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Wolfgang Wippermann

Männer, Mythen und Mensuren

Geschichte der Corps
und Burschenschaften

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Der Autor wird vertreten durch Aenne Glienke
Agentur für Autoren und Verlage
www.aenneglienkeagentur.de

Erste Auflage 2019

Inhalt

»Satisfaktion«
Einleitung

1. »Burschen heraus«
Entstehung und Struktur

(Bursen und Nationen – Landsmannschaften und Orden – Burschenschaft und Burschenschaften – Corps und Burschenschaften – Aktive und Alte Herren – Wir und die)

2. »Sentimentale Eichen«
Habitus und Kultur

(Duelle und Mensuren – Saufen und Singen – Liebe und Sex – Kleidung und Sprache – Hunde und Pfeifen – Kneipen und Häuser)

»Mit wehenden Fahnen«
Niedergang und Neuanfang

(Demokratie und Diktatur – Gleichschaltung und Protest – Alliierte und Korporierte – Macht und Ohnmacht – Marginalisierung und Radikalisierung – Braun und glücklich)

Januskopf
Zusammenfassung

Anhang

Von Heinrich von Gagern bis Jörg Haider
Kurzbiografien

Schläger und Pekeschen
Glossar

Revolution und Reaktion
Forschungsüberblick

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Bildnachweis

Personenregister

»Satisfaktion«
Einleitung

»Satisfaktion« hieß ein 2007 erstmals ausgestrahlter Tatort-Krimi, ein trotz seines ungewöhnlichen Titels beim Publikum außergewöhnlich erfolgreicher Film, erreichte er doch eine Einschaltquote von 22 Prozent. Warum dieser Erfolg? Lag das nur an der herausragenden Schauspielkunst von Jan Josef Liefers und Axel Prahl, welche die Rollen des »Professors Karl-Friedrich Boerne« und des etwas kantigen »Kommissars Frank Thiel« spielen? Ganz offensichtlich nicht!

Der Grund hierfür war einmal das Milieu und zum anderen die Handlung des Krimis. Handlung wie Milieu fielen nämlich aus dem Rahmen. Der Tatort spielt in der corpsstudentischen Welt, die vielen Zuschauern völlig fremd zu sein scheint, und der obligatorische Mörder war nicht (wie in Reinhard Meys Lied) der Gärtner, sondern ein Corpsstudent, der sein Opfer erschossen hatte – allerdings nicht mit einem modernen Revolver, sondern mit einer antiquierten Duellpistole.

Außergewöhnlich ist schließlich auch die Aufdeckung der Tat durch einen Corpsstudenten. Gemeint ist »Professor Karl-Friedrich Boerne«, der sich in diesem »Tatort« als Corpsstudent zu erkennen gibt. Boerne geht in Couleur1, also mit Band und Mütze, auf das Corpshaus des studentischen Täters, um ihn dort des Mordes zu überführen. Dabei wendet Boerne spezifisch corpsstudentische Methoden an. Er provoziert den Mörder so lange, bis dieser von Boerne »Satisfaktion« verlangt. Gemeint ist die Austragung eines Duells, in dem es um die »Ehre« und die Unschuld des mörderischen Corpsstudenten geht. Boernes Konzept geht auf. Der Mörder wird von ihm schwer verletzt und gesteht seine schändliche Tat.

Das ist fantastisch. Doch es kommt noch besser. Die »Schmisse«2 genannten Verwundungen, die Boerne bei der Mensur mit dem Mörder erhalten hat, werden von seiner Assistentin Haller, genannt »Alberich«, mit 13 Stichen genäht. Das ist schmerzhaft. Doch nicht für den tapferen Corpsstudenten Boerne. »Irgendwie war das toll!« erklärt er strahlend. Darauf »Alberich«: »Ihr Männer habt doch alle einen Knall!«

All dies finde ich persönlich einfach toll. Den 8 Millionen Zuschauern des Tatorts »Satisfaktion« scheint es genauso gegangen zu sein. Auch sie haben sich von den im Tatort erzählten Mythen über die Mensuren austragenden Männer schon deshalb begeistern lassen, weil sie über die ihnen völlig fremd gewordene Welt der Corpsstudenten und Burschenschafter kaum etwas wissen. Und vieles von dem, was sie wissen oder zu wissen meinen, ist falsch und vorurteilshaft. In ihren Vorurteilen sind sie zudem durch die im Tatort erzählten Geschichten bestärkt worden. Dass es sich dabei aber auch um Mythen, das heißt um unbeglaubigte Erzählungen handelt, können und wollen sie nicht erkennen.3 Dazu hat auch das beigetragen, was Filmhistoriker die »Macht der Bilder« nennen. Heutige Konsumenten von Kino- und Fernsehfilmen halten nämlich fast alles für wahr, was sie auf den Kinoleinwänden und Fernsehschirmen sehen.

Hier setze ich mit dem vorliegenden Buch über »Männer, Mythen und Mensuren« ein. Es zielt auf eine Überwindung der im Film (und in Teilen der Sekundärliteratur) verbreiteten Vorurteile über die ständig nur saufenden, kotzenden und blutige Mensuren fechtenden Corpsstudenten ab. Den im Tatort »Satisfaktion« geschmähten Corpsstudenten soll Satisfaktion (= Genugtuung) gewährt werden. Bei den Corps und Burschenschaften handelt es sich nicht, wie von »Professor Boerne« mit Recht bemerkt wird, um »dieselbe braune Sauce«.

Zu diesem Ziel und Zweck wird die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften erzählt. Dabei müssen die Fakten von den Fiktionen getrennt werden. Dies ist jedoch nicht immer so einfach wie vielfach angenommen wird. Der Historiker kann nämlich nicht alles so darstellen, »wie es eigentlich gewesen ist« (Leopold von Ranke). Er sollte immer bedenken, dass die »Menschen ihre eigene Geschichte machen« (Karl Marx). Dies aber, um Marx’ Satz vollständig zu zitieren, »nicht aus freien Stücken, sondern unter unmittelbar vorgefundenen gegebenen und überlieferten Umständen.« Dazu zählte Marx »die Traditionen aller toten Geschlechter«, die »wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden« lasten. Was wollte Marx uns Historikern damit sagen? Meines Erachtens Folgendes: Bei aller Verpflichtung zur Objektivität sollten Historiker immer ihre Standortbedingtheit bedenken und ihre Interessen offenlegen. Geschichte sollte aus kritischer Distanz und mit verständnisvoller Empathie geschrieben werden.

Was bedeutet das für mich und das vorliegende Buch? Geschrieben ist es in der aufklärerischen Absicht, etwas aus der Geschichte für die Gegenwart zu lernen. Dies von einem seinem Selbstverständnis nach kritischen Historiker und überzeugten Corpsstudenten. Damit aus der Distanz des Historikers, mit der Empathie des Corpsstudenten und mit dem Ziel, einen Mittelweg zwischen Distanz und Empathie zu finden.

Diese meine doppelte Befangenheit als Historiker und Corpsstudent hat sowohl Vorteile wie Nachteile. Vorteilhaft ist, dass mir die den Zuschauern des »Tatorts« völlig fremde Welt der Corpsstudenten nicht fremd, sondern sehr vertraut war. Ich musste auch nicht in sie eindringen, ich war schon lange drin.

Genauer gesagt seit meinem Beitritt zum Corps Hildeso-Guestphalia Göttingen. Das war im Sommersemester 1964. Als angehender Geschichtsstudent interessierte ich mich besonders für das, was damals immer so verschwommen als »jüngste Vergangenheit« bezeichnet wurde. Gemeint war die Zeit des Faschismus.4 Sie galt aber als »bewältigt«. Doch das überzeugte mich nicht. Wie meine Eltern und Lehrer habe ich auch meine älteren Corpsbrüder inquisitorisch nach ihrem Verhalten im sogenannten »Dritten Reich« gefragt. Im Gegensatz zu meinen Eltern und Lehrern haben mir meine Corpsbrüder aber den Diskurs über die faschistische Vergangenheit nicht verweigert. Sie haben mich sogar dazu ermuntert, der Sache weiter auf den Grund zu gehen und auch die Geschichte meines Corps zu erforschen. Ich erhielt den Zugang zum Archiv meines und auch einiger anderer Corps. Außerdem wurden mir sehr persönliche Aufzeichnungen und Erinnerungen zur Verfügung gestellt. Das war sehr lehrreich. Doch am meisten lernte ich aus den Gesprächen mit den Corpsstudenten, die die Zeit miterlebt hatten. Gleichwohl habe ich die Berichte dieser Zeitzeugen immer mit dem abgeglichen, was ich in den Seminaren meiner Geschichtsprofessoren und aus ihren Büchern gelernt habe. Außerdem habe ich natürlich die insgesamt überraschend wenigen wirklich guten Arbeiten über die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften herangezogen.5

So viel zur Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches und den Zielen und Interessen seines Autors. Jetzt einige Bemerkungen zur Methode, den Quellen und den Aufbau der Arbeit, bei der es sich weder um eine Anklage- noch um eine Verteidigungsschrift handelt.

Die vorliegende Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften wurde unter Verwendung von schriftlichen und Bildquellen geschrieben, die mit Hilfe von sowohl politik- wie kulturgeschichtlichen Methoden interpretiert wurden. Unterteilt ist das Buch in drei Kapitel. Im ersten geht es um die Entstehung und Struktur, im zweiten Kapitel um den Habitus und die Kultur und im dritten werden Niedergang und Neuanfang der deutschen Corps und Burschenschaften beschrieben.

Dies soll etwas näher erläutert werden. Zunächst zum Inhalt des ersten Kapitels: Die Vorläufer der Corps und Burschenschaften waren die »nationes«, die schon im Mittelalter an einigen europäischen Universitäten (vor allem Bologna) gebildet worden sind. Ihnen gehörten Studenten an, die »bursarii« genannt wurden, weil sie für ihren Aufenthalt in den »bursae« genannten Wohnheimen einen bestimmten Betrag aus ihrer »bursa« (= Geldbeutel) entrichten mussten.

Die Corps sind aus den alten »nationes«, die in Deutschland Landsmannschaften genannt wurden, und den neuen, im ausgehenden 18. Jahrhundert entstandenen studentischen Freimaurerorden hervorgegangen. Es handelte sich um eine Mischung aus alten Landsmannschaften und neuen Orden. Von den alten Landsmannschaften übernommen wurden die Bezeichnungen nach Staaten, Städten und Stämmen sowie nach Ländern und Regionen. Von den Orden übernommen wurde die innere Gliederung. Den Füchsen, Burschen und Senioren der Corps entsprachen die Lehrlinge, Gesellen und Meister der Orden. Ebenfalls von den Orden übernommen wurde die demokratische Organisationsstruktur: Bund, Convent und Senior; sowie die Ideologie: Erziehungsgedanke, Humanismus und Toleranz.

Die Burschenschaften wollen aus der 1815 gebildeten und 1819 verbotenen (Ur-) Burschenschaft entstanden sein. In scharfer Abgrenzung zu den älteren Corps verfolgten sie dezidiert politische Ziele. Im 19. Jahrhundert traten sie für die Einheit Deutschlands und die Freiheit der, aber keineswegs aller Deutschen ein. Sie wandten sich gegen alles Fremde und die meisten Fremden. Vor allem gegen Franzosen und Polen, aber auch gegen Juden. Wie die heutigen Populisten waren sie gegen »die da oben« und gegen »die anderen«. Sie waren Revolutionäre und Rassisten zugleich.

Die heutigen Corps und Burschenschaften verfügen über eine weitgehend gleiche – demokratische – Organisationsstruktur: Bund, Convent, Senior auf lokaler Ebene – Kösener/Weinheimer und Deutsche Burschenschaft auf überregionaler Ebene. Beide – Corps wie Burschenschaften – haben aber im Laufe ihrer Geschichte ihre Ideale und Prinzipien missachtet und verraten. Den heutigen Corps und Burschenschaften gehören keineswegs nur Studenten, sondern auch schon im Berufsleben stehende Männer an. Sie werden »Alte Herren« genannt. Ihnen stehen die sogenannten »Aktiven« gegenüber.

Corps und Burschenschaften haben sich nicht nur untereinander, sondern auch von den anderen studentischen Verbindungen abgegrenzt – von den konfessionellen, jüdischen und weiblichen Korporationen. Die heutigen Verbindungen können in schlagende und nichtschlagende eingeteilt werden. Zu den schlagenden zählen die Corps sowie die im Coburger Convent zusammengeschlossenen Landsmannschaften und Turnerschaften. Die konfessionellen Verbindungen tragen nach wie vor keine Mensuren aus. Burschenschafter können, müssen aber nicht mehr fechten.

Im zweiten Kapitel geht es um den Habitus und die Kultur der deutschen Corpsstudenten und Burschenschafter. Corpsstudenten und Burschenschafter sind Männer, die ihre – brutale und sentimentale – Männlichkeit durch die Austragung von Duellen und Mensuren, das Saufen und Singen sowie ihr sexuelles Verhalten unter Beweis stellen wollen. Durch ihre Kleidung und Sprache, das Halten von Hunden und das Rauchen von Pfeifen sowie das Wohnen »auf Häusern« und den Besuch besonderer Kneipen haben sich die Corpsstudenten und Burschenschafter von ihren Mitbürgern und nichtkorporierten Kommilitonen unterschieden. Sie haben so etwas wie einen kulturgeschichtlichen Sonderweg eingeschlagen.

Im dritten Kapitel wird der Niedergang der deutschen Corps und Burschenschaften beschrieben. Er begann bereits im 19. Jahrhundert. Durch ihre Ablehnung der Demokratie von Weimar haben die Corps und Burschenschaften die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur begünstigt. Im Dritten Reich haben sich die Corps und Burschenschaften gleichschalten lassen. Dennoch hat es auf der lokalen Ebene auch Proteste gegen die nationalsozialistische Hochschulpolitik gegeben. Einige der in nationalsozialistische »Kameradschaften« umgewandelten Corps und Burschenschaften sind in klandestine Corps und Burschenschaften umfunktioniert worden. Nicht wenige ihrer Mitglieder haben trotz Verbots Couleur getragen und Mensuren ausgefochten.

Nach und zum Teil schon vor dem Ende des Dritten Reiches ist es zu einem Neuanfang gekommen. Dies gegen den Willen der siegreichen Alliierten und der alten und im Amt belassenen Professoren. Die vielfach beklagte Restauration der Corps, Burschenschaften (und der übrigen Verbindungen) kann auch als Opposition gedeutet werden. Das restaurierte deutsche Verbindungswesen geriet aber mit und nach der Studentenrevolte von 1968 in eine Krise. Die Mitgliederzahlen der einzelnen Corps, Burschenschaften und sonstigen Verbindungen gingen dramatisch zurück. Zu einem leichten Anstieg der Mitgliederzahlen ist es nach der Wiedervereinigung gekommen. Bedingt war er durch die Neu- oder Wiedergründung solcher Verbindungen an den ostdeutschen Universitäten. Doch das täuscht über ihre wahre Stärke hinweg. Sie sind zu sozialen Randgruppen geworden. Ihr prozentualer Anteil an der gesamten Studentenschaft liegt heute im Promillebereich. Abschließend wird noch ein Blick auf die Geschichte der österreichischen Corps und Burschenschaften sowie der in Österreich besonders starken katholischen Verbindungen geworfen. Dies geschieht unter der etwas polemischen, aber passenden Überschrift »Braun und glücklich«.

In der Zusammenfassung wird folgendes Fazit gezogen:

Die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften wies wie der römische Gott Janus zwei Gesichter auf – ein progressives und ein reaktionäres. Aus den Rebellen des Vormärz sind die Untertanen des Kaiserreiches geworden. Viele Corpsstudenten und Burschenschafter haben die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur begünstigt; einige wenige haben sie aber auch bekämpft. Der heutigen Marginalisierung aller Verbindungen steht die Radikalisierung einiger rechter Burschenschaften gegenüber.

Sehr unterschiedlich bewertet werden Habitus und Kultur der deutschen Corpsstudenten und Burschenschafter. Früher bewundert, heute aber scharf kritisiert wird, dass sie ihre Männlichkeit durch die Austragung von Duellen und Mensuren, das exzessive Saufen und eine besondere Kleidung und Sprache unter Beweis stellen.

Tatsächlich gehörten den Corps und Burschenschaften ausschließlich Männer an. Sie kamen aus völlig unterschiedlichen politischen Lagern. Es gab Konservative wie Otto von Bismarck und Sozialisten wie Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Wilhelm Liebknecht; Nationalsozialisten wie Ernst Kaltenbrunner und Widerstandskämpfer wie Rudolf Breitscheid und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg.

In alldem repräsentierten die Corps und Burschenschaften die positiven und negativen Aspekte der neueren deutschen Geschichte. Wir Deutschen haben eben, um ein Wort des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zu zitieren, »ein schwieriges Vaterland.«

Mit Nachdruck verweise ich auf die im Anhang zu findenden Kurzbiografien von insgesamt 21 Corpsstudenten und Burschenschaftern. Sie gehörten unterschiedlichen Parteien und Richtungen an und haben in wiederum unterschiedlicher Weise die Geschichte der deutschen Corps und Burschenschaften gestaltet und sind von ihr geprägt worden. Dabei schlagen wir einen weiten Bogen vom Präsidenten des ersten deutschen Parlaments Heinrich von Gagern bis zum Landeshauptmann von Kärnten Jörg Haider.

1. »Burschen heraus«
Entstehung und Aufstieg

»Burschen heraus, lasset es schallen von Haus zu Haus …« heißt es in einem auch heute noch gern und oft gesungenen Lied. Wer war mit diesen »Burschen« gemeint? Zu was wurden sie herausgerufen? Was haben sie getan? Sind sie ob ihres Tuns und Handelns zu loben oder zu tadeln? Diese und einige andere Fragen sollen in diesem Kapitel beantwortet werden. Wir beginnen mit der ersten Frage: Wer waren die im Lied erwähnten »Burschen«?

Bursen und Nationen

Mit dem im Lied erwähnten »Burschen« waren weder die Handwerksburschen noch die ebenfalls Burschen genannten Diener der Offiziere, sondern deutsche Studenten gemeint, die sich seit dem ausgehenden Mittelalter nach dem Vorbild der italienischen »bursarii« Burschen nannten. Die ersten »bursarii« hat es an der Universität Bologna gegeben. Warum hier?

Weil die 1088 gegründete Universität Bologna nicht nur die älteste europäische Universität ist, sie kann auch als erste freie Universität bezeichnet werden.6 Ihre besondere Rechtsstellung verdankt sie Kaiser Friedrich Barbarossa. Denn der hat die Universität Bologna im Jahr 1155 mit sehr weitreichenden Privilegien ausgestattet. Sie unterstand weder dem Papst noch anderen geistlichen und weltlichen Gewalten. Die Universität wurde nicht von staatlichen oder kommunalen Beamten, sondern in erster Linie von den Studenten finanziert und verwaltet. Sie waren es, die in Zusammenarbeit mit den Professoren den Rektor der Universität wählten. Die Professoren wurden nicht vom Staat, sondern von ihren Studenten bezahlt.

Die Studenten waren nach ihrer regionalen Herkunft (und nicht nach ihrem sozialen Stand) in verschiedene »nationes« eingeteilt. Sie lebten und arbeiteten in Wohnheimen. Für dieses Recht mussten sie zahlen. Das dazu notwendige Geld mussten sie ihrem »bursa« entnehmen. Daher wurden diese studentischen Wohnheime »bursae« und die zahlungskräftigen Studenten selber »bursarii« genannt.

Die meisten anderen im Mittelalter auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegründeten Universitäten waren nach dem, wie die Universitätshistoriker sagen, »Modell Bologna« errichtet.7 Insgesamt waren es 16 Universitäten. Sie unterschieden sich von den anderen (insgesamt 40) europäischen Universitäten, die nach dem »Modell Paris« konstruiert waren. Diese unterstanden dem Papst, waren der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterworfen und verfügten über keine rechtliche Autonomie. Es handelte sich eher um kirchliche Hochschulen als um freie weltliche Universitäten.

Nach und wegen der Reformation ist es zu einer grundlegenden Veränderung der europäischen Hochschullandschaft gekommen.8 Dies gilt vor allem in quantitativer Hinsicht. Die Zahl der europäischen Universitäten wuchs von 66 im Jahr 1500 auf 142 im Jahr 1789. Die Universitäten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, deren Zahl von 16 auf 34 gestiegen war, unterschieden sich jetzt im Hinblick auf die Konfession ihrer Gründer und Angehörigen. Zu den protestantischen Universitäten gehörten: Marburg 1527, Königsberg 1544, Jena 1558, Gießen 1607, Rinteln 1621, Kiel 1665, Halle 1694. Zu den katholischen Universitäten gehörten: Würzburg 1582, Graz 1582, Paderborn 1614.

Bei den protestantischen Universitäten handelte es sich um Staatsanstalten mit einer gewissen korporativen Selbständigkeit. Gegründet (und benannt) waren sie von den Landesfürsten, weil sie mehr und besser ausgebildete Juristen, Lehrer, Mediziner und Pastoren benötigten. Die Landesfürsten übten zugleich das Amt eines Obersten Bischofs aus. Für den Aufbau der Universitäten stellten sie die Gelder und Immobilien zur Verfügung, die sie durch die Säkularisierung des Kirchenbesitzes gewonnen hatten.

Außerdem erhielten die zu Staatsbeamten gewordenen Professoren eine staatliche Besoldung. Sie war aber in der Regel äußerst gering. Daher waren die meisten Professoren auf die finanzielle Beihilfe ihrer Studenten angewiesen. Dies in Gestalt der sogenannten Hörergelder, die die Studenten an die Professoren entrichten mussten. Einige Professoren haben ihre Gehälter noch dadurch aufgebessert, indem sie Dissertationen verfassten, mit denen die zahlungskräftigen Studenten dann von ebendiesen Professoren promoviert wurden. Diese Praxis kann man schon als kriminell bezeichnen. Rechtlich legal, aber moralisch anrüchig war, dass sich die Rechtsprofessoren durch die Anfertigung von Rechtsgutachten ein nicht unbeträchtliches finanzielles Zubrot verdienten. Besonders gut bezahlt wurden übrigens die Gutachten, die deutsche Professoren in der frühen Neuzeit für die zahlreichen Hexenprozesse angefertigt haben. Mit diesen professoralen Gutachten haben dann die zuständigen Richter die der Hexerei angeklagten Frauen zum Tode verurteilt. Das war Mord. Die professoralen Gutachter haben Beihilfe zum Mord geleistet.

Fragwürdig war die an einigen Universitäten noch im 19. Jahrhundert ausgeübte Sitte, Doktoranden »in absentia« zu promovieren. Der zukünftige Doktor musste zu diesem Zweck nicht an der entsprechenden Universität erscheinen und sich einer wie immer gearteten Prüfung unterziehen. Es reichte, die Dissertation mit der Post an die betreffende Universität zu senden, um gegen die Zahlung eines nicht unerheblichen Prüfungshonorars das begehrte Doktor-Diplom zu erhalten. Zu diesen in-absentia-Doktoren gehörte auch Karl Marx – Dr. Karl Marx.

Nein! Mit diesen Doktoren und Professoren war wirklich kein Staat zu machen. Das ist bei ihrer Kritik an dem Verhalten ihrer Studenten zu bedenken. Diese Professoren haben meist nur die »Splitter« in den Augen ihrer Studenten gesehen und die »Balken« in ihren eigenen Augen übersehen. Darauf wird noch einzugehen sein. Hier ist noch ein Blick auf die Rechtsstellung der deutschen Studenten zu werfen, die sich, wie schon gesagt, nach dem Vorbild der bolognesischen »bursarii« »Burschen« nannten. Sie verfügten über eine bemerkenswerte und im damaligen Europa geradezu beispiellose privilegierte Rechtsstellung. Das vielleicht wichtigste Privileg war das Recht, Waffen zu tragen. Damit unterschieden sich die »Burschen« von Frauen, Juden und Klerikern, denen das Tragen und der Gebrauch von Waffen zumindest im Mittelalter strikt verboten waren. Andererseits waren die für wehrhaft erklärten Studenten den äußerst wehrwilligen Adligen gleichgestellt. Wie die Adligen unterstanden sie einer eigenen – akademischen – Gerichtsbarkeit, von der sie wenig und auf jeden Fall weniger als ihre sonstigen Mitbürger zu fürchten hatten.

Die deutschen Studenten waren und fühlten sich als »freie Burschen« und gehörten einem Stand außerhalb der feudalen Ständeordnung an. Dafür sind sie von ihren europäischen Kommilitonen beneidet und bewundert worden. Ihre freiheitliche Lebensweise haben sich die deutschen Studenten aber erkämpfen müssen, möglich durch ihre Mitgliedschaft in den Landsmannschaften und Orden.

Landsmannschaften und Orden

Die Studenten der seit 1348 (Gründungsjahr der Universität Prag) auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegründeten Universitäten (u. a. jene in Bologna) gehörten unterschiedlichen »nationes« an.9 In Prag waren das die böhmische, bayerische, sächsische und polnische; in Leipzig waren es die meißnische, sächsische, bayerische und polnische. Wie schon diese Beispiele zeigen, hatten die »universitären nationes« so gut wie nichts mit den modernen Nationen zu tun. Möglicherweise um dies zu verdeutlichen wurden die universitären nationes im Reich »Landsmannschaften« genannt. Sie wurden sowohl nach Ländern, Staaten und Städten wie nach deutschen und germanischen Stämmen benannt. Dies war schon ziemlich verwirrend.

Zu dieser allgemeinen Verwirrung trug auch die lateinische Namensgebung der unterschiedlichen deutschen Landsmannschaften bei. So war die an verschiedenen Universitäten im deutschsprachigen Raum anzutreffende Landsmannschaft »Vandalia« nicht, wie man annehmen könnte, nach dem übel beleumdeten germanischen Stamm der Vandalen, sondern nach den slawischen Ureinwohnern Mittel- und Ostdeutschlands benannt, die von den deutschen Einwanderern als »Wenden« bezeichnet wurden. Auf diese wendischen Vorfahren waren zumindest die Angehörigen des mecklenburgischen Neustamms stolz. Daher haben sich die Mecklenburger auch als »Vandalen« bezeichnet und bezeichnen lassen. Der an verschiedenen Universitäten anzutreffenden Landsmannschaft »Guestphalia« gehörten dagegen keine Angehörigen eines Stammes oder Staates an. Einen westfälischen Stamm oder Staat hat es nämlich niemals gegeben. Westfalen waren (und sind) die Bewohner einer westdeutschen Region.

Abgesehen von ihrer regionalen Herkunft hatten die Angehörigen der verschiedenen (studentischen) Landsmannschaften nur ihre Sprache bzw. ihren Dialekt miteinander gemein. Doch das half ihnen im universitären Alltag wenig. Um mit ihren Kommilitonen kommunizieren zu können, mussten sie hochdeutsch sprechen. Den Vorlesungen ihrer Professoren konnten sie nur folgen, wenn sie Latein in Schrift und Wort beherrschten. Tatsächlich haben sich die Studenten nicht aus Sentimentalität und Liebe zu ihrer bayerischen, fränkischen, mecklenburgischen, schwäbischen etc. Heimat den Landsmannschaften der Bayern, Franken, Mecklenburger, Schwaben etc. angeschlossen. Maßgebend waren vielmehr rationale Motive. Mit dem Beitritt zu einer, auch »Sozietät« genannten Landsmannschaft waren nämlich bestimmte Privilegien und Rechte verbunden. Die Mitglieder der Landsmannschaften waren den Angehörigen des Adels gleichgestellt und wurden vor den Nachstellungen ihrer Mitbürger und Professoren geschützt. Wie die Burschen insgesamt unterstanden sie einer eigenen und zugleich besonderen Gerichtsbarkeit. Gegen deren in der Regel sehr milde Urteile konnten sie sich wehren. Insgesamt waren die Landsmannschaften so etwas wie studentische Solidargemeinschaften.

Um in diese Gemeinschaften aufgenommen zu werden, mussten sich die »Füchse« genannten Bewerber aber äußerst unangenehmen Aufnahmeritualen unterwerfen. Als Vollmitglieder hatten sie den Anweisungen des »Senior« genannten Vorsitzenden Folge zu leisten. Dazu gehörte auch das exzessive Saufen. Außerdem waren sie zur unbedingten Satisfaktion mit der Waffe verpflichtet. Sie mussten, ob sie wollten oder nicht, Duelle austragen.

All dies – die privilegierte Rechtsstellung, die unwürdigen Aufnahmerituale, das exzessive Saufen sowie das illegale Austragen von Duellen – wurde in der allgemeinen und inneruniversitären Öffentlichkeit scharf kritisiert. Neben normalen Bürgern riefen auch Professoren die staatlichen Organe um Hilfe. Den Angehörigen der Landsmannschaften wurde das Fechten und Saufen verboten und die Landsmannschaften selber wurden unterdrückt. Die Landsmannschaften haben sich allerdings von diesen staatlichen Verfolgungsmaßnahmen wenig beeindruckt gezeigt. In ihrem Bestand gefährdet wurden sie nicht durch die staatlichen Institutionen, sondern durch neue studentische Gemeinschaften.

Gemeint sind die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an einigen Universitäten gebildeten studentischen Orden. Bei diesen handelte es sich um Ableger der allgemeinen Freimaurerorden. Es waren Geheimbünde, deren Mitglieder in unterschiedliche Ränge eingeteilt waren und die sich untereinander durch bestimmte Abzeichen und Verhaltensweisen zu erkennen gaben. Unter dem Einfluss der Aufklärung haben sie sich für Humanität und Toleranz eingesetzt und wollten möglichst alle Brüder ihres Lebensbundes10 sowie weitere Mitbürger zu aufklärerisch gesonnenen und tolerant eingestellten Menschen erziehen.

Im Hinblick auf ihre Organisationsformen und Zielsetzungen unterschieden sich die neuen studentischen Orden von den alten studentischen Landsmannschaften. Daher kam es an einigen Universitäten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen. Doch insgesamt passten sich beide einander an. Aus der Vermischung von alten Landsmannschaften und neuen Orden entstanden die »neuen Landsmannschaften«.

Die später »Corps« genannten neuen Landsmannschaften haben von den Orden ihre aufklärerischen Werte und Erziehungsziele übernommen. Ebenfalls von den Orden übernommen wurden äußerliche Dinge wie die Kennzeichnung der jeweiligen Landsmannschaft durch einen kunstvoll gezeichneten Zirkel und die innere Aufteilung der Landsmannschaften in Füchse, Burschen und Senioren.

Die Vermischung der alten Landsmannschaften mit den neuen Orden scheint zunächst an der Universität Göttingen stattgefunden zu haben.11 Warum Göttingen? Weil diese 1737 gegründete Universität über einen äußerst guten Ruf verfügte. Sie war Ende des 18. Jahrhunderts mit etwa 600 Studenten die (zahlenmäßig) größte deutsche Universität. Viele Studenten der Göttinger Universität waren adliger Herkunft. Nicht wenige von ihnen haben sich den neuen reformierten Landsmannschaften angeschlossen. In Göttingen waren es die Landsmannschaften »Bremensia« (= Bremen), »Brunsviga (= Braunschweig), »Hannovera« (= Hannover), »Guestphalia« (= Westfalen), »Saxonia« (= Sachsen) sowie »Vandalia«, womit Mecklenburg gemeint war. Die Göttinger Landsmannschaften, von denen einige bereits Corps genannt wurden, bildeten einen gemeinsamen Senioren-Convent. Er vertrat die Interessen aller Studenten gegenüber den städtischen und staatlichen Obrigkeiten, schlichtete die Streitigkeiten zwischen den Angehörigen der einzelnen Bünder und arbeitete einen »Comment« genannten allgemeinen Verhaltenskodex aus, dem sich alle Studenten unterwerfen mussten.

Diese allgemeine Entwicklung fand aber nicht an allen deutschen Universitäten in gleicher Form und zur gleichen Zeit statt. An einigen der kleinen Landesuniversitäten, denen meist nur etwas mehr als 100 Studenten angehörten, sind bis zum Ende des 18. Jahrhunderts keine Landsmannschaften gebildet worden. Dies trifft auf die Ostseeuniversitäten Kiel, Rostock, Greifswald und Königsberg zu.

An der kleinen 1742 vom Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth gegründeten Erlanger Universität war das anders. Hier gab es mit der 1789 ins Leben gerufenen »Onoldia« eine reformierte Landsmannschaft, die sich dann in Corps umbenannte. Das Corps Onoldia ist nicht in einer Burschenschaft aufgegangen und hat seinen ursprünglichen Charakter als sogenanntes Lebenscorps, das keine Doppelmitgliedschaften duldet, bis heute bewahrt. Onoldia galt lange Zeit als ältestes deutsches Corps. Diesen Anspruch hat Onoldia aber an das 1789 gegründete Corps Guestphalia Halle abgeben müssen. Über diese Datierungsfrage streiten sich die verbandsinternen Historiker heute noch. Dies muss uns nicht weiter interessieren. Wichtig ist, dass Guestphalia zusammen mit einigen anderen Hallenser Landsmannschaften in der 1814 gegründeten Burschenschaft Teutonia aufgegangen ist. Diese Teutonia, die man durchaus als erste Burschenschaft überhaupt bezeichnen kann, hat sich aber schon 1819 auflösen müssen. Das führte dazu, dass sich die jetzt allgemein Corps genannten Hallenser Landsmannschaften neu formieren konnten.

Für die weitere Studentengeschichte wichtigere Ereignisse haben in Jena stattgefunden. An dieser nach Göttingen zweitgrößten deutschen Universität gab es zum Beginn des 19. Jahrhunderts einen Senioren-Convent. Er wurde aus den neuen Landsmannschaften Curonia, Franconia, Saxonia, Thuringia und Vandalia gebildet. Viele ihrer Angehörigen haben sich in den Reihen des Lützowschen Freikorps an den Befreiungskriegen beteiligt. Dieses besondere Kriegserlebnis hat sie offensichtlich bewogen, den Jenaer Senioren-Convent aufzulösen, um auf Anraten ihrer Professoren eine allgemeine Burschenschaft zu bilden.

Burschenschaft und Burschenschaften

Am 29. Mai 1815 löste sich der aus den Landsmannschaften Curonia, Franconia, Saxonia, Thuringia und Vandalia bestehende Senioren-Convent Jena auf und beschloss, »eine Verbindung unter dem Namen einer Burschenschaft zu gründen«.12 Die Burschenschaft erhielt eine in den Farben Schwarz, Rot und Gold gehaltene Fahne und sollte auf die »Belebung deutscher Art und deutschen Sinnes hinwirken«, »deutsche Kraft und Zucht erwecken«, »die vorige Ehre und Herrlichkeit unseres Volkes wieder fest zu gründen und es für immer gegen die schrecklichste aller Gefahren, gegen fremde Unterjochung und Despotenzwang zu schützen«.

Wussten die Mitglieder der Burschenschaft wirklich, was sie da alles forderten? Da sind einige Zweifel angebracht. Waren doch die meisten ihrer Gebote mit Verboten verbunden, die sie keineswegs alle gutheißen konnten. Dies gilt schon für die Forderung, »deutsche Art und Sitte« wieder zu beleben. Das Gebot, möglichst nur deutsche Bücher zu lesen, deutsche Lieder zu singen und generell möglichst nur die deutsche Sprache zu verwenden, war nämlich mit dem Verbot verbunden, die Kultur und die Sprache anderer Nationen zu pflegen und zu schätzen. Das Gebot, die »deutsche Kraft und Zucht« (zum Beispiel durch das Turnen) zu stärken, war mit der Forderung verbunden, auf das Fechten, Saufen und den vorehelichen Geschlechtsverkehr zu verzichten.13

Unklar war, was mit der Forderung, die »vorige Ehre und Herrlichkeit unseres Volkes wieder fest zu gründen«, gemeint war. Konkret: Sollte das 1806 schmählich untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation wiederhergestellt werden oder ein neues Deutschland in welcher geografischen Gestalt und politischen Verfasstheit geschaffen werden? »Gegen fremde Unterjochung«, womit die französische Besetzung großer Teile Deutschlands gemeint war, musste man sich nach den Befreiungskriegen nicht mehr schützen. Wohl aber gegen den »Despotenzwang« der Mächte der Heiligen Allianz. Doch das wagte man nicht deutlich auszusprechen.

Hinzu kommt, dass die Studenten mit diesen politischen Forderungen und pathetischen Worten nur die Ideologien und Gedanken ihrer Professoren nachplapperten. Gemeint waren Ernst Moritz Arndt, Johann Gottlieb Fichte, Jakob Friedrich Fries und Friedrich Ludwig Jahn. Nur die Gestaltung und Farbe der neuen schwarz-rot-goldenen (Verbindungs-) Fahne scheint von den Studenten erfunden worden zu sein. Doch woher hatten sie diese Idee?

Nach der Meinung einiger Fachhistoriker haben die Angehörigen der Jenaer Burschenschaft die schwarz-rot-goldenen Farben den ebenfalls in Schwarz, Rot und Gold gehaltenen Symbolen und Wappen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation entlehnt. Damit hätten sie ihr Bestreben verdeutlichen wollen, dieses 1806 schmählich untergegangene Reich wiederherstellen zu wollen. Davon kann keine Rede sein. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war kein Nationalstaat, verfügte über keinerlei schwarz-rot-gold gehaltenen nationalen Symbole und sollte von wirklich keinem der deutschen Nationalisten des 19. Jahrhunderts wieder zum Leben erweckt werden.

Einige Historiker vertreten eine andere These: Die schwarz-rot-goldenen Farben der Jenaer Burschenschaft seien eine Reminiszenz an die schwarzen und mit roten und goldenen Litzen und Paspelierungen versehenen Uniformen der Lützowschen Freikorps, in deren Reihen verschiedene Jenaer Studenten gegen die Franzosen und für die Freiheit der Deutschen gekämpft hatten. Mir erscheint diese Erklärung viel zu kompliziert, um glaubhaft zu sein. Ich favorisiere eine einfachere, aber gerade deshalb auch einleuchtendere: Die Farben Schwarz, Rot und Gold symbolisieren die Grundfarben der vorherigen Jenaer Landsmannschaften der Thüringer und Vandalen. Doch lassen wir das und kommen auf die kurze Geschichte der Jenaer Burschenschaft zu sprechen.

Der Vorstand der Jenaer Burschenschaft hat im Frühjahr des Jahres 1817 die Vorsitzenden der auch an anderen Universitäten nach dem Vorbild der Jenaer gebildeten Burschenschaft sowie anderer noch bestehender Landsmannschaften zu einem Treffen eingeladen, um gemeinsam das weitere Vorgehen zu beraten. Der Jenaer Einladung folgten neben einigen Professoren über 400 Studenten aus 13 Universitäten.14 Sie versammelten sich am 18. Oktober 1817 in Eisenach und auf der Wartburg und verabschiedeten ein politisches Programm. Kernpunkte waren die Herstellung der Einheit Deutschlands, die Gewährung von Freiheitsrechten und die Umwandlung der bisherigen absolutistischen in konstitutionelle Monarchien. So weit, so gut.

Nicht gut war, dass nur Bürger christlichen Glaubens und, was immer das auch sein sollte, »deutscher Abstammung« in den Genuss der bürgerlichen Freiheitsrechte kommen sollten. Überhaupt nicht gut, sondern geradezu abscheulich war, wie diese politischen Forderungen zum Ausdruck gebracht wurden. Haben doch einige besonders antisemitisch und nationalistisch eingestellte Teilnehmer am Wartburgfest die Bücher von Autoren jüdischen Glaubens, anderer nationaler Herkunft und toleranter Gesinnung verbrannt.15 Zu den wenigen Zeitgenossen, die diese symbolhafte Handlung verstanden, gehörte Heinrich Heine. Warnend hat er darauf hingewiesen, dass, »wo man Bücher verbrennt, man am Ende auch Menschen verbrennt«. Heine fürchtete sich vor dem »Tag, wo sie (= die Anhänger des von ihm kritisierten »Teutomanismus«) zur Herrschaft gelangen« werden. Denn dann werde, »wer nur im 7. Glied von einem Franzosen, Juden oder Slawen abstammte (…) zum Exil verurteilt« werden.16 Doch so weit war man noch nicht.

Nur eine studentische Gruppe hat wirklich die Einheit Deutschlands und die Freiheit der Deutschen mit gewaltsamen Mitteln erreichen wollen. Dies waren die sogenannten »Gießener Schwarzen«.17 Dabei handelte es sich um einen studentischen Geheimbund, der aber seinen revolutionären Worten keine revolutionären Taten folgen ließ – trotz des schrecklich schaurigen und unfreiwillig komischen Mottos der »Gießener Schwarzen«: »Im Herzen Muth, Trotz unterm Huth, am Schwerte Bluth, macht alles Gut.« Nur wenige Jahre nach ihrer Gründung im Jahr 1814 haben sich die »Gießener Schwarzen« wieder aufgelöst.

Karl Follen, der dem Geheimbund der »Gießener Schwarzen« angehört hatte, wollte sich mit diesem ziemlich ruhm- und tatenlosen Ende nicht zufriedengeben.18 Er forderte weitere Burschenschafter dazu auf, die von den »Gießener Schwarzen« nur propagierten Taten auch zu begehen.19 Dies in einem von ihm verfassten und vorgetragenen Gedicht, in dem es unter anderem hieß: »Nieder mit Thronen, Kronen, Frohnen, Drohnen und Baronen!«

Das konnte man als Aufforderung zum Tyrannenmord verstehen. Der Theologiestudent Karl Ludwig Sand, der sich von seiner Erlanger Landsmannschaft abgewandt hatte, um sich der Burschenschaft anzuschließen, hat das auch so verstanden.20 Der zwar politisch radikale, geistig aber auch etwas einfältige Sand suchte sich den drittklassigen Schriftsteller August von Kotzebue für seinen Tyrannenmord aus. Kotzebue wurde von ihm ermordet, und Sand wurde hingerichtet.21 Beides fand im Jahr 1819 statt und wurde zum Anlass genommen, das Verbot der Burschenschaft zu begründen.

Erlassen wurde das Verbot von dem in Karlsbad tagenden Bundestag (dem die Vertreter der damaligen Länder des Deutschen Bundes angehörten) und durchgesetzt wurde es durch eine Art »Bundespolizei«22, die in Mainz beheimatete »Zentraluntersuchungskommission«. Diese leitete und koordinierte die Verfolgung der sogenannten »Demagogen« in den einzelnen Ländern des Deutschen Bundes. Zu diesen »Demagogen« wurden neben Studenten auch jene Professoren gezählt, die verdächtigt wurden, burschenschaftliche Ideen zu verbreiten.

Eigentlich war das förmliche Verbot der Burschenschaft nicht mehr nötig. Hatten doch schon vorher verschiedene Studenten die Burschenschaft wieder verlassen. Warum? Weil sie Verfolgungsmaßnahmen der Behörden fürchteten, sagen die meisten Historiker. Einige wenige, zu denen ich mich zähle, meinen dagegen, dass die Studenten deshalb aus der an einigen wenigen Universitäten gebildeten Burschenschaft ausgetreten sind, um sich wieder voll und ganz ihren studentischen Lieblingsbeschäftigungen wie Fechten, Saufen und Singen zu widmen. Sicher, das ist eine sehr banale Erklärung. Oftmals enthält das Banale aber die Wahrheit.

Das allgemeine Burschenschaftsverbot ist erst 1848 aufgehoben worden. An einigen Universitäten ist es aber schon vorher gelockert worden. Dies ermöglichte die Gründung von neuen Burschenschaften.23 Die neuen Burschenschaften, von denen es an einer Universität mehrere gab,24 können in die politisch aktiven und – angeblich – revolutionär gesonnenen »Germanen« und die eher reformerisch eingestellten »Arminen« unterschieden werden. Revolutionäre Taten haben weder Arminen noch Germanen vollbracht.