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Band 211

 

Der Schreiende Stein

 

Michelle Stern / Lucy Guth

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog

1. Erschöpfung

2. Damoklesschwert

3. Unheilvolle Träume

4. Der Brunnen in der Wüste

5. Zeichen

6. Menschliches Versagen

7. Traumtaucher

8. Ian Munroes Albtraum

9. Toteninsel

10. Spieler

11. Ausfälle

12. Nightmare

13. Gewebte Albträume

14. Weber

15. Geisterschiff

16. Der Schreiende Stein

17. Nachbeben

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten die ersten Siedlungen auf dem Mond und Mars sowie auf mehreren Planeten außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall war mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das aggressive Dunkelleben bedroht die Solare Union, beeinflusst auf unheimliche Weise Einzelpersonen ebenso wie ganze Welten.

Um das Dunkelleben zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition auf die andere Seite der Milchstraße – zum geheimnisvollen Compariat. Dabei kommt es zu einem katastrophalen Unfall. Die FANTASY strandet in einer unbekannten Raumregion.

Ihre Besatzung durchlebt erschreckende Albträume – sind das die Vorboten einer Bedrohung? Im Zentrum der unheilvollen Visionen steht DER SCHREIENDE STEIN ...

»Ihr gehört nicht hierher. Verlasst mein Reich. Ihr seid Kinder des Tages. In meinem Reich wartet die Nacht, und in der Nacht der Tod.«

 

 

Prolog

 

Nadine Baya schwebt im Weltall und fühlt sich unendlich frei. Um sie herum die Sterne – so viel zu sehen. Unendlich viele Möglichkeiten. Nadine schließt die Augen und lächelt.

Ein Summen erregt ihre Aufmerksamkeit. Es ist leise, aber es stört. Wie ein Moskito, der einen nächtlichen Schläfer umschwärmt. Woher kommt das Summen? Unwillig öffnet Nadine die Augen.

Da ist ein Sonnensystem. Es pulsiert. Der Stern im Zentrum ist von einem Schatten umgeben. Nadine überläuft ein Schaudern. Ihr Instinkt befiehlt ihr, sofort zu verschwinden. Das Summen ist immer noch da. Es frisst sich in ihren Kopf, verankert sich dort und zieht Nadine näher.

Nadine schüttelt abwehrend den Kopf. »Lass mich in Ruhe!«

Doch das Summen hat sie erfasst. Es holt sie zu sich.

Da ist ein Planet. Nicht der Eisriese, der den Schattenstern ebenfalls umkreist. Einer der anderen beiden. Der Grünbraune. Er wirkt auf Nadine vertraut und gleichzeitig unendlich fremd. Sie fürchtet sich vor ihm. Sie sehnt sich danach, umzudrehen und nach Hause zurückzukehren. Doch das Summen hält sie umklammert. Es reißt sie weiter.

Da ist ein Dschungel. Nein, nicht ein Dschungel – DER Dschungel. Auf diesem Planeten gibt es nichts anderes. Nadine rast durch Nebel, der zwischen den Bäumen hängt wie klebrige Spinnweben. Das Summen ist mittlerweile kein Summen mehr – es ist ein Rufen. Aber es ruft nicht nach ihr, im Gegenteil. Es ist so abwehrend, so hasserfüllt, dass Nadine sich nichts sehnlicher wünscht, als sich die Ohren zuzuhalten, das Geräusch auszusperren. Doch sie kann nichts daran ändern, dass sie weiter vorangerissen wird. Ihre Glieder sind wie erstarrt.

Da ist ein See, ein blutroter See. Nadine fühlt Ekel in sich aufsteigen. Abscheu und Entsetzen bei dem Gedanken, das rote Wasser zu berühren. Doch das muss sie gar nicht – sie gleitet dicht über die Oberfläche, die so glatt daliegt, dass Nadine sich darin spiegeln kann. Ihre Uniform ist zerfetzt, das Gesicht zerkratzt, die Haare verworren. Etwas ist passiert, aber was? Nadine erinnert sich nicht – kann sich nicht konzentrieren, denn das Geräusch, das einst ein Summen war, füllt ihren ganzen Kopf aus: ein Schrei voller Agonie, der alles andere verdrängt.

Eine Insel, kahl und felsig, weiß und gespenstisch. Nadines Atem geht kurz und stoßweise, ihre Fingernägel bohren sich in ihre Handflächen und hinterlassen blutige Spuren. Sie hat das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie die Mitte der Insel erreicht. Sie will nur weg. Doch sie muss weiter.

Und im Zentrum der Insel: eine Kakofonie des Grauens. Nadine Bayas Seele wird nach außen gestülpt. Alles versinkt im Wahnsinn.

1.

Erschöpfung

 

Mit schweren Fingern suchte Nadine Baya in der Brusttasche ihrer Arbeitskombination nach der Schlüsselkarte für ihr Quartier. Wie immer war sie nicht sicher, in welcher der zahlreichen Taschen sie die Karte am Morgen deponiert hatte – und sie fühlte sich so müde, dass sie sich kaum darauf konzentrieren konnte. Es kam ihr vor, als ob ihre Schicht diesmal doppelt so lange gedauert hätte wie normal.

»Hey, Nadine!«

Oh nein ... Sie lehnte die Stirn kurz gegen ihre Kabinentür und schloss die Augen. Bitte nicht. Ich bin so müde ...

Feste, federnde Schritte näherten sich, dann hatte Ian Munroe zu ihr aufgeschlossen. »Nadine, geht es dir nicht gut?«

Sie öffnete die Augen und wandte sich mit einem gezwungenen Lächeln um. Munroes rundes, sonst stets fröhliches Gesicht wirkte besorgt. »Nein, alles in Ordnung«, versicherte sie ihrem Kollegen. »Ich bin nur ziemlich erledigt. Ich schlafe zurzeit nicht gut.«

»Tja, das geht uns wohl allen so. Das muss an der Situation liegen. Gestrandet im Weltraum – klingt irgendwie wie der Titel eines kitschigen Science-Fiction-Films, was?« Munroe lachte, sodass die Sommersprossen auf seiner hellen Haut zu hüpfen schienen.

Baya lachte aus Höflichkeit mit. Sie mochte ihn eigentlich ganz gern. Der Schotte war ein anständiger Kerl, etwas rau, aber herzlich. Nur seine Avancen gingen ihr auf die Nerven. Die waren seit der Havarie der FANTASY vor zwei Tagen ohnehin ständig angespannt.

Wenn sie es recht überlegte, war Ian der Einzige, dessen Laune noch so gut war. Die meisten anderen Besatzungsmitglieder waren gestresst und litten an Schlafmangel. Dass die FANTASY im Randgebiet des Compariats festsaß, sorgte nicht gerade für Partystimmung. Sie mussten weiter, um Heilung für den Protektor zu finden. Doch derzeit ging es weder vor noch zurück. Es war nicht mal sicher, ob und wann sie die Antriebe wieder in den Griff bekommen würden.

»Sag mal, Nadine – wollen wir nicht in die Messe: noch etwas trinken gehen? Bei der angespannten Situation tut es uns bestimmt gut, einfach mal ein bisschen zu quatschen. Die haben tatsächlich einen annehmbaren Whisky in ihrem Getränkeautomaten programmiert. Nicht so gut wie der echte Glenmorangie, aber man kann ihn trinken.« Munroe strahlte sie an.

»Das ist nett, Ian, aber ich trinke keinen Alkohol.«

Munroes Augen wurden groß. Für einen Schotten war so etwas wohl kaum vorstellbar. »Warum?«

»Mein Vater war Moslem. Ich bin es zwar nicht, aber er legte immer Wert darauf, dass auch ich mich an die Speisegebote halte.« Baya zuckte mit den Schultern. »Er ist schon ein paar Jahre tot, aber irgendwie habe ich mich daran gewöhnt.« Das war nicht die ganze Wahrheit. Hin und wieder trank sie durchaus mal etwas. Manchmal auch etwas mehr. Aber nicht diesmal, und nicht mit Ian Munroe.

»Da verpasst du aber etwas.« Munroe zwinkerte ihr zu. »Okay, also Whisky für mich und einen K'amana für dich!«

»Heute nicht, Ian.« Baya hatte endlich ihre Schlüsselkarte gefunden und zog sie aus der hinteren Gesäßtasche. Normalerweise war sie nicht so gut darin, ihren Mitmenschen Bitten oder Wünsche abzuschlagen. Aber im Moment fühlte sie sich definitiv nicht in der Lage, noch irgendwo hinzugehen – von ihrer Unterkunft abgesehen. »Ich bin total fertig. Ich muss dringend ins Bett – allein«, setzte sie rasch hinzu, ehe Munroe eine flapsige Bemerkung machen konnte. »Ein anderes Mal, ja?«

»Ich nehme dich beim Wort!« Falls er Enttäuschung empfand, verbarg er es gut. Er winkte ihr fröhlich. »Dann schlaf mal gut – damit ich dich morgen mit in die Messe nehmen kann.« Fröhlich pfeifend ging er davon.

Baya sah ihm noch einen Augenblick hinterher. Eigentlich konnte sie froh sein, einen Kollegen wie Munroe zu haben – jemanden, der freundlich und meist gut gelaunt auftrat. Gerade aktuell, wo alle so mies drauf waren. Doch es passte ihr nicht, dass er sie anbaggerte. So etwas konnte sie derzeit absolut nicht gebrauchen.

Sie hielt die Schlüsselkarte vor das Sensorfeld, und die Tür öffnete sich mit einem leisen Klicken. Die Wohnquartiere auf der FANTASY waren von eher bescheidener Größe – zumindest für einfache Mannschaftsangehörige wie sie. Immerhin verfügte der kleine Raum über eine eigene Nasszelle. Ansonsten war er nur mit einem Bett, einem Wandschrank, einem schmalen Tisch und einem Sessel möbliert, auf den sie sich nun fallen ließ und mit einem Seufzer die Beine weit von sich streckte.

»Ich stehe nie wieder auf«, murmelte sie und schloss die Augen.

Eigentlich hatte sie noch ein paar Übungen mit dem Ava machen wollen, das ihr Laura Bull-Legacy ausgeliehen hatte. Die NATHAN-Interpreterin, mit der Baya eng zusammenarbeitete – wenn sie nicht gerade Antriebe reparierte – hatte das »Added Value« auf eine Datenbrille übertragen. Mit den meisten Ava-Kontaktlinsen kam Baya nicht gut zurecht, doch die Programme der Datenbrille gefielen ihr. Dieses Ava schulte mit einem kleinen Rollenspiel das Selbstbewusstsein, hatte Laura versprochen. Etwas, das Baya dringend nötig hatte. Aber obwohl sie normalerweise jede freie Minute für Ava-Übungen nutzte, ließ sie die Datenbrille diesmal auf dem Regal neben ihrem Bett liegen. Sie war einfach zu erschöpft, um sich damit zu beschäftigen.

Die Schichten der Multitechnikerin strengten an, sicher, aber das erklärte nicht alles. Baya hatte das Gefühl, dass sie sich nach ihren Arbeitszeiten nicht mehr richtig erholen konnte. Ihr Schlaf war unruhig, und es gelang ihr einfach nicht, abzuschalten. Die Situation, in der sie alle steckten, machte ihr jede Sekunde zu schaffen.

Die Havarie der FANTASY hatte die zuvor so glatt verlaufene Reise abrupt beendet. Plötzlich waren sie nicht mehr auf dem Weg in ein aufregendes Abenteuer, sondern inmitten eines Notfalls. Und wenn sie nicht bald eine Lösung fanden, konnte dieser Notfall die ganze Besatzung das Leben kosten. Also arbeitete Baya genau wie ihre Kollegen intensiv daran, die Ursache für die Havarie zu finden und die FANTASY wieder einsatzfähig zu bekommen. Es musste schließlich einen Grund geben, weshalb der Linearantrieb versagt hatte und sie nun festsaßen – noch lange nicht am Ziel, gerade mal an der Grenze des geheimnisvollen Omnitischen Compariats, in einem fremden, unbewohnten Sonnensystem. Sie waren auf sich selbst angewiesen – und auf das Können der Ingenieure und Techniker.

Zwei Tage trieben sie nun schon durchs All. Zwei Tage, in denen sie zuerst um ihr Überleben gekämpft hatten: Es hatte zahlreiche Verletzte gegeben, die versorgt werden mussten. Die Hyperkristallmatrizen hatten sich beim Rücksturz in den Normalraum überladen und dabei nicht nur das Quintadim-Parallelspurtriebwerk in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die übrige Technik an Bord. Eine der Antriebsgondeln war fast völlig zerstört worden. Die Struktur des Schiffs wies schwere Schäden auf, und am ersten Tag waren alle vollauf damit beschäftigt gewesen, Risse in der Hülle und Rumpflecks durch Prallfelder zu stabilisieren sowie lebenswichtige Systeme am Laufen zu halten.

Mittlerweile arbeiteten sie daran, die Löcher notdürftig zu flicken. Die Technikerteams, zu denen Nadine Baya gehörte, kämpften seit der Havarie darum, die Triebwerksaggregate wieder instand zu setzen. Das erwies sich als schwierig: An Bord fehlten die nötigen Mittel für eine entsprechende Reparatur, und ohne überlichtschnellen Antrieb kamen sie aus dieser Einöde nicht weg. Weder weiter Richtung Lashat noch zurück ins heimatliche Sonnensystem.

Baya ging es um noch mehr: Die FANTASY war ihr Baby. Zumindest fühlt es sich so an.

Nach ihrem Abschluss an der Technischen Universität Darmstadt hatte sie das Glück gehabt, eine Anstellung in der Lunar Research Area auf dem Erdmond zu bekommen – das hatte sie ihren sehr guten Noten in ihrem Fachgebiet Gasturbinen, Luft- und Raumfahrtantriebe zu verdanken. Sie hatte in den vergangenen Jahren an der FANTASY mitgebaut, die Ideen der Ingenieure und Wissenschaftler umgesetzt. Sie kannte jede Schraube in diesem Raumschiff, und sie empfand es als persönliche Beleidigung, dass es nicht funktionierte, wie es sollte.

Die Wissenschaftler an Bord drehten fast durch, weil sie keine Erklärung fanden. Während sie sich in Berechnungen und Kalkulationen verloren, untersuchte Baya die FANTASY lieber von Grund auf. Aber sie machte sich keine Hoffnungen: Selbst wenn sie den Fehler finden sollten, wäre es schwer, die Wissenschaftler dazu zu bringen, ihr zuzuhören. Schließlich war sie nur eine einfache Technikerin.

Ich vermisse Baharum, dachte Baya wehmütig und stand auf. Wenn sie noch länger im Sessel liegen blieb, würde sie einfach dort einschlafen. Keine besonders erholsame Position.

Juna Dasima Baharum, die ehemalige Chefingenieurin, war vor zweieinhalb Wochen spurlos verschwunden, was ihr Team mit Entsetzen und Trauer aufgenommen hatte. Ihr Nachfolger Froser Metscho war in Ordnung – ein Chef, der seine Untergebenen genauso hart antrieb wie sich selbst. Aber zu Baharum hatte Baya ein anderes Verhältnis gehabt. Wenn ihre alte Chefin mit ihr geredet hatte, dann auf Augenhöhe, von Fachfrau zu Fachfrau. Sie waren keine Freundinnen gewesen, hätten es aber werden können.

Baya holte sich einen Schokoriegel aus ihrem persönlichen Vorrat und setzte sich auf ihr Bett. Mit ihrem Multifunktionsarmband rief sie ein Unterhaltungsholo auf, das über dem Fußende des Betts erschien. Sie wählte eine aktuelle Sitcom, in der es um eine WG aus bunt zusammengewürfelten Kolonisten in Trade City auf Olymp ging. Sie hatte eine ganze Bibliothek von Serien und Filmen auf ihrem Speicherchip mit auf die Reise genommen, ihre liebste Freizeitbeschäftigung.

Doch statt der Handlung zu folgen, drifteten ihre Gedanken immer wieder ab.

Baharum war nicht die einzige Vertraute gewesen, die sie in den vergangenen Wochen verloren hatte. Beim Tod von Silvia Taussig war sie selbst Zeuge gewesen – ihre Kollegin hatte bei der Havarie einen Reaktorbruch im Maschinenraum verhindert und war dabei ums Leben gekommen. Baya und Taussig hatten sich vor dem Abflug der FANTASY in Terrania angefreundet.

»Ach, Silvia«, murmelte Baya traurig und zerknüllte das Papier des Schokoriegels. »Zumindest bist du jetzt mit deinem Giordano zusammen.« Ihr ehemaliger Teamleiter Giordano Ricci, in den Taussig heimlich verliebt gewesen war, hatte versucht, sie zu retten, und dies mit dem Leben bezahlt.

Romantisch, tragisch, dumm gelaufen, dachte Baya nüchtern. Irgendwie scheinen alle, mit denen ich mich gut verstehe, zu verschwinden oder zu sterben. Vielleicht bringe ich Unglück. Keine guten Aussichten für die Zwillinge.

Laura und Sophie Bull-Legacy waren momentan auf der FANTASY für Nadine Baya das, was Freunden am nächsten kam. Sie verstand sich erstaunlich gut mit den beiden Frauen, die ein paar Jahre älter waren als sie selbst. Baya war ein zurückhaltender Typ, der nicht leicht neue Freundschaften knüpfte – schon gar nicht zu Vorgesetzten.

Laura und Sophie als NATHAN-Interpreterinnen waren derzeit vor allem mit dem MINSTREL beschäftigt. Sie versuchten mit dessen Hilfe, den Linearantrieb des Schiffs wieder unter Kontrolle zu bekommen. Der NATHAN-Ableger war Baya etwas unheimlich und faszinierte sie gleichzeitig. Die aus vielen kleinen Würfeln zusammengesetzte Kugel zwitscherte und summte beständig. Außer den Zwillingen war niemand in der Lage, das Gebilde zu verstehen. Baya hätte es gern näher untersucht, ahnte aber, dass der MINSTREL das nicht dulden würde.

Sie legte das leere Papier zur Seite und ging in die Nasszelle, wo sie ausgiebig duschte.

Wie konnte es zu der Havarie kommen?, grübelte sie. Es sah doch alles so gut aus – und es lief zunächst auch gut. Bis die seltsamen Pseudo-Quallen des Hyperraums kurz vor Ende der ersten Etappe plötzlich verrücktgespielt hatten. Zwei Tage lag das zurück. Beim Notstopp der FANTASY war das Chaos ausgebrochen. Der Linearantrieb, die Hoffnung der Ingenieure auf einen deutlichen Fortschritt in der Raumfahrt, wurde zerstört. Nun verfügte das Experimentalschiff nur noch über das integrierte Transitionstriebwerk. Beim Sturz aus dem Halbraum hatte das Schiff auch insgesamt enormen Schaden genommen – die FANTASY war für solche Beanspruchungen nicht konstruiert.

Und wir sind viel zu früh damit losgeflogen, dachte Baya schuldbewusst. Sie hätte es wissen müssen – doch natürlich war sie neugierig darauf gewesen, ihr »Baby« endlich im Einsatz zu sehen. Und da es zudem um das Leben von Perry Rhodan ging, war sie bereit gewesen, das Risiko einzugehen.

Sie trocknete sich ab. Der Geruch nach Maschinenöl schien trotzdem noch immer an ihr zu haften. Egal – sie wollte endlich ins Bett. Sie steckte die Dental-Vibrationsspange in den Mund und säuberte ihre Zähne. Dabei überlegte sie, ob sie diese Nacht besser schlafen würde als in den Nächten zuvor. Zwar war sie auch am Vorabend hundemüde gewesen, doch der Schlaf hatte ihr keine Erholung gebracht. Sie schreckte regelmäßig aus den kurzen Schlummerphasen auf, hatte sich dann jedes Mal angespannt und erschöpft gefühlt. Fast hatte sie ein bisschen Angst davor, einzuschlafen. Aber als sie den Kopf auf ihr Kissen legte, war sie innerhalb von Sekunden weggedämmert.

 

Nadine Baya steht im Maschinenraum der FANTASY und wiegt ein Kind in den Armen. Sie spürt Zärtlichkeit für das hilflose kleine Geschöpf – und Stolz. Das ist ihr Baby, ihre Schöpfung.

»Hey, Nadine!« Ian Munroe steht mit einem Mal an ihrer Seite. »Lass mich mal sehen!«

Sie schiebt das Tuch weg, das ihr Baby verbirgt. Sichtbar wird eine winzige Ausgabe der FANTASY, die sie in den Armen hält.

»Kann das denn auch was?«, fragt Ian und zieht ironisch die rotblonden Augenbrauen hoch.

»Aber klar!« Nadine ist entrüstet. Zweifelt er etwa an ihren Fähigkeiten? Sie hat dieses Schiff gebaut, sie weiß ganz genau, was es kann – oder können sollte. Sie wirft die Mini-FANTASY in die Höhe.

Das Raumschiff flattert zunächst unsicher wie ein junger Vogel, den man aus dem Nest gestoßen hat. Dann wird sein Flug eleganter, und es dreht seine Runden durch die Maschinenhalle, wird dabei immer größer.

»Nicht schlecht, oder?«, fragt Nadine siegesgewiss. Dieses Schiff kann überall hinfliegen. Und sie wird mit dabei sein. Insgeheim denkt sie: Wie kann es sein, dass wir an Bord sind und es hier drinnen herumfliegt? Die mangelnde Logik beunruhigt sie nicht. Mehr Sorgen macht ihr, dass der Flug der kleinen FANTASY so unruhig ist. Das Schiff kommt ins Trudeln – und stürzt ab. Es prallt gegen einen der Meiler.

»Nein!« Nadine schreit vor Entsetzen, das sie reglos macht. »Ian, hilf ihr doch!«

Aber als sie sich umsieht, ist der Schotte nicht mehr da. Stattdessen sitzt Silvia Taussig vor einem Konverter und bohrt daran herum. Sie sieht auf. »Kannst du mal kommen? Ich brauche hier etwas Hilfe.«

Nadine geht hinüber. »Was soll ich tun?«

Silvia legt den Plasmabohrer zur Seite und reicht ihr eine Stahlplatte. »Halt das.« Dann nimmt sie einen Hammer und schlägt auf die Stahlplatte ein. Die Schläge vibrierten in Nadines Knochen, dröhnen in ihren Ohren. Ihr ist das unangenehm, und sie ist irritiert.

»Warum tust du das?«

Silvia hört nicht mit ihrer Tätigkeit auf. »Anweisung von oben.«

»Und was soll das bringen?«

Silvia sieht sie erstaunt an. »Was fragst du mich das? Wir sind doch nur Multitechniker.«

Die Klappe des Konverters fliegt auf, und Juna Dasima Baharum steckt den Kopf heraus. »Nicht nachfragen – einfach machen, Mädels!«, ruft sie. Ihre Gestalt löst sich in tausend winzige Teile auf und fliegt davon. Ihre letzten Worte hallen durch den Raum. »Hier kommt ohnehin keiner lebend raus.«

Nadine blickt den Partikeln nach. Dabei entdeckt sie hinter sich die Bull-Legacy-Zwillinge, die in einiger Entfernung in der Maschinenhalle stehen. Sie tragen blaue Kleider und halten sich an der Hand. Habe ich so etwas nicht schon einmal in einem alten Horrorfilm gesehen?, Nadines Verwirrung wächst, und mit ihr das Gefühl, dass etwas furchtbar schiefläuft. Sie kann es nicht benennen, aber sie weiß, dass sie auf eine Katastrophe zusteuern.

Laura und Sophie öffnen synchron den Mund und sprechen. Doch Nadine hört keinen Ton.

»Was?«, fragt sie, während Silvia immer weiter mit dem Hammer auf die Stahlplatte eindrischt.

Die Mienen der Zwillinge werden eindringlicher, sie scheinen nun zu schreien. Sie lassen einander los und wedeln warnend mit den Armen. Doch noch immer hört Nadine keinen Ton. Die Angst legt sich wie ein Tonnengewicht auf ihre Brust.

»Ich verstehe euch nicht!« Sie deutet auf ihre Ohren und schüttelt den Kopf. Sophie schließt den Mund, doch Laura brüllt Nadine weiter lautlose Worte entgegen. Ihre Augen sind vor Panik weit aufgerissen, die Nadine ansteckt.

Das Licht in der Maschinenhalle flackert, und plötzlich wird das Raumschiff von Explosionen erschüttert. Nicht schon wieder. Nadine lässt die Stahlplatte fallen. Sie durchschlägt den Boden und reißt ein großes Loch in die Außenhülle. Zu ihren Füßen sieht Nadine ins Weltall hinaus.

Hinter ihr röhrt der Meiler auf – ein Geräusch, das Nadine den Schweiß auf die Stirn treibt. Dort, wo die kleine FANTASY zuvor gegen die Metallhülle geprallt ist, bricht der Energiegenerator auf, und rot glühendes Plasma, heißer als die Sonne, strömt heraus wie aus einem Vulkan. Eine ebenso glutige Gestalt tritt aus dem Riss. Es ist Giordano Ricci, der an die nach wie vor – nun auf den Boden – hämmernde Silvia herantritt und sie von hinten umarmt. Silvia schreit gepeinigt auf. Ihre Haut schlägt Blasen, wo Giordano sie berührt. Sie verbrennt. Nadine wird übel. Giordano zieht Silvia in seine Arme und versinkt mit ihr in dem Plasmastrom, der sich unaufhaltsam nähert.

Nadine keucht angsterfüllt und weicht zurück, während Silvias Schreie weitergellen. Nadine schaut über ihre Schulter. Das Plasma nähert sich von allen Seiten. Es kriecht wie eine überdimensionale Schnecke von hinten auf sie und die Zwillinge zu. Schon umtost die seltsame glühende Flut ihre Füße. Im Gegensatz zu Silvia scheinen die Zwillinge keine Schmerzen zu haben. Das Plasma umspült sie. Als es sie fast verschlungen hat, versteht Nadine Baya, die inmitten der Flut wie auf einer Insel sitzt, endlich die Worte, die aus Lauras Mund kommen. Doch es ist nicht Lauras Stimme. Diese Stimme ist alt, unendlich bösartig, und sie dringt wie ein Fleischermesser in Nadines Verstand ein.

 

Nadine Baya setzte sich mit einem Ruck auf. Ein Schrei steckte in ihrer Kehle und drang halb heraus. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie war. Dann wurden ihre Gedanken klarer. Sie war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Innerhalb von Sekunden verblasste ihr Traum zu nichts, sie konnte sich an keine Details mehr erinnern – nur an die letzten Worte, die sie von der grausamen Stimme gehört hatte: »Ihr gehört nicht hierher!«

2.

Damoklesschwert

 

Er wirkte wacher als die anderen, mehr da. Eigentlich war das unmöglich. Laura Bull-Legacy kniff die Augen zusammen und versuchte, ihren Eindruck zu verstehen. Vor ihr saß Perry Rhodan, ihr Patenonkel und der Protektor der Terranischen Union, der gerade angeblich im Alleingang die FANTASY gestohlen hatte und mit ihr aus dem Hyperraum geschleudert worden war.

Aus der Parlinger-Tasche gefallen, dachte Laura. Das klang so harmlos. Das Raumschiff war schwer beschädigt, dennoch überraschte es Laura, was sie an diesem Vormittag des 28. Augusts 2089 in den Gesichtern in der Messe las. Die Besatzungsmitglieder waren nicht nur angespannt, sondern auch unausgeschlafen. Eigentlich hätte Laura trotz allem eine positivere oder zumindest neutralere Stimmung erwartet. Gewiss, ihre Lage war bedrohlich, doch es herrschte keine akute Gefahr. Das hinderte das altbekannte Kribbeln in Lauras Magen nicht, zur Höchstform aufzulaufen. Sie hatte ein besonderes Gespür, und dieses Gespür meldete sich mit der Vehemenz einer Alarmsirene.

Rhodan lächelte schief. Sein Gesicht war hagerer als sonst, doch das tat seiner Ausdruckskraft keinen Abbruch. Die lebhaften, graublauen Augen sprachen von den Wundern, die er gesehen hatte. Er machte eine auffordernde Geste. »Setz dich! Du starrst mich seit Sekunden an, als wäre ich ein kosmisches Rätsel, also kannst du auch Platz nehmen und einen Tee mit mir trinken.«

Laura sah auf das Gerät am Handgelenk. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit bis zum Schichtwechsel. Zögernd setzte sie sich. Ihre Brust kam ihr enger vor als sonst, die Lunge eingesperrt. Eigentlich liebte sie es, mit Rhodan zusammenzusitzen. Er war ihr Patenonkel, und sie hatten viele Stunden miteinander verbracht. Seine Nähe versprach für gewöhnlich Geborgenheit. An diesem Vormittag indes fühlte sie sich ihm gegenüber unwohl. Vielleicht gerade weil er trotz des Desasters und seiner eigenen furchtbaren Lage mehr Zuversicht ausstrahlte als jeder andere im Raum. Seine Stärke verunsicherte Laura. Er hatte einen Zellaktivator, der stockte, war dem Tod näher als jeder sonst an Bord, und nun war der Plan seiner Frau Thora, die FANTASY zu kapern, um mit ihr eine Lösung für den defekten Aktivator zu finden, katastrophal gescheitert.

Selbst wenn sie diese Notlage überstanden und einen Heimweg fanden – für Rhodan wäre es vorbei. Es sei denn, sie erreichten doch noch ihr eigentliches Ziel: den Planeten Lashat, wo sich eventuell Hilfe für ihn finden ließ, um ihn von der Dunkelleben-Infektion zu heilen und möglicherweise den Zellaktivator zu reparieren. Zwar war Lashat mittlerweile deutlich näher gerückt. Allerdings vermochte die FANTASY ohne funktionierenden Linearantrieb derzeit nicht, nach Lashat zu gelangen. Es gab zu viele »Vielleichts« und »Eventuells«, und doch blieb der legendäre Perry Rhodan die Ruhe in Person.

»Ich ahne, was du denkst«, sagte er. »Aber sieh es nicht zu düster. Es gibt immer einen Weg. Noch sind wir nicht geschlagen.«

Laura nickte stumm und griff nach der Teetasse, die er ihr reichte. »Entschuldige, falls ich mich seltsam verhalte. Ich habe ziemlich schlecht geschlafen.«

»Da bist du nicht die Einzige, wie es scheint.« Rhodan beobachtete zwei Techniker, die am Automaten darum stritten, wer sich zuerst einen Imbissriegel nehmen durfte. Laura fragte sich, wann es ernsthafte Probleme wegen der Versorgung geben würde. Sie hatten Nahrung für zwei Monate. Die konnten verdammt schnell vorbeigehen, falls sich die Arbeiten am Transitionsantrieb in die Länge zogen oder Ersatzteile benötigt wurden, die sie nicht vorrätig hatten. Und dann?

»Können Sie nicht woanders Wurzeln schlagen?«, fragte Froser Metscho, der Chefingenieur der FANTASY. Obwohl er in Ordnung war, mochte Laura ihn nicht sonderlich. Er kam ihr in sich zerrissen vor, wie jemand, der an alten Wunden litt, die er nie hatte heilen lassen.

Der Angesprochene antwortete nicht, was Metscho wohl auch nicht erwartet hatte, denn es handelte sich um Merkosh, und der benahm sich häufig anders, als man es gewohnt war. Trotzdem brachte Laura das Bild, das Merkosh bot, zum Frösteln.

Der zwei Meter große, überschlanke Oproner stand wie ein junger Baum mitten in der Messe und bewegte sich nicht. Wie üblich trug er eine kurze Hose und auch der Oberkörper war knapp bedeckt. Er hatte die Arme, abgebrochenen, dürren Ästen gleich, dicht an die Seite gelegt. Die Zeichen auf seiner glasartigen Haut erschienen Laura dunkler als sonst – und bildlicher. Zusammen mit dem gut sichtbaren Adergeflecht kamen sie ihr unheimlich vor. Ihr war, als stünde dort eine Botschaft, deren Inhalt sie erschreckte, auch wenn sie nicht wusste, worin er bestand. Im Gegensatz zu sonst leuchtete Merkoshs Gehirn kaum durch den halbtransparenten Schädelknochen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Laura, ob Merkosh die Helligkeit selbst bestimmte.

Während Merkoshs Körper wie festgefroren wirkte, bewegten sich die großen, dunkelgrünen Augen unablässig. Die zu einem Rüssel geformten Lippen waren weit vorgestülpt. Was genau Merkosh damit ausdrücken wollte, wusste Laura nicht. »Ist das normal?«

Rhodan hob kaum merklich die Schultern. »Was ist bei Merkosh schon normal?«

»Ich meine ... Er kommt mir noch seltsamer vor als sonst.«

»Die Havarie setzt jedem zu, auch ihm.«

Laura fragte sich, ob das stimmte. »Er scheint dich zu mögen. Wahrscheinlich macht er sich Sorgen um dich.«

»Oder um uns alle. Merkoshs Denkvorgänge sind kompliziert und andersartig, aber ich bin sicher, dass wir ihm trotz der Unterschiede wichtig sind.«

»Ob er auch schlecht geschlafen hat?«

»Du könntest ihn fragen.«

Der Gedanke erschreckte Laura. Sie mochte es nicht, andere anzusprechen, wenn sie sich derart ungewöhnlich verhielten. Gerade gab Merkosh einen leisen Brummton von sich. Hoffentlich fing er nicht an, wirklich laut zu werden. Die Töne, die er ausstieß, konnten unangenehm werden. »Lieber nicht.«

Sie tranken den Tee schweigend. Als Gucky in die Messe trat, stand Rhodan auf. »Du entschuldigst mich?«