

  Mit ihren nassen Händen fuhr sich Nikola durch das verschwitzte Haar. Sie wünschte, Kai wäre jetzt hier. In seiner Gegenwart war alles erträglicher, wenn sie auch seine Umarmungen seit jenem grauenhaften Erlebnis nicht mehr ertragen konnte.

  Nikola zog ihr Nachthemd aus und hängte es zum Trocknen über den kleinen Kleiderständer, den sie neben dem Fenster aufgestellt hatte, dann holte sie aus dem Schrank einen Pyjama. Er war aus Frottee und eigentlich für sehr kalte Winternächte gedacht, doch nach diesen schrecklichen Träumen fror Nikola immer ganz entsetzlich. Auch jetzt empfand sie den Pyjama als angenehm kuschelig.

  Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück und legte sich wieder ins Bett, doch sie behielt die Augen offen. Obwohl es erst drei Uhr morgens war, wollte sie nicht wieder einschlafen. Sie hatte Angst, der Traum könnte zurückkehren.

  Mit beiden Händen tastete sie über ihren Bauch. Der dumpfe Schmerz war wieder da. Seit jenem schrecklichen Tag kam er immer wieder. Kai wußte nichts davon. Er hatte keine Ahnung von ihren Alpträumen… ihrer entsetzlichen Angst. Sie hatte es ihm einfach nicht sagen können.

  Tränen brannten in Nikolas Augen. Wie schön war doch alles gewesen! Doch nun… jede Stunde ihres Lebens war geprägt von scheußlichen Erinnerungen und entsetzlicher Angst… einer Angst, die sie vermutlich nie wieder loswerden würde.

*

  Kai Horstmann sah seiner Verlobten sofort an, daß sie wieder eine schreckliche Nacht hinter sich hatte. Mit einer Schauspielkunst, die ihn andernorts zweifellos berühmt gemacht hätte, zauberte er einen Ausdruck von Besorgnis auf sein Gesicht, dabei war ihm Nikola selbst herzlich gleichgültig. Nicht jedoch das, was hinter ihr stand: Ein gutgehendes Hotel, das sie nach dem Tod ihres ohnehin seit Jahren kränkelnden Vaters erben würde, und etliche Grundstücke, deren Verkauf Kai ein sorgenfreies Leben sichern würde. Dafür nahm er eine taubstumme Frau gern in Kauf.

  »Du siehst blaß aus«, signalisierte er ihr nun in Zeichensprache, die er vor zwei Jahren ihretwegen gelernt hatte.

  »Ich weiß«, gab sie zurück. »Ich habe schlecht geschlafen.« Sie zögerte kurz, entschloß sich dann aber zumindest zu einem Teil der Wahrheit. »Ich habe seit einiger Zeit arge Unterleibsschmerzen.«

  »Wir werden noch heute zum Arzt gehen«, beschloß Kai. Er sah, wie Nikola schon den Kopf schütteln wollte und mit den Händen zu einer Erwiderung ansetzte, doch mit einer energischen Handbewegung wischte er ihren Einwand beiseite.

  »Du mußt zum Arzt«, bedeutete er ihr. »Mit derlei Dingen ist nicht zu spaßen.«

  Nikola blickte in sein Gesicht und war gerührt von der Besorgnis, die sie darin entdecken konnte.

  Sie nickte ergeben und sagte durch ihre Hände: »Na schön, wenn du meinst.«

  Mit einer fürsorglichen Geste begleitete Kai seine Verlobte zum Auto und hielt ihr zuvorkommend die Tür auf, bis sie eingestiegen war, dann setzte er sich hinter das Steuer und fuhr los. Die gedämpfte Schlagermusik, die aus dem Autoradio klang, wurde zur vollen Stunde ausgeblendet, dann erzählte der Nachrichtensprecher von geplanten Maßnahmen im Bundeshaushalt und von einer neuerlichen brutalen Vergewaltigung, bei der das Opfer schwer verletzt überlebt hatte. Kai schaltete das Radio aus und warf Nikola einen kurzen Blick zu, doch sie sah unverwandt durch die Windschutzscheibe in den trüben, naßkalten Tag hinaus.

  Kai mußte nicht lange nach der Frauenarztpraxis suchen. Obwohl Nikola erst vor kurzem die Hektik der Stadt mit der Ruhe des idyllisch gelegenen Steinhausen vertauscht hatte und Kai nach wie vor in München lebte, hatte er sich hier in diesem Vorgebirgsort schon über die gängigen Einrichtungen informiert, und so lenkte er seinen Wagen nun langsam die steile Auffahrt hinauf, die zur Praxis von Dr. Daniel führte. Auf dem großen Patientenparkplatz hielt er an, war Nikola wiederum beim Aussteigen behilflich und begleitete sie zu der schweren, eichenen Eingangstür.

  Dr. Robert Daniel, Arzt für Gynäkologie, stand auf einem großen Messingschild, darunter: Dr. Manon Daniel, Ärztin für Allgemeinmedizin. Auch die Sprechzeiten waren verzeichnet, und genau darauf wies Nikola nun.

  »Ich bin nicht angemeldet«, gab sie zu bedenken, doch Kai zuckte ungerührt die Schultern.

  »Na und?« bedeuteten seine Hände. »Du hast Schmerzen, somit bist du ein Notfall.« Er lächelte sie an, während seine Hände fortfuhren: »Laß mich nur machen.«

  Er drückte auf den Klingelknopf neben dem Schildchen ›Praxis‹, und mit einem dezenten Summen sprang die Tür auf. Nikola und Kai gelangten in ein modern eingerichtetes Vorzimmer. Die junge Empfangsdame Gabi Meindl lächelte ihnen unverbindlich entgegen.

  »Guten Tag, mein Name ist Horstmann«, stellte sich Kai vor, dann wies er auf seine Begleiterin. »Meine Verlobte hat starke Unterleibsschmerzen. Da es sich also um einen Notfall handelt, gehe ich davon aus, daß sie gleich drankommt.«

  Gabi ärgerte sich über das anmaßende Verhalten des jungen Mannes, ließ es sich aber zumindest vorerst noch nicht anmerken. demonstrativ wandte sie sich der jungen Frau zu.

  »Wie ist Ihr Name?« wollte sie wissen.

  »Meine Verlobte kann Ihre Frage zwar sehr gut von den Lippen ablesen, aber zu einer Antwort wird sie leider nicht fähig sein«, mischte sich Kai ein. »Sie ist nämlich seit ihrer Geburt taubstumm.«

  Gabi war sichtlich betroffen.

  »Das tut mir leid«, murmelte sie und vergaß über ihrer Erschütterung sogar ihren Ärger auf den jungen Mann. »Sagen Sie mit bitte den Namen Ihrer Verlobten. Ich werde sie dann bei Dr. Daniel anmelden.« Sie zögerte kurz. »Ein bißchen werden Sie sich aber noch gedulden müssen, da vor Ihnen noch zwei Damen sind, die einen Termin haben.«

  »Es ist ein Notfall«, betonte Kai erneut. »Meine Verlobte hat Schmerzen, deshalb verlange ich…«

  »Gibt es irgendwelche Probleme?«

  Gabi atmete unwillkürlich auf, als in diesem Moment die Stimme ihres Chefs erklang. Kai drehte sich um und musterte den großen, athletisch wirkenden Mann Anfang Fünfzig, der jetzt auf ihn zukam. Dichtes, blondes Haar umrahmte ein markantes, äußerst attraktives Gesicht, in dem die gütigen blauen Augen dominierten.

  »Das kann man wohl sagen«, antwortete Kai auf Dr. Daniels Frage. »Ihre Empfangsdame weigert sich, meine Verlobte sofort bei Ihnen anzumelden, obwohl ich ihr nun schon zweimal in aller Deutlichkeit gesagt habe, daß meine Verlobte starke Schmerzen hat.«

  Dr. Daniel sah von Kai zu Nikola und wieder zurück. »Betrachten Sie sich immer als Sprachrohr Ihrer Verlobten?«

  »Das muß ich wohl«, entgegnete Kai sehr von oben herab. »Meine Verlobte ist taubstumm.«

  »Entschuldigen Sie, das wußte ich nicht«, entgegnete Dr. Daniel, und auch er war von dem Schicksal der hübschen jungen Frau merklich betroffen. »Trotzdem würde ich gern mit Ihrer Verlobten persönlich sprechen. Auf schriftlicher Basis wird das ja wohl möglich sein, oder?«

  Man konnte Kai ansehen, wie wütend er war.

  »Hören Sie zu«, begann er aggressiv. »Wenn ich sage, daß meine Verlobte starke Schmerzen hat, dann stimmt das auch!«

  »Natürlich glaube ich Ihnen das«, erwiderte Dr. Daniel ruhig, dann wandte er sich Nikola zu. »Können Sie von meinen Lippen ablesen, was ich sage?«

  Die junge Frau nickte.

  »Sehr schön«, meinte Dr. Daniel und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Robert Daniel.«

  Automatisch wollte Nikola ihm in ihrer Zeichensprache antworten, doch dann fiel ihr ein, daß es ganz unwahrscheinlich war, daß Dr. Daniel sie verstehen würde, und lächelte ihn entschuldigend an. Gabi reichte ihr gleich Block und Stift.

  Ich heiße Nikola Forster, schrieb sie. Es tut mir leid, daß ich ohne Termin komme, aber ich habe seit einiger Zeit immer wieder Unterleibsschmerzen, und letzte Nacht waren sie besonders schlimm. Sie zögerte kurz, dann schrieb sie dazu: Es macht mir auch nichts aus, wenn ich noch warten muß.

  Dr. Daniel nahm den Block entgegen und las das Geschriebene, dabei spürte er, wie Kai, der ihm über die Schulter geblickt hatte, vor Wut kochte.

  »Sie werden bestimmt nicht lange warten müssen«, versprach Dr. Daniel. »Vor Ihnen sind nur zwei Patientinnen. In spätestens einer halben Stunde werde ich für Sie Zeit haben.«

  Dankbar lächelte Nikola ihn an.

  »Meine Empfangsdame wird in der Zwischenzeit schon die Formalitäten erledigen«, fuhr Dr. Daniel fort. »Sie sind ja zum ersten Mal bei mir.«

  Mit einer fast schüchternen Geste forderte Nikola den Block zurück und schrieb: Bis vor zwei Wochen habe ich in München gelebt, aber hier in Steinhausen gefällt es mir sehr viel besser.

  Dr. Daniel las, dann lächelte er. »Da haben Sie recht. Steinhausen ist ein idyllisches Fleckchen Erde, und ich bin sicher, daß Sie sich hier auch weiterhin wohl fühlen werden.«

  Er nickte Kai knapp zu, dann kehrte er in sein Sprechzimmer zurück. Der junge Mann wollte zumindest vor seiner Verlobten nicht zeigen, wie wütend er darüber war, daß sie ihm dermaßen in den Rücken gefallen war – ohne es zu wissen, natürlich.

  »Du hättest nicht so ehrlich sein dürfen«, bedeuteten ihr seine Hände, und sein Blick signalisierte Mitleid und Besorgnis. »Wenn du mir die Verhandlungen überlassen hättest, hätte

man dich jetzt nicht warten lassen.«

  »Tut mir leid, Kai, aber ich

will mich nicht vordrängeln«, gab Nikola zurück, dann nahm sie von Gabi ein Formular entgegen und füllte es gewissenhaft aus.

  »Sie dürfen noch im Wartezimmer Platz nehmen«, meinte Gabi danach. »Die Sprechstundenhilfe wird Sie holen, sobald Dr. Daniel frei ist.«

  Es dauerte wirklich nicht lange, bis Nikola ins Sprechzimmer gerufen wurde. Wie selbstverständlich folgte ihr Kai, was Dr. Daniel überhaupt nicht gefiel. Der arrogante, ziemlich anmaßende junge Mann war ihm rechtschaffen unsympathisch, und Dr. Daniel hatte das untrügliche Gefühl, als würde er das der Untersuchung vorangehende Gespräch nur behindern.

  »Seit wann haben Sie diese Unterleibsschmerzen?« wollte Dr. Daniel wissen und reichte Nikola Block und Stift, doch Kai wehrte sofort ab.

  »Das brauchen wir nicht«, behauptete er. »Ich kann Ihnen übersetzen, was Nikola in Zeichensprache sagt.« Er informierte seine Verlobte, und Dr. Daniel merkte ihr an, daß ihr diese Art der Kommunikation auch nicht so gut gefiel.

  »Viele Frauen sprechen über derartige Erkrankungen nicht gern in Anwesenheit des Mannes, den sie lieben«, wandte Dr. Daniel ein.

  »Das ist doch Unsinn«, entgegnete Kai. »Nikola und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nikola hat diese Beschwerden seit einigen Tagen.«

  Dr. Daniel machte sich eine Notiz auf der neu angelegten Karteikarte.

  »Wie äußern sich diese Beschwerden?« wollte er dann wissen.

  Nikola zögerte einen Moment, bevor sie in Handzeichen antwortete.

  »Sie hat ziehende Schmerzen und Ausfluß«, übersetzte Kai für Dr. Daniel.

  Der Arzt machte sich eine weitere Notiz, dann stand er auf.

  »Kommen Sie, Fräulein Forster«, bat er mit einem freundlichen Lächeln. »Gehen wir ins Nebenzimmer, damit ich Sie untersuchen kann.«

  Nikola erhob sich, und auch Kai stand auf.

  »Ich glaube, die Untersuchung kann Ihre Verlobte auch ohne Ihren Beistand hinter sich bringen«, wandte Dr. Daniel ein.

  »Diese Entscheidung überlassen Sie wohl besser uns«, entgegnete Kai scharf. »Meine Verlobte hat nichts dagegen, wenn ich dabei bin.«

  Dr. Daniel sah Nikola an, doch diese hielt den Blick gesenkt.

  »Also schön«, meinte der Arzt und ging dem jungen Paar voran ins Untersuchungszimmer. Erst hier suchte er erneut Nikolas Blick. »Bitte, machen Sie sich frei, und nehmen Sie auf dem Stuhl Platz. Ich vermute, daß Ihnen gynäkologische Untersuchungen bekannt sind.«

  Die junge Frau nickte, doch als sie hinter den dezent gemusterten Wandschirm treten wollte, hielt Dr. Daniel sie noch einmal zurück.

  »In diesem speziellen Fall werde ich Ihnen besser vorher sagen, was ich tun muß«, meinte er. »Wenn Sie auf dem Stuhl liegen, können Sie mich nicht oder zumindest nicht so gut sehen, so daß Sie vielleicht nicht verstehen, was ich sage.« Er schwieg kurz. »Ich werde als erstes einen Abstrich nehmen. Das kennen Sie sicher von den jährlichen Krebsvorsorgeuntersuchungen, die Ihr Gynäkologe ebenfalls vorgenommen haben wird.«

  Wieder nickte Nikola und sah Dr. Daniel aufmerksam an, als er fortfuhr zu sprechen.

  Anschließend werde ich Gebärmutter und Eierstöcke abtasten. Letzteres wird vielleicht ein wenig unangenehm, möglicherweise sogar schmerzhaft sein, wenn eine Eierstockentzündung für Ihre Unterleibsbeschwerden verantwortlich ist.« Er lächelte sie beruhigend an. »Aber Sie können sicher sein, daß ich dabei sehr vorsichtig sein werde.«

  Nikola lächelte ebenfalls, doch Dr. Daniel hatte das Gefühl, als wäre ihr Lächeln ein wenig gezwungen. Er hatte allerdings keine Gelegenheit mehr, das näher zu ergründen, denn nun trat Nikola hinter den Wandschirm und machte sich frei, dann kletterte sie auf den gynäkologischen Stuhl.

  Kai stand in der geöffneten Zwischentür, so daß seine Verlobte ihn aufgrund ihrer halbliegenden Stellung zwar nicht sehen konnte, er selbst aber die Möglichkeit hatte, ihren Körper samt der Beine, die nun in speziellen Bügeln lagen, sehr eingehend zu betrachten. Dr. Daniel war von diesem Verhalten mehr als erstaunt, fast sogar abgestoßen. Er hatte des öfteren Männer hier drinnen. Meistens waren es werdende Väter, die die Herztöne des Ungeborenen hören oder es auf Ultraschall sehen wollten. Doch bisher waren alle Männer am Kopfende des gynäkologischen Stuhls geblieben, hatten vielleicht die Hand ihrer Frau gehalten, aber noch nie hatte Dr. Daniel einen Mann erlebt, der seine Partnerin in dieser Situation mit derart eindeutigen Blicken gemustert hatte.

  »Wenn Sie sich bitte hier hinten hinstellen wollen«, forderte Dr. Daniel ihn mit unüberhörbarer Bestimmtheit auf und wies dabei an das Kopfende des Stuhls.

  Nur sehr ärgerlich kam Kai diesem Befehl nach.

  »Ich bin medizinisch sehr interessiert«, behauptetet er ziemlich unglaubwürdig, »deshalb hätte ich gern gesehen, was Sie da tun.«

  »Ich denke, Ihre Anwesenheit hier sollte eher dem Zweck dienen, daß Sie Ihrer Verlobten eine seelische Stütze sind«, entgegnete Dr. Daniel. »Diese Lage ist für Frauen nicht sehr angenehm, und wenn man dann noch nicht einmal hören kann, was um einen herum vorgeht, stelle ich mir das zusätzlich als sehr belastend vor.«

  »Ja, vermutlich haben Sie recht«, stimmte Kai zu, dann trat er aus dem Schatten der Zwischentür zu Nikola und griff mit einem zärtlichen Lächeln nach ihrer Hand.

  Dr. Daniel rückte nun mit seinem fahrbaren Stuhl näher und richtete die Lampe so, daß er

gut sehen konnte. Was er entdeckte, erschreckte ihn zutiefst. Unwillkürlich stand er auf und warf Nikola einen langen Blick zu. Er konnte in ihren Augen lesen.

  »Ist etwas?« fragte Kai sofort.

  »Nein, nein, alles in Ordnung«, entgegnete Dr. Daniel rasch. Er sah Nikola wieder an. »Ich habe vorhin nur vergessen zu sagen, daß Sie sich nach Möglichkeit entspannen sollten.«

  Die junge Frau nickte und warf Dr. Daniel gleichzeitig einen dankbaren Blick zu.

  Der Arzt setzte sich wieder, betrachtete die erheblichen Verletzungen im Intimbereich seiner Patientin und nahm dann sehr vorsichtig den Abstrich. Nikola zuckte zusammen, und Dr. Daniel fühlte sich zum ersten Mal in einer solchen Situation etwas hilflos, weil er keine Möglichkeit hatte, die junge Frau mit Worten zu beruhigen… ihr noch einmal zu versichern, daß er vorsichtig sein würde.

  Dr. Daniel stand auf und tat so, als würde er Gebärmutter und Eierstöcke abtasten. Er bemerkte Nikolas erstaunten Blick und lächelte ihr beruhigend zu.

  »Sie können sich wieder ankleiden«, meinte er.

  Dieser Aufforderung kam Nikola nur zu gern nach.

  »Was fehlt meiner Verlobten denn nun?« wollte Kai wissen, während er zusah, wie Dr. Daniel den Abstrich unter dem Mikroskop betrachtete.

  »Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, antwortete er und richtete sich auf. »Die Abstrichuntersuchung war negativ, das heißt, daß keine Pilzinfektion für die Unterleibsbeschwerden verantwortlich sein kann. Für eine

endgültige Diagnosestellung sind weitere Untersuchungen nötig, die ich aber nicht hier

in der Praxis durchführen

kann.«

  Unwillig runzelte Kai die Stirn. »Was soll das heißen?«

  »Das heißt, daß ich Ihre Verlobte in die Waldsee-Klinik überweisen werde, deren Direktor ich im übrigen bin«, entgegnete Dr. Daniel.

  »Das ist doch nur Geldschneiderei!« ereiferte sich Kai. »Sie wollen an Nikola lediglich verdienen und…«

  »Das reicht!« fiel Dr. Daniel ihm scharf ins Wort. »Solche infamen Unterstellungen muß ich mir von Ihnen nicht gefallen lassen! Was ich tue, geschieht einzig und allein zum Wohl meiner Patienten.« Er ließ diese Worte einen Moment lang auf Kai wirken, dann fuhr er ruhiger fort: »Ich vermute bei Ihrer Verlobten eine Chlamydien-Infektion. Um diese sicher zu diagnostizieren, ist eine sogenannte Pelviskopie nötig – eine Untersuchung des tiefen Beckens. Im Rahmen dieser Untersuchung kann ich Abstriche von den Eileitern nehmen, und da Sie medizinisch ja sehr interessiert sind, werden Sie sich unschwer vorstellen können, daß eine derartige Untersuchung nur in Vollnarkose durchgeführt werden kann.«

  Kai atmete tief durch. »Also schön.« Er sah Dr. Daniel an. »Wie stellen Sie sich das genau vor? Ich meine… ich bin berufstätig…«

  »Ich glaube nicht, daß Fräulein Forster auf Ihre ständige Begleitung angewiesen sein wird«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Im übrigen ist sie in der Waldsee-Klinik in den besten Händen.«

  Man konnte Kai ansehen, daß ihm diese Wendung der Dinge überhaupt nicht paßte. Offensichtlich widerstrebte es ihm, Nikola auch nur eine Sekunde mit dem Arzt allein zu lassen, und Dr. Daniel konnte sich eigentlich keinen Grund dafür denken – es sei denn, Kai wäre für die Verletzungen, die er bei Nikola gerade entdeckt hatte, selbst verantwortlich, doch diesen Gedanken schob Dr. Daniel einstweilen von sich. Es war für ihn kaum vorstellbar, daß ein Mann der Frau, die er liebte, so etwas antun könnte.

*

  Ivo Kersten saß in dem kleinen, neu eröffneten Bistro an der Theke und trank seinen mittlerweile achten Cognak. Er mochte eigentlich keinen Alkohol, von einem Bier zum Essen einmal abgesehen, doch heute wollte er sich sinnlos betrinken – auch wenn ihn jeder Schluck größte Überwindung kostete. Wieder verzog er angewidert das Gesicht, während er das Cognakglas abstellte.

  »Wenn es dir nicht schmeckt, solltest du etwas anderes trinken«, riet ihm plötzlich eine bekannte Stimme.

  Ivo wandte den Kopf, doch der ungewohnte Alkoholgenuß führte dazu, daß ihm durch diese Bewegung schwindlig wurde. Er mußte sich festhalten, um nicht vom Barhocker zu kippen.

  »Sándor«, murmelte Ivo erstaunt, als er sah, daß sein bester Freund ganz unverhofft neben ihn getreten war. Er schloß für einen Moment die Augen in der Hoffnung, das Schwindelgefühl würde dann vergehen. »Was tust du denn hier?«

  »Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte Sándor Balog, dann zog er sich einen Barhocker heran und setzte sich ebenfalls. »Das heißt – man sieht dir ja an, was du hier tust. Du willst dich betrinken… besser gesagt, du hast es schon geschafft.«

  Ivo nahm wieder einen Schluck und verzog erneut das Gesicht. Wie zum Trotz hob er das Glas gleich noch einmal, doch jetzt legte ihm Sándor eine Hand auf den Arm.

  »Laß es, Ivo«, riet er ihm. »Du bist doch sowieso schon blau.«

  »Bin ich nicht«, widersprach Ivo heftig. »Laß mich bloß in Ruhe!«

  Sándor nahm die Hand weg und winkte dem jungen Besitzer des Bistro, der hier an der Theke selbst bediente. Er verlangte die Rechnung für Ivo, dann bezahlte er, nahm seinen Freund kurzerhand mit festem Griff am Arm und zog ihn aus dem Lokal.

  Ivo schwankte gefährlich, was sich in der frischen Luft auch noch verstärkte.

  »Was soll das, Sándor?« maulte er. »Wo bringst du mich überhaupt hin?«

  »Nach Hause ins Bett«, antwortete Sándor bestimmt und verfrachtete seinen Freund kurzerhand ins Auto, dann setzte er sich ans Steuer.

  »Nach Hause.« Ivos Worte kamen voller Bitterkeit. »Wie lange werde ich denn noch ein Zuhause haben?«

  Sándor warf ihm einen kurzen, prüfenden Blick zu. »War das der Grund für dein privates Gelage?«

  »Geht dich nichts an«, grummelte Ivo unwirsch.

  Sándor hielt den Wagen am Straßenrand an, dann wandte er sich seinem Freund zu. »Anstatt dich zu betrinken, wäre es besser gewesen, du wärst zu mir gekommen und hättest dir den Kummer von der Seele geredet.«

  Ivo schwieg. Er sah Sándor nicht eimal an. Mit einem tiefen Seufzer ließ der junge Mann den Motor wieder an und fuhr los. Er würde Ivo mit zu sich nach Hause nehmen, auch wenn seine Wohnung nur klein war.

  Ivo erkannte natürlich sofort, wohin sein Freund ihn gebracht hatte.

  »Was soll ich denn hier?« fragte er unwillig und blieb bockig vor der Haustür stehen.

  »Hör zu, du Dickkopf«, entgegnete Sándor streng. »Du wirst jetzt mit in meine Wohnung kommen, dich ins Bett legen und deinen Rausch ausschlafen. Morgen, wenn du wieder nüchtern bist, werde wir uns ausführlich unterhalten.« Er ließ Ivo gar keine Zeit für eine Erwiderung, sondern nahm ihn mit festem Griff am Arm und zog ihn die Treppe hinauf.

  Zehn Minuten später lag Ivo dann tatsächlich im Bett und Sándor atmete erleichtert auf. Das war ja wirklich ein hartes Stück Arbeit gewesen.

  »Da sieht man mal wieder, was Alkohol aus einem Menschen machen kann«, murmelte er. So störrisch, wie er sich heute gegeben hatte, war Ivo doch normalerweise gar nicht.

  Er seufzte noch einmal tief auf, dann streckte er sich auf dem Sofa aus und war kurz darauf eingeschlafen. Gegen drei Uhr morgens wachte er jedoch auf, ohne zu wissen, was ihn geweckt haben könnte. Gerade wollte er sich auf die andere Seite drehen, als ihm die offene Schlafzimmertür auffiel. Rasch richtete er sich auf, erhob sich und warf einen Blick in den Raum. Das Bett war leer, und Ivos Kleidung, die er über den Stuhl gehängt hatte, war weg.

  »Das ist doch…«, knurrte Sándor wütend. Er warf einen Blick auf die Uhr. In vier Stunden würde sein Dienst in der Waldsee-Klinik beginnen… eine ziemlich harte Arbeit, für die er eigentlich hätte ausgeschlafen sein sollen. Andererseits konnte er seinen Freund in diesem desolaten Zustand nicht einfach sich selbst überlassen.

  Sándor zog sich in Windeseile an, verließ die Wohnung und stieg in sein Auto. Wo sollte er nun anfangen zu suchen? Das Bistro, wo er Ivo heute nur durch Zufall getroffen hatte, war um diese Zeit längst geschlossen. Sándor fuhr also zuerst zu dem Haus, in dem Ivo seine kleine Wohnung hatte, doch hier war alles dunkel. Möglicherweise war sein Freund einfach heimgefahren und lag nun friedlich in seinem Bett, doch daran glaubte Sándor nicht. Ivo hatte am vergangenen Abend eine Menge Kummer ertränken wollen, und Sándor hatte ihn davon abgehalten. Die Vermutung, daß er das Versäumte nachholen wollte, lag also ziemlich nahe.

  Sándor fuhr schließlich doch zu dem neuen Bistro und hatte dort auch tatsächlich Glück. Mit einer Flasche in der Hand lehnte Ivo an der Hausmauer. Neben ihm am Boden lag ein Fahrrad, das Sándor als sein eigenes erkannte.

  »Sag mal, bist du vielleicht noch zu retten?« fragte er, als er aus dem Auto stieg und auf Ivo zuging.

  Mühsam rappelte sich der junge Mann auf.

  »Laß mich in Ruhe!« verlangte er mit verwaschener Stimme, ergriff die Lenkstange des Rades und wollte es hochziehen, was aufgrund des ungewohnten Alkoholgenusses gar nicht so einfach war.

  »Ivo, mach keinen Blödsinn«, erklärte Sándor energisch. »Du kannst in diesem Zustand nicht Rad fahren.« Er wollte seinen Freund festhalten, doch Ivo war schneller, als er gedacht hatte. Er schwang sich auf das Rad und bog hinter dem Bistro in den schmalen Feldweg, wo Sándor ihm mit dem Auto nicht folgen konnte. Dabei schlingerte das Rad so gefährlich, daß Sándor jeden Augenblick mit einem schweren Sturz seines Freundes rechnete.

  »Meine Güte, was ist denn nur in ihn gefahren?« schimpfte Sándor vor sich hin und war schon drauf und dran, nach Hause zu fahren. Ivo hatte ja offensichtlich kein Interesse daran, daß ihm geholfen wurde. Vielleicht wäre es also wirklich besser, ihn sich selbst zu überlassen, doch das widerstrebte Sándor.

  Er kehrte zu seinem Auto zurück und fuhr zu der Stelle, wo der Feldweg wieder auf die Straße führte. Hier stieg er aus und ging schon ein Stück den Feldweg entlang. Nahezu im

gleichen Augenblick hörte er das Gepolter, das offensichtlich von einem schweren Sturz herrührte.

  »Ivo!« rief er, doch nur schmerzliches Stöhnen antwortete ihm.

  Es dauerte nicht lange, bis Sándor seinen verunglückten Freund gefunden hatte.

  »So«, meinte er. »War es das nun wert?«

  »Hau doch ab«, knurrte Ivo. »Wenn du nur dumm daherredest, dann brauche ich dich nicht.«

  »Verprügeln sollte man dich«, entgegnete Sándor ärgerlich, dann griff er nach Ivos Arm, legte ihn sich über die Schulter und hielt sein Handgelenk fest, während er mit der anderen Hand unter Ivos Achsel griff und den Mann auf diese Weise hochzog.

  Ivo stöhnte schmerzhaft, als er seinen rechten Fuß belasten wollte. Er war heilfroh, als sie zusammen Sándors Auto erreichten und er auf dem Beifahrersitz Platz nehmen konnte. Sándor schaltete die Innenbeleuchtung ein und betrachtete in diesem schwachen Schein die Verletzungen, die sich Ivo zugezogen hatte. Es waren überwiegend Schürfwunden, nur die Verletzung am rechten Bein sah schlimmer aus.

  Sándor holte seinen Verbandskasten aus dem Kofferraum. Es war ein beinahe antiquarisches Modell, das statt eines normalen Wunddesinfektionsmittels nur Jod enthielt. Sándor zögerte. Konnte er Ivo das antun? Das Jod würde in der offenen Wunde wie Feuer brennen.

  »Ich bringe dich in die Klinik«, beschloß Sándor und wollte sich aufrichten.

  »Wozu in die Klinik?« beschloß Sándor und wollte sich aufrichten.

  »Wozu in die Klinik?« begehrte Ivo auf. »Ich bin vom Rad gefallen – na und? Daran werde ich doch nicht sterben!«

  »Hör zu, du sturer Kerl!« fuhr Sándor ihn an. »Du hast da am Bein eine tiefe Wunde, die versorgt werden muß…«

  »Wenn du ein halbwegs brauchbarer Krankenpfleger bist, dann wirst du das auch hinkriegen«, fiel Ivo ihm ins Wort. Wieder konnte Sándor nicht begreifen, was zu dieser schrecklichen Veränderung geführt haben konnte. Ivo war doch sonst nicht so unausstehlich!

  Laß dich nicht provozieren, dachte Sándor. Ivo ist betrunken. Er weiß nicht, was er sagt… zumindest meint er es nicht so.

  Doch da fuhr Ivo schon im gleichen provokanten Ton fort: »Aber wahrscheinlich bist du in dieser Klinik nichts weiter als ein kleiner Handlanger, der nur Betten spazierenfahren darf.«

  »Na schön«, entgegnete Sándor grimmig. »Ich hätte es dir gerne erspart, aber du willst es ja nicht anders.« Er nahm das Jod zur Hand und pinselte die Wunde aus.

  Ivo stöhnte auf und krallte sich mit beiden Händen in den Polstern des Autositzes fest. Währenddessen drückte Sándor die Wundränder zusammen und legte einen festen Verband an.

  »Au!« entfuhr es Ivo, dann sah er seinen Freund anklagend an. »Sándor, sei nicht so grob!«

  Ein wütender Blick aus Sándors dunklen Augen traf ihn. »Glaubst du vielleicht, daß du nach all dem Blödsinn, den du dir geleistet hast, und nach deinen nicht gerade freundlichen Worten von vorhin auch noch besondere Rücksichtnahme verdienst?« Er stand auf, dann fügte er barsch hinzu: »Und in die Klinik mußt du trotzdem, weil die Wunde genäht werden muß.«

  Er setzte sich hinter das Steuer und fuhr los.

  »Sándor«, meldete sich Ivo nach einer Weile kleinlaut zu Wort. »Es tut mir leid… ich meine, das mit dem halbwegs brauchbaren Krankenpfleger… und… und…«

  Sándor nickte nur. Im Moment war er nicht nur auf Ivo wütend, sondern auf sich selbst, weil er sich trotz aller guten Vorsätze doch hatte provozieren lassen. Der diensthabende Arzt würde ihn für das, was er da getan hatte, nicht gerade loben.

  Sándor hielt vor der Waldsee-Klinik an und half Ivo beim Aussteigen. Bereits in der Eingangshalle kam ihnen die Nachtschwester Irmgard Heider entgegen.

  »Wer hat heute Nachtdienst?« wollte der junge Krankenpfleger wissen.

  »Dr. Parker«, antwortete sie. »Soviel ich weiß, ist er gerade im Untersuchungszimmer der Chirurgie.«

  Dorthin brachte Sándor nun auch seinen Freund. Dr. Jeffrey Parker, der hier in der Klinik eigentlich als Anästhesist arbeitete, grinste ihn an.

  »Na, Sándor, haben Sie Sehnsucht nach der Arbeit?« wollte er wissen. »Sie können gern hierbleiben und mir helfen. Heute ist hier sowieso die Hölle los.«

  »Mein Freund ist vom Rad gestürzt«, erklärte Sándor, ohne auf die Worte des Anästhesisten einzugehen. Normalerweise mochte er Dr. Parker sehr gern, aber im Moment hatte er nicht nur Angst vor der Reaktion des Arztes, wenn dieser erst mal sah, wie er Ivos Bein versorgt hatte, sondern er war auch über Ivos Verhalten gekränkt und darüber hinaus schrecklich müde. Immerhin hatte er gestern einen ziemlich anstrengenden Dienst gehabt.

  »Na, dann wollen wir uns mal ansehen, was genau passiert ist«, meinte Dr. Parker.

  »Er hat sich hauptsächlich Schürfwunden zugezogen«, entgegnete Sándor. »Nur die Verletzung am Bein muß wohl genäht werden.« Er schwieg kurz. »Ich habe schon mal Erste Hilfe geleistet.«

  Vorsichtig nahm Parker den Verband ab, dann sah er Sándor ernst an.

  »Erste Hilfe nennen Sie das?« Er schüttelte den Kopf. »Mein lieber Sándor, ich würde das eher als Körperverletzung bezeichnen. Los, gehen Sie hinaus, und warten Sie dort auf mich.«

  Der junge Krankenpfleger gehorchte mit gesenktem Kopf. Er wußte ja selbst, daß das, was er getan hatte, nicht richtig gewesen war.

  »So, und nun zu Ihnen«, meinte Dr. Parker und sah Ivo an. »Sind Sie vielleicht in einen Cognaksee gefallen?«

  Ivo errötete tief. »Ich… ich vertrage keinen Alkohol.«

  »Was nicht unbedingt eine Antwort auf meine Frage ist«, stellte Dr. Parker trocken fest. »Ich werde Ihr Bein nur vereisen, weil mir das Risiko zu groß ist, Ihnen zu der Alkoholkonzentration in Ihrem Blut auch noch ein Lokalanästhetikum zu verabreichen. Möglicherweise spüren Sie es ein bißchen, wenn ich die Wunde nähe.«

  »Das halte ich schon aus«, versicherte Ivo tapfer. Sein Kopf war noch immer vom Alkohol benebelt, trotzdem machte er sich nun Gedanken um seinen Freund. »Wird Sándor Schwierigkeiten bekommen?«

  Dr. Parker nickte. »Ja. Er darf eine solche Wunde nicht einfach mit Jod auspinseln. Im übrigen war der Verband falsch angelegt. So etwas sollte einem Krankenpfleger nicht passieren.«

  »Sándor wollte das nicht tun«, entgegnete Ivo im plötzlichen Bemühen, seinem Freund zu helfen. »Ich war… so aggressiv und… ungerecht. Ich habe ihn richtig provoziert. Vermutlich war er einfach wütend auf mich… und das zu Recht.« Er senkte den Kopf. »Bitte, vergessen Sie das Ganze… bestrafen Sie Sándor nicht.«

  »Mal sehen«, wich Dr. Parker aus, dann kümmerte er sich erst mal um die Wunde. Anschließend ließ er Ivo von der Nachtschwester auf die Station bringen.

  »Warum muß ich hierbleiben?« wollte Ivo wissen.

  »Weil ich Sie unter Kontrolle haben will, bis Sie wieder nüchtern sind«, entgegnete Dr. Parker, dann machte er sich auf die Suche nach Sándor. Der junge Krankenpfleger saß wie ein Häufchen Elend auf einer der weißen Plastikbänke in der Eingangshalle.

  »Was Sie sich da geleistet haben, war ein starkes Stück«, begann Dr. Parker ohne Umschweife. »Wie ich vorhin schon sagte – mit Erster Hilfe hatte das, was Sie getan haben, wenig zu tun, und so eine Schlamperei bin ich von Ihnen eigentlich nicht gewohnt. Sie sind sonst nämlich ein überaus guter Krankenpfleger, also kann ich davon ausgehen, daß Sie genau wissen, welche Fehler Sie gemacht haben.«

  Sándor nickte, dann gestand er leise: »Ich war wütend auf Ivo. Er war so… streitsüchtig, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht von ihm provozieren zu lassen…« Er zögerte einen Moment, dann begann er von vorn. »Ivo hat offensichtlich Probleme, und als ich ihn gestern abend in angetrunkenem Zustand getroffen habe, habe ich ihn mit zu mir genommen. Mitten in der Nacht ist er heimlich abgehauen, und als ich ihn endlich fand, fuhr er mir mit dem Rad davon. Nach seinem Sturz wollte ich ihn gleich hierherbringen, aber…« Er schwieg mit gesenktem Kopf. »Das alles ist wohl keine Entschuldigung.«

  Dr. Parker setzte sich neben ihn. »Ihr Freund hat schon ein gutes Wort für Sie eingelegt, trotzdem kommen Sie mir nicht ganz ungestraft davon. Sie werden außerhalb Ihrer Dienstzeit einen Erste-Hilfe-Kursus absolvieren, sich die Teilnahme schriftlich bestätigen lassen und mir diese Bestätigung vorlegen.«

  Der junge Krankenpfleger begriff. Dr. Parker würde über die Sache kein weiteres Wort verlieren.

  »Danke«, murmelte Sándor.

  Der Anästhesist stand auf. »Fahren Sie jetzt nach Hause. In zwei Stunden fängt Ihr Dienst an. Vielleicht können Sie sich zuvor noch ein bißchen aufs Ohr hauen.«

  Auch Sándor erhob sich. »Und Ivo?«

  »Der bleibt vorerst hier.« Dr. Parker lächelte. »Machen Sie sich keine Gedanken, ich passe schon auf, daß er nicht wieder entwischt.« Er schwieg kurz. »Sie werden morgen sicher Gelegenheit haben, mit ihm über seine Probleme zu sprechen… wobei er dann vermutlich noch eines mehr haben wird – einen mordsmäßigen Kater nämlich.«

  »Den mit Sicherheit«, meinte Sándor, verabschiedete sich von Dr. Parker und fuhr nach Hause.

*

  Kai Horstmann hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, seine Verlobte an diesem Morgen persönlich in die Waldsee-Klinik zu bringen. Am liebsten wäre er auch bei der geplanten Untersuchung dabeigewesen, doch nach dem gestrigen Tag, den er sich ganz überraschend freigenommen hatte, wollte ihm sein Chef nur noch zubilligen, daß er eine Stunde später ins Büro kommen könnte.

  »Ich hoffe, du wirst auch ohne meine Hilfe zurechtkommen«, bedeutete Kai seiner Verlobten mit den Händen. »Laß dir von den Ärzten und Schwestern hier nur nichts gefallen. Und sieh zu, daß die mit den Untersuchungen nicht zu lange herumtrödeln. Die sollen sich an dir keine goldene Nase verdienen.«

  »Dr. Daniel ist sehr nett«, gab Nikola zurück. »Er wird hier sicher nichts Unnötiges machen.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Ich vertraue ihm.«

  Das gefiel Kai ganz und gar nicht, doch er hütete sich, eine diesbezügliche Bemerkung zu machen.

  »Ich komme heute abend zu dir«, signalisierte er.

  Nikola nickte, dann küßte sie ihn zum Abschied. Als er gegangen war, packte sie ihr kleines Köfferchen aus, zog ein Nachthemd an und legte sich in das frisch bezogene Bett. Sie fühlte sich unsicher in dieser fremden Umgebung und sehnte fast den netten Arzt herbei, den sie gestern kennengelernt hatte. Dr. Daniel machte einen so zuverlässigen Eindruck.

  Nikola sah, wie sich die Tür öffnete. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie erkannte, daß es Dr. Daniel war, der jetzt zu ihr hereinkam.

  »Guten Morgen, Fräulein Forster«, konnte sie von seinen Lippen ablesen. »Wie fühlen Sie sich?«

  Nikola holte den Block hervor, den man ihr samt Stift bereitgelegt hatte und schrieb: Die Klinik ist sehr angenehm. Man hat gar nicht das Gefühl, in einem Krankenhaus zu sein.

  Dr. Daniel las, dann lächelte er. »Ich freue mich, wenn es Ihnen bei uns gefällt.« Spontan setzte er sich auf die Bettkante, reichte Nikola den Block wieder und wurde plötzlich ernst. »Sie wissen, daß ich bei der gestrigen Untersuchung einige ganz schlimme Verletzungen entdeckt habe. Deshalb habe ich die körperliche Untersuchung, die nötig gewesen wäre, nicht wirklich durchgeführt, sondern nur so getan, weil Ihr Verlobter anwesend war, der von dieser Geschichte offenbar gar nichts weiß.« Er schwieg kurz. »Möchten Sie mir erzählen, wie es zu diesen Verletzungen kam?«

  Heftig schüttelte Nikola den Kopf. Ihre Hand zitterte als sie nun schrieb: Verzeihen Sie, aber ich kann noch nicht darüber sprechen.