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Band 210

 

Rettet Rhodan!

 

Oliver Plaschka

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

TEIL I – Die Bürde des Zeitträgers

1. Perry Rhodan

2. Thora Rhodan da Zoltral

3. Perry Rhodan

4. Thora Rhodan da Zoltral

TEIL II – Verliebte, Verschwörer und andere Diebe

5. Silvia Taussig

6. Thomas Rhodan da Zoltral

7. Ronald Tekener

8. Reginald Bull

9. Silvia Taussig

TEIL III – Ein fast perfekter Plan

10. Perry Rhodan

11. Thora Rhodan da Zoltral

12. Thomas Rhodan da Zoltral

13. Reginald Bull

14. Ronald Tekener

15. Silvia Taussig

16. Ronald Tekener

17. Perry Rhodan

TEIL IV – Helden

18. Mentro Kosum

19. Perry Rhodan

20. Mentro Kosum

21. Silvia Taussig

22. Perry Rhodan

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten Siedlungen auf dem Mond und Mars sowie auf mehreren Planeten außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall war mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das rätselhafte Dunkelleben bedroht die Solare Union, beeinflusst auf unheimliche Weise Einzelpersonen ebenso wie ganze Welten.

Sogar Perry Rhodan ist betroffen und dem Tode nahe. Um das Dunkelleben zu enträtseln, müssen Rhodan und seine Mitstreiter eine Expedition auf die andere Seite der Milchstraße wagen – in das geheimnisvolle Compariat. Aber sie haben nicht die Unterstützung der Erdregierung.

Rhodans treue Freunde entwickeln dennoch einen verwegenen Plan. Ihre Mission ist: RETTET RHODAN!

TEIL I

Die Bürde des Zeitträgers

 

1.

Perry Rhodan

 

Am 17. August des Jahres 2089 brach Perry Rhodan früh am Morgen auf, um einen Spaziergang am Rand des Goshunsees zu machen. Er ging allein, weil er viel nachzudenken hatte und ungestört sein wollte.

Worüber er nachzudenken hatte, war die Tatsache, dass er sterben würde.

Er verließ den Bungalow, in dem er viele glückliche Jahrzehnte mit seiner Frau und seinen Kindern verlebt hatte, und ihre private Insel im Tosoma Islands Archipel, wo auch Reginald Bull sein Haus besaß. Mit einem kleinen Schnellboot setzte er zum anderen Ufer über, wo die Bereiche endeten, die der Prominenz von Terrania vorbehalten waren.

Das Wachpersonal grüßte höflich. »Ein schöner Tag, Sir«, sagte die alte McMasters, die schon seit mehreren Jahren ihren Dienst am Kontrollpunkt versah. »Zurück an die Arbeit?«

»Nein«, sagte Rhodan und erwiderte den Gruß. »Heute habe ich frei.«

Sobald er die Sicherheitskontrolle passiert hatte, aktivierte er sein Spiegelfeld.

Normalerweise war es nicht seine Art, sich wie der Kalif von Bagdad verkleidet unters Volk zu mischen, aber er wollte an diesem Tag kein Aufsehen erregen, und er wollte keine Sicherheitseskorte zur Begleitung.

So wanderte er eine Stunde in Sichtweite des Seeufers, vorbei an Villen und Anlegestellen, bis er das öffentliche Naherholungsgebiet erreichte. Der Salzsee war in den vergangenen Jahren mehrfach erweitert worden, so wie auch die Stadt an seinen Ufern stetig wuchs. Hier hatte alles angefangen: Rhodans Traum von einer geeinten Menschheit, der Weg zu den Sternen. Es war nur passend, dass die Reise hier auch zu Ende ging.

Er berührte den Zellaktivator unter seiner Kleidung. Das kleine, eiförmige Gerät hatte ihn die letzten Jahrzehnte nicht mehr altern lassen. Perry Rhodan war neunzig Jahre alt, doch er war so gesund, wie man um die fünfzig nur sein konnte. Der Aktivator hatte ihm die Kraft geschenkt, unvorstellbare Strapazen zu überstehen und selbst nach Nächten ohne Schlaf noch vollen Einsatz zu bringen. Woche für Woche, Jahr für Jahr.

Rhodan hatte für Erde und Menschheit gekämpft, gegen Invasoren und Gefahren galaktischen Ausmaßes. Er hatte die Große Ruptur geschlossen, das Geisteswesen ANDROS verbannt und den Machtkampf entschieden, der die Kulturen der Milchstraße und Andromedas über Jahrzehntausende in einen blutigen Konflikt gezwungen hatte, um immer gefährlichere und tödlichere Waffen zu entwickeln. Rhodan hatte das Ringen beendet. Das allein war mehr, als ein einzelnes Wesen aus Fleisch und Blut je vollbracht hatte – und wog den Preis auf, den er nun zahlen musste.

Von einem kleinen Hügel sah er den Raumschiffen über der Stadt zu, die kraft ihrer Antigravfelder wie stolze Ballone im Ozean der Lüfte hingen. Darunter die wilde Landschaft von Wolkenkratzern: Korallenriffe aus Glassit und exotischeren Materialien, begrünt und durch lebende Brücken verbunden. Dazwischen zerteilte der Orbitallift des Stardust Towers wie eine Halbgerade den Himmel, schaffte unermüdlich Güter ins All und wieder herab.

Schmerzlich wurde sich Perry Rhodan bewusst, dass ihm der Weg zu den Sternen verwehrt war. Das Verschließen der Ruptur ließ alle technischen Artefakte, die auf die Eigenschaften des Creaversums angewiesen waren, nach und nach versagen – auch das lebensverlängernde Gerät um seinen Hals. Dessen Aussetzer hatten zu einer Reihe medizinischer Komplikationen geführt, welche die Ärzteschaft als »ZA-Syndrom« zusammenfasste. Transitionen machten es schlimmer.

Die einzige Chance auf Heilung lag auf der geheimnisvollen Forschungswelt Lashat, von der ihm der Oproner Merkosh erzählt hatte. Und seine einzige Möglichkeit, Lashat zu erreichen, war die FANTASY mit ihrem neuen Experimentalantrieb. Doch diese Aussicht hatten die Vollversammlung und der Unionsrat ihm genommen.

Rhodan wandte den Kopf in die Richtung der Tagungsstätte der Terranischen Union, der schneckenhausförmigen Union Hall, umgangssprachlich auch Waschmaschine genannt.

Ihr Gegenstück, das kubistische Solar Administration Building der Solaren Union, lag an den Rändern der Metropole am Militärraumhafen.

Er konnte den TU-Gremien den Beschluss nicht verübeln. Der Linearantrieb war noch unausgereift, seine Benutzung eine Gefahr für die Besatzung; das hatte der erste Testflug gezeigt. Und selbst wenn sich genug Freiwillige fanden, war Rhodan entschlossen, sich dem Beschluss zu beugen. Er hatte nicht ein halbes Jahrhundert darum gekämpft, die Menschheit zu einen und ihr aus der Kinderstube ihres Planeten zu helfen, um sich über ihre demokratischen Institutionen hinwegzusetzen. Diese beiden Gebäude, in denen die Geschicke eines Großteils der Weltbevölkerung und ihrer Kolonien verhandelt wurden, waren Monumente seiner Vision. Die Männer und Frauen, die darin tagten, waren nicht seine Feinde – sie waren sein Triumph.

Im Westen, dicht über dem Horizont, sah er die Ahnung des blassen Monds, der sich in den glänzenden Fassaden spiegelte. Rhodan lächelte. Dorthin könnte er vielleicht noch einmal zurückkehren. Er dachte daran, wie er das erste Mal zum Mond gestartet war. Mit Reg und Eric und Clark. Gott, wie lange hatte er nicht mehr an Clark oder Eric gedacht? Der Gedanke brachte im Handumdrehen all die Freunde zurück, die vor viel zu langer Zeit von ihm gegangen waren: Lesly Pounder. Allan D. Mercant. Homer G. Adams.

Er verließ den Hügel und wanderte weiter. Sein Blick fiel auf einen alten Mann, der auf einer Bank am Parkrand saß und selbstvergessen ins Leere starrte. Wie alt mochte er sein? Achtzig, neunzig? So alt, wie Rhodan eigentlich sein müsste. Dank des medizinischen Fortschritts wurden die meisten Menschen inzwischen mehr als hundert Jahre alt. Dennoch änderte es nichts daran, dass man ab einem bestimmten Alter Menschen zu verlieren begann. Freunde, Familie – sie starben weg, bis es niemanden mehr gab, für den sich auszuharren lohnte. Alles, was blieb, war die Schuld des Gebliebenen, diese besondere Form von Überlebenden-Syndrom.

Seine Gedanken kehrten zurück zu Crest, dem alten Wissenschaftler und Ziehvater Thoras. Als ES, dieses unbegreifliche Wesen, ihnen zum ersten Mal die Unsterblichkeit angetragen hatte, war Rhodan klar gewesen, dass ein solches Geschenk immer mit einem Preis verbunden sein musste. Crest hatte diese Bedenken nicht geteilt – und es war ihm schlecht bekommen. Heute kannte Rhodan diesen Preis besser denn je. Er bestand nicht nur darin, geliebten Menschen beim Altern zuschauen zu müssen. Oder sich zum Spielball kosmischer Mächte zu machen, die genau wussten, wer sich da in ihre Angelegenheiten einmischte. Der Preis war auch, die Kontrolle über sich selbst abzugeben. Mittlerweile konnte er weder mit noch ohne Aktivator. Was wohl geschähe, wenn er ihn einfach in den See warf?

Rhodan passierte zwei Familien, die am Ufer ihre Picknickdecken ausbreiteten. Die Eltern waren um die fünfzig, ihre Kinder vielleicht zehn. Er dachte daran, wie seine Welt vor vierzig Jahren ausgesehen hatte. An seine eigenen Kinder, Tom und Farouq, die inzwischen so alt waren wie er, als ihn der Aktivator aufs Kreuz der Ewigkeit genagelt hatte. ES hatte ihn einen Zeitträger genannt. Wie lange er wohl noch zu tragen hatte? Perry Rhodan war der Ansicht, er hatte diese Bürde lange genug geschleppt. Hatte sich lange genug gegen den natürlichen Gang der Dinge gestemmt.

Er erreichte den Rand der Gedenkstätte, die an die Opfer außerirdischer Invasionen erinnerte. Die Vertreibung durch die Memeter, die Schreckensherrschaft der Sitarakh, das arkonidische Protektorat und das Chaos, das die fremdartigen Fantan angerichtet hatten. In diesem Teil des Parks wuchsen sogar noch einige der Bäume, die der Fürsorger Satrak vor einem halben Jahrhundert am Goshunsee gepflanzt hatte. Nicht nur Gutes war von den Sternen gekommen, und mehr als einmal hatte sich Rhodan seiner Rolle als Protektor nicht gewachsen gefühlt. Dennoch hatten die Menschen sich immer behauptet: indem sie zusammengehalten und sich den Glauben an ihre Werte bewahrt hatten. Wurde Rhodan überhaupt noch gebraucht? Die Gedenkstätte war ein Mahnmal gegen die Fremdherrschaft. Um die Menschen zu schützen, musste man einer der ihren sein. War er das denn noch?

Als eine plötzliche Müdigkeit ihn befiel, nahm er Platz auf einer Bank. Aus einer nahen Pagode drangen die ruhigen Trommelschläge einer Zeremonie an sein Ohr. Er spürte seinen Herzschlag, der sich langsam beruhigte. Wieder umschloss seine Hand den Aktivator unter seiner Kleidung. Kaltes Metall. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was im Innern dieses kleinen Geräts vor sich ging – und ob es ihn bald im Stich lassen würde.

»Ist hier noch frei?« Die Stimme riss ihn ins Hier und Jetzt zurück.

Rhodan sah auf und blickte in das Gesicht einer jungen Frau mit asiatischen Zügen, die einen Buggy mit einem unruhigen Kleinkind schob – die beneidenswerte Generation, die keins der Ereignisse, an die dieser Teil des Parks erinnerte, erlebt hatte. Die Frau wirkte gestresst und hatte ihm seine schlechte Verfassung wohl nicht angesehen.

Perry Rhodan wollte, dass es dabei blieb. Also riss er sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. »Sicher«, sagte er und rutschte beiseite.

»Danke«, murmelte sie und nahm neben ihm Platz. Dann hob sie das Kind aus dem Buggy, setzte es neben sich und gab ihm etwas Wasser zu trinken, wobei sie beruhigend auf es einredete. Rhodan registrierte nicht die Sprache, weil sein Translator für ihn übersetzte. Sie aktivierte die Benutzeroberfläche ihres Komgeräts und widmete sich ihren Nachrichten oder Terminen. Ganz offensichtlich hatte sie andere Probleme als den Fremden, der entkräftet neben ihr auf der Bank saß und sich um das Schicksal des Universums sorgte.

Weswegen sie es auch zu spät bemerkte, als das Kind seine Flasche über ihn schüttete.

»Oje!«, rief sie aus, als er aufschreckte. »Wie peinlich! Warten Sie, lassen Sie mich ...« Hektisch versuchte sie, Rhodans nasses Hosenbein mit einer Serviette zu trocknen, während sie gleichzeitig bemüht war, dem Kind die Flasche abzunehmen und es vor einem Sturz von der Bank zu bewahren.

»Schon gut«, beschwichtigte Rhodan. »Nichts passiert. War nur Wasser.«

»Danke.« Sie lächelte. »Kommen Sie öfter her? Ich hab Sie noch nie hier gesehen.«

»Selten.« Er hatte ein schlechtes Gewissen, sie an der Nase herumzuführen, aber sich nun zu erkennen zu geben, würde alles nur schlimmer machen. Außerdem war klar, dass sie nur Small Talk hielt, um von ihrem Missgeschick abzulenken.

»Er ist einfach nicht zu bändigen zurzeit.« Das Kind hatte inzwischen einen Krümel oder Papierfetzen entdeckt und wollte ihn sich in den Mund schieben. »Tage wie heute ...« Sie lächelte noch einmal, dann schnappte sie sich den Jungen und redete auf ihn ein.

Rhodan hörte nicht mehr zu, weil ihm in diesem Moment wieder schwindlig wurde. Der Schweiß brach ihm aus, und das Rauschen der Blätter wurde laut wie ein Sturm. Geblendet von der hellen Sonne auf dem Wasser, schloss er die Augen. Nur undeutlich hörte er das protestierende Geschrei das Kinds und das Scharren von Füßen.

Als er die Augen wieder aufschlug, war die junge Mutter verschwunden. Perry Rhodan schob den Ärmel hoch und warf einen Blick auf sein Multifunktionsarmband. Wie viel Zeit war vergangen? Sie musste ihn für einen Betrunkenen gehalten haben ...

Da bemerkte er eine Fehlermeldung. Rhodan erstarrte. Das Spiegelfeld war ausgefallen. Wie lange schon? Es ließ sich nicht feststellen.

Das hieß, jeder Spaziergänger, der in den vergangenen Minuten vorbeigekommen war, hatte den halb bewusstlosen Protektor auf der Parkbank liegen sehen. Vielleicht würde sein Bild in einer Viertelstunde über alle Kanäle laufen ...

Er warf einen raschen Blick nach links und rechts. Ein älteres Paar studierte ein Holo über die Zeit der Besatzung. Ein Jogger mit Hund. Niemand nahm von ihm Notiz.

Er justierte das Spiegelfeld neu und aktivierte es.

Dann kam ihm ein anderer Gedanke: Wenn das Spiegelfeld schon länger ausgefallen war, hieß das, dass die gestresste junge Mutter ihn wirklich nicht erkannt hatte.

Und dieser Gedanke erheiterte ihn. Er erheiterte ihn, weil es ihm vorkam, als fiele auf einmal die Last all der Jahre, der Jahrzehnte, die er so lange geschultert hatte, von ihm ab. Er war nicht unersetzlich. Er hatte seine Aufgabe erfüllt und die Menschheit nach bestem Wissen und Gewissen beschützt. Andere würden sein Lebenswerk fortführen. Menschen wie diese Mutter hatten ihr junges Leben gemeistert, ohne sich für Rhodan zu interessieren, und würden das auch weiter schaffen. Ihr Kind würde Perry Rhodan vielleicht nur aus Geschichtsbüchern kennen und nie erfahren, dass es ihm einmal Wasser über die Hose geschüttet hatte.

Rhodan lachte. Er lachte, bis ihm die Luft wegblieb, und als er endlich bemerkte, dass er gerade einen neuerlichen Anfall durchlitt und ihm das Herz im Verlangen nach Sauerstoff bis zum Hals schlug, hatte er schon nicht mehr die Kraft, sich zu sorgen. Perry Rhodan hatte seinen Frieden gemacht, in diesem Moment, auf dieser Bank am Rand des Goshunsees.

Das Rauschen in seinen Ohren kehrte mächtiger denn je zurück, so laut wie das Tosen eines Gleiters, der gekommen war, ihn abzuholen. Vielleicht war es Reg, der ihn auf einen Ausflug mitnahm, oder Thora. Ein letztes Mal hinauf zu den Sternen ...

Die Welt glitt davon wie ein ablegendes Schiff, und Perry Rhodan schwanden die Sinne, während er langsam zu Boden sank.

2.

Thora Rhodan da Zoltral

 

Der Klang der Stöcke hallte durch den Trainingsraum. Die Wucht der Schläge brachte Thoras Muskeln und Sehnen zum Singen, als wären sie gespannte Saiten, auf denen die Waffe ihres Trainers eine mitleidlose Melodie schlug. Dann endete der Ansturm so plötzlich wie Sommerregen. Thora atmete unter ihrer Maske durch und ging zurück in die Harr-Ghoult, die Ausgangsstellung des Dagor.

Normalerweise war Dagor eine Mischung aus Meditation und unbewaffnetem Kampf. Thora hatte es im Laufe ihres Lebens bis zur Großmeisterin gebracht und mit gemischtem Erfolg versucht, ihren Söhnen Thomas und Farouq etwas beizubringen. Aber da ihr Leben als Botschafterin, Mutter und Kommandantin stets aus mehr als nur Dagor bestanden hatte, brauchte es stetes Training und neue Impulse, um nicht abzubauen.

Matthew Zack war ein solcher Impuls. Vor allem war er ein hervorragender Sparringspartner zum Abreagieren.

Der junge Amerikaner war ein Halbarkonide wie Thomas. Sein Vater war ein einfacher Essoya, der während des Protektorats auf der Erde gedient und nach dem Ende der Besatzung geblieben war. Schon in jungen Jahren war Zack ein Kampfsportnarr gewesen, und im Gegensatz zu Thora hatte er sonst keine Interessen, was ihn zu einem fordernden Gegner machte. Die bescheidenen Künste seines Vaters hatte er aufgesogen und mit irdischen Techniken kombiniert. Das Ergebnis hatte nichts mehr mit den traditionsreichen Ursprüngen des Dagor gemein – war aber auf boshafte Weise effektiv.

Es war der Gang der Dinge, reflektierte Thora in den Sekunden vor dem nächsten Angriff, während sie die Reserven ihres Körpers aktivierte. Nichts blieb sich treu. Wer verlor, fiel dem Vergessen anheim, und den Gewinnern gehörte die Zukunft. War dies ein Mantra? Wenn nicht, dann sollte es vielleicht eins sein.

Mit einem wütenden Aufschrei griff sie ihren Partner an und ließ die angestaute Kraft aus sich herausströmen. Fast glaubte sie, einen Anflug von Furcht in Zacks Augen zu sehen. Ein seltener Anblick. Mit einer schnellen Folge von Hieben drängte sie ihn in die Defensive, dann wirbelte sie um die eigene Achse, verpasste ihm einen Drehkick gegen die Rippen und schickte gleich die nächste Salve Schläge hinterher.

Der Oberkörper war der arkonidischen Brustplatte wegen keine gängige Trefferzone, aber Thora hatte in ihrer Zeit unter anderen Humanoiden dazugelernt. Es sollte keiner sagen, der kulturelle Austausch führe zu nichts.

Zack sog scharf die Luft ein und parierte die Schläge. Nach den ersten Überraschungstreffern gelang es ihm, seine Deckung wieder hochzunehmen und einen geschickten Konter zu setzen. Thora aber schlug seinen Stab beiseite und hieb ihm den eigenen gegen die Schulter, direkt unterhalb des Helms.

Es fiel ihr schwer, die Genugtuung zu verbergen, als Zack vor Schmerz aufschrie. Eigentlich mochte sie den Jungen. Aber der Ausdruck der Verblüffung auf seinem Gesicht war einfach zu befriedigend. Einem schmächtigeren Gegner hätte ihr Schlag wahrscheinlich das Schlüsselbein gebrochen.

Keuchend nahm Zack die Maske ab und warf den Stock beiseite. »Ganz schön geladen heute, was?«

Thora tat es ihm gleich und befeuchtete sich die Lippen. Kurz überlegte sie, sich zu entschuldigen, dann entschied sie sich dagegen. Zack mochte erst in Thomas' Alter sein, aber sein Schrank war voller Pokale, und er brauchte keine Schonung.

»In einem Wald von Mauern war das die Pforte«, übertrug sie ein altes Mantra ins Englische, da Zacks Arkonidisch zu schlecht war.

»Ich werde mir Mühe geben, künftig besser abzuschließen«, scherzte er.

Thora ging an ihm vorbei und tat, als wolle sie ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopfen, aber er wehrte die Geste mühelos ab. Wenigstens verstand er Humor, wenn er schon kein Arkonidisch verstand.

Sie hätte nie gedacht, dass solche Kleinigkeiten sie störten, aber manchmal machte es sie wütend, wenn sie sah, wie sorglos Halbarkoniden wie er mit dem Erbe ihrer Eltern umgingen. Zwar war die Besatzung nichts, worauf man stolz sein konnte, aber das hieß ja nicht, dass man Jahrtausende kulturellen Vorsprungs einfach über Bord werfen musste.

Doch auch das war wohl der Gang der Dinge. Die Menschen hatten gewonnen, die Arkoniden verloren. Zacks eigenen Kindern – zwei bezaubernde Mädchen, beinahe Teenager – sah man ihr Erbe kaum noch an.

Manchmal fragte sie sich, ob Toms Kinder eines Tages auch so aussehen würden.

Sie verabredeten sich wie immer für nächste Woche, dann verabschiedete sich Thora und trat nach kurzer Dusche hinaus aufs Dach, auf dem ihr privater Gleiter wartete. Ausgebreitet vor ihr lag die diesige Silhouette Terranias, das Glitzern des Goshunsees deutlich sichtbar zwischen den Hochstraßen und Türmen.

Sie öffnete die Glassitglocke, warf ihre Sporttasche auf die Rückbank und stieg ein. Der Gleiter war ein Privileg – keine Düsen, sondern echtes Antigrav, mit eigenem Reaktor für den immensen Energieverbrauch. Nur ein paar Tausend solcher Luxusgefährte existierten in der Metropole mit ihren hundertfünfzig Millionen Einwohnern, die überwiegend vom öffentlichen Verkehr und erneuerbaren Energien bewegt wurde. Auch die paradiesischen Zustände Terranias konnten nicht über die allgemeine Ressourcenknappheit hinwegtäuschen, unter der die Erde nach wie vor litt. Ein Privatgleiter wie Thoras, der noch dazu raumtauglich war, war die reinste Verschwendung.

Thora hasste es, sich zügeln zu müssen.

Mit Inbrunst hieb sie auf den altmodischen Schalter, der die Startsequenz einleitete, und fuhr den heulenden Reaktor hoch. Dann desaktivierte sie den Autopiloten, rief die holografische Steuerumgebung auf und lenkte den Gleiter in den Flugverkehr zwischen den Bürogebäuden, ohne sich um Leitstrahlen und die aufgeregten Funksprüche der Luftraumüberwachung zu scheren.

Bei den Sternengöttern – in einem früheren Leben hätte sie sich den Weg durch all die Drohnen und Flugtaxen schlicht freigeschossen!

Sie mäßigte ihren Flugstil, sobald sie sich dem Tosoma Islands Archipel näherte. Das Wohngebiet der terranischen Prominenz war gut gesichert, und sie hatte sich persönlich für die Installation einer Batterie von Boden-Luft-Raketen starkgemacht, deren Sprengkraft sie sehr genau kannte. Gehorsam wartete sie, bis die Bodenkontrolle ihren Autorisationscode akzeptiert hatte, dann steuerte sie den Gleiter auf den See hinaus.

Dort draußen lag ihre Insel. Ihr Refugium, das man ihnen zugestanden hatte. Ihr Gefängnis.

Thora fluchte. Dafür waren sie also noch gut genug. Sie durften gern in einem luxuriösen Domizil auf dem See im Herzen der Stadt leben, aber wehe, sie baten diese verdammte Regierung darum, ihnen Zugang zu medizinischer Hilfe zu gewähren.

Thora sah ja ein, was die Menschen an der Demokratie fanden: Man geriet nicht mehr ganz so oft an einen wahnsinnigen Herrscher – man musste erst so blöde sein, ihn zu wählen. Trotzdem standen die Ränke im Unionsrat dem Spiel der Kelche, wie es der arkonidische Hochadel spielte, in nichts nach. Manchmal wünschte Thora, Perry wäre Imperator. Dann würde sich die Sache sehr einfach darstellen: Der Imperator musste nach Lashat, dafür brauchte er die FANTASY – also nahm er sie, flog los und Ende der Debatte.

Aber nein, ihr Mann würde den Kristallthron selbst dann noch ablehnen, wenn er der einzige freie Sitzplatz in einem Symposium zu Vergleichender Politikwissenschaft wäre.

Manchmal verstand sie ihn wirklich nicht. Und dass er nicht bereit war, ihre Argumente anzuhören, ärgerte sie maßlos.

Sie funkte die Positronik ihres Bungalows an, damit diese wusste, wer zur Landung ansetzte.

Die Positronik reagierte nicht, und den Sensoren zufolge war der Bungalow verlassen.

Thora fluchte abermals. Das war der dritte Aussetzer in dieser Woche, und eigentlich hätte die Positronik in der Frühe repariert werden sollen. Aber schön – wenn sie immer noch nicht funktionierte, würde sie wenigstens auch nicht die Polizei rufen. Tag der offenen Tür im Hause Rhodan – sollte landen, wer wollte. Es war nicht das Einzige, was in ihrem Leben gerade schieflief.

Sie setzte den Gleiter unsanft auf das Landefeld. Dann nahm sie ihre Sporttasche und eilte hinüber zum Haus. Für arkonidische Verhältnisse war der Bungalow bescheiden – verglichen mit den Kabinen eines Raumschiffs war er geradezu prunkvoll. Zumindest betonten Thomas und Farouq das gern, als ob es irgendwas daran aussetzen gäbe. Ja, Thora mochte den Bungalow.

Aber was verdammt hatte sie davon, wenn sie bald allein darin wohnte?

Sie entriegelte die Vordertür manuell und trat ein. Das Haus begrüßte sie mit Stille. Und zum ersten Mal machte diese Stille ihr Angst.

Tom und Farouq führten längst ihre eigenen Leben. Nathalie war vermisst. Und Perry hatte vielleicht nur noch ein paar Wochen zu leben.

Thora hätte nie gedacht, dass sie einmal eine dieser Frauen sein würde ...

Nun, vielleicht würde es bei ihr auch nicht mehr lange dauern.

Sie warf die Sporttasche in den Flur und ging in die Küche, die einen prachtvollen Blick über den See bot. Sie wusste wahrhaftig nicht, was ihre Kinder daran auszusetzen hatten. War es vielleicht ihre Schuld, dass von den fünfzehn Milliarden Menschen, die inzwischen auf der Erde lebten, nicht jeder eine Küche mit Seeblick haben konnte? Die Menschheit brauchte einfach mehr Kolonien. Kolonien mit Seen ...

Sie kontaktierte den Kontrollpunkt am Festland über ihr privates Kom, denn der erste Versuch über die defekten Haussysteme blieb erfolglos.

»Ich bin ja so froh, dass Sie anrufen!«, meldete sich die alte McMasters.

Etwas an der Eröffnung und dem Tonfall der Frau machte Thora stutzig. »Wieso, was ist los?«

McMasters stockte. »Sie wissen es nicht? Ich dachte, Sie können uns vielleicht schon mehr ...«

»Wovon reden Sie?«, unterbrach sie.

»Der Protektor. Er hat den Kontrollpunkt vor drei Stunden verlassen, zu Fuß, und ist nicht ...«

Thora war, als wiche alles Blut aus ihrem Kopf. Ihr wurde schwindlig, und sie musste sich am Tresen festhalten. »Perry ist zu Fuß los? Allein? Verdammt, McMasters, wussten Sie denn nicht, dass er ... Wo steckt er?«

»Es tut mir leid«, sagte die ältere Frau. Die Panik in ihrer Stimme machte Thora mehr Angst als alles andere. »Ich wollte nichts andeuten! Ich habe nur gehört, dass es einen medizinischen Notfall am Friedenspark gegeben hat. Und vor einer halben Stunde kam ein Anruf von Ihrem Schiff ...«

»Der CREST II?«, schnappte sie. Als ob sie noch weitere Schiffe im Orbit geparkt hätte!

»Doktor Tifflor fragte, ob Sie schon wieder zu Hause sind. Ich sagte Nein und fragte, ob ich etwas bestellen solle, und er sagte Nein, aber er könne Ihre Wohnung nicht erreichen und wolle Sie nicht auf dem privaten Kom kontaktieren. Er wolle nur sichergehen, dass Sie sich keine Sorgen machen. Aber falls Sie nach Ihrem Mann fragten, solle ich sagen, dass alles in Ordnung sei.«

»Das war alles?«

»Das war alles«, bestätigte McMasters.

Thora starrte auf die Weite des glitzernden Sees hinaus. Einen Augenblick vergaß sie, wo sie war und mit wem sie gerade sprach. Alles, was sie sah, war Perrys Gesicht, in gestochener Klarheit, das Funkeln des Salzsees in seinen Augen.

Mit einer fahrigen Geste der Hand versuchte sie, ihr Raumschiff über das Hauskom zu kontaktieren.

Das Kom funktionierte immer noch nicht, so wie alles in ihrem Leben gerade nicht funktionierte.

Thora schrie. Und weil das noch nicht weh genug tat, schlug sie mit der Faust auf die Theke und schrie noch lauter.

3.

Perry Rhodan

 

Das Dunkel war tief und allumfassend. Und irgendwo in diesem Dunkel glomm Perry Rhodans Bewusstsein, ein schwacher Lebensfunke. Er spürte die Last des Dunkels wie ein Taucher den Druck auf den Ohren. Doch das Dunkel war nicht bloß außerhalb. Es durchdrang ihn, erfüllte ihn. Es drängte nach draußen, nach oben, voran; doch gleichgültig, in welche Richtung es drängte, es sah sich eingesperrt. Irgendetwas hielt es an Ort und Stelle, wann immer es versuchte, dem Gefängnis seiner Existenz zu entkommen. Das Dunkel war allein und alles, was es kannte, und es gab keinen Ort, an den es gehen konnte. Dabei wünschte es sich nichts sehnlicher, als auszubrechen. Das war seine Bestimmung, sein einziger Daseinszweck, doch dieser wurde ihm verwehrt.

Rhodan verspürte Zorn. Es war der Zorn des Dunkels darüber, gefangen zu sein, doch er spürte es wie seinen eigenen. Es war die Wut und Verzweiflung, diesem dunklen Meer nicht entrinnen zu können. Irgendwo dort oben war anderes Leben – es musste so sein –, mit dem es galt, sich zu vereinen. Doch er war auf den Grund des Ozeans verbannt wie ein Verurteilter mit einem Gewicht an den Füßen.

Vage erinnerte er sich an das, was er zuletzt erlebt hatte: seinen Spaziergang am Rand des Goshunsees, die Begegnung mit der jungen Mutter auf der Parkbank. Dann der plötzliche Schwächeanfall. War er vielleicht tatsächlich in den See gefallen? War die Last auf seinem Verstand die Last der Tiefe, das Brennen in seiner Brust Salzwasser in den Lungen? Fühlte sich so das Ertrinken an? Hielt ihn der Zellaktivator irgendwie am Leben – oder dem, was das Gerät dafür hielt –, während der letzte Sauerstoff aus seinem Blut längst aufgesaugt war, sein Gehirn schon zu sterben begann?

Eine neuerliche Woge des Zorns schwoll in ihm an. Es war nicht rechtens, dass man ihn in diesen Kerker gesperrt hatte. Und getrieben von derselben evolutionären Kraft, die einen Sämling aus der Erde, einen Baum in die Höhe trieb, sprengte Perry Rhodan seine Fesseln und stieg zur Oberfläche auf. Dort oben war Raum, die Verheißung von Dasein ...

Ein diffuses Licht breitete sich über ihm aus und wurde rasch heller. Er glaubte nun wirklich, aus der Tiefe eines Sees oder Meers aufzuschießen, und er wusste, dass es gefährlich war, dies zu schnell zu tun, doch das Verlangen in ihm war zu unbändig. Es war nur natürlich, der Enge zu entkommen, in die Welt hinaus zu explodieren ...

Prustend, keuchend durchbrach Rhodan die Barriere aus Licht, schoss hoch und riss die Augen auf.

Zuerst war es so hell, dass er fast nichts erkannte. Er nahm nur Hände wahr, die fest seine Schultern griffen, und Stimmen, die beruhigend auf ihn einsprachen. Er kannte die Stimmen. Der Schmerz in seiner Brust flammte einige Sekunden noch heiß und wurde dann erträglicher. Langsam schälten sich Umrisse aus der Helligkeit.

Perry Rhodan sah in die ernsten Gesichter von Drogan Steflov, dem Chefarzt der CREST II, und Julian Tifflor.

»Julian!«