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Band 212

 

Welt der Hoffnungslosen

 

Susan Schwartz

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

1. Galduta

2. Der Acker

3. Zum gelobten Land

4. Der Weg zur Legende

5. Die Tödlichen

6. FANTASY – Galaktische Southside

7. Annäherung

8. Der Weg hinein

9. Keinen Schritt weiter

10. Im Zentrum

11. Der Quaderbau

12. Wer Hilfe braucht

13. Stille Kammern

14. Gefangen

15. Das Treffen

16. Wer erpresst wen?

17. Endlich Hilfe

18. Der Vimatar

19. Hakruveen

20. Galduta

21. Alarm

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten die ersten Siedlungen auf dem Mond und Mars sowie auf mehreren Planeten außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall war mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das aggressive Dunkelleben bedroht die Solare Union, beeinflusst auf unheimliche Weise Einzelpersonen ebenso wie ganze Welten.

Um mehr über das Dunkelleben zu erfahren, wagt Rhodan eine Expedition auf die andere Seite der Milchstraße – zum geheimnisvollen Compariat. Dabei kommt es zu einem katastrophalen Unfall. Der Experimentalraumer FANTASY strandet in einer unbekannten Raumregion.

Nachdem sie das Hindernis eines Schreienden Steins überwunden haben, setzen die Raumfahrer ihren Weg fort – und geraten auf die todbringende WELT DER HOFFNUNGSLOSEN ...

1.

Galduta

 

Es regnete. Schwere, große Tropfen, die laut knallend auf die Metalldächer schlugen.

Osamely versteckte sich unter dem selbst zusammengezimmerten Schutz, zog sich ganz tief nach hinten zurück, wo es nur noch kriechend weiterging. Der Regen tat ihm weh, seine Haut bekam davon Blasen, die aufplatzten, und dann quoll gelber Eiter heraus.

Galduta setzte sich die Ohrenschützer auf. Sie hatte das kleine Dach mit Schwammmoos bedeckt, das nicht nur den Regen liebte und aufsaugte, sondern auch seinen Klang erstickte. Aber der Lärm der nackten Dächer ringsum schmerzte ihre Ohren so sehr, dass sie Angst bekam, einen Blutsturz zu erleiden.

»Geht es dir gut?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein.

Kurzzeitig glühten zwei kleine Lichter auf. Die Antennen über Osamelys Augen phosphoreszierten. »Ja«, kam es zittrig zurück.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, versicherte Galduta. »Ich habe alles abgedichtet, und das Schwammmoos lässt nichts durch. Es fühlt sich wohl da oben.«

»Wird es lange dauern?«

»Ich weiß es nicht. Ich gehe besser sofort und allein.«

»Das ist zu gefährlich!« Osamelys Hand schoss durch die Dunkelheit zu ihr und wollte sie festhalten. Er schrie auf, als sein Finger mit einem Wassertropfen in Berührung kam. Die Hand schnellte zurück.

»Osa, warum bist du unvernünftig?« Galduta seufzte. »Ist es sehr schlimm?«

»Nein, gar nicht.« Die Antennen schlugen Funken. Manche Wesen verströmten Wasser aus den Augen, wenn sie Angst hatten, traurig waren oder Schmerz empfanden. Osamely stieß Funken aus.

Galduta verharrte einige Augenblicke hin- und hergerissen. »Ich muss gehen, Osa, du brauchst Medizin, und ich brauche etwas zu essen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht finde ich auch etwas, um die Lampe zu reparieren. Dann haben wir wieder Licht. Das wäre schön, oder?«

»Willst du nicht doch warten, bis es aufhört?«

Galduta spürte, wie es anfing, sich zu öffnen, und presste die Hand auf den Bauch. »Ich kann nicht. Sollte es Tage dauern, wird Fia'ai zu stark und will dich fressen. Ich habe großen Hunger. Und Fia'ai auch.«

»Ich habe Angst«, wimmerte Osamely.

Galduta war gerührt. Er hatte nicht um sich Angst, sondern um sie. »Ich passe schon auf«, versprach sie.

»Wir bleiben zusammen, ja?«

»Für immer. Das haben wir geschworen, weißt du noch?« Sie legte die Hand an die Brust, und ihre überlangen Finger verschlangen sich zu dem Symbol ihres Schwurs. »Wir beide, du und ich.« Sonst hatten sie niemanden mehr. Beide Elternpaare waren längst einen der unzählbaren Tode gestorben. Es gab niemanden, der sich um sie kümmerte, obwohl sie noch lange nicht erwachsen waren.

Die meisten interessierten sich nicht für sie, bewarfen sie sogar mit Steinen, damit sie ihnen keine Beute streitig machten.

Die anderen ... wollten sie essen.

Galduta hatte zwei Geschwister auf diese Weise verloren, und sie war geflohen, bevor auch sie dieses Schicksal erlitt. Unterwegs war sie auf Osamely getroffen, der ebenfalls auf der Flucht gewesen war. Sie hatten sich seither gut durchgeschlagen, jede Nacht einen anderen Schlafplatz gesucht und sich nur in der Dämmerung nach draußen gewagt.

Es war prinzipiell zu jeder Stunde gefährlich. Galduta und Osamely bewegten sich jedoch bevorzugt in der Dämmerung. Ihre Sinne funktionierten dann am besten, und viele von den anderen waren dämmerungsblind, weil sie keine Farben sehen konnten. Dann verwischte alles zu grauen Schlieren, in denen nur noch vage Bewegungen erahnt werden konnten.

Ein Vorteil für die beiden Kinder, die es dadurch geschafft hatten, schon mehrere Jahre zu überleben.

Mehrere Jahre – das war nur so ein Begriff, ohne dass ein echtes Zeitverständnis dahinterlag. Die Sonne ging auf und unter, es gab Tage, und die könnte man zählen – sofern man dazu in der Lage war oder sich dafür interessierte.

Galduta und Osamely hatten nie gelernt, zu zählen. Sie wussten nicht mal, ob sie in dieser Stadt geboren waren oder von woanders kamen. Sie hatten aber gelernt, zu überleben. Sie waren älter geworden. Vielleicht waren sie doch schon erwachsen? Andererseits ... die Kinderfresser waren weiterhin hinter ihnen her, also schien es noch nicht so weit zu sein.

Galdutas Mutter hatte zu ihr gesagt, dass sie ihre Tochter und ein »Mädchen« sei, ohne genauer zu erklären, was der Unterschied zu einem »Jungen« wie Osamely war. Bei ihm war es ähnlich gewesen, sein Vater hatte ihm erklärt, er sei sein »Thronerbe«.

Manchmal trafen sie jemanden, der freundlich war und sich unterhalten wollte. Meistens waren es die Sterbenden, die nicht allein sein wollten, wenn es so weit war. Doch wer blieb schon bei so jemandem, wenn die unzählbaren Tode zuschlugen? Es war nicht schön, sondern grausam. Keiner starb wie der andere, nur das Ergebnis blieb bei allen gleich: Ihre Körper wurden starr und kalt, sie atmeten nicht mehr, und die Springfarne und Ätzflechten und Giermoose holten sie sich schon nach wenigen Stunden. Nichts blieb zurück, nicht einmal Knochen.

Galduta hatte den einen oder anderen nach der »Zeit« gefragt und ob er die Tage zählen würde.

»Sei nicht dumm«, hatte stets die Antwort gelautet. »Warum sollte ich die Tage bis zu meinem Tod zählen? Wem wäre das von Nutzen? Man kann sie nicht übertragen oder verschenken, damit ein anderer länger lebt.«

Galduta hatte darüber nachgedacht und zugestimmt. Wenn etwas nicht nützlich war, lohnte es sich nicht, dafür kostbare Energie zu verschwenden.

Nur manchmal, ja, manchmal hätte Galduta gern gewusst, ob überhaupt ein Leben auf sie wartete. Es gab Legenden, dass manche es geschafft hätten, den unzählbaren Toden zu entgehen. Dass sie in der »Kolonie« lebten, wo sie sich nicht mehr veränderten, sondern gesund wurden und ein ganz normales Leben führten. In einem guten, sicheren Haus und mit regelmäßigem Essen und sauberem Wasser. Galduta stellte sich vor, dass diese Glücklichen phantastische Dinge taten, die wichtig und von Bedeutung waren. Sie standen auf und wussten, dass sie eine Aufgabe hatten, die sie erfüllte. Wenn sie nach draußen gingen, hatten sie keine Angst, weil es sicher war, dort, wo sie lebten.

Manchmal träumte Galduta davon, dass sie zu einer dieser Legenden wurde, sobald sie erwachsen war. Dass sie es schaffen konnte, weil sie als Kind gekämpft und gesiegt hatte.

Aber diese Träume waren selten.

Denn meistens hatte sie Albträume, und wenn sie erwachte, erinnerte sie sich, dass sie ihr Leben geträumt hatte. Nur noch gefährlicher, und in der Ferne hörte sie immer diese schrecklichen Schreie, die niemals endeten. Die sie zuweilen bis ins Wachen verfolgten.

Wann es mit den schlimmen Träumen angefangen hatte, wusste sie nicht, doch sie konnte sich an eine Zeit »davor« erinnern, als es nicht so gewesen war.

Bald würde auch diese Erinnerung keine Rolle mehr spielen, wie so viele andere. Was zählte, war der Augenblick. Erinnerungen bedeuteten nur Schmerz. Weil es früher schlimmer gewesen war. Oder besser.

 

Es war klüger, sich nur auf die Gegenwart zu konzentrieren, in der sie Osamely und sich selbst versorgte. Es war besser, nicht allein zu sein. Auch wenn er ihr diesmal nicht bei der Beschaffung helfen konnte – an einem anderen Tag würde Osamely mit seinen dehnbaren Armen und Händen sicherlich erfolgreicher als Galduta sein.

Der Regen strömte unaufhörlich, ein dichter Vorhang, der selbst für die farbig Sehenden die Welt grau machte. Galduta hatte keine Probleme damit, ihre Augen waren hervorragend angepasst. Sie konnte zwar kein direktes Sonnenlicht ertragen, aber sobald es dämmerte, sah sie ungeheuer scharf und in vielen starken Farben. Allerdings zumeist nur die Umrisse, selten den Körper dazwischen. Wenn sie Lebenden begegnete, leuchteten diese geradezu, manche strahlten sogar hell. Das waren meistens die, deren Lebenslicht die letzte Energie aufwandte, ein Aufbäumen vor dem Tod. Wie bei den Sternen dort oben, hatte die Mutter ihr mal erzählt, als sie einen grell aufleuchtenden Punkt beobachtet hatten. »Bevor sie sterben, bieten sie noch einmal alles auf in vergehender Schönheit.«

Die unzählbaren Tode waren nicht schön. Galduta wusste, diese Letztstrahlenden boten verzweifelt alles auf, um dem Tod zu entgehen, sie weigerten sich, erkannten das Unausweichliche nicht an. Manche liefen herum und flehten um Hilfe.

Niemand bot sie ihnen. Es gab keine Rettung.

Im Gegenteil. Wer konnte, floh. Manchmal waren die unzählbaren Tode nämlich ansteckend. Gaben sich nicht zufrieden mit dem einen dürren Leben, das kaum mehr Nahrung bot, und wollten mehr.

 

Endlich erreichte Galduta das freie Land, fern der Behausungen, fern des dröhnenden Trommelns. Sie nahm die Ohrenschützer herunter, stellte die eingerollten Ohren auf und strich über sie, um sie zu schärfen. Die feinen Flimmerhaare fingen alles auf, selbst die Töne, welche die meisten anderen nicht mehr wahrnehmen konnten. Mit den großen Lauschtrichtern konnte sie noch Geräusche weit außer Rufweite empfangen.

Vorsichtig bewegte sie sich auf der Straße. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht und tiefe Pfützen gebildet. Ab und zu trat sie auf verbliebene Befestigungen, über die das Wasser hinwegströmte.

Nur wenige konnten den sauren Regen ertragen und waren draußen unterwegs.

Galduta hingegen war die aggressive Nässe egal. Ihre Kutte war längst durchweicht, aber an ihrer dicken Haut prallte alles ab. Sie trug die Kleidung nicht als Schutz vor dem Wetter, sondern um sich, nein, es – zu verbergen.

Sie war vorsichtig, sicherte permanent in sämtliche Richtungen, während sie sich auf den Acker zubewegte. Die Siedlung blieb immer weiter hinter ihr zurück. An der Straße entlang gab es auf beiden Seiten einen breiten Streifen Ödland. Er war wohl vor langer Zeit hineingebrannt worden, niemand wusste mehr, warum. Ein Unglück oder Absicht? Das konnte keiner sagen. Es bewirkte allerdings, dass sie wenigstens eine kleine Chance bekam, unbehelligt bis zum Acker zu gelangen, denn selbst die Springbäume konnten diesen nackten Streifen nicht so schnell überwinden. War es trocken, fanden die Wurzeln keinen Halt, regnete es so wie im Moment, versanken sie zu tief und kamen nur kriechend vorwärts.

Tiere hielten sich von den Streifen fern. Sie schlichen auf anderen Wegen zur Siedlung, um Beute zu machen, oder blieben beim Acker.

Lediglich aus der Luft drohte Gefahr – aber nicht mehr zur Dämmerung und nicht bei diesem schweren Regen.

Galduta zog die Stiefel aus und spreizte die Zehen, so weit sie nur konnte, damit sie besser vorankam. Die Sicht war sogar für ihre Augen schlecht, sie konnte nur noch wenige Wärmemuster durch den nassen Vorhang hindurch erspähen.

Niemand näherte sich – das war gut. Sie wollte nicht kämpfen oder rennen müssen, das würde sie vorzeitig ermüden und Kräfte rauben. Am Ende schaffte sie es womöglich nicht mehr zu Osamely zurück, und er verließ sich doch auf sie.

Die Stiefel verschnürte sie an den Zugbändern der Kutte und ging weiter. Verlass nie die Straße.

Eine wichtige Regel – man wusste nie, wo die Gruben und Fallen lauerten. Der Regen veränderte die Landschaft jedes Mal aufs Neue.

Weit in der Ferne, hinter dem Acker, hörte sie das Keuchen einiger Saugräuber und das summende Warnen der Scharfblätter. Und noch eine Menge andere Geräusche. Der Sumpf war in Aufregung, der Regen lockte selbst die scheuesten Pflanzspreizer hervor. Tiere und Pflanzen waren an dieses Leben angepasst, sie nutzten jede Wetterlage, bevorzugt aber den Regen.

Galduta und die anderen, die in der Siedlung lebten – sie gehörten nicht auf diese Welt. Selbst wenn sie dort geboren wurden, stammten sie nicht ursprünglich von diesem Ort. Das wusste jeder, sogar die am meisten Verdummten. Das war die einzige übereinstimmende Erinnerung aller Bewohner der Siedlung.

»Warum sind wir hier, Mama?«, hatte Galduta einmal gefragt, kurz bevor die unzählbaren Tode bei den Eltern zugeschlagen hatten.

»Um zu sterben«, hatte Mama geantwortet.

»Aber ist das nicht immer so?« Galduta hatte es nicht recht begriffen. »Auch die Pflanzen und die Tiere sterben. Sie werden geboren, leben, fressen und sterben.«

»Wir nicht. Nicht einmal du, Kind. Wir kommen hierher, um zu sterben. Unseren Zustand dazwischen kann man nicht Leben nennen. Nur Vergehen.«

»Wo kommen wir her?«

»Von den Sternen. Schiffe bringen uns, werfen uns ab, und dann warten wir. Deswegen bezeichnen wir uns als die Verlorenen.«

»Gibt es niemanden, der das ändern will?«

»Sicher. Die einen sterben gleich. Sie tun es hier oder gehen in die Sümpfe und lassen es die Tiere und Pflanzen erledigen. Andere machen sich auf, nach einer Lösung zu suchen, die uns alle rettet. Sie kehren nie zurück. Keiner kehrt je zurück.«

In diesem Moment hatte sich Vater eingemischt. »Natürlich nicht! Warum sollten sie? Diejenigen, die nicht sterben, aber die Lösung gefunden haben, gehen kein Risiko mehr ein. Sie bleiben dort und bauen weiter an der Kolonie.«

Da war sie wieder, die sagenhafte »Kolonie«. Von dieser Legende hörte Galduta oft. Manchmal war sie nicht sicher, ob ihr Vater und die anderen die Geschichte nicht erfunden hatten, um noch an etwas Gutes glauben zu können. Vielleicht war aber auch etwas Wahres dran. Denn immer wieder machten sich Leute auf den Weg zur Kolonie. Der Weg führte in Richtung der Berge, durch die Siedlung hindurch, was nicht minder gefährlich war, wie in die Sümpfe zu gehen. Denn im alten Zentrum, so hieß es, lebten die Tödlichen. Das waren diejenigen, die tot waren, aber nicht starben. Die schon so lange existierten, dass sich niemand mehr erinnern konnte, wann sie gekommen und ob sie nicht vielleicht sogar die Ersten gewesen waren. Denen es gelungen war, die unzählbaren Tode zu überlisten, indem sie ihr Leben wandelten und untot wurden. Wie das vonstattengehen sollte, war ein Rätsel, doch wen kümmerte das schon.

Denn dahinter, davon war Galdutas Vater überzeugt gewesen, existierte die Kolonie mit den Freien. Die den Tod besiegt hatten und lebten. Denen die Tödlichen nichts mehr antun konnten.

Ein schöner Traum, dem so mancher folgte. Um kein Verlorener mehr zu sein.

Alle, die aufbrachen, versprachen, zurückzukommen. Alle, die blieben, sagten: Ja, wir werden warten, bis du uns holst. Obwohl jeder wusste, dass das nie der Fall sein würde.

2.

Der Acker

 

Der Regen ließ etwas nach, genau im richtigen Moment. Galduta erkannte durch den zurückweichenden Vorhang die Umrisse des Ackers vor sich. Er war kein Feld, das bepflanzt wurde, sondern ein großes Gebirge aus Trümmern und Überresten, eine riesige Halde voller Hinterlassenschaften, durch die ein Labyrinth geheimer Wege führte, mit verborgenen Kammern, in denen es Nahrung gab und Stoffe, sogar fertige Kleidung und so manches mehr.

Galduta hatte es noch nie geschafft, den Acker vollständig zu erkunden – nicht mal seine Außengrenzen, indem sie nach ganz oben kletterte. Er war zu groß und wuchs in unregelmäßigen Abständen immer noch weiter. Jeder, dem es glückte, sich bis an diesen Ort zu schleppen, kletterte außen und innen herum, auf der Suche nach all den Dingen, die ein paar weitere Tage Leben brachten. An guten Tagen waren sehr viele unterwegs, und doch begegnete man sich kaum.

Manche lebten sogar im Acker. Früher hatten einige wohl versucht, dort eine separate Siedlung zu gründen und Tribute von allen zu verlangen, die nicht zu ihnen gehörten. Sie wurden getötet oder waren gestorben, bevor sie sich durchsetzen konnten. Deshalb gab es nur noch vereinzelte Tüftler und Bastler sowie ein paar gefährliche Existenzen, denen es gelang, sich vor den Abfallkreaturen und den Raubpflanzen zu verstecken. Die übrigen kamen wie Galduta lediglich sporadisch, um Vorräte zu holen und sich danach wieder in den sicheren Unterschlupf der Siedlung zurückzuziehen.

Galdutas Welt war sehr klein und beschränkt, wenn sie es recht bedachte. Egal wohin sie sich wandte, es war gefährlich, allzu weite Ausflüge zu unternehmen. Auf der Flucht vor den aggressiven Erwachsenen hatten sie und Osamely sich zudem immer mehr an den Rand der Siedlung bewegt. Galduta hatte dort einen Unterschlupf gesucht, der nicht zu weit entfernt von einer der Straßen lag, die direkt zum Acker führten.

 

Wegen des nachlassenden Regens wurde es heller. Galduta schloss die Lider halb. Der Tag war jedoch schon so weit vorangeschritten, dass sie kein direktes Sonnenlicht mehr ertragen musste – und die Wolkendecke war noch dick genug, um das meiste abzuschirmen.

Vorsichtig blickte sie sich um. Galduta war nun gut sichtbar und musste ungeschützt, ohne Deckung, den Acker erreichen. Erst auf und in ihm gab es genügend Verstecke und Ausweichmöglichkeiten.

Doch es war niemand in der Nähe, nur ein Händler kauerte am Rand. Von seiner Hutkrempe tropfte das Wasser, sein Körper war unter mehreren Lagen Stoff verborgen. »Ich habe hier alles, was du brauchst!«, rief er Galduta entgegen.

Sie zögerte. Das mochte eine Falle sein. Sie wich an den Straßenrand aus und näherte sich ihm langsam im Bogen.

»Du brauchst keine Angst zu haben! Ich suche mein Auskommen, genau wie du.«

»Ich habe nichts zum Tauschen«, erwiderte sie.

»Dann bring mir doch etwas von drin mit, ich tausche alles.« Seine Stimme nahm einen flehenden Tonfall an.

Sie vermutete, dass er entweder keine Beine mehr hatte oder zu schwach war, um in dem Schrott herumzuklettern.

Aus Mitleid ging sie nun doch näher und musterte sein kleines, auf einem Tuch ausgebreitetes Warenangebot. »Ich brauche ein paar Kabel und einen Schalter für eine Lampe«, sagte sie. »Ein Dynamo wäre auch nicht schlecht.« Bisher hatte sie die Energie von einer der wenigen Straßenleuchten gezapft, aber diese fielen oft aus. Mit viel Glück sprangen sie irgendwann wieder an, doch wenn sie endgültig kaputt waren, reparierte sie keiner mehr. Über manche Straßenzüge waren ganze Kabelnetze gespannt, von denen viele mit toten Energiequellen verbunden waren. Es war nicht einfach, ein Kabel zu finden, das Energie leitete, wenn man keinen Stromprüfer hatte.

Aus dem Zentrum, hieß es, kam die Energie, die Tödlichen verfügten darüber, und angeblich gab es auch in der Kolonie keine Probleme damit. Wurden aber die Verbindungen gekappt, wurde es immer schwieriger, Lampen, Öfen oder Maschinen wie etwa für die Fortbewegung zu betreiben. Die Verlorenen mussten also findig sein und Dynamos bauen oder sie mussten im Acker vergrabene Energiespeicher finden, die tragbar waren und an die eigene Versorgung angeschlossen werden konnten.

Der Händler hatte nichts dergleichen zu bieten. Nur verrostete Metallstücke, mit denen nichts anzufangen war. Wie lange er da wohl schon ausharrte? Galduta sah ihn zum ersten Mal, aber das musste nichts besagen.

Er blickte sie so hoffnungsvoll an, dass sie es nicht fertigbrachte, seine nutzlose Auslage zu kritisieren. »Ich werde sehen, was ich finde«, versprach sie. »Auf dem Rückweg können wir dann verhandeln.«

»Du hast sehr hübsche Ohren«, sagte er. Sein Gesicht war zur Hälfte verbrannt, der Rest von Dreck und Ruß unkenntlich. Das verbliebene Auge war kaum in der Lage, sie zu fixieren.

Sie lächelte und bewegte ihm zu Gefallen ihre großen Ohren, auf die sie wirklich stolz war. Sie pflegte sie ganz besonders, damit es zumindest etwas Schönes gab in all dem Dreck und Elend.

»Vielleicht ein wenig Wasser?«, bat der Händler. »Es brennt so sehr.«

Galduta wich augenblicklich zurück. Sein längst vernarbtes Gesicht konnte er nicht mehr spüren. Sie wusste, was er meinte. Die unzählbaren Tode begannen immer mit dem innerlichen Brennen. Es war das erste Zeichen des Endes, wovor sich jeder fürchtete.

»Es hat gerade geregnet«, sagte sie leise.

Der Händler war triefnass, ein gewölbtes Metallbruchstück hatte sich mit Wasser gefüllt.

»Aber es brennt so«, wiederholte er.

»Ich werde dir Wasser bringen«, log Galduta und floh weiter.

Niemand blieb bei einem Sterbenden. Die unzählbaren Tode waren grausam. Das Ende war niemals still und friedlich. Mit anzusehen, was einem bald selbst geschehen würde, war unerträglich.

 

Der Acker türmte sich vor Galduta auf, nahezu bis in die Wolken ragend und so weit ausgedehnt, wie das Auge reichte. Viele der Raumschiffe, welche die Verlorenen hertransportierten, waren so alt und klapprig, dass sie anschließend nicht mehr starten konnten. Sie erreichten die Welt mit den letzten Energiereserven für den Antrieb, dann war es zu Ende. Manche stürzten ab, andere schafften gerade noch die Landung und fielen erst danach auseinander.

»Das ist Absicht«, hatte Galdutas Vater einmal gesagt. »Nicht nur, weil sie nicht zu viel Aufwand für uns Sterbende betreiben wollen, sondern damit die Seuche nicht wieder mit zurückgebracht wird.«

Die Wrackteile blieben nicht einfach so liegen, Maschinen und Halbmaschinen nahmen sie auseinander und schleppten sie zum Acker, türmten ihn dadurch immer weiter auf und zogen ihn in die Breite. Er bildete mittlerweile eine Barriere zwischen dem Landeplatz und der Siedlung, die sich am Gebirge entlang erstreckte, sodass es für Neuankömmlinge immer schwieriger wurde, überhaupt zur Stadt zu gelangen.

Aber auch darum kümmerten sich einige der Bewohner, natürlich nicht ohne Gegenleistung.

Manche Neuankömmlinge versuchten, sich die letzten Lebenstage in den Schiffen einzurichten. Aber das ließen weder die mitgeschickten Maschinen noch die in der Stadt gebürtigen Halbmaschinen zu. Es kam zu Kämpfen, bei denen die Neuen grundsätzlich unterlagen.

Die Maschinen taten den neu Eingetroffenen zwar nichts, aber sie machten sie wehrlos und transportierten sie ab – zur Siedlung.

Die Halbmaschinen waren anders. Einst waren sie Verlorene gewesen, die glaubten, die unzählbaren Tode auf diese Weise überwinden zu können. Sie machten sich selbst zu Hybriden. Dadurch wurden sie verrückt – jeder, ohne Ausnahme. Sie lebten zwar tatsächlich länger als die normalen Verlorenen, doch sie wurden nicht wie die Tödlichen. Und wie die Freien schon gar nicht ...

Die Halbmaschinen waren eine unberechenbare Gefahr. Sie hausten im Acker und standen den räuberischen Tieren in nichts nach. Manche von ihnen zähmten sogar Tiere und nutzten sie als Verbündete.

Sie hätten eine gefährliche Streitmacht bilden können – wenn sie sich nicht untereinander fortgesetzt bekriegen würden. Es gab nicht zwei von ihnen, die sich zusammentaten. Sie neideten einander jedes brauchbare Bauteil, das sie für ihre neuen Körper verwenden konnten, um die Lebenszeit zu verlängern.

Andererseits ... Über wen sollten sie denn herrschen? Die Verlorenen starben schneller, als sie unterdrückt werden konnten. Gewiss, ein paar lebten länger – vielleicht sogar »Jahre.« Aber eigentlich gab es abgesehen von den Grundbedürfnissen nichts, worum es sich zu kämpfen lohnte. Die Verlorenen konnten keine Dienste erbringen, sie wurden zu schnell zu schwach.

Galduta hatte davon gehört, dass es in Richtung Zentrum automatische Versorgungseinheiten geben sollte. Vielleicht funktionierten sie ja noch, weil die dort herrschenden Tödlichen keine Nahrung mehr brauchten. Sie hatte schon überlegt, eines Tages zusammen mit Osamely danach zu suchen, sobald er kräftig genug war. Oder wenn die Erwachsenen sie nicht mehr fressen wollten.

 

Ein Knurren drang von ihrem Bauch herauf, und Galduta hielt kurz inne, strich beruhigend über den Stoff ihrer Kutte. »Bald!«, versprach sie. »Bald.«

Eilig kletterte sie weiter über scharfkantige Metallplatten und ineinander verschlungene Verstrebungen, über große Blöcke, deren grobe Strukturen gerade so Halt boten, um sich emporzuhangeln. Mit ihren geschmeidigen Fingern und Zehen war Galduta besser als viele andere geeignet und fand dadurch gute Stellen, an die noch niemand sonst gelangt war.

Der Hunger wurde immer stärker. Bald würde es gefährlich werden. Und außerdem brauchte Osamely dringend seine Medizin.

Galduta hatte tief drin im Labyrinth in einem Wrackteil einen intakten Bereich entdeckt, in dem es Nahrungsbeutel gab und Mittel gegen Fieber und Schmerzen. Das Dunkle Feuer tobte in Osamely, doch bisher war er nicht gestorben. Sobald er seine Medizin bekommen hatte, erholte er sich wieder. Kinder waren stärker als Erwachsene. Deswegen waren sie ja so begehrt. Die Erwachsenen wollten sich nicht nur an ihnen sättigen, sie hofften auch, deren Widerstandskräfte aufzunehmen und dadurch den eigenen Tod hinauszuzögern.

Das Dunkle Feuer, so wurde die Seuche genannt, die in jedem der Verlorenen brannte. Es war der Grund, weswegen sie hierhergebracht wurden, denn die tödliche Krankheit war hochgradig ansteckend und breitete sich rasend schnell aus, ein winziger Funke genügte.

Die Auswirkungen waren bei jedem sehr verschieden. Galduta hatte noch niemanden gefunden, der genauso war wie sie. Auch ihre Eltern hatten anders ausgesehen. Gewiss, eine Ähnlichkeit war zu erkennen gewesen, doch nach dem ersten schweren Anfall, als es entstanden war, hatte sich alles verändert. Und auch die Eltern sahen mit den verstreichenden Tagen zusehends anders aus.

Ich werde nicht daran sterben, dachte Galduta zornig. Eines Tages werde ich es wagen, zum Zentrum zu gehen, ich werde an den Tödlichen vorbeigelangen und die Kolonie der Freien finden. Und eine von ihnen werden. Und ich werde an einer Lösung arbeiten, wie wir von hier wegkommen!

 

Galduta spähte nach allen Seiten. Sie war nun auf halber Höhe des Ackers; an den Flanken entlang krochen weitere Verlorene herum und stritten sich um Beute. Niemand war in ihrer Nähe, also wagte sie es, in das Loch hineinzuschlüpfen, das zu ihrer »Schatzkammer« führte. Für Neuankömmlinge mochte der Acker an jeder Stelle gleich aussehen, aber Galduta war schon oft genug an diesem Ort unterwegs gewesen, um sich genau auszukennen.

Ihre Augen konnten jeden Hauch von Wärme wahrnehmen, der für sie zu einem Leuchtfeuer in der Dämmerung wurde, je tiefer sie hineinkroch. Das bedeutete immer Gefahr. Die Aallurche waren am zahlreichsten, denn sie waren sehr genügsam und vermehrten sich schnell. Sie gelangten fast überall mühelos hin, konnten sich abstoßen, aufblasen und ein ganzes Stück weit schwebend zwischen den Hindernissen hindurchschlängeln, bevor ihnen die Luft ausging, ihre kräftigen, kurzen Beine Halt fanden und den schlanken Körper weiterstemmten. Sie hatten spitze, zähnestarrende Mäuler, die nichts mehr losließen, was sie einmal gepackt hatten.

Galduta identifizierte ihre Signaturen frühzeitig genug, um ausweichen zu können, bevor die Aallurche sie witterten. Ihre Ohren waren halb angelegt, damit sie nirgends dagegenstieß, während sie sich geschickt durch die Lücken in dem Metallgeflecht hangelte. Es war nicht zu erkennen, wo ein Wrackteil aufhörte und das nächste begann. Manche Durchschlupfe waren künstlich angelegt, von Aallurchen und Wollochen: Gänge zu ihren Nestern.

Es gab Bereiche, in denen sich Wasser in beckenartigen Wannen sammelte, und dort ließen sich sofort Pflanzen nieder, schlugen Wurzeln und bildeten Moose, Farne und Flechten. Deren Sporen waren überall, die gesamte Luft war davon durchsetzt. Auch diese Pflanzen wuchsen allerdings nicht freundlich vor sich hin, genügsam mit Licht und Wasser, sie waren genauso wie alle Kreaturen dieser Welt ständig auf der Suche nach Beute, nach Wirten.