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Franz Braumann

Die Feuer der Wildnis

Zeichnungen von Kajo Bierl Loewe

Saga

Hinter den letzten Rändern der Welt

„All devils, ich hab’ ihn gefunden!“

George Mac Lean stapfte mit seinen klirrenden Sporen in die niedrige Wellblechbaracke, in der seit länger als einem Jahr die Familie Sattler hauste. Er warf seinen breitkrempigen, lederumsäumten Cowboyhut mit einem Schwung an den Wandhaken und hielt ein flatterndes Zeitungsblatt hoch.

Die Sonne war bereits hinabgesunken. In dem niedrigen Raum begann es dämmrig zu werden. Es war neun Uhr abends, aber zu dieser Zeit im Juni wollte es fast nicht mehr Nacht werden.

Die Familie Sattler saß um den Tisch beim einfachen Abendessen versammelt, denn erst um diese späte Zeit gelang es Frau Bärbi, alle ihre Lieben ins Haus zu bringen. Peter Sattler erhob sich und streckte sich in seiner gewaltigen Länge.

„Nimm Platz, Mac, und spann uns nicht lang auf die Folter! Was hast du gefunden?“

Aber Mac Lean, der ausgedörrte, stets fröhliche „Cowboychief“, trappte immer noch über die quietschenden Bodenbretter auf und ab. Er murmelte irgendeinen ausgelaugten Fluch vor sich hin und schlug immer wieder auf das verknitterte Zeitungsblatt.

„Was ich gefunden habe? Meinen neuen, meinen endgültigen Job! Und hast du nur etwas Grütze im Kopf, so muß es auch der deine werden, understanding, Peter, old Farmer?“

Peter Sattler war fast um einen Kopf größer als Mac Lean. Aber an Beweglichkeit konnte er sich mit Mac nicht messen. Auch jetzt griff er nur zögernd nach dem Zeitungsblatt, das ihm der Freund entgegenhielt. „Wie sieht dein neuer Job aus? Laß mal sehen“, brummte er gutmütig.

Er las langsam den Titel der Zeitung: „ ,Quesnel News‘, ein Provinzblatt! Quesnel – Quesnel – nie gehört von diesem Kaff. Liegt das überhaupt noch in Kanada?“

„Lies weiter, alter Bär!“ drängte Mac Lean und wies auf eine bestimmte Stelle der Zeitung.

„Langsam, langsam!“ Peter Sattler hatte erst als Erwachsener die englische Sprache erlernt und las halblaut Wort für Wort des Textes:

„. . .es fehlen die Pioniere, die bereit wären, sich einmal genauer jenseits des Jawnie-Gebirges umzusehen. Jack Bondy, unser Gewährsmann, watete tagelang mit seinem Pferd bis zum Bauch im saftigsten Berggras, um das sich niemand kümmert als die Elche und etwa im Winter die Karibuherden, die aus dem Rainbow-Gebirge und dem Coast Range herabziehen. Es ist niemand mehr bereit, hinter den letzten Rändern der Welt sein Glück zu suchen . . .“

Peter Sattler ließ das Blatt sinken und sprach die Worte noch einmal: „. . .hinter den letzten Rändern der Welt . . .“

Mac Lean stieß ihn ungeduldig an. „Begreifst du endlich, was ich meine?“

Sattler schüttelte langsam den Kopf. „Sein Glück – sein Glück! Mein Glück werde ich doch niemals mehr erreichen. Ein freier, unabhängiger Bauer, meinetwegen ein Farmer oder Rancher, wie man es eben nennen will, wieder einmal zu sein, der über den eigenen Grund geht und das eigene Vieh auf die Weide treibt!“ Über sein Gesicht legte sich ein trauriger, schwermütiger Ausdruck.

Indessen hatte die ganze Familie Sattler sich vom Tisch erhoben und war zu den beiden Männern getreten. Bärbi Sattler, die Frau, blickte besorgt auf ihren Mann. Wenn sein Gesicht sich umdüsterte, dann war er oft tagelang nicht aus seiner Schwermut zu rütteln. Die drei Kinder der Sattlers aber trieb die Neugierde herbei: Bill und Peer, die Brüder mit ihren sechzehn und fünfzehn Jahren, trugen selber schon Cowboykleidung; Rossy, die zwölfjährige Schwester, war diesmal vorzeitig in die Ferien heimgekommen. Die beiden Lehrerinnen der Schule in Nelson Creek hatten überraschend nach dem Osten, irgendwo nach Alberta hinüber, geheiratet, und die Schule war plötzlich ohne Lehrer gewesen. Na, die Mädels waren darüber nicht traurig und hatten jubelnd die weit verstreut auf den Farmen und Viehranches lebenden Eltern verständigt. Auch Rossy war heute schon am Morgen in ihre Reithosen geschlüpft.

Nun blickten alle drei Kinder gespannt auf den Besucher und Freund des Vaters.

Auch Mac Lean fühlte, was er bei Peter Sattler wieder angerichtet hatte. Er zog ihm das Zeitungsblatt aus der Hand. „Setzt euch um den Tisch, dann will ich alles so haarklein erklären, daß es auch in Peters alten Grips hineingeht!“

Frau Sattler trug die Reste der Abendmahlzeit fort und schaltete das Licht an. Doch die Lampe an der Decke gab nur einen matten, roten Schein. Mac Lean schlug mit der Faust auf den Tisch. „Verdammt, der Mann am Generator ist wieder eingeschlafen! Habt Ihr keine andere Lichtquelle, Lady Sattler?“

Lächelnd steckte die Frau eine Petrolgaslampe an. Mit einem leisen Knall entflammte sie und waberte dann weiß und zischend um den Brenner.

„Das ist wenigstens ein Licht, werden es bald wieder ständig brauchen!“

Die Sattlers verstanden nicht, was er damit meinte, aber sie folgten gespannt jeder Bewegung Mac Leans, der nun eine Landkarte aus seiner weiten Lederjacke zog und diese auf dem Tisch ausbreitete. Auf ihr war das ganze Land Britisch-Kolumbien, von den Rocky Mountains im Osten bis zum blauen Pazifik im Westen, von Vancouver im Süden bis zum Yukon Territory im Norden, ziemlich genau eingezeichnet.

„Wo sitzen wir jetzt? Na, zeig es schon uns alten Knaben, Rossy!“ forderte er die Jüngste der Familie auf.

Das Mädchen fand sich sogleich zurecht. Sie wies auf ein lang hingezogenes, schmales Gewässer und las halblaut: „Lower Arrow Lake.“ Dann blieb ihr Finger auf dem Namen „Broadwater“ liegen.

„Es stimmt: Broadwater am Unteren Arrowsee! Eine gottverlassene Gegend, unsere Rinderfabrik Perkins and Sons! Aber irgendwo muß eben der Mensch hausen, solang er nichts Besseres weiß.“

Peter versuchte, seine bitteren Erinnerungen, die ihm wieder einmal gekommen waren, zurückzudrängen.

„Na, schieß schon los! Wo liegt dieses Eldorado, dieses Goldland, von dem du plötzlich so entflammt bist?“

„Goldland!“ Mac Lean schüttelte geringschätzig den Kopf. „Das ist vorbei! Mir erscheint Weideland sicherer.“

Sattler schaute immer noch ungläubig auf Mac.

„Möchtest du mich als Cowboy etwa noch weiter nach Westen locken, hinter die letzten Ränder der Welt?“

Diesmal achtete Mac Lean gar nicht auf den neuen Einwurf. Er glättete die Karte und schob sie näher ans Licht.

„Nun, Rossy, unsere junge Wissenschaftlerin, zeig uns mal Quesnel, die Stadt, die so interessante Nachrichten druckt!“

Alle fünf Augenpaare der Sattlers suchten über die Karte hin. Vancouver, Kamloops, Kitimat im fernen Norden fanden sie leicht, auch noch Chilliwack, Prince George und Dawson Creek. Aber wo steckte überhaupt Quesnel?

Mac Lean erlöste die Suchenden. Er fuhr mit seinem harten Finger nach Needles nördlich der Arrow Lakes und ließ ihn nordwestlich weitergleiten nach Vernon, Kamloops, Clinton, Williams Lake am Fraser River und schob ihn langsam nordwärts weiter, bis er auf dem klein gedruckten Namen Quesnel liegenblieb.

Die Freunde blickten sich schweigend an. „Dort hinauf willst du gehen?“ fragte Peter Sattler endlich ungläubig.

Der Cowboy-chief verzog das Gesicht und hob die Brauen. „Was soll ich in Quesnel? Hinter die letzten Ränder der Welt will ich sehen!“

Und diesmal fuhr sein Finger auf der Karte weiter gegen Westen über ein Land, wo alle Straßen enden, menschenleer, über namenlose Flußläufe, über Gebirge, deren Namen so fremd klangen, als lägen sie seit vielen tausend Jahren verschollen und unentdeckt. Und endlich tauchte ein Wort auf der Karte auf: „Jawnie Mountains“.

Bill und Peer, die Sättlersöhne, hielten den Atem an. In ihren Augen erwachte ein Leuchten, aber sie wagten kein Wort, bevor nicht der Vater gesprochen hatte.

Peter Sattler sprach lange nichts. Er fuhr sich über die Augen und versuchte zu lächeln. „Wäre ich allein wie du, Mac, und um zehn Jahre jünger, dann machte ich vielleicht auch diesen Job noch mit.“ Er blickte auf seine Familie, doch er fand nur bei seiner Frau zögernde Zustimmung.

Bill konnte sich nicht länger mehr zurückhalten. „Die Idee des Chief ist ungeheuer, Vater!“ stieß er erregt hervor.

Peer, der jüngere Bruder, nickte heftig. „Du hast oft davon gesprochen, wie schön es wäre, selber ein freier, unabhängiger Rancher zu sein!“

Mac Lean schlug dem Jungen kräftig auf die Schulter. „Das ist ein Wort, Peer! Du kannst besser werben als der alte Mac.“

Peter Sattler nahm alles noch nicht ernst. Er legte seine Arme um Bärbi, die Frau, und das Mädchen Rossy. „Ach, was die Jungen daherreden! Am liebsten ritten sie gleich weiter bis nach Alaska zu den Goldsuchern und Pelzjägern. Ich habe aber auch Frauen, für die ich sorgen muß.“

Rossy blickte zu ihrem Vater auf. „Wir gehen überallhin mit dir, Dad. Stimmt es, Mammy?“

Frau Sattler sah den Schimmer einer tief vergrabenen Sehnsucht in den Augen des Mannes aufleuchten. Darum hielt sie sich keinen Augenblick zurück und nickte: „Rossy hat recht. Wir gehen mit dem Vater, wohin er will!“

Mac Lean schlug sich vor Freude auf seine ledernen Schenkel. „Hallo, hallo, alter Bär! Du willst wohl nicht allein an dem verdammten Arrow Lake zurückbleiben, he?“

Nein, das wollte Peter Sattler gewiß nicht. Nun ritt er seit zwei Jahren hinter den vieltausend Rindern über die Weiden von Perkins & Sons. Was hatte er dabei herausgeschlagen? Kaum ein paar tausend Dollar auf der Bank in Nelson, obwohl jetzt auch die Söhne mitverdienten und die Frau die Wäscherei für alle zwanzig Cowboys übernommen hatte. Wenn er nicht bald einen besseren Job fand, wurde er hier alt und müde und durfte nur auf eine geringe Rente für sein Alter hoffen.

Aber hier in Broadwater brauchte man ihn und seine Familie wenigstens das ganze Jahr hindurch. Er durfte nicht an die bitteren ersten Winter zurückdenken, in denen er arbeitslos gewesen war. Sollte er diese geringe Sicherheit wegen einer unkontrollierbaren Zeitungsmeldung aufgeben?

Bill spürte, daß er den Vater schon halb gewonnen hatte. „Wir Männer sind stark genug, daß wir uns ein eigenes Blockhaus bauen. Und du sagtest ja oft: wieder einmal ein eigenes Haus besitzen!“

Peter Sattler lächelte jetzt nicht mehr verwundert und nachsichtig über soviel Eifer der Seinen. Wie ein lange unterdrückter Feuersturm brannte der Kummer seines Lebens wieder herauf. Er hatte als selbständiger Bauer seine Jugend im fernen Europa verlebt, war vertrieben worden von Heimatböden und Land und durfte nie mehr zurück. Es gab für ihn nur eine Zukunft: in Kanada eine neue Existenz aufbauen! Er war als Farmarbeiter, als Holzfäller, als Cowboy immer weiter nach Westen gekommen. Zu einem selbständigen Betrieb aber reichte es nicht.

Die Kinder waren alle drei in Kanada geboren. Sie fanden überall rasch Heimat, wohin sie auch zogen. Aber manchmal an den Abenden begann der Vater von einer wirklichen Heimat zu erzählen, eigenem Haus und Feld, eigenen Kühen und Pferden – einer Burg, aus der einen niemand vertreiben konnte. Dann wurde seine Stimme warm, und die Kinder fühlten die Bewegung des Vaters mit heimlichem Beben. Sie begannen zu ahnen, daß jenseits der unbeschwerten Jugend noch viel Großes und Hartes auf sie wartete. Dann befiel Bill und Peer ein wilder Mut, alle verschlossenen Tore vor ihrem Leben aufzustoßen.

Peter Sattlers Stimme war spröde geworden. „Du kannst wie ein Rattenfänger reden, Mac! Aber du hast einiges nur angedeutet, was du in deinem kantigen Schädel als Pläne herumwälzt. Nun ist es soweit, daß du uns alles sagen mußt!“

Über das lederfaltige Gesicht des Chefs der Cowboys bei Perkins & Sons legte sich ein breites Grinsen. „Sogleich sollst du alles hören, Bär. Aber du siehst es ja, die Deinen sind schon so Feuer und Flamme, daß man kaum zum Reden kommt. Sie fassen eben viel rascher auf als du old Europäer!“

Er leckte mit der Zunge über seine Lippen. Frau Bärbi verstand diese Geste sofort und brachte aus der Küche eine Flasche Ale, helles Dünnbier, das jede Woche aus Trail auf die Viehfarm gebracht wurde. Die Petrolgaslampe zischte leise, während George Mac Lean seinen großen Plan ausbreitete.

Mac Lean besaß in seinen Adern noch das unruhige Blut der ersten Pioniere, die vor hundert Jahren nach dem äußersten Westen der Staaten in einem monatelangen Treck gekommen waren. Seine Wiege stand in Wenatchee im Staate Washington. Nach der Schulzeit kam er auf ein großes Handelskontor in Seattle, und eine solide Zukunft als Überseekaufmann bahnte sich an. Auf einer Autoreise über den Alaska Highway bis nach Fairbanks aber erlag er der Verlockung des Nordens. Er ging nach Kanada, verschiffte Getreide, fällte Holz und landete zuletzt als Chef der Cowboys bei Perkins & Sons, die insgesamt stets über zwanzigtausend Rinder auf den Weiden hatten.

Aber auch dieses Jobs wurde Mac Lean allmählich überdrüssig. Er war genug geritten und hatte das Lasso über stürmende Stierherden geschwungen. Nun wollte er endlich einmal auf eigenen Beinen stehen! Hier im Süden von British Columbia war schon jede Quadratmeile Land vermessen und aufgeteilt. Doch droben im Nordwesten, im hochgelegenen, kühlen Land zwischen Rocky Mountains und Küstengebirge lag immer noch der „letzte Rand der Welt“. Einst waren die Indianer alleinige Herren dieser Territorien gewesen. Allmählich schoben sich einige weiße Ranchers in das Sumpf- und Weideland westlich des reißenden Fraser River vor. Doch sie wurden von der unerhörten Weite des Landes verschluckt. Und weil das Leben zweihundert und dreihundert Kilometer von der letzten fahrbaren Straße entfernt hart und einsam war, gab es nur geringen Nachschub. Selbst die Indianer, die Kluskus und Chilcotin, die Nazkos und Ulgatchos, wurden von dem angenehmeren Leben in der Nähe der Zivilisation angelockt, verließen ihre Wildnis und zogen als Arbeiter und Cowboys in die Rancher- und Holzfällersiedlungen der Weißen . . .

Mac Lean nahm wieder einen Trunk aus der Flasche. „Glaubt ihr mir nun, daß das Land dort oben auf uns wartet? Wir brauchen nichts zu tun, als bis zur letzten Ranch zu reisen und die nächste herrenlose Viehweide für uns in Besitz zu nehmen. Der Kaufpreis ist niedrig, und die Behörden tragen unsern Kauf mit Freuden in das Grundbuch von Quesnel oder Williams Lake ein.“

Mac Leans Plan gewann allmählich Farbe und Gestalt. „Allein bin ich ziemlich hilflos und verwildere bald. Aber mit dir und deiner Familie schaffen wir dort oben sogar eine Stadt, wenn es sein muß!“

Bill und Peer standen während Macs Erzählung wie im Feuer. Es zuckte in ihren Beinen, in ihren Händen kribbelte es, als müßten sie schon morgen einen Pfad durch die Tannendikkichte der Jawnie-Berge schlagen, und dahinter lagen die Weiden, durch deren Gras die Pferde „bis zum Bauch“ waten mußten.

Rossy blickte fragend auf ihre Mutter. Mein Gott, sie wird mich doch auch mitkommen lassen und mich nicht wegen der Schule nach Nelson verbannen! dachte sie. Irgendwo würde es auch dort oben eine Schule geben. Und sonst – ach, Rossy fand, daß sie eigentlich schon das meiste wußte, was man so als Frau zu wissen hatte.

Mac Lean hörte endlich zu berichten auf und hob den Kopf. „Unsere Kündigungsfrist ist vierzehn Tage. Wenn wir uns morgen bei Perkins and Sons abmelden, können wir am ersten Juli reisen!“

Peter Sattler saß immer noch wie betäubt da. Wenn er auch im ersten Feuer des Begreifens den Weg zu seinem ersehnten Ziel – wieder ein freier, ungebundener Bauer, ein Rancher, zu werden – vor sich gesehen hatte, so versank dieser doch bald wieder hinter den grauen Nebeln der Ungewißheit und der Lebenssorgen.

„Du sprichst ja, als wartete dort oben schon jedermann auf uns! Man brauchte nur ins Magazin zu gehen um Werkzeug, in den Drugstore um Lebensmittel, und es würde uns auch dies noch nachgetragen hinter deine sieben Berge!“ widersprach er mit halbem Widerstand.

Mac Lean griff wortlos in seine Tasche. „Du verschläfst ja alles, alter Bär!“ Er strich von neuem ein Papier auseinander, eine Liste, wie sich bald herausstellte.

„Ich denke schon seit Wochen an unseren großen Plan. Und wenn ich in der Nacht nicht schlafen konnte, habe ich geschrieben. Lies einmal nach, womit wir uns ausrüsten wollen. Wenn euch noch etwas einfällt, könnt ihr’s ja anfügen.“

Die Sattlers, Eltern und Kinder, beugten sich über das Blatt:

Kleine Motorsäge und Rundsägen aus Schwedenstahl

Zimmermannsäxte und eine breite Fleischeraxt

Meißel, Schmiedehämmer und Brecheisen

Bohrer, Feilen und Nägel verschiedener Größe

Sensen mit Griffen und Wetzsteine

Hufnägel, Raspel und Hufmesser zum Beschlagen der

Pferde

Haken, Ringe und Schnallen für Sättel und Pferdegeschirre

Werkzeug und Leder für alle Reparaturen

Hufeisen, Stollen und Drahtzangen

Das nötigste Küchengeschirr und Wassereimer aus Leder

Verbandszeug und Salben für jede Verwundung

Feuerzeuge, Lampen und Benzin, Petroleum

Gewehre mit Waffenschein und Munition

Kleidung für harte Winter

Streichhölzer, Kerzen, Seife, Waschpulver

Auf einem neuen Blatt hatte Mac Lean begonnen, auch den wichtigsten Proviant aufzuschreiben:

Trockenmilch, Mehl und Dörrobst

Makkaroni, Bohnen, Mais- und Hafermehl

Schokolade, Reis und Käse

Rosinen, Kaffee, Tee und Zucker

Speck, Öl und Suppenwürfel, Hefe

„Das sind ja zwei Lastwagenladungen!“ wagte Peter Sattler einzuwerfen. „Wer soll den Transport bis hinter die Berge bezahlen?“

Mac Lean tat dies mit einer Handbewegung ab. „Du kennst doch meinen Ford. Wenn wir noch deinen Chevrolet beladen, ist alles verstaut, was wir bereits von Broadwater mitnehmen wollen. Das übrige kaufen wir erst in Quesnel ein.“

Peter nickte bereits ergeben. „Und dann fahren wir bis zur letzten Ranch, kaufen Tragpferde . . .“

„Pferde sind dort oben so billig wie . . .“

„Sagen wir, wie Kälber!“ fuhr Peter Sattler fort. „Wir schnüren die Lasten auf fünf Pferde öder mehr und marschieren los.“

Mac Lean riß jetzt Mund und Augen auf. „Was rede ich da noch lange – du weißt doch alles längst so gut wie ich!“

Sattler ließ sich noch immer nicht irremachen. „Eine kleine Rinderherde, fünf oder zehn, handeln wir uns ebenfalls ein. Und drüben bauen wir zuerst ein Gehege für die Kühe, damit sie uns nicht in den Wald laufen.“

„Woher hast du das?“ schnappte Mac nach Luft.

„Ich bin doch Bauer!“ nickte Sattler. „Mir steckt das Siedeln im Blut.“ Er fuhr mit der Planung fort: „Zuerst schlafen wir noch in Zelten, es ist ja Sommer, und der Heuschnitt für den Winter ist wichtiger als bequemes Wohnen. Später im Herbst wissen wir längst den günstigsten Platz zum Bauen. Bärbi wird lang genug auf eine richtige Küche warten müssen. Aber im Herbst ist das Holz zum Bauen am haltbarsten.“

Mac Lean schüttelte immer noch den Kopf. Ehrlich erschüttert schob er seine beiden Hände dem Freund entgegen. „Peter, wenn du mitgehst, was soll uns da mißlingen?“ Er blickte die Sattlerfamilie an. „Ihr braucht mich gar nicht dort oben; ihr könnt euch doch in allem allein helfen. Jetzt ist an mir die Reihe zu bitten: Laßt mich mit euch ziehen!“

Bärbi und die Kinder hatten staunend auf den Vater gesehen. Wohin war alles Zögern, alle verdeckte Schwermut gekommen? Sie sahen auf einmal einen andern, einen neuen Menschen vor sich. Sein ruhiges Auge, seine fest und sicher auf dem Tisch ruhenden Fäuste schenkten auch ihnen Zuversicht, die länger halten würde als jähe Freude. Sie schwiegen mit glänzenden Augen.

Peter Sattler schaute verwundert um sich. „Na, was habt ihr auf einmal? Ihr seht mich an, als kenntet ihr mich erst seit heute?“

Die Frau nickte. „Das ist auch wahr, Peter. Du bist jetzt ein anderer.“

„Ein anderer? Der Richtige werde ich, seit ich spüre, daß ich wieder dahin kommen soll, wohin ich gehöre: auf den eigenen Grund und Boden!“

„Ja, Vater. Wir reisen also?“ fiel Bill schnell und erregt ein. Peer nickte heftig dazu, und Rossy bekam feuchte Augen vor Erwartung und Freude.

Peter Sattler erhob sich. „Ja, in Gottes Namen – wenn Mac Lean auch mithält . . .“

Als die Männer vor der Wellblechbaracke standen, lag über dem nördlichen Nachthimmel noch ein grünblasser Schein.

„Dem Licht dort oben gehen wir nach, Mac“, sprach Peter. „Es soll uns ins letzte Pionierland leiten!“

Die schwarzen Wasser von Anahim

„Hallo, Boys, her zu mir!“

Mister Perkins, der Boß selber, stand jenseits des Weidezaunes auf der Straße und winkte Bill und Peer zu sich heran. Sein sonst funkelnder Pacard war heute bis zu den gekrümmten Sichtscheiben hinauf über und über verstaubt, und selbst das graumelierte Haar des Herrn über zwanzig Cowboys und zwanzigtausend Rinder erschien heute fast weiß. Mister Perkins hatte eine weite Autofahrt bis zu den entlegensten Weideflächen hinter sich. Es hatte seit Wochen nicht geregnet, und auf den Feldwegen lag knöcheltief der Staub.

Bill Sattler klopfte das Herz heftig, als er mit einem Schwung aus dem Sattel sprang und über die Weide lief. Peer folgte ihm wortlos. Bill riß den Riegel aus dem Pfahl des Weidetors und stieß das knarrende Gatter dem Bruder fast auf die Nase: Dann stand er schnell atmend vor dem obersten Chef der Ranches.

Mister Perkins zog sein Gesicht breit und knallte seinen zwei jüngsten Cowboys die Hände auf die Schultern.

„Hallo, Boys, wann geht es also los?“

„Morgen, Mister Perkins!“ riß sich Bill zu einer ebenso lauten Antwort zusammen. Peer nickte nachdrücklich dazu.

„Eigentlich sollte ich ein finsteres Gesicht machen, wenn mich gleich vier Cowboys auf einmal verlassen. Den beiden Alten hab’ ich auch meine Ansicht gründlich gesagt. Aber euch Jungen kann ich nicht böse sein. Verdammt noch mal, ich möchte auch wieder jung sein und hinausreiten zu den äußersten Weidegründen hinter fernen Horizonten!“

Bills Herz machte einen fröhlichen Sprung. Es gab wohl gar kein Donnerwetter! Er versuchte schon wieder grinsend seine weißen Zähne zu zeigen, doch er wagte noch kein Wort der jubelnden Erwartung auszusprechen. Weiß der Teufel, was der Boß noch hinten hatte! Er war bei den Cowboys beliebt und gefürchtet zugleich.

Perkins ließ seine Hände von den Schultern der Jungen gleiten und betrachtete Bill und Peer genauer.

„Eigentlich tut ihr mir auch wieder leid, ihr zwei Milchgesichter, so in die hinterste Wildnis verschlagen zu werden. Elche jagen und Grizzlys begegnen mag ja recht romantisch sein, aber es bringt keine Dollars ein. Auf meiner großen Rinderranch hättet ihr einen raschen, einträglichen Aufstieg vor euch gehabt.“

Ich pfeife auf deine Dollars! dachte Bill, aber er sprach es natürlich nicht aus. Das Grinsen auf seinem Gesicht verging wieder.

„Ich habe mir die Landschaften Anahim und Batnuni ein wenig beschreiben lassen“, fuhr Perkins fort. „Ein Telefongespräch mit Williams Lake am Fraser River war mir das wert. Man meint dort, hinter den letzten Bergen gebe es vielleicht noch Weideland, aber welcher Narr ziehe dorthin, wenn es auf den Ranches nahe den Städten Verdienst genug gebe! Man wird euch also dort drüben nicht beneiden, Boys!“

Wir pfeifen auf diese Städter und ihre Meinung, dachten Bill und Peer im gleichen Augenblick. Jetzt wünschten sie sich von den scharfen, stahlblauen Augen ihres Chefs weit fort. Nicht aussprechen dürfen, was man sich denkt, das erschien ihnen schwerer, als auf einem bockigen, beißenden Pferd zu reiten.

Mister Perkins kniff ein Auge zu. „Zieht in Frieden, meine Boys! Möchte gern später einmal hören, wie es euch ergeht. Und wenn das Unternehmen zusammenkracht, kommt wieder zu mir. Habt ihr mich verstanden?“

„Okay, Mister Perkins!“ atmete Bill erleichtert auf. Das wäre also überstanden. Eben wollte er sich umwenden und wieder zu seiner gemächlich weidenden Stute zurücklaufen, da drückte ihm der Boß einen größeren Dollarschein in die Hand. Auch Peer geschah dasselbe.

„Nachzahlung für fleißigeil Dienst, und vergeßt nicht zu schreiben!“ Er blickte lachend den davoneilenden Jungen nach.

„Gesundes Blut“, murmelte er. „Die gehen nicht unter.“

 

Das fürchteten auch Bill und Peer nicht, als sie am nächsten Morgen in die hochbepackten Autos krochen. Peter Sattler hatte in der letzten Woche noch eine Fahrt nach Nelson unternommen und seinen Chevrolet gegen einen starken, aber klapprigen Austin-Kombi vertauscht. So war es zuletzt doch noch gelungen, das wichtigste Reisegut aufzupacken. Wer kannte auch die Preise in den kleinen Städten dort oben am Rand der Wildnis? Auf jeden Fall kaufte man im Süden von British Columbia wesentlich billiger ein. Aber dennoch schmolzen die Dollars zusammen wie der Schnee im Mai von den Bergen der Gold Range.

Die Liste Mac Leans war in diesen zwei Wochen noch um einiges länger geworden. Alles Nötige zu einer Expedition ins Unbekannte mußte bedacht werden.

„Und dabei kehren wir von dieser nicht einmal mehr zurück!“ lachte Mac Lean fröhlich, als von Peter Sattler dieses Wort gefallen war.

Der Frau gab es einen schmerzhaften Stich, als sie das Wort hörte. Nie mehr zurück, vergraben, verschollen hinter den fernsten Bergen, für immer! Nun, da der Aufbruch bevorstand, spürte sie eine ungeheure Last der Sorge auf den Schultern. Doch sie ließ kein klagendes Wort aus ihrem Mund. Peter, der Mann und Vater, hatte ein Ziel gefunden, und das mußte auch ihr genug sein.

Bärbi Sattler saß schon im Wagen; Bill und der Vater kletterten noch auf der Ladefläche des kleinen Lastwagens herum.

„Sind die Reitsättel gut verstaut, Bill?“

„Ja, Vater; auch Rossys nagelneuer.“ Er lachte. „Er wird ihr ja noch viel zu groß sein. Übrigens muß sie ja auch dort oben bald wieder zur Schule!“

Alle Cowboys der Ranch, die es an diesem Morgen einrichten konnten, umstanden die kleine Karawane. Lachende Zurufe wechselten hin und her. Tom Seter, der nach der Kündigung Mac Leans zum Chef der Cowboys aufgestiegen war, half Mac Leans Gepäck festzurren.

„Du wirst keine hundert Kilometer weit kommen, dann kannst du deine Pfannen und Äxte stückweise am Straßenrand wieder suchen, wenn du nicht alles besser verschnürst!“ nörgelte er. Dann lief er in die Garage und kehrte mit neuen Riemen zurück. „Es täte mir doch leid, wenn du am zweiten Tag schon wieder angerattert kämst. Ein solches Aas wie dich möchte man nicht ein zweites Mal um sich haben.“

Mac Lean verstand den Spaß. Aber er kniff seine Augen zu einem Spalt zusammen. „Vielleicht komme ich wieder – nach ein paar Jahren, wenn ich Cowboys für meine Großranch am Tetachuk Lake suche.“

Tom Seter lachte. „Inzwischen hat dich längst ein Grizzly verspeist. Wünsche ihm gute Zähne für diesen Knochenhaufen!“

Inzwischen schien auch auf Mac Leans Auto alles festgebunden zu sein. Peter Sattler war ebenfalls von seinem Wagen gestiegen. Peer durfte in Macs Auto kriechen, damit die Last ein wenig gleichmäßig verteilt war. Die Mutter und Rossy saßen eng zusammengepreßt im Fond des Austin. Peter Sattler und Bill wollten abwechselnd am Steuer sitzen.

Mac steckte den Schlüssel in den Starter und horchte auf das singend anspringende Summen des Motors. Jetzt kam es auf diesen an, daß er treu tausend Kilometer und mehr lief. „Verdammt, kann ihm nicht einmal wie einem Pferd die Schenkel tätscheln!“ murmelte er. Er blickte zu Peter Sattler hinüber und hob die Hand.

„Allons – vorwärts!“

Die hochbepackten Autos schnellten ratternd vorwärts wie ungeduldig wiehernde Cowboypferde, der Staub auf dem Hof der Ranch wallte in Wolken auf. Die Cowboys sprangen zurück und rissen die ledernen Hüte schwingend über die Köpfe. Was sie riefen, verstanden die Fahrer nicht mehr, aber sie wußten es dennoch: „Fare well – gute Reise – and good luck!“

Viel Glück, viel Glück!

„Verdammt noch mal, das brauchen wir jetzt!“ murmelte Mac Lean seinem dröhnenden Motor zu. Er hatte nicht viel Zeit, zuletzt noch in Rührseligkeit zu verfallen. Die ausgeschlagene Straße, die von der Ranch am Broadwater gegen den Fuß des Selkirk-Gebirges hinführte, verlangte alle Aufmerksamkeit. Die Cowboys schauten den Ausziehenden gewiß noch nach, und wie hätten sie gebrüllt, wenn jetzt schon der verpackte Plunder auseinandergefallen wäre!

Peter Sattler fuhr hinter Mac Lean und blickte scharf durch die Staubwolke auf den Pfad. Wenn es ihn in ein tiefes Regenloch schleuderte, duckte er sich horchend, ob hinter ihm nicht schon die ganze Ladung sich selbständig machte. Bill kurbelte das Fenster herab und beugte sich einen Augenblick in den Staub hinaus. „Alles hängt noch fest“, nickte er dem Vater zu.

Bärbi Sattler hatte die Augen geschlossen. Der Trubel und die Mühen der letzten Tage forderten jetzt ihr Recht. Schon als sie ins Auto stieg, war sie so erschöpft, daß sie kaum ihre Beine mehr trugen. Jetzt ließ sie sich willenlos hin und her schütteln, und hinter den Schleiern der Jahre stieg noch einmal ihre Jugend herauf.

„. . . Willst du wirklich mit diesem Deutschen gehen, Barb?“ hörte sie wieder die Mutter fragen.

Das war vor der kleinen Blockhütte in Weyburn im Staate Saskatchewan gewesen. Bärbis Vater war sein Leben lang Farmarbeiter gewesen, aber die Mutter hatte dafür gesorgt, daß ihre Tochter eine gute Schulbildung bekam. Und jetzt wollte das Mädchen mit einem Mann gehen, der nichts weiter besaß als seine starken Fäuste und viel guten Willen.

„Peter ist gut, Mammy, einen besseren Mann finde ich nicht mehr. Und auch mein Großvater war ein Deutscher.“

Dad und Mammy hatten in die Heirat eingewilligt, und die nächsten Jahre in der Nähe der Stadt Regina wurden überaus glücklich. Bill und Peer torkelten bald durch Küche und Zimmer, dann kam noch Rossy, die Jüngste. Ihr Mann verdiente gut, und sie litten keine Not.

Manchmal erzählte Peter aus seinem früheren Leben. „Weißt du, wir besaßen ein großes Gehöft mitten in Ungarn. Und wären wir nicht vertrieben worden, mähte ich jetzt den eigenen Weizen!“

Bärbi wußte, daß der Mann nun wieder tagelang den Kopf hängenlassen würde. „Dann hätten wir uns nie kennengelernt, und es gäbe keinen Bill und Peer, keine Rossy!“ versuchte sie den Traurigen zu trösten.

Peter schwieg, doch in seinem Kopf bohrte es weiter: auf eigenem Boden gehen, Bauer sein, Rancher!

Und diese heimliche, niemals stillbare Sehnsucht war es, die Peter Sattler mit seiner Familie immer weiter nach dem Westen getrieben hatte. Lange Zeit lebten die Sattlers auf den Viehranches im Staate Alberta. Einen Winter lang war Peter mit zwei anderen Holzfällern im North Wood, dem endlosen Waldgürtel, der bis zur Tundra hinaufreichte, gefahren – auf einem Motorboot – und hatte hundert Meilen nördlich von Prince Albert am Twoforce River Kiefern und Tannen gefällt. Ein kalter, harter Winter, der viele Dollars einbrachte.

„Näher dem großen Ziel!“ hatte Peter frohlockt, als er endlich im Mai, als die Flüsse im North Wood aufbrachen, wieder zu seiner Familie im Süden heimgekehrt war.

Aber die ganz großen Möglichkeiten sollte es eben doch nur in Britisch-Kolumbien geben. Im nächsten Sommer hatten die Sattlers den Staub Albertas von den Schuhen geschüttelt und waren mit Einrichtung und Geschirr beladen auf dem wackligen Chevrolet weiter nach Westen gewandert. Nun saßen sie seit zwei Jahren auf der Großranch Perkins & Sons zwischen dem Selkirk- und dem Goldgebirge. Peters Unruhe hatte sich allmählich gelegt – bis Mac Lean, der Pläneschmied und Possenreißer, auftauchte . . .

Frau Bärbi preßte die Augen fester zu. Zwei große, helle Tränen erschienen in den Augenwinkeln.

„Mammy, du weinst. Bist du krank?“ wisperte Rossy und drückte sich enger an die Mutter.

Das brachte die Frau jäh wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie wischte verlegen lächelnd die Tränen fort.

„Ich hab’ nur geträumt, Kind, von meiner eigenen Jugend. Das Rütteln, die Müdigkeit. Wo fahren wir denn schon?“

Rechts und links der Straße wuchsen dichte, schattende Tannen. Das kilometerweite Weideland an den Ufern des Arrow-Sees war hinter dem Horizont hinabgetaucht. Wo die Bäume einmal einen Blick zum Himmel freiließen, standen die Selkirk-Berge näher herangerückt, und weiße Gutwetterwolken segelten von Norden herab.

Die Autoreise nach dem fernen Nordwesten begann mit einer meilenweiten Fahrt nach Osten. Über die Gold Range jenseits des Arrow-Sees im Westen führte keine Fahrstraße hinweg, erst weit im Norden bei Needles lief der im Ausbau befindliche Highway Nr. 6 bis nach Vernon an die große Femstraße 97, die an den Fraser River und dann hoch nach Norden hinauf führte.

Mac Lean war bisher unentwegt vor Peter Sattler hergefahren. Nun rückte er näher an den Rand der schmalen Straße und winkte Peter, er sollte vorfahren. Als sie auf gleicher Höhe waren, hupte er fröhlich und trat auf die Bremse.

Auch Peter Sattler hielt fragend an. Mac Lean sprang aus dem Wagen, reckte und streckte sich. Dann ging er forschend um den Austin der Sattlers herum. „Ihr fahrt so sorglos hinter mir drein, als ginge es nur zu einem Weekend-Ausflug. Mein Gerümpel habt ihr ja immer im Auge, aber was ist mit eurem Riesengepäck?“ Er sprang auf das Schutzblech des Hinterrades und zog an den Stricken und Lederlassos. „Nachspannen, nachspannen!“

Es zeigte sich bald, daß Mac Leans Sorge nicht unbegründet gewesen war. Er zuckelte schon wieder eine Weile sorglos vor den Sattlers her, da begann plötzlich die Plane über seiner Ladefläche zu flattern, schlug über den Wagen hinaus und verfing sich im nächsten Augenblick am Aststummel einer Tanne am Straßenrand. Ratsch! riß sie mitten durch.

Peter Sattler hupte wie besessen, doch es half nichts. Erst als er wild auf das Gas trat und zum Überholen ansetzte, merkte Mac Lean, daß etwas faul war.

„Hallo, was soll das Wettrennen unserer zwei alten Mähren?“ fragte er gummikauend.

„Deine Ladung ist fort!“ schrie Peter hinüber.

„Meine Ladung?“ Über den jähen Schrecken in dem ledernen Gesicht des Cowboys mußte selbst Frau Sattler lächeln. Mac Lean drückte die Handbremse hinein, sprang aus dem Wagen und rannte zurück. Er mußte einige weite Kurven hinablaufen, bis er sein verlorenes Stück Plane wiederfand. Er wickelte sie zusammen und warf sie wie eine eroberte Fahne über die Schulter.

„Alles hab’ ich mitgenommen, starke Nähnadeln und Bindfaden zum Flicken, aber wo die Sachen stecken, weiß ich nicht. Werde wohl den halben Laden ausräumen müssen.“ Zum erstenmal wurde auch Mac Lean kleinlaut.

Frau Bärbi aber stand schon mit Nadel und Zwirn bereit. „Die Sache ist halb so schlimm“, lächelte sie. „Ruht euch einmal vom Fahren aus. Wenigstens kann auch ich mich auf der Reise etwas nützlich machen.“

Die Wagen erreichten Vernon erst tief in der Nacht. Sie schlichen scheu die Hauptstraße entlang, und alle waren froh, als sie endlich in einer Nebengasse ein Restaurant fanden, das keinen protzig herausfordernden Eingang hatte. Ein hohes Holztor öffnete sich knarrend, und die müden Wagen rollten auf einen kaum beleuchteten Hofplatz.

Aber in der dunkel getäfelten Gaststube saß es sich gut.

„Kinder, was haben wir von protzigen Fassaden?“ sagte Mac Lean gut gelaunt. „Die müßten wir doch beim Essen und Schlafen mitbezahlen! Wir sparen unser Geld lieber für die ,Villa Grizzlybär’!“ Er schielte dabei zu Rossy hinüber, ob sie nicht ein wenig erschrak.

Das Mädchen schnitt indes verzweifelt an dem zähen Steak herum, das der tonnendicke Wirt aufgetragen hatte. Mac Lean hatte Mitleid mit ihr. Er zog sein scharf geschliffenes Bowiemesser aus der Lederscheide im Gürtel, und bald war das Lendenstück des wohl zwanzigjährigen Rindes klein geschnitzelt.

„Das ist die Zugabe für den niedrigen Preis!“ lachte Mac Lean und hatte mit seinen Späßen die schon etwas gesunkene Stimmung wieder gehoben.

„Unsere Schlafzelte sollten wir schonen, bis das letzte Hotel hinter uns liegt, das meint wohl auch ihr!“ hatte Mac Lean schon am Nachmittag vorsorglich verkündet. Jetzt Zelte aufstellen mit den mürb gerüttelten Knochen? Alle sanken mit einem erleichterten Seufzer in die federnden Betten des Restaurants „Zum Prospektor“.

Der Highway 97 machte am folgenden Tag selbst Mac Lean kleinlaut und still. Sie drückten sich mit ihren alten, hochgetürmten Klapperkisten ganz an den Rand der Asphaltstraße. Was neben ihnen vorbeihuschte, nein, zornig schnob, das hatten die einfachen Cowboys schon fünf Jahre nicht mehr gesehen. Die schneeweißen Continentals, die blauen Vauxhalls und schwarzen Pacards schnitten mit ihren breitgezähnten Kühlern höhnische Gesichter über die beiden alten Buschklepper, die sich da auf den Highway verirrt hatten. „Fahrendes Volk“, schienen sie zu spotten, „seht zu, daß ihr wieder hinabrollt auf die Buschstraßen und Tramppfade, wohin ihr gehört!“

Unermüdlich aber polterten die Kolben, rollten die Räder: einhundert, zweihundert Meilen weit. Sie ratterten durch das freundliche Kamloops, das sonnig auf einer Hochfläche lag. Forellenbäche sprudelten von den Bergen im Norden herab, und viele tausend scheckige Rinder weideten bis zu den Knien im Gras.

„Die Landschaft wird immer schöner, Mutter! Wann beginnt denn das wilde, leere Land, von dem Mac immer sprach?“ wagte Rossy endlich zu fragen.

„Es ist noch eine schöne Weile dorthin“, entgegnete die Mutter. Sie ertappte sich bei dem heimlichen Wunsch, es möchte immer so bleiben, bis sie durch alle nordwestlichen Weideländer hindurch an die Küste des Pazifischen Ozeans kämen. Sie verbarg solche Gedanken rasch wieder, denn sie wußte längst, daß das Leben aus Wirklichkeiten und nicht aus Träumen bestand.

Von Cache Creek aus hielt der Highway 97 ununterbrochen nördliche Richtung ein. „Clinton“ las Peter Sattler an der Straßentafel, als die beiden Wagen in eine langgestreckte Viehzüchterstadt mit ihren typischen einstöckigen Holzhäusern rollten. Sie hatten die alte „Karibu-Straße“ erreicht, einen ehemaligen Buschpfad, auf dem die ersten weißen Pioniere vor siebzig Jahren den Norden von Britisch-Kolumbien geöffnet hatten. Bill Sattler saß jetzt am Steuer. Obwohl er achtsam die Straße im Auge behielt, entging ihm auch die Landschaft zu beiden Seiten des Highway nicht.

„Das Ackerland bleibt zurück, wir haben den Rand des großen Graslandes erreicht, Vater!“

Peter Sattler nickte schweigend. Nun wurde es allmählich ernst.

Die Rasthäuser an der Straße trugen jetzt eigenartige Namen: „70 Mile House“, „100 Mile House“. Als die Fahrer auf unabsehbar staubfreier Straße an dem „150-Meilen-Haus“ vorbeiratterten, ging auch dieser endlos lange Sommertag allmählich zu Ende. Im letzten Sonnenlicht rollten beide Wagen gemächlich nach Williams Lake hinein.

Die Viehzüchterstadt mit ihren farbenfrohen roten und hellblauen Holzhäusern lud geradezu zur Rast ein. Daß hier im hohen Nordwesten reichlich Land vorhanden war, spürte man an den breiten, hohen Fußsteigen und den noch viel breiteren Chausseen. Die unechten, pompösen Fassaden der alten Kneipen und Drugstores waren noch ein Überbleibsel aus dem Leben im „Wilden Westen“ vor achtzig Jahren. Zwischen den Häusern tauchten Backsteinbauten der Schlachthöfe und Fleischfabriken und dahinter endlose Viehgehege auf.

„Der Umsatz blüht“, stellte Mac Lean nüchtern fest. „Höchste Zeit, daß wir uns noch den letzten Zipfel des Weidelandes sichern!“

Im etwas abseitigen „Restaurant Anahim“ fanden die Tramper Abendbrot und Quartier für die Nacht. Es hatte sich bald gezeigt, daß alle Gasthöfe der kleinen Stadt belegt waren.

Frau Sattler ging nach dem Abendessen mit Rossy auf ihr Zimmer. Die vier Männer aber schlenderten noch die Hauptstraße entlang und betraten ein Bierlokal. Seltsam gemischtes Volk traf sich hier. Freundliche breitgesichtige Viehhändler aus Vancouver saßen neben zerlumpten Viehtreibern. Hochgewachsene, scharfblickende Ranchers in schwarzen Lederanzügen unterhielten sich mit dunkelhäutigen Indianern, die ihr blauschwarzes Haar straff gescheitelt trugen. Alle jedoch saßen und lehnten sorglos an Tischen und Theken und nickten auch den vier Fremden freundlich zu. Bald saßen die mitten in einem Kreis rauchender, schwatzender Männer.

„Hallo, wo kommt ihr her? Auf Arbeit aus?“ fragte der Wirt, als er das Bier vor sie hinstellte.

Mac Lean verzog sein Gesicht ein wenig. „Auf der Durchreise. Wollen ein wenig noch hinter die letzte Ranch sehen.“ Er hob nachlässig den Arm und deutete nach Westen.

Augenblicklich zogen die Neuen alle Aufmerksamkeit auf sich.

„Ihr seid richtig!“ lächelte endlich einer in das plötzliche Schweigen. „Die Ranchers in Anahim fühlen sich einsam genug, geben euch gern noch einen Streifen Weideland ab!“

Ein anderer beugte sich vor. „Ihr müßt von weit her kommen, ihr Narren, wenn ihr das Geld nicht hier“ – er deutete mit dem Daumen nach unten – „auf der Straße liegen seht. Arbeit gibt es in Williams Lake genug. Warum in die Sümpfe hinter Anahim gehen?“

Peter Sattler wurde allmählich Verwirrt. Die Einsamkeit scheute er nicht. Doch wenn es dort nur Sümpfe gab?

Mac Lean aber winkte alle Sprüche leichthin ab. „Unser Plan ist nicht von heute, Boys; er steht längst fest. Von Quesnel fahren wir mit unseren Cadillacs so weit nach Westen, wie es möglich ist. Dann satteln wir um auf Tragpferde und reiten bis hinter das Jawnie-Gebirge. Dort züchten wir das beste Vieh – und ihr alle könnt uns einmal besuchen, wenn wir uns eingerichtet haben!“

„Ho, oho!“ Laute, verwunderte Ausrufe wurden hörbar. Plötzlich wurden die vier Fremden betrachtet wie große Helden. Oder waren sie nur auftrumpfende Spaßmacher?

Ein alter Rancher schob sich heran. „Von Quesnel nach Westen wird euch der Pfad bald verlegt werden. Ihr kommt nur bis Nazko, dem schmutzigen Indianerdorf. Alles Weideland dahinter, mitsamt den Gebirgen wohl ein paar Millionen Morgen, gehört der Batnuni Company. Die lassen euch nicht hinein, es sei denn, ihr laßt euch als Cowboys anheuern!“

Peter und Mac horchten auf. Lean zog seine verknüllte Karte von Britisch-Kolumbien aus der Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus.

„Zeig mir, was du gesagt hast!“