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Band 213

 

Der letzte Flug der KORRWAK

 

Rainer Schorm

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Prolog: Woggrill: Wie es war ...

1. Mentro Kosum: Emotionautik und mehr

2. Cameron Canary: Was heißt schon gesund ...?

3. Mentro Kosum: Das Pirschen durch Strahlung

4. Cameron Canary: Oz-Land

5. Woggrill: Des Künstlers Brot

6. Mentro Kosum: Im Innern eines heißen Schwamms

7. Perry Rhodan: Es wird grau ...

8. Woggrill: Neulinge

9. Cameron Canary: Krankheit und Tod

10. Mentro Kosum: Was man findet ...

11. Perry Rhodan: Panikattacken

12. Woggrill: Was tun mit Fremden?

13. Mentro Kosum: Kontaktzone

14. Woggrill: Tür auf!

15. Cameron Canary: Von Blumen und Ghulen

16. Mentro Kosum: Abgänge

17. Perry Rhodan: Von Grau zu Schwarz

18. Mentro Kosum: ... darf man behalten?

19. Woggrill: Leckerlichkeit

20. Cameron Canary: Erste Hilfe

21. Perry Rhodan: Krankentransport

22. Mentro Kosum: Konflikte mit Unsichtbaren

23. Woggrill: Darben

24. Mentro Kosum: Er kommt!

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

Fünfzig Jahre nachdem die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen ist, haben Kolonisten erste Siedlungen auf fremden Welten innerhalb und außerhalb des Sonnensystems errichtet. Der Weg ins Weltall verläuft mühsam und abenteuerlich. Aber geleitet von Perry Rhodan, haben die Menschen bislang jede Gefahr überstanden.

Doch im Jahr 2089 werden sie mit einem Gegner konfrontiert, der nicht fassbar erscheint. Das mysteriöse Dunkelleben bedroht die Solare Union. Um dieses Phänomen zu enträtseln, wagt Rhodan eine Expedition in das ferne Compariat, zu einem bislang unbekannten Sternenreich. Dabei kommt es zu einem katastrophalen Unfall. Rhodans Raumschiff, die FANTASY, strandet in einer fremden Raumregion.

Dort erlebt Rhodan, welche schrecklichen Folgen es hat, wenn sich das Dunkelleben weiter ausbreitet. Als die Besatzung der FANTASY einen Notruf empfängt, eilt sie zu Hilfe. Die Menschen geraten mitten in ein gefahrvolles Drama – es ist DER LETZTE FLUG DER KORRWAK ...

Prolog

Woggrill: Wie es war ...

 

Das Licht erlischt. Völlige Scheinloserei!

Ich bin ohnehin kaum mehr ich selbst. Widerstrebend erinnere ich mich an die kreischenden Geräusche, als die KORRWAK aus dem Hyperraum gefallen ist. Ich verstehe nicht viel davon, habe all das bisher für bedeutungslos gehalten – Technik eben, nichts Wesentliches. Hier, inmitten des Chaos, habe ich indes begriffen, dass die Maschinen durchaus etwas bedeuten: Überleben.

Nicht mehr, nicht weniger!

Was mental von mir übrig ist, seit der Havarie, ist zu nichts Kreativem mehr fähig. Keine Tanzung, nichts.

Ich habe von Fremden vor langer Zeit vom Konzept der Träume erfahren. Das ist eine eigenartige Sache: Während der bewusstlosen Karenzzeit produziert die Restaktivität eines Gehirns absurde Geschichten. Das scheint notwendig zu sein, um aufgelaufene Informationen zu verarbeiten.

Als ich fragte, wie man denn diese Karenzgeschichten nutze, bekam ich Antworten, die mir noch größere Verwirrtheit bereiteten als das eigentliche Konzept. Enttäuschend. Es läuft darauf hinaus: Sie wissen es selbst nicht.

Ich erkenne plötzlich eine Wortparallelität zu meiner eigenen Situation. In der Scheinloserei weiß ich ebenfalls nicht weiter. Das ist ein durch und durch betrüblicher Zustand, aus dem ich durch eigenes Zutun nicht entkommen kann.

Ich erfahre nicht viel von dem, was im Schiff vor sich geht, geschweige denn außerhalb. Rätselei, Rätselei! Ich habe aufgeschnappt, dass die KORRWAK beschädigt ist und in den Notfallmodus geht. Was genau das bedeutet, blieb Teil der Rätselei.

Die KORRWAK ist ein Schleppverbund. Ganz entfernt erinnert er an einen Knochen, wie ihn Hartleibige haben. Nein, das ist eine Irrung: Sie haben etliche davon, vielfach mehr als zehn Zehnungen. Außerdem sieht die KORRWAK aus, als habe man ein solch kalzium- und kohlenstoffbasiertes Stützelement übelst verdreht, bis zur Absurdigkeit.

Nein, der Schleppverbund ist keine optische Genießung, ganz bestimmt nicht.

Als ich an Bord ging, kannte ich den Kurs nicht. Wir Künstler wissen das selten, wenn wir uns schwarzmieten. Der Weg ist die Zielung, und das ist gut so. Allerdings sieht es so aus, als habe ich bei der Wahl keine gute Tentakelung gehabt.

Es ist ein Sterbetransport ... Warum öffentlichen sie so etwas nicht, bitte schön? Wer würde in einem Sterbetransporter schwarzmieten wollen? Niemand.

Eben!

Ich bin nur Woggrill, und ich imaginiere nicht mal im Ansatz, wohin das führen kann. Darstellende Kunstfertigkeit interessiert an Bord niemanden. Ich werde von der Besatzung ignoriert. Gerade als ich mich offenbaren wollte, mit meinem Angebot Kunstfertigkeit gegen Passage, machte sich die Große Unberechenbarkeit bemerkbar, die alles und jeden enthält: mit Plötzlichkeit, Überraschlichkeit und einer Abneigung gegen die Pläne von Wesen aller Art.

Die Panik ist allgegenwärtig. Die paar Sleeker der Besatzung, allesamt selbst gesund, wie ich hoffe, sind damit beschäftigt, die KORRWAK zu stabilisieren.

Abweichung, Abweichung. Manipuliererei am Schleppverbund ist bestimmt nicht regelkonform, das ahne ich. Das Compariat neigt nicht zu Spontaneität ... oder gar Kreativität.

Bürokratiererei überall und immer; es ist kaum auszuhalten.

Wir Sleeker haben den Ruf, Unkonventionalität zu praktizieren, was Institutionen selten gefällt. Es fehlen Schubladen, hörte ich. Was das genau sein soll, entzieht sich meiner Verständigkeit. Wahrscheinlich ist es eine Unannehmlichkeit, wie könnte es in diesem Zusammenhang anders sein?

Dass die anderen nicht in einem Vimat enden wollten, verstehe ich vollumfänglich. Ich teile die Aversion gegen diese Örtlichkeiten. Wer will schon als Müll enden, auch wenn wir alle genau dieses Schicksal am Ende teilen? Aber man muss es schließlich nicht so nennen. Es klingt so unschön, wie es ist. Ein wenig Realitätsverweigerung hat noch keinem Sleeker geschadet. Einem Künstler erst recht nicht. Realität ist so ... realistisch.

Also verharre ich halb schwebend in einer Ecke. Meine Offenbarung ist gescheitert; ebenso wie mein Versuch, damit eine angenehme Passage auszuhandeln. Der Vortänzer der KORRWAK ist anderweitig beschäftigt, schlechter Laune und sicher nicht bereit, Zugeständnisse zu machen.

Jämmerliche Armseligkeit hüllt mich ein und macht mich schwer. Es ist eine einzige Verzweifeltheit.

Die Notbeleuchtung springt endlich an. Ein Strukturschock hat den bereits beschädigten Schleppverbund getroffen. Das ist nicht gut, das weiß sogar ich.

Von hier aus kann ich die Lichtbildeinheiten sehen. Der Stern, in dessen Klauen der Schleppverbund hängt, ist doppelt. Ein kleines, weißes Ding, umgeben von scheibenförmiger Glut, die es aus dem Sonnenleib seines engen Nachbarn gerissen hat.

Sternenfraß der schlimmsten Sorte, würde ich meinen. Die stellare Gier macht mich fassungslos, und ich fühle, wie der Drang nach einer Pantomime meine Branen in Bewegung setzt. Dagegen kann ich nichts tun. Künstler ist man oder eben nicht. Aber meine Leistung ist verschwendet, sie versickert in der Panik, die durch die zentrale Sphärenblase geistert.

Schläge treffen die KORRWAK. Es ist unglaublich, was ich da sehe. Der Doppelstern pulsiert, schleudert rhythmisch seine eigene Substanz in den umgebenden Leerraum.

Partikelatmung, denke ich. Wie die Hartleibigen, wenn sie eine Infektion ihrer paarigen Atmungsorgane durchleiden. Husten nennt sich das wohl. Viele andere Wörter bezeichnen dasselbe, aber der Vorgang ist immer von eigenwilliger Explosionalität. Schön ist er nie, nicht für einen Pantomimen, der mit Beweglichkeit Ausdruck sucht. Ausdrücklich.

Auswurf passt wirklich besser.

Dieses grausige System hustet seinen Auswurf der KORRWAK entgegen. Die Hülle umschützt uns – ich hoffe sehnlich, dass es ausreicht. Andere Spezies verfügen über seltsame, energielastige Schutzschirme. Vielleicht hat das Obere Tanzpaar irgendwann einmal versucht, mit Handel solche Schirmungen zu erwerben, das weiß ich nicht. Durchgesetzt hat es sich nicht. Nur die Hülle steht zwischen uns und dem extrem unerfreulichen Tod.

Bratung! Zersetzlichkeit. Das ist furchtbar.

Der Name der spuckenden Doppelsonne ist ebenso furchtbar: Larmorr. Ein Unklang, wie er schlimmer kaum vorstellbar ist. Nicht einmal für mich, und ich gehöre zu den Kreativen.

Die Alarmsirenen schicken ihre penetranten Luftschwingungen durch die Sphärenblasen. Die Semoten bewegen sich im Schalldruck, als wehe ein kräftiger Scherwind.

Hinter mir ziehen sich die frisch gewachsenen Semotenflächen die Rundwand hinauf. Ich weide etwas davon ab. Ich brauche Nahrung, wenn ich aufgeregt bin. Lampenfieber oder Todesangst, für die Wirkung auf meine Verdauungstracheen ist das kein Unterschied. Sie haben eine sehr schmack- und vor allem nahrhafte Sorte in der Zentralblase. Kein Wunder.

Die Schallwellen reißen an meinen Branen; es fühlt sich unangenehm an. Aber warum sollte ihnen am Wohlbefinden eines Schwarzmieters gelegen sein? Sogar ich erkenne, dass wir alle andere Probleme haben.

Ein Notsignal? Die KORRWAK sendet es offenbar ohne Anweisung. Die Vortänzer in der Zentrale suhlen sich im Schock. Wie unangenehm. Sie wollten uns dem Vimat vorenthalten und ihren eigenen Kurs anlegen. Aber nun steht fest: Es gibt keine Entkommung – und nun sogar das. Das eigene Schiff schreit lauthals um Hilfe.

Das scheint nicht gut zu sein. Die Ängstlichkeit der anderen klebt an mir wie Psolmhonig. Leider haben wir keine Psolmnematoden an Bord. Das wäre ein Genuss. Meine Tracheen sabbern.

Bin ich verrückt, jetzt ans Schlemmen zu denken?

Das Signal wird einen Konflikt aufbauen, deshalb bekomme ich Appetit.

Wir sind nicht unbedingt konfliktfreudig, aber unser Drang nach Unabhängigkeit ist sehr viel größer als unsere Wichtigkeit. Also lässt uns das Compariat in Ruhe. Das ist allen recht. Nur die Schwärzung wird nicht geduldet. Wenn sie zum ersten Mal über eine Zivilisation kommt, läuft ein Programm ab, das keine Abweichungen kennt. Egal wie unbedeutend eine Welt ist, sie wird von der Schwärzung gereinigt – wenn das möglich ist. Der Druck ist intensiv, wird aber unter den Branen gehalten. Paniklichkeit gefährdet alles noch viel mehr. Heute weiß ich das. Ich sitze fest und war auf dem Weg ins Hakrusystem. Niemand will dorthin, und unsere Flucht ist ganz in meinem Sinn.

Sie ist gescheitert. Die kleinen Novaausbrüche des teuflischen Doppelsterns schlagen mit großer Gewalt gegen unsere Hülle. Unser Panzer ist kräftig. Er wird das wohl aushalten, wenn ich richtig verstanden habe – es sei denn, wir nähern uns dem Doppelmonstrum im Zentrum des Systems weiter an. Wer will das schon? Ich frage mich ohnehin, was uns in die unbarmherzige Leere treibt, weg von Wind, Duft und Wärme. Hier gibt es nichts für uns. Die Weite dort draußen hat uns nur Unglück gebracht ... was niemanden außer uns selbst interessiert! Wir sind Exoten. Eine Seltenheit, wenn auch keine schützenswerte. Wie deprimös! Ich will zurück nach Korrg.

Aber immerhin bin ich gesund.

Ein anderer Alarm. Jemand kommt, so höre ich. Wer das ist, bleibt mir verborgen. Ich habe begriffen. Es ist an der Zeit, sich wieder zu verstecken. Eine Panikwellung schwappt zu mir. Wenn die Schiffsleitung so reagiert, ist es Zeit, zu verschwinden.

Ich tänzele durch die Nachbarblase. Niemand achtet auf mich. Ich kenne einen Zugang zur mittleren Semotenschicht. Sie liegt unterhalb der Nährlage. Dort treiben sich lediglich kleine Roboter herum, welche die Technovernetzung prüfen und reparieren.

Ich verschwinde im Boden. Die Dunkelheit hat nun etwas Heimeliges.

Ich falte mich zusammen und warte.

 

... sehr viel später:

Harte, metallische Schläge sind zu hören. Sie dröhnen durch die Schwammblasen, als hämmere jemand mit einem gigantischen Werkzeug wüst gegen den Schiffsrumpf. Dann folgt ein geradezu widerliches, ebenfalls metallisches Reißen. Zerfetzung, Scherblichkeit.

Jemand bohrt Löcher in die KORRWAK? Wie furchtbar! Zwar weiß ich, dass die Blasen gegeneinander verschließbar sind, aber ich bekomme mit einem Mal sehr viel weniger Luft. Ist das etwa reine Einbildlichkeit? Kann man imaginativ ersticken? Auf jeden Fall fühlt es sich an, als dehnten sich meine Branen im Unterdruck aus.

Ich schiebe mich weiter ins Dunkel hinein.

Der kleine Bordkommunikator, den ich unberechtigterweise an mich genommen habe, gibt furchtbare Laute von sich. »Sie sind da!«

Gefolgt von grässlich blubbernden Schreien. Ich verdicke meine Hörmembranen, damit die Ritzen weniger Schall aufnehmen, aber was übrig bleibt, ist entsetzlich genug.

Ich werde Zeuge, wie sie sterben; wie sie alle sterben: die Kranken und die, die noch gesund waren. Der Tod macht sie alle gleich. Hilfeschreie gellen durchs Schiff, als kreische der Schleppverbund selbst. Dann werden sie weniger. Leiser. Bis sie verstummen.

Grauenbebend drücke ich mich an die Stahlplatte unter mir. Ich sehe nichts, ich sensiere nichts und bin froh darüber. Was gäbe ich für eine Verschwindung ... Was ich höre, sind eigenartig scharfe, zischende Stimmen. So würde ein Messerwerk reden, wenn es denn könnte.

Ein Hartleibiger würde das einen Albtraum nennen. Ich bin froh, dass ich nicht träume! Das wäre unerträglich.

Die Zeit kriecht wie eine amfurische Schnecke.

Geht weg! Geht weg! Geht doch endlich weg!

Bis es dann ganz still wird. Die Schweigsamkeit herrscht in der KORRWAK und dringt in den letzten Winkel. Stillung. Absolute Stillung.

Sie sind verschwunden. Endlich!

Aber es ist zugleich auch für mich das Ende, das ist mir klar. Ich allein bin übrig. So gut wie tot. Ich bin Künstler, ich kann die KORRWAK nicht fliegen. Nicht mit Anleitung und ganz gewiss nicht ohne. Das bedeutet, ich werde nicht überleben.

Klarheit sollte verboten werden – sie ist ohne Trost und ohne Gnade. In Unerbittlichkeit.

 

Ich verlasse mein Versteck erst später. Sehr viel später. Die Angst macht aus mir ein Gepäckstück, eingeschnürt in Furcht und Schreckseligkeit. Das ist demütigend, aber passend. Die Pantomime hierzu ist überzeugend, aber ohne Publikum die reinste Verschwendung.

Ein paar Systeme funktionieren noch. Wer auch immer das getan hat, die Zerstörung der Schiffssysteme hielt er wohl für überflüssig. Ein paar Takte später weiß ich, wieso. Der Angreifer hat Löcher in den Rumpf geschnitten. Zunächst wohl, um in die KORRWAK einzudringen. Gleichzeitig aber, um das Raumschiff abzuwracken.

Die beiden wütenden Sonnen prügeln nun mit Partikelarmen auf den Rumpf ein, ultraheißes Plasma schmilzt sich seinen Weg ins Innere, Strahlung hämmert sich ihren Weg frei. Eine Hämmerung der schlimmsten Art.

Das Sterben der KORRWAK hat begonnen. Ein langsamer Tod ist es. Das Schlimmste dabei ist: Er gleicht allzu sehr dem, was nun mir bevorsteht.

1.

Mentro Kosum: Emotionautik und mehr

 

Die FANTASY beschleunigte mit allem, was sie hatte.

Mentro Kosum verzog die Mundwinkel, ein bisschen ironisch, ein wenig mitleidig. Die Tiefkontaktphase, seine beinahe komplette Verschmelzung mit den Schiffssystemen, stand kurz bevor. Die beginnende Beschleunigung war kein kritischer Punkt, der kam erst, wenn der Wechsel in die Librationszone erfolgte. In diesem Fall per Transition, denn der Linearantrieb arbeitete ja nicht. Vielleicht würde er das nie wieder. Der Eintauchmoment war heikel, in beiden Fällen.

Eigentlich eher der Zeitpunkt direkt davor, korrigierte sich Kosum. Aber das waren Feinheiten, die einem Nicht-Emotionauten ohnehin kaum vermittelbar waren.

Er fühlte bereits das Rumoren der Meiler in seinem Bauch, die Energie des Raumschiffs floss durch die Leitungen wie Blut durch seine Adern, und er spürte den ansteigenden Puls.

Wie ein Läufer, der auf den letzten hundert Metern anzieht!, dachte er und erinnerte sich an die ersten Flüge, die er absolviert hatte. Damals hatte er hinterher jedes Mal unter Muskelkater gelitten, weil der Sprint des Schiffs, der von seiner Psyche als somatisch empfunden wurde, unwillkürliche, krampfartige Mikrozuckungen seiner Muskelfasern und -bündel ausgelöst hatte. Mittlerweile ließ sich sein realer Körper nicht mehr täuschen.

Es lebe die Routine, dachte Kosum amüsiert. Immer wieder ... und wieder ... und wieder.

SERT-Haube und -Anzug gehörten in dieser Phase bereits zu ihm. Sein Gehirn integrierte diese umfassenden Schnittstellen in das produzierte Körperbild, die Vorstellung von sich selbst.

Hakru entfernte sich, darüber war er froh. Zwar war die Sonne selbst beinahe langweilig. Ein Normalstern der Spektralklasse C2V, also ein Bruder der irdischen Sonne, aber für seine Planeten Hakrunaam und Hakruveen galt das ganz und gar nicht. Kaum dachte er an die Albträume, die der Schreiende Stein in die Köpfe der Besatzung gepflanzt hatte, kamen die Kopfschmerzen wieder.

Ich hasse es, wenn jemand ungefragt in meinem Kopf herumspukt!, dachte er mürrisch und war sich im gleichen Moment klar darüber, wie bizarr eine solche Aussage gerade bei einem Emotionauten wirken musste.

Die Einzigen, die das verstehen konnten, waren die Bull-Legacy-Zwillinge – und die hatten derzeit andere Sorgen. Er sah Sophies Gesicht vor sich. Die Sprachfähigkeit zu verlieren, war für die NATHAN-Interpreterin zweifelsohne traumatisch.

Er fragte sich, ob eine Kommunikation mit ihrer Schwester Laura direkt über den MINSTREL möglich war – und wie sich das anfühlen mochte.

Der kleine NATHAN-Ableger war in vielerlei Hinsicht ein Wunderwerk, aber kein Kommunikationsgenie – in diesem Punkt hatte NATHAN zugunsten der neuronalen Packungsdichte des MINSTRELS Abstriche gemacht. Die Kommunikation mit lebenden Wesen, mit all den Feinheiten und Abgründen, mit denen die jeweilige Kultur die sprachliche Grundstruktur befrachtete, war extrem kompliziert und rechenaufwendig.

Kosum grinste. Sprache war etwas derart Komplexes, ja Kompliziertes ... und was in der zwischenmenschlichen Kommunikation herauskam, war häufig von einer derart penetranten Banalität, dass man es kaum glauben mochte.

Dagegen war der Kontakt mit der FANTASY beinahe eine Erholung. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das in Zukunft bei Emotionauten vielleicht zu einer Art Realitätsflucht führen mochte. Lieber mit dem Schiff reden als mit den kompliziertesten Schöpfungen des Kosmos. Das hätte seinen Reiz ... obwohl es kaum mehr war als ein Selbstgespräch. Trotzdem empfand er Unterhaltungen mit anderen Menschen im Vergleich allzu häufig als unglaublich anstrengend und unergiebig.

Kosum tauchte tiefer in den Konnex ein. Das Pulsieren der Meiler war wie ein mechanischer Herzschlag. Pa-Pom – Pa-pom – Pa-pom ... Er glaubte, virtuelle Herzkammern spüren zu können. Sie saugten sich voll und entleerten sich, pumpten Energie durch den Leib der FANTASY, als lebe sie tatsächlich.

Ein kleines, störendes Nebengeräusch ertönte – penetrant und unmöglich auszublenden. Eine Art technischer Tinnitus: nicht zu überhören, nicht zu ignorieren.

Funkkontakt.

Nicht personalisiert, nicht zielgerichtet.

Eine Warnung? Ein Notruf?

Kosum registrierte, dass Perry Rhodan den Befehl gab, die Beschleunigung abzubrechen. Kosum gab Gegenschub. Die FANTASY wurde langsamer, bis sie die Standardreisegeschwindigkeit erreicht hatte. Damit würden sie das Hakrusystem nicht verlassen können.

Kosum tauchte aus dem Konnex auf.

Das Erste, was er sah, war Gucky. Der Ilt grinste lausbübisch und hielt ihm die Hand hin.

Sarrka-Sporen!, dachte Kosum und griff automatisch zu. Woher ...?

»Aus deiner Tasche, Großer!«, enthüllte Gucky.

Kosum zerbiss zwei der Sporen. Das feine, mandelige Röstaroma füllte Mund und Nase.

»Dir ist schon klar, dass man Prügel beziehen kann, wenn man andere Leute einfach so telepathisch aushorcht oder ihnen in die Tasche fasst?«, fragte er kauend.

Der Ilt winkte ab. »Du warst abwesend. Wenn ich sie dir nicht angeboten hätte, wüsstest du nichts davon, oder? Außerdem habe ich dir nicht in die Tasche gefasst – das wäre ja ...« Er schüttelte sich. »Ich habe sie telekinetisch rausgeangelt.«

Kosum ließ die zerbrochenen Schalen einfach zu Boden fallen. Conrad Deringhouse' lautes Räuspern ignorierte er. »Das ist natürlich was ganz anderes. Nimm ruhig ein oder zwei.«

»Karotten hast du keine?« Gucky legte den Kopf schief. »Soll ich mal nachsehen?«

Kosum hob den Finger. »Wehe! Das sind meine Taschen. Du weißt, was ein Possessivpronomen ist?«

Gucky sah ihn empört an. »Wofür hältst du mich?«

Kosum grinste. »Na, mal sehen.«

Gucky stopfte die kleine Tüte mit den gerösteten Sporen in eine Tasche seiner Montur. »Das hast du jetzt davon!«

»Du kannst von Glück sagen, dass wir keine Trebolaner sind, Kleiner.«

Der Ilt runzelte die Nase. »Warum das?«

Kosum entfernte die SERT-Haube und stand auf. »Weil bei denen Mundraub strafbar ist. Ich glaube, der Dieb wird selbst aufgegessen. Sozusagen als Kompensation.«

»Du willst mich essen?« Gucky kicherte. »Du hast keine Ahnung, wie schwer ich im Magen liege.«

Deringhouse winkte Kosum zu sich. Perry Rhodan stand bei ihm.

»Dass wir einen Funkkontakt hatten, haben Sie mitbekommen«, sagte Rhodan. Es war keine Frage.

Kosum nickte nur.

»Es scheint ein Notruf zu sein«, stellte Deringhouse fest. »Allerdings ist er nicht allgemein abgefasst, sondern wohl an einen konkreten Adressaten gerichtet. Der Code ist knifflig, und vieles sind wohl Abkürzungen und Spezifika, die wir ohnehin nicht knacken können.«

Kosum stützte sich lässig auf eine Lehne. »Und Sie werden dem Notruf folgen.«

Deringhouse hob die Brauen. »Spricht etwas dagegen?«

»Nein«, sagte Kosum. »Es war eine reine Feststellung. Keine Wertung. Ein Notruf ist ein Notruf. Jemand ist in Not, und wir helfen. Das ist gut und richtig.«

Rhodan lächelte müde. »Unser Emotionaut nimmt mir die Worte aus dem Mund.« Er drehte sich zu Alberto Pérez um. »Woher kommt das Signal?«

Der Ortungsspezialist vergrößerte eines seiner Hologramme und zeigte den Ursprung des Hyperfunkspruchs. »Der Sender liegt geradewegs auf unserem Kurs Richtung Lashat. Wir verlieren also keine Zeit, was das angeht.«

Kosum beobachtete Rhodan. Er wusste, dass diese Tatsache den Protektor zwar erleichtern würde, weil dieser wegen seines labilen Zellaktivators unter erheblichem Druck stand. Aber ebenso sehr war Kosum klar: Rhodan würde sein eigenes Wohlergehen nicht über das anderer stellen – gleich ob es sich um Menschen oder Fremdwesen handelte. Dass er dafür notfalls auch Konflikte mit seiner Umgebung riskierte, beeindruckte Kosum sehr.

Dabei war die Grundentscheidung unstrittig: Geriet jemand in Raumnot, egal wo, egal wer, egal warum, dann half man. Er selbst war bislang nie in einer solchen Lage gewesen, aber Kosums Vorstellungsvermögen war gut entwickelt. Der Gedanke, in der eisigen Schwärze des Weltraums sterben zu müssen, weit weg von zu Hause, vielleicht allein, war entsetzlich. Kein Lebewesen stand dem gleichgültig gegenüber – der Selbsterhaltungstrieb verhinderte das. Galt es zu kämpfen, vielleicht für ein gutes Ziel, konnten viele den eigenen Tod akzeptieren. Aber im All verlassen und langsam zu sterben ... das war für alle ein Horrorszenario.

Sophie gestikulierte. Da sie die normale Gebärdensprache nicht beherrschte, lieferte Laura mithilfe des MINSTRELS die Übersetzung. Ihr Zwilling wirkte ungeduldig.

»Der Notruf hat offenbar eine sehr große Priorität. Der Impuls ist kraftvoll und wird ständig wiederholt, als wolle man um jeden Preis jemand Bestimmten erreichen. Nicht bloß irgendjemanden.« Laura strich sich eine widerspenstige, rote Strähne aus den Augen. Dass Sophie unter ihrem Zustand litt, machte sichtlich auch ihr zu schaffen. »Außerdem läuft der Notruf seit Längerem. Mehrere Stunden wenigstens ... obwohl das eine Spekulation ist. Wir sollten uns also beeilen.«

»Kosum, bringen Sie uns dorthin«, entschied Rhodan. »Schnell, wenn's geht!«

Kosum kehrte zu seinem SERT-Sitz zurück und stülpte die Haube über. Die Ortungspositronik hatte den Kurs längst berechnet.

Diesmal beschleunigte er mit höheren Werten. Die Entfernung zur Signalquelle war nicht groß, keine eineinhalb Lichtjahre. Das Compariat lag in der Southside der Milchstraße, relativ nah am Zentrum. In dieser Region standen die Sterne recht eng, häufig genug waren sie sogar weniger als ein Lichtjahr voneinander entfernt und bewegten sich mit hohen Geschwindigkeiten. Die astrometrischen Karten der lokalen Umgebung mussten somit neben der Position eines Sterns stets auch detaillierte Angaben über seine Bewegungs- und Geschwindigkeitsparameter nennen. Denn im Herzen der Milchstraße blieb nichts lange, wie es war. Das stellte besondere Herausforderungen an die Navigation. Der Linearantrieb hätte hierbei erhebliche Vorteile geboten, weshalb dessen Totalschaden Kosum schwer zu schaffen machte. Ein Flug im eigentlichen Sinn, wie ihn der Linearantrieb ermöglichte, war sehr viel besser zu kontrollieren als die abgehackten Sprünge mit dem Transitionstriebwerk. Der sanfte, kontinuierliche Linearflug entsprach eher dem menschlichen Bewegungsmodus.

Wir hüpfen ja auch nicht auf einem Bein zum Einkaufen ... oder sonst wohin!, dachte er. Obwohl: Das Bild hat was.

Kosum tauchte in den Konnex ein. Das Schiff wurde zu seinem Körper, er wurde zum Schiff. Die dünne Haut des Schutzschirms reduzierte die Belastung, aber er fühlte, wie die Menge der Partikel, die auf das Raumschiff einprasselten, im gleichen Maße zunahm, wie die FANTASY schneller wurde. Der Weltraum war nie wirklich leer und in der Nähe des galaktischen Zentrums war die Dichte des kosmischen Staubs umso größer. Ab einer gewissen Geschwindigkeit flog man sozusagen gegen einen Sandstrahler an. Ohne den Prallschirm würden sogar die hochwertigen Stähle des Rumpfs von der anstürmenden Materie zerfräst werden.

Das Prickeln, das Kosums Nervenendungen produzierten, wurde stärker und stärker, bis es beinahe schmerzte.

Das Transitionstriebwerk der FANTASY war eigentlich leistungsschwächer als bei sonstigen Fernraumschiffen der Terranischen Flotte, es war ebenso ein Prototyp wie das gesamte Experimentalschiff. Der lange Flug nach Lashat würde ihn deutlich stärker belasten, als die technischen Beschreibungen dies vorsahen. Die Ingenieure hatten aber bereits bei der Konstruktion Toleranzen eingebaut, die sich nun auch weit jenseits der formellen Reichweite auszahlen würden. Dennoch blieb die Lage kritisch.

Wir pfeifen auf dem letzten Loch, dachte Kosum. So sieht's aus! Unser eigentlicher Antrieb ist hinüber, und wir wissen nicht, ob wir ihn jemals wieder benutzen können. Er wusste indes, dass ein Großteil der Besatzung, die ohnehin hauptsächlich aus Technikern und Ingenieuren bestand, an einer Lösung arbeitete.

Seine Gedanken wanderten durch die Leitungen der FANTASY wie durch Ganglien. Das Raumfahrzeug war nicht nur sein Körper, es war eine Manifestation seines Gehirns. Er nahm das Wummern der Meiler wieder wahr: ein stählernes Herz, das mit aller Macht schlug. Die Kernfusion loderte in ihm. Er glaubte, die Verschmelzung der Wasserstoffkerne zu Helium greifen zu können, ohne dass diese ihn verbrannte.

Kosum hetzte der Lichtmauer entgegen. Kurz darauf erreichte die FANTASY die notwendige Sprunggeschwindigkeit.

Die Strukturkonverter bauten das Transitionsfeld auf und rissen das dahinjagende Schiff in den Hyperraum, nur um es gleich darauf wieder auszuspucken.

Kosum sehnte sich nach dem Flug durch den Linearraum zurück. Eingebettet in eine künstlich erzeugte Parlinger-Tasche, war die Reise durch die Librationszone ruhig ... und elegant. Ein Hyperraumsprung hingegen war ein grober, ein beinahe brutaler Vorgang.

Der Transitionsschmerz, den die Raumfahrer an Bord fühlten, war gegen das, was Kosum empfand, ein Kinkerlitzchen. Der Transit durch den Hyperraum ähnelte dem Durchbrechen einer dimensional übergeordneten Glasscheibe ... und Kosum spürte jede einzelne Scherbe, wie sie in sein virtuelles Fleisch schnitt.

Während der Ausbildung zum Emotionauten hatte er schnell gelernt, die Zähne zusammenzubeißen. Die Menschen um ihn herum wollten den Piloten, dem sie ihr Leben anvertraut hatten, nicht schreien hören. Von den Nebenwirkungen der Transition für Kosum ahnten sie daher nichts, und das war gut so.

Kosum fragte sich immer wieder, welche sadistische Gottheit wohl dafür gesorgt hatte, dass ausgerechnet Emotionauten, die empathischer und sensibler waren als ihre Mitmenschen, derart leiden mussten. Er erinnerte sich, dass viele seiner Kollegen die Ausbildung abgebrochen hatten. Weder NATHAN noch die Posbis hatten wirklich Verständnis für das Problem, aber sie hatten irgendwann eingesehen, dass sie auf die menschliche Komponente Rücksicht nehmen ... sie vielleicht sogar achten mussten! Was davon zutraf, wusste Kosum nicht genau, aber die Behandlung der Sprungtraumata hatte mittlerweile hohe Priorität auf Cybora.

Der schneidende Schmerz verging nur langsam. Kosum ächzte stumm. Seine Schmerztoleranz war recht hoch, aber die Umgebung, in der sie rematerialisiert waren, zeitigte unangenehme Folgen.

Kosums Sensoreneindrücke ermöglichten ihm einerseits eine bildliche Wahrnehmung, wie sie jeder Mensch kannte. Darüber hinaus jedoch verarbeiteten normalerweise brachliegende Hirnareale auch jene Bereiche des elektromagnetischen Spektrums, die gewöhnliche Augen nicht sehen konnten. Diese Eindrücke konnte Kosum mit Worten nicht beschreiben – sie lagen jenseits des menschlichen Horizonts. Das war weit mehr als die jämmerlichen Frequenzen zwischen 400 und 700 Nanometern. Er sah und spürte Radiowellen: ein tiefes, beständiges Summen im Hintergrund. Er sah und spürte Röntgen- und Gammastrahlung: Das grelle Sirren pulste wie der Klang einer Kreissäge im Dopplereffekt.

Unangenehm!, durchzuckte es Kosum. Das ist kein guter Ort! Er gewahrte das zweiköpfige Monstrum, das im Zentrum des Systems lauerte. Skylla und Charybdis! Kosum verkrampfte sich. Man kann sich das Ungeheuer aussuchen, das einen verschlingt. Wie nett.

Der Schutzschirm der FANTASY flammte auf, als eine Kaskadenwelle ihn traf. Flackerndes Licht ... Es fühlte sich an, als pralle heißer Sand mit hoher Geschwindigkeit auf nackte Haut.

Kosum verließ den Konnex.

Es ist jedes Mal ein Gefühl, als würde man entzweigerissen, dachte er. Jeder Muskel hatte sich verkrampft, als er die Virtualität des Raumschiffs hinter sich gelassen hatte. Als habe man Arme und Beine verloren. Man spürt sie noch, spürt, dass sie da sein sollten ... aber da ist nichts.