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Poul Nørgaard

Lone in Italien

 

Saga

1

Lone schlüpfte in ihren Morgenrock und öffnete die Balkontür. Im ersten Augenblick stand sie überwältigt da, dann rief sie: „Kirsten! Komm mal schnell!“

„Was ist denn?“ fragte Kirsten schläfrig vom Bett her. Sie erhielt keine Antwort. Lone war stumm vor Entzücken über den hinreißenden Anblick, der sich ihren Augen bot: In strahlender Morgensonne hoben sich die schneebedeckten Gipfel der Alpen gegen den wolkenlos blauen Himmel ab.

Kirsten kletterte widerwillig aus dem Bett und ging auf bloßen Füßen zu ihrer Freundin hinaus. „Was ist denn los? Warum jagst du mich aus dem Bett?“ Sie rieb sich die Augen. — „Du meine Güte!“

„Ist das nicht herrlich?“

„Jaja, sehr schön, aber so entsetzlich hoch! Wie in aller Welt kommen wir über diese Berge?“ Kirsten schüttelte sich und unterdrückte ein Gähnen.

„Na, du hast aber komische Vorstellungen“, antwortete Lone, enttäuscht über die nüchterne Bemerkung der Freundin. „Wir fahren natürlich nicht über die Gipfel, sondern über die Pässe, und die liegen viel tiefer. Da gibt es richtige Straßen und Wege. — Aber siehst du denn überhaupt nicht, wie zauberhaft schön das Gebirge ist? Sieh doch nur die Farben. Angefangen von den kalten blauen Schatten bis zu einem warmen rosenroten Schimmer. Schau mal dort . . .“ Doch Kirsten war schon wieder auf dem Weg in ihr molliges Bett.

Wenig später ging die Tür auf, und Kirstens Mutter trat ein. „Na, jetzt hört sich aber alles auf, Kinder! Seid ihr noch nicht angezogen?“

„Wie spät ist es denn?“ fragte Kirsten.

„Gleich halb acht. — Hat man euch nicht geweckt?“

„Doch“, gab Lone zu. „Aber ich war von der herrlichen Aussicht so angetan, und da . . .“

„Und da hast du die Zeit vergessen“, lächelte Frau Winge. „Das kann ich noch verstehen. Aber was ist mit dir, Kirsten? Du liegst ja noch immer in den Federn! — Beeilt euch jetzt wenigstens ein bißchen. Wir haben doch gestern abend verabredet, daß wir um acht Uhr fahren wollen. Und frühstücken wollt ihr ja wohl auch noch.“

Jetzt kam Bewegung in die beiden Mädchen. Sie zogen sich in Windeseile an, denn Kirstens Vater, Gutsbesitzer Winge, wartete nicht gern, und das Frühstück wollten sie sich bestimmt nicht entgehen lassen. So ein richtig leckeres Frühstück mit dampfend warmem Kaffee und Semmeln und Hörnchen, Marmelade und Honig; ach, das war eigentlich der größte Genuß, wenn man im Hotel wohnte, fanden sie; und hier war sicher auf der Terrasse gedeckt, wo sie auch gestern Abendbrot gegessen hatten. Allerdings war es schon so dunkel gewesen, daß man die Aussicht nicht mehr genießen konnte. Am Frühstückstisch wurde dann immer die Tagesroute endgültig festgelegt, und man einigte sich darüber, welche Sehenswürdigkeiten besichtigt werden sollten. Es war richtig spannend, mit zu Rate gezogen zu werden, während alle interessiert über die Autokarte gebeugt waren.

Heute gab es allerdings nicht viel zu besprechen, das wußten sie. Man hatte im Hotel „Paradies“ in Weggis übernachtet, und von dort über den Sankt-Gotthard-Paß gab es nur einen Weg.

„Es ist beinahe nicht zu fassen, daß wir heute schon nach Italien kommen sollen“, sagte Lone, als sie mit Kirsten die Treppe hinunterlief.

Die Fahrt durch Nordwestdeutschland, Holland, Belgien, Luxemburg, Frankreich und die Schweiz hatte nur vier Tage gedauert, und vor nur acht Tagen hatten sie noch auf Ravenstrup gesessen und sich die Zeit nicht zu vertreiben gewußt, weil es in einem fort regnete. Um die Vorfreude waren sie daher betrogen worden. Alles war so schnell gegangen, daß sie kaum Zeit gehabt hatten, ihre Siebensachen zusammenzusuchen.

Wie das zuging, ist schnell erzählt: Lone war, wie schon so oft, eingeladen worden, ihre Sommerferien bei ihrer besten Freundin, Kirsten Winge, auf Ravenstrup zuzubringen. Aber als die Ferien anfingen, war das Wetter geradezu miserabel, der Himmel unentwegt grau, und es regnete Tag für Tag. Das Barometer stand tief und zeigte nicht die geringste Lust, sich auch nur einen Millimeter vom Fleck zu bewegen. Wahrscheinlich war dies auch die Ursache für Herrn Winges schlechte Laune, denn er pflegte sonst immer gut aufgelegt zu sein. Selbst sein Jugendfreund, Magister Jochumsen, der während der Ferien ebenfalls zu Besuch war, vermochte ihn nicht aufzuheitern.

Am vierten Abend nach Lones Ankunft spielten Kirsten und der Magister Rommé. Der Wind hatte sich gedreht und blies nun so kalt aus dem Osten, daß Frau Winge das Dienstmädchen gebeten hatte, im Kamin Feuer zu machen. Dort saß sie nun vor den knisternden Holzscheiten, hatte sich eine Decke um die Beine geschlagen und strickte, als ihr Mann zusammen mit dem Verwalter von einem Abendrundgang durch die Felder heimkehrte.

„Hat man je einen ähnlichen Sommer erlebt? Und auf diese Zeit freut man sich nun das ganze J — Ja — tschi! — Hatschi! — Verfl ... hatschii!“

„Du wirst dich doch nicht erkältet haben, Paul?“ fragte seine Frau, ohne von ihrem Strickzeug aufzusehen.

Der Gutsbesitzer putzte sich dröhnend die Nase. „Das ist leicht möglich, bei der Kälte! Man lechzt ja geradezu nach einem Sonnenstrahl.“ Er setzte sich und streckte die Beine zum Kamin hin. „Wirklich allerhand, daß man Ende Juni gezwungen ist, Feuer zu machen.“

Seine Frau begnügte sich mit einem Nicken, sie war gerade beim Maschenzählen.

„Fährst du morgen früh in die Stadt?“ fragte Herr Winge.

„Acht — neun — zehn, nein, elf — zwölf.“

„Warum denn nicht?“

„Sechzehn — siebzehn, weil es regnet.“

„Hast du vielleicht vor, zu warten, bis es aufhört?“

„Einundzwanzig — zweiundzwanzig, da, jetzt bin ich durcheinandergekommen.“

„Das ist doch nicht weiter verwunderlich, wenn du beim Stricken gleichzeitig eine Illustrierte liest.“

„Illustrierte? Das ist eine Strickanweisung zu einem Pullover für Kirsten.“

„Sieht er nicht prima aus, Vater?“ Kirsten erhob sich und reichte ihm das Heft.

„Reizend, wirklich reizend. Ja, so gut müßte man es auch haben.“ Sein Blick war auf ein farbenfreudiges Ferienbild gefallen, das neben der Strickvorlage abgedruckt war. Es zeigte einen italienischen Weinbauern, der rittlings auf einem Esel saß und in der brütenden Sonne gemächlich einen idyllischen Bergweg hinunterritt, während seine Frau, mit einem großen Korb Weintrauben auf dem Kopf, hinter ihm drein trottete.

Von diesem Moment bis jetzt, wo sie sich am Fuße der schweizerischen Hochalpen nördlich der italienischen Grenze befanden, war nicht viel mehr als eine Woche vergangen.

Es war alles wie ein Sturmwind gekommen. Noch am gleichen Abend hatte Herr Winge Lones Vater angerufen, um ihn in die Pläne einzuweihen und seine Einwilligung zu erhalten. Außerdem sollte er ihren Paß schicken. Und dann gab es mehr als genug zu tun. Herr Winge mußte seinen internationalen Führerschein erneuern lassen, Devisen kaufen, den Wagen von A bis Z nachsehen lassen. Die

Kleider mußten in Ordnung gebracht und die Koffer gepackt werden, und zwischendurch wurde die Karte studiert und der Reiseweg besprochen.

Als Lone und Kirsten an diesem Morgen auf die Terrasse hinunterkamen, waren Herr Winge und Magister Jochumsen schon mit ihrem Frühstück fertig und rauchten bereits ihre Zigarren.

„Aha, die Siebenschläfer.“ Der Magister schielte über seine Brille. „Ihr seht mir so verschlafen aus. Hört mal her, was ich mir überlegt habe, während ihr auf euren grünen Ohren geschnarcht habt.“

„Nein“, unterbrach ihn der Gutsbesitzer und erhob sich. „Komm du nur mit, Jochumsen, du hältst die Mädchen bloß auf. Es wird langsam Zeit, fortzukommen. Ich werde die Hotelrechnung bezahlen, und dann wären wir wohl soweit.“

Die Mädchen beeilten sich sehr mit ihrem Frühstück, und Lone biß gerade in ihr zweites Brötchen, als Jochumsen wieder auf der Terrasse erschien. „Die Fahrgäste werden gebeten, ihre Plätze einzunehmen. Wir halten erst wieder bei der Teufelsbrücke.“ Und von den guten Wünschen des lächelnden und dienernden Hotelwirtes begleitet, setzte man sich im Wagen zurecht, und fort ging es, der italienischen Grenze entgegen.