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Poul Nørgaard

Lones Sommerferien

 

Saga

1

Vom frühen Morgen an hatte es in Strömen geregnet, doch im Laufe des Nachmittags lockerten sich die Wolken auf, und die Sonne brach durch. Sie spielte und glitzerte auf dem nassen Asphalt, so daß man fast geblendet wurde.

Und als sollte jetzt ernstlich ein Punkt hinter den Regen gesetzt werden, schloß er mit einem besonders heftigen Schauer und ein paar gewaltigen Donnerschlägen ab. Die Abzugskanäle konnten all das Wasser gar nicht fassen, das wie kleine, reißende Flüsse durch die Rinnsteine schoß.

Ein kleines, zwölfjähriges Mädchen kam aus einem Gemüsegeschäft, in dem es gewartet hatte, bis der Gewitterschauer vorüber war. Es trug eine große Tüte Kartoffeln unter dem einen Arm, und über der Schulter hing an einem Riemen die Schultasche. Während es dem Elternhaus eilig zustrebte, gab es gut darauf acht, mit seinen schlechten Schuhen nicht in die Pfützen zu treten. Obwohl es in umgeänderten Kleidern ärmlich angezogen ging, sah es doch sauber und ordentlich aus.

Zwei gleichaltrige Mädchen in Regenmänteln mit Kapuzen und festen Wanderschuhen kamen den Bürgersteig entlanggeschlendert. Sie waren mit einer großen Tüte Süßigkeiten beschäftigt. Als sie ihre Schulkameradin erblickten, die aus dem Gemüseladen kam, steckten sie kichernd die Köpfe zusammen. Einen Augenblick später beschleunigten sie ihre Schritte.

„Was hast du da in der Tüte?“ fragte die eine, als sie mit dem Mädchen auf gleicher Höhe waren.

„Kartoffeln“, antwortete die Kleine munter. „Ich soll nämlich heute für das Mittagessen sorgen. Frau Hansen ist krank.“

„Was werdet ihr denn zu Mittag essen?“

„Ich koche Reste — das ißt Vater so gern.“

„Reste“, schnaufte die Kameradin verächtlich. „Brrh! Ich kann so einen aufgewärmten Mischmasch nicht ausstehen. Mir dürften sie das zu Hause nicht vorsetzen. — Warum hast du keinen Regenmantel an?“

„Weil ich keinen habe.“

„Na, deshalb. Wir glaubten schon, du wolltest nur dein Pariser Modellkleid nicht verstecken.“ Sie sah geringschätzig an dem schäbigen Kleid der anderen hinab. „In welchem Modehaus hast du das Kleid übrigens gekauft?“

Lone bekam einen roten Kopf, aber sie antwortete tapfer: „Es ist nicht gekauft. Frau Hansen hat es für mich geändert.“

„Ih, daß du in solchem alten, abgelegten Zeug herumlaufen magst! Dazu würde mich bestimmt niemand bringen. Was meinst du, Else? Würdest du mit so einem alten, häßlichen Kleid gehen?“

„Nein, und wenn sie mich von Kopf bis Fuß vergoldeten“, antwortete Else überlegen. „Ich habe gerade ein feines neues Kleid für die Sommerferien bekommen.“

„Ich habe zwei neue gekriegt“, bemerkte Grete, begeistert, daß sie die Freundin überbieten konnte. „Und am Samstag wollen Mutter und ich ins Kaufhaus gehen und einen richtig feschen Badeanzug für mich kaufen. — Wo wirst du in den Ferien eigentlich hinreisen, Lone?“

Es zuckte ein wenig in Lones Mundwinkeln. „Ich werde sicher gar nicht wegfahren. Vater bekommt erst im September Urlaub, und er sagt, wir können uns gar keine Reise leisten.“

„Na, weißt du“, antwortete Grete. „Dein Vater sollte sich lieber nicht beklagen. Was hätte er anfangen sollen, wenn mein Paps sich nicht um ihn gekümmert und ihm eine Stellung gegeben hätte? Du glaubst doch wohl nicht, daß sonst jemand einen Kaufmann bei sich im Büro einstellen würde, der Pleite gemacht hat. Paps sagt auch, daß dein Vater eigentlich mehr Lohn bekommt, als er wert ist.“

„Das ist nicht wahr!“ Lone sah Grete mit blitzenden Augen an. „Vater ist tüchtig, und ich weiß gut, warum er sein Geschäft verkaufen mußte.“

Grete blieb stehen. „Dann sag es! Sag es, wenn du dich traust!“ Und als Lone schwieg, fuhr sie höhnisch fort: „Also, du traust dich nicht. Denn du weißt genau Bescheid. Mein Vater war nämlich tüchtiger und fleißiger als deiner. Dein Vater sollte dankbar dafür sein, daß mein Vater ihm den ganzen alten Kram abgekauft und ihm eine gute Stehlung als Buchhalter in seinem Geschäft gegeben hat. Er sollte sich lieber freuen als sich beklagen. Und das solltest du übrigens auch“, fügte sie hinzu. „Sonst hättet ihr betteln gehen können, sagte Paps.“

Lone fühlte sich tief unglücklich über die Quälereien der Freundinnen, und schließlich konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. „Oh, wie seid ihr gemein!“ schluchzte sie. „Warum könnt ihr mich nicht in Frieden lassen? Laßt mich doch in Ruhe, ich habe euch nicht beleidigt.“

„Du wirst dir doch nicht gefallen lassen, daß sie so was zu dir sagt, Grete“, flüsterte Else. „Gib’s ihr nur. Das schadet ihr gar nichts.“

„Bin ich gemein?“ ereiferte sich Grete. „Paß ein bißchen auf, was du sagst, sonst erzähle ich es meinem Vater. Du brauchst dich gar nicht so aufzublasen.“

Mit diesen Worten gab sie Lone einen Schubs, so daß ihr die Tüte hinfiel und die Kartoffeln nach allen Seiten in die Pfützen auf der Fahrbahn kullerten.

Blind vor Zorn und Eifer sprang Lone auf die Straße, um die Kartoffeln zu retten. In diesem Augenblick kam ein großes, schneidiges Auto mit hoher Geschwindigkeit angefahren.

Der Chauffeur bremste hart und riß den Wagen zur Seite. Es glückte ihm mit Mühe und Not, einen Unfall zu vermeiden, doch der Wagen fuhr so dicht an Lone vorbei, daß sie von Kopf bis Fuß mit schmutzigem Wasser bespritzt wurde.

Grete und Else, die trotz all ihrer Wichtigtuerei mit Schrecken gesehen hatten, was dort vor sich ging, machten schleunigst auf dem Absatz kehrt und liefen die Straße hinunter.

Ein großer, sonnverbrannter Mann in heller Sommerkleidung stieg jetzt aus dem Wagen und half Lone schnell auf die Füße. „Du hast dir hoffentlich nicht weh getan?“ fragte er freundlich und fuhr ihr über die nassen Locken.

„Ne — ne — nein“, schluchzte Lone und blickte unglücklich an ihrem triefenden Kleid hinab.

„Wie ging das zu?“ fragte der Herr den Chauffeur.

„Es war nicht meine Schuld, Herr Winge. Die beiden“ — er zeigte in Richtung auf Grete und Else, die schon ein gutes Stück weit fort waren und noch immer liefen — „stießen sie auf die Fahrbahn, soviel ich sehen konnte.“

Der Mann wandte sich wieder an Lone. „Na, ein Glück, daß du unverletzt davongekommen bist, Kind. Aber dein hübsches Kleid hat ja ordentlich was abbekommen. Und deine Kartoffeln erst! — Nein, laß sie nur liegen“, fügte er hinzu, als Lone sich erneut bückte, um sie aufzusammeln. „Wir kaufen lieber noch mal ein, nicht? Und ein neues Kleid mußt du ja auch haben. Wo wohnst du?“

„In der Bürgermeisterstraße 17“, antwortete Lone und fügte hinzu: „Vater ist nicht zu Hause, er kommt erst gegen sechs.“

„Na, dann eben deine Mutter.“

Lone neigte den Kopf. „Mutter ist tot“, antwortete sie still.

Herr Winge strich ihr über das Haar. „Ist denn bei euch niemand zu Hause, mit dem ich reden kann?“ fragte er freundlich.

Lone schüttelte den Kopf.

Er dachte einen Augenblick nach, dann fragte er:

„Wie heißt du?“

„Lone.“

„Lone. — Das ist ein hübscher Name. Hör mal zu!“ Er zog lächelnd ein weißes Taschentuch aus der Tasche und reichte es ihr. „Ich heiße Paul Winge und bin Landwirt. Jetzt trockne nur erst mal deine Tränen; dann kaufen wir eine Tüte Kartoffeln, und danach fahren wir zu einem Geschäft und kaufen ein neues Kleid für dich, denn du sollst doch sicher schnell nach Hause kommen?“

Lone versuchte ein bißchen zu lächeln. „Nee, ich soll nur zeitig genug zu Hause sein, um Essen kochen zu können, bis Vater heimkommt.“

„Essen kochen?“ Gutsbesitzer Winge sah sie erstaunt an. „Kochst du denn das Essen selbst?“